Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit folgender Frage: Wie lässt sich anhand von Reinhard Merkels "Prinzip der alternativen Möglichkeiten" die Entscheidungsfreiheit und damit die Schuldfähigkeit der Figur Woyzeck in Georg Büchners gleichnamigem Drama beurteilen?
Seminar: Willens- und Entscheidungsfreiheit
Take-Home-Examen
„Im Moment der konkreten Tat muss der Tätig fähig gewesen sein, anders zu handeln“, formuliert Reinhard Merkel in seinem Aufsatz Handlungsfreiheit, Willensfreiheit und strafrechtliche Schuld1. Inwieweit das auf Woyzeck, den vielleicht berühmtesten Frauenmörder der deutschsprachigen Literatur aus Georg Büchners gleichnamigem Dramenfragment zutrifft, soll im folgenden untersucht werden.
Merkel liefert eine Ausformulierung seines ,Prinzips der alternativen Möglichkeiten‘ (PAM):
PAMs: Frei im starken Sinne ist eine individuelle Handlung X (oder ihr Unterlassen),
(1) wenn der Handelnde dabei die Fähigkeit hatte, generell Handlungen des Typ X auszuführen (oder zu unterlassen),
(2) wenn er auch anders handeln (oder jedes Handeln hätte unterlassen) können und ihm auch dies Andershandeln (beziehungsweise Unterlassen) generell möglich ist,
(3) und wenn er die konkrete Handlung X aus einem Grund ausführt beziehungsweise unterlässt, der sein eigener ist,
(4) wenn also der Entschluss zu handeln durch nichts anderes (zwingend) determiniert ist als seinen eigenen Willen.2
Er weist darauf hin, dass dieser Definition von Handlungsfreiheit nicht nur „die meisten Alltagsauffassungen der menschlichen Handlungs- und Willensfreiheit ungefähr entsprechen“, sondern sie auch „in den Diskussionen des Strafrechts [...] eine wichtige Rolle“ spielt. Im Folgenden möchte ich die verschiedenen Positionen von Kompatibilisten und Inkompatibilisten, die Merkel ausführlich erläutert und die sich kurz gesagt mit der Frage befassen, ob es Willens- bzw. Handlungsfreiheit und daraus resultierend individuelle Schuld geben kann in einer Welt, die naturgesetzlich und möglicherweise deterministisch eingerichtet ist, nicht tiefergehend behandeln. Für die hier vorgenommene Diskussion argumentiere ich aus einer Position, die sich mit dem Indeterminismus sowie dem Kompatibilismus, nicht aber mit einem strengen Determinismus in Einklang bringen lässt. Es soll zunächst ausreichen, dass PAMs intuitiv zu überzeugen scheint: Nur wer in einer bestimmten Situation auch anders hätte handeln können als er gehandelt hat, und sich somit eindeutig als Urheber einer Tat ausmachen lässt, kann in der Folge auch für diese Tat verantwortlich gemacht werden. Stellt sich hingegen heraus, dass Handeln oder Willen des vermeintlichen Täters einer externen Instanz (bspw. einem anderen Täter oder einem verborgenen Mechanismus wie im berühmten Gedankenspiel Harry Frankfurts3 ) unterstehen, so ist die Verantwortung auch dieser Instanz zuzuschreiben.
Wie Schiller genau fünfzig Jahre zuvor für seinen Verbrecher aus verlorener Ehre und Robert Musil ein Jahrhundert später für die Figur des Moosbrugger in seinem Mann ohne Eigenschaften-Roman,4 so bedient sich auch Büchner für seinen Woyzeck bei einem historischen Fall. Da jeweils ein Vergleich mit der außerfiktionalen Vorlage möglich ist, scheint diese Konstellation im besonderen Maße geeignet, die Absichten des Autors hinsichtlich der Positionierung seiner Titelfigur innerhalb eines Figurengefüges zu untersuchen.5 Büchner orientiert sich vor allem an dem historischen Johann Christian Woyzeck, der 1821 in einer ungünstigen Konstellation von „Arbeitslosigkeit, Hunger, Erniedrigung aller Art, Haß und Eifersucht“6 seine Geliebte Johanna Woost ersticht und anschließend verhaftet, zum Tod verurteilt und 1824 hingerichtet wird. Sowohl vor als auch nach der Hinrichtung befassen sich zahlreiche Gutachten, Gegengutachten, Verteidigungsschriften und wissenschaftliche Abhandlungen mit dem Fall Woyzeck sowie den „Fragen nach der Veranlagung, nach den individuellen und gesellschaftlichen Bedingungen, nach der Zurechnungsfähigkeit während der Tat“7. Büchner stößt auf den Fall mutmaßlich in der Bibliothek seines Vaters,8 er transformiert den historischen Fall, „schwächt die Elemente der Reflexion, betont die haltlose Motorik und alle Momente, die Woyzecks Leben in sinnlich zerstückelter Kontingenz zeigen“, spart „seine Tücke, seine Brutalität, seine Gefühlskälte“ sowie die Misshandlungen an der Geliebten aus9 und erschafft so einen Protagonisten, „menschlich genug, um unsere Anteilnahme zu erregen“10, der schließlich als erste deutsche Tragödienfigur aus dem einfachsten Volk in die Dramengeschichte eingeht. Neben anderen Strukturmerkmalen, die diese Zuordnung begünstigen, ist Woyzeck, so meine These, aus einem bestimmten Grund als Tragödie zu lesen: Ihr Protagonist ist, darin vergleichbar mit den Helden antiker Dramen, schuldlos schuldig. Während dem Referenz-Woyzeck wiederholt „volle Zurechnungsfähigkeit und Verantwortlichkeit für die Tat“11 zugeschrieben wird, entfaltet Büchners Stück ein „Gerichtsspiel“, das „Revision [...] gegen das Urteil im historischen Prozeß Woyzeck einlegt. Der Dichter stellt die Bedrücker, Ankläger und Richter, den Psychiater Clarus und die militärischen Vorgesetzten des Füsiliers (letztere in Person), die Täter (ausführende Organe des Systems) und ihre Handlager vor das Tribunal der Tragödie.“12 Zu diesem Zweck bettet er seinen Helden, so eine Analyse von Alfons Glück, in ein „System der Ausbeutung, Unterdrückung und Entfremdung“ ein:
Ausbeutung ist der Zweck, Unterdrückung das Mittel, Entfremdung die Folge. [. ] Woyzecks Arbeitskraft, seine Lebenskraft wird ausgepumpt. Die Existenz dieses Soldaten und Gelegenheitsarbeiters gleicht der eines Zugtiers. Seine Herren haben ihn restlos für ihre Zwecke nutzbar gemacht. In dem Menschenversuch, der an ihm durchgeführt wird, erblicken wir ein Extrem: Woyzeck wird zusätzlich als Versuchstier verwendet. Es ist seine Armut, was ihn rettungslos ausliefert; und es ist die bis zum Extrem gesteigerte entfremdete Arbeit, was ihn erdrückt. [.]13
Kann Büchners Revisionsantrag im Rückgriff auf das PAMs stattgegeben werden? Die erste der vier angeführten Bedingungen (Fähigkeit, generell Handlungen des Typs X auszuführen oder zu unterlassen) lässt sich schon vorab positiv bescheiden: Aus dem Woyzeck -Text geht in keiner Weise hervor, dass Woyzeck (physisch) nicht zu dem Mord an Marie in der Lage ist. Seine Beschäftigung als Soldat, das Stöcke-Schneiden mit Andres auf dem freien Feld‘14 und die Tatsache, dass er in der Lage ist, seinen Hauptmann zu rasieren15, sprechen sogar eher dafür.
Inwiefern die drei weiteren Bedingungen des PAMs auf Woyzeck zutreffen, soll im Folgenden dargelegt werden.16 Woyzeck eröffnet17 mit der Szenen- bzw. Ortsangabe „Freies Feld. Die Stadt in der Ferne“ und der Regieanweisung „Woyzeck und Andres schneiden Stöcke im Gebüsch“.18 Was auf eine pastoral anmutende Idylle hindeuten könnte, wird bereits mit Woyzecks erster Replik zum Schauplatz seiner Ängste: „Ja Andres; den Streif da über das Gras hin, da rollt Abends der Kopf [...]. Andres, das waren die Freimaurer, ich hab’s, die Freimaurer, still!“.19 Andres, der sich zunächst mit einem Kinderlied ablenkt, muss eingestehen: „Ich fürcht mich.“ Woyzeck fährt fort, „Es geht hinter mir, unter mir (stampft auf den Boden) hohl, hörst du? Alles hohl da unten. [...] Wie hell! Ein Feuer fährt um den Himmel und ein Getös herunter wie Posaunen. Wie’s heraufzieht! Fort. Sieh nicht hinter dich.“ und verweist gleich in dieser Eröffnungsszene auf die ultimative fatalistische Erfahrung: Das jüngste Gericht. Woyzecks Repliken bedienen sich in Fragmenten der Offenbarung des Johannes:
Ich wurde vom Geist ergriffen am Tag des Herrn und hörte hinter mir eine große Stimme wie von einer Posaune [...]. Und ich wandte mich um, zu sehen nach der Stimme, die mit mir redete.20
Und der Engel nahm das Räuchergefäß und füllte es mit Feuer vom Altar und schüttete es auf die Erde. Und da geschahen Donner und Stimmen und Blitze und Erdbeben.21
Woyzeck wird als ein Christ eingeführt, der in der Religion keineswegs Halt findet, sondern sich im Gegenteil von ihrer fatalistisch-deterministischen Teleologie vielmehr bedroht fühlt: „Der Gott des Strafgerichts als psychotische Projektion, mit den ,Freimaurern' Zentrum eines Verfolgungswahns [sic!] - das ist eine Texttatsache ersten Ranges!“22 23 Hier tritt erstmals zutage, dass die (Willens-)Freiheit des Menschen nicht nur eine der zentralen Fragen des Stücks bildet, sondern sie seinen Protagonisten tatsächlich umtreibt. Auch seine beeinträchtigte Psyche ist, hier am Symptom des Verfolgungswahns, von Beginn an offenkundig.
Als das gehetzte ,Zugtier‘ trifft Woyzeck in der zweiten Szene auf seine Geliebte Marie: (Es klopft am Fenster.)
MARIE. Wer da? Bist du’s Franz? Komm herein!
WOYZECK. Kann nit. Muß zum Verles.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
WOYZECK. Ich muß fort. (Er geht.)
MARIE. Der Mann! So vergeistert. Er hat sein Kind nicht angesehn. Er schnappt noch über mit den Gedanken.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Der Ausgebeutete verfügt nicht mehr selbst über seine Arbeits- bzw. Lebenszeit. Um die Existenz seiner Familie zu sichern, ist er auf eine Vielzahl von Tätigkeiten angewiesen, die von seiner Anstellung als Soldat über das Stöcke schneiden und Rasieren des Hauptmanns als Zuverdienste bis zu den Ernährungsexperimenten des Doktors reichen, die als Höhepunkt der physischen und, so ließe sich diagnostizieren, in der Folge auch psychischen (Selbst-) Zerstörung einzustufen sind.
Auch in der darauffolgenden Szene „Öffentlicher Platz. Buden. Lichter“ reflektiert Woyzeck seine von Determinismus und ,Müssen‘ geprägte Welterfahrung:
ALTER MANN. KIND. (das tanzt): Auf der Welt ist kein Bestand.
Wir müssen alle sterbe, das ist uns wohlbekannt!
WOYZECK. He! Hopsa! Arm Mann, alter Mann! Arm Kind! Junges Kind! Hei Marie, soll ich dich trage? Ein Mensch muß. damit er esse kann. Welt! Schön Welt!
Wenn „kein Bestand“ „auf der Welt“ ist, weil ohnehin „alle sterbe“ müssen, dann fallen der arme, alte Mann und das arme, junge Kind, ideell in eines zusammen. Doch diese Welt ist nicht erst im Blick auf Tod und Jenseits eine vorherbestimmte. Schon auf Erden ist der mittellose Mensch zum ,müssen‘ verurteilt, „damit er esse kann“. ,Müssen ..." heißt im Fall von Woyzeck vor allem, dass er seine Arbeitskraft feilbieten muss. Nur weil er diese Welt als einzige und unveränderliche erlebt, kann sie ihm auch als „Schön Welt“ gelten. Nur die Anbindung an seine nicht durch die Ehe sanktionierte kleine Familie hat für ihn, vorerst, Bestand. „[...] soll ich dich trage?“, fragt er Marie, doch tatsächlich sind es vielmehr Marie und das Kind, die vermögen, Woyzeck durchs Leben zu tragen.
Es dauert nicht lange, bis dieser Bund in Schieflage geraten wird: „Ich hab so noch nix gefunden. Zwei auf einmal“24. So lakonisch reagiert der Gehörnte auf den Ohrringfund, um sich dann erneut der zuvor aufgezeigten Konstellation zuzuwenden: „Die hellen Tropfen stehn ihm [dem Bub] auf der Stirn; alles Arbeit unter der Sonn, sogar Schweiß im Schlaf. Wir arme Leut!“25. Er antizipiert, dass es sein Kind auf dieser Welt unter keinen Umständen besser haben wird als er selbst. Wer diese Welt arm betritt, ist in ihr bis zum Ende zur Unfreiheit verurteilt.
Es folgt die erste Begegnung mit Woyzecks Hauptmann als einem Vertreter der ihn unterdrückenden Schicht - Hauptmann, Doktor, Professor, Richter, Gerichtsdiener lassen sich von der Gruppierung Woyzeck, Marie, Kind, Großmutter, Andres, Karl, Käthe abgrenzen. Es ist bemerkenswert, dass die Dialoge Woyzecks mit dem Hauptmann oder dem Doktor im Blick auf den Gesamttext sehr umfangreich erscheinen, während andere Szenen gerade durch ihre maximale Verknappung auffallen. Diese höher gestellten Figuren verfügen schlichtweg über die notwendigen Macht- und Zeit-Ressourcen, sich so ausgiebig zu Wort zu melden. In der Büchner-Forschung wurden ihre ausufernden Repliken lange als „absurd“, als „Groteske“ und als „Spleen eines ,dottore‘, eines Dilettanten, wenn nicht eines Narren“ abgetan.26 Im Spiegel von Woyzecks Anwesenheit und seinen spärlichen Antworten lassen sich aus ihnen aber sinnvolle Aussagen über die Weltordnung gewinnen, in denen sich Woyzeck, weit unterhalb von Doktor und Hauptmann, bewegt. Wenn also der Hauptmann jeweils zu Beginn und Ende der Szene Woyzeck ermahnt, er solle „langsam“, „eins nach dem andern“ machen, sich seine Zeit ,einteilen‘,27 denn er sehe „immer so verhetzt aus“,28 dann verkennt er auf zynische Weise, dass Woyzeck eben nicht in der Lage ist, selbst über seine Zeit zu verfügen. ,Verhetzt' durch die Welt zu gehen ist sein zwangsläufiger Grundschritt. Während der Hauptmann frei darüber verfügt, wann er sich einer gelegentlichen Melancholie („ich kann kein Mühlrad mehr sehn, oder ich werd melancholisch“) anheim gibt und „(gerührt)“ wird, wenn er sich selbst immer wieder sagt, „du bist ein tugendhafter Mensch, [...] ein guter Mensch, ein guter Mensch“, so ist für Woyzeck die Identität von Ewigkeit und Augenblick, die sich aus der gleichförmigen Tätigkeit des Zugtiers ergibt, kein Anlass für wehmütige Abschweifungen, sondern Lebensrealität. Für ihn ist jedoch lediglich das „Ja wohl, Herr Hauptmann“ vorgesehen.29 Jenes reflexhafte ,Ja wohl‘ macht den Witz über den Wind aus SüdNord auf Kosten Woyzecks erst möglich. Woyzecks ,weiche‘, auf einen Gott der Nächstenliebe ausgerichtete Bibel-Lesart („Lasset die Kindlein zu mir kommen!“) wirkt als Entgegnung auf den an einem strafenden Gott orientierten Vorwurf („ohne den Segen der Kirche, es ist nicht von mir“) überzeugend, wird vom Hauptmann aber als „kuriose Antwort" abgetan.30 Woyzeck erweist sich im Abschluss der Rasierszene als überraschend selbstreflektiert hinsichtlich des Zusammenhangs von Klasse und Moral: Wer zu den „arme Leut“ gehört, der könne schwerlich „auf die Moral in der Welt“ setzen. Jener Zusammenhang überdauert gar das irdische Leben: „Unseins ist doch einmal unselig in der und der andern Welt, ich glaub wenn wir in Himmel kämen, so müßten wir donnern helfen“.31 Hier knüpft Woyzeck an die Offenbarungs-Zitate der Eröffnungsszene an. Abhängigkeit und Armut determinieren jedoch nicht nur die 'Tugend' im Sinne einer Möglichkeit zur Teilhabe an gesellschaftlichen Konvention. Woyzeck erlebt seine Armut gar als konstitutiv für seine „Natur“, für die (Un-)Freiheit seines Willens:
Sehn Sie, wir gemeinen Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur, aber wenn ich ein Herr wär und hätt ein Hut und eine Uhr und eine Anglaise, und könnt vornehm reden, ich wollt schon tugendhaft sein. Es muß was Schönes sein um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl.32
Jene Diskussion um die ,Natur‘ als Gegenspieler der Willensfreiheit setzt sich im Gespräch mit dem Doktor fort. „Er hat auf die Straß gepißt, an die Wand gepißt wie ein Hund“, so der Vorwurf des Doktors. Woyzeck rückt durch den Tiervergleich in die Nähe des Pferdes, das in der Jahrmarktsszene uriniert: „Sehn Sie, das Vieh ist noch Natur, unverdorbne Natur!“33 Mit dem Argument, der Mensch sei „frei, in dem Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit“,34 kann Woyzeck wenig anfangen. Er „kann nit“35, wenn er soll, aber muss, wenn „die Natur kommt“36. Dennoch erlebt er durchaus unterschiedliche Grade der Determination:
WOYZECK. Sehn Sie Herr Doktor, manchmal hat man so n’en Charakter, so n’e Struktur. - Aber mit der Natur ist’s was andres, sehn Sie, mit der Natur, (er kracht mit den Fingern) das ist so was, wie soll ich doch sagen, zum Beispiel - DOKTOR. Woyzeck, Er philosophiert wieder.
WOYZECK (vertraulich). Herr Doktor habe Sie schon was von der doppelten Natur gesehn? Wenn die Sonn in Mittag steht und es ist als ging die Welt im Feuer auf, hat schon eine fürchterliche Stimme zu mir geredt! DOKTOR. Woyzeck, Er hat eine abberatio.
Während auch der einfache Mensch „Charakter“ und „Struktur“, also Eigenschaften aufweist, über die er in einem gewissen Maße disponieren kann, so ist er gegenüber der ,Natur‘ als dem vollkommen Unverfügbaren machtlos. Vertraut er sich mit seinen Wahnvorstellungen dem Mediziner an, so werden sie lediglich als „abberatio“ klassifiziert. Ein lateinischer Fachausdruck, der, absichtlich gewählt, weit jenseits von Woyzecks Bildungshorizont liegt.
In der sich anschließenden Szene „Strasse“37 gerät Woyzeck gleich unter ,Doppelbeschuss‘ von Hauptmann und Doktor. Es wiederholt sich das Motiv des Rastlosen:
HAUPTMANN. Ha Woyzeck, was hetzt Er sich so an mir vorbei? Bleib Er doch Woyzeck. Er läuft ja wie ein offnes Rasiermesser durch die Welt, man schneidt sich an Ihm, er läuft, als hätt Er ein Regiment Kosack zu rasiern [...] Nun steigert sich in den höhnischen Kommentaren der beiden Überlegenen das Problem der Eifersucht und des dadurch drohenden Zerbrechens des familiären Halts:
„HAUPTMANN. [...] Wie is, Woyzeck, hat Er noch nicht ein Haar aus ein Bart in seiner Schüssel gefunden? [...] ein Haar von einem Mensch [...] eins Tambourmajor? [...] WOYZECK. Herr, Hauptmann, ich bin ein armer Teufel, - und hab sonst nichts - auf de Welt. Herr Hauptmann, wenn Sie Spaß mache“.38 [...] WOYZECK. [...] Sehn Sie, so ein schön festen grauen Himmel, man könnte Lust bekomme, ein Klobe hineinzuschlage und sich daran zu hänge, nur wege des Gedankenstrichs zwische ja und nein - ja und nein. Herr Hauptmann, ja und nein? Ist das Nein am Ja oder das Ja am Nein Schuld? Ich will drüber nachdenke.
Wer die Welt als so umfassend kausal determiniert erlebt, für den spielt es am Ende keine Rolle, ob innerhalb der Kausalkette erst das ,Ja‘ oder erst das ,Nein' in Erscheinung tritt. Bemerkenswert ist, dass Woyzeck hier ein einziges Mal seinen Suizid erwägt als einen Akt der Kapitulation, jedoch auch als einen der Selbstermächtigung, der als Alternative neben den Mord an Marie zu stellen ist.
In den nachfolgenden Szenen verschlimmert sich Woyzecks Gesundheitszustand analog zu seiner wachsenden Eifersucht. Er „muß hinaus“, "muß fort“ aus der „Wachtstube“39, um in der Wirtshaus-Szene Marie und den Tambourmajor beim Tanzen zu beobachten:
MARIE (im Vorbeitanzen). Immer, zu, immer zu. - WOYZECK (erstickt). Immer zu - immer zu! (Fährt heftig auf und sinkt zurück auf die Bank.) Immer zu, immer zu. (Schlägt die Hände ineinander.) Dreht euch, wälzt euch. Warum bläst Gott nicht die Sonn aus, daß Alles in Unzucht sich übereinander wälzt, Mann und Wein, Mensch und Vieh. Tut’s am hellen Tag, tut’s einem auf den Händen, wie die Mücken.40
Jenes „Immer zu“ begegnet ihm anschließend auf dem ,freien Feld‘ wieder und leitet die Stimme ein, die ihn zum Mord auffordert - oder mit der er doch sich selbst auffordert:
Stich, stich die Zickwolfin tot. Soll ich? Muß ich? Hör ich’s da auch, sagt’s der Wind auch? Hör ich’s immer zu, immer zu, stich tot, tot.41
[...]
1 Reinhard Merkel: Handlungsfreiheit, Willensfreiheit und strafrechtliche Schuld. In: Die Freiheit des Denkens. Hrsg. von Konrad Paul Liessmann. Wien 2007, S. 68-110.
2 ebd., S. 73.
3 vgl. Merkel 2007, S. 95f.
4 vgl. Lehmann 2009.
5 Für Woyzeck hat Rüdiger Campe einen solchen Abgleich mit den historischen Quellen vorgenommen; Campe 1998.
6 Mayer 1962, S. 55.
7 Büchner 2013, S. 586.
8 Büchner 2013, 587.
9 Büchner 2013, S. 589.
10 ebd.
11 Büchner 2013, S. 601.
12 Glück Militär 1984, S. 227.
13 Glück Armut 1984, S. 170.
14 vgl. Büchner 2013, S. 235.
15 vgl. Büchner 2013, S. 239.
16 Von Woyzeck liegen lediglich vier unvollständige Entwurfsstufen (H1-H4) vor. Der Übersichtlichkeit halber beziehe ich mich im Folgenden auf die Szenenabfolge der von Werner R. Lehmann für die Münchner Ausgabe erarbeiteten Lesefassungen und zitiere aus ebendieser.
17 Dass diese Szene auch in dem letzten Entwurf H4 an erster Stelle steht, macht plausibel, dass Büchner das Stück tatsächlich mit ihr beginnen wollte.
18 Büchner 2013, S. 236.
19 ebd.
20 Die Offenbarung des Johannes, 1, 10-12.
21 Off, 8, 5.
22 Glück Ideen 1985, S. 77.
23 Büchner 2013, S. 236. - Hier äußert sich erstmals im Woyzeck das von Büchner im Fatalismus-Brief angeklagte „Verdammungswort“ ,Müssen‘.
24 Büchner 2013, S. 239.
25 ebd.
26 Büchner 2013, S. 593.
27 Büchner 2013, S. 239.
28 Büchner 2013, S. 241.
29 Büchner 2013, S. 240.
30 ebd.
31 ebd.
32 Büchner 2013, S. 241.
33 Büchner 2013, S. 238.
34 Büchner 2013, S. 242.
35 Büchner 2013, S. 243.
36 Büchner 2013, S. 242.
37 Büchner 2013, S. 244.
38 Büchner 2013, S. 245.
39 Büchner 2013, S. 246.
40 Büchner 2013, S. 247.
41 Büchner 2013, S. 248.
- Citation du texte
- Anonyme,, 2020, Willens- und Entscheidungsfreiheit in Georg Büchners "Woyzeck", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/962539
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