Hausaufgabe 6: Phasen der Veränderung der Siedlungsstrukturen im Ewenkischen Autonomen Kreis
Die Siedlungsgeschichte des Ewenkischen Autonomen Kreises verlief insgesamt stetig, obwohl es gewisse regionale Unterschiede und teilweise gegenläufige Entwicklungen gab. Bis 1991 nahm die Einwohnerzahl des Gebietes zu, wobei sich eine Bevölkerungskonzentration in den Hauptsiedlungen sowie eine Differenzierung der einzelnen Siedlungen feststellen ließ. Durch die Differenzierung ließ sich auch eine gewisse Hierarchie der Siedlungen feststellen. Im Gegensatz zu früher leben heute auch die meisten Menschen in bodensteten Siedlungen statt in bodenvagen.
Durch den Zerfall der Sowjetunion nimmt allerdings seit 1991 die Einwohnerzahl ab und eine Bevölkerungskonzentration findet in Folge dessen auch nicht mehr statt. Die Zahl der bodensteten Siedlungen ist zwar konstant geblieben, aber dennoch kann man feststellen, daß viele Nebensiedlungen aufgegeben werden.
Im Gebiet des Ewenkischen Autonomen Kreis lebte ursprünglich eine überwiegend nomadisierende Bevölkerung. Vor der Eroberung durch die Russen (etwa 1620) existierten somit fast ausschließlich bodenvage Siedlungen, der bodenstete Siedlungstyp des m é n é en (,,Zeltlager") war auf ein kleines Gebiet im Nordosten des Ewenkischen Kreises beschränkt und wurde von einer mobilen Bevölkerungsgruppe benutzt.
Durch die russische Eroberung entstanden ab 1620 vereinzelte kleine Militärstützpunkte, die als zimov'ja bezeichnet werden. Diese Siedlungen waren zwar bodenstet, wurden aber meist nur saisonal von einer kleinen Gruppe Kosaken oder Bediensteter bewohnt. Ihr Nutzen war rein militärisch, da sie als Stützpunkte für die russischen Tributeintreibungen dienten. Allerdings entwickelten sie sich teilweise zu Gravitationspunkten der nomadischen Wanderungen. Einerseits mußten die Nomaden dort ihren Tribut abliefern, andererseits boten sie Handelsmöglichkeiten. Die sich differenzierenden Handelsmöglichkeiten führten auch zur Entstehung einzelner saisonal besetzter Handelspunkte, die als Faktoreien des Stadiums I klassifiziert werden. Bei der Verortung beeinflußten sich so traditionelle nomadische Versammlungspunkte und Wanderwege, Handelstätigkeit und Tributzahlungen. Teilweise entwickelten sich so manche der zimov'ja zu Faktoreien während andere zimov'ja aufgegeben wurden und verfielen. Das entscheidende Kriterium über Entwicklung oder Verfall eines zimov'ja war dabei die Verkehrsgängigkeit, die wiederum durch die Lage und Zugänglichkeit des Ortes bestimmt wurde.
Nach der Machtergreifung der Bolschewiken 1917 hatte in den Faktoreien der staatliche und genossenschaftliche Handel Vorrang gegenüber dem privaten, so daß man von einem Faktorei - Stadium II Siedlungstyp sprechen kann, der sich aber von seiner Physiognomie kaum vom Typ I unterschied.
Der planmäßig angelegte Siedlungstyp der Kulturbasis war hingegen neu. Sie bestand aus bis zu 12 Wohn- und Wirtschaftsgebäuden, die aus Holz und Ziegeln errichtet wurden. Somit handelt es sich hierbei auch um eine bodenstete Siedlung. Zur Erfüllung der kulturellen, medizinischen, infrastrukturellen, kommerziellen und kommunikativen Aufgaben, die die Parteiführung festgelegt hatte, wurden etwa 50 Fachkräfte angesiedelt. Von der Parteiführung wurde zudem erhofft, daß sich dort auch einheimische (noch) nomadische Bevölkerung ansiedelte.
Die Kulturbasis Tura und zwei Faktoreien im Untersuchungsgebiet entwickelten sich im Laufe der Zeit zu Rayonzentren weiter. Bei Rayonzentren handelt es sich um bodenstete und permanent bewohnte Siedlungen, mit zentralörtlichen Funktionen. Sie bestehen aus zahlreichen Wirtschaftsgebäuden und mehreren hundert Wohngebäuden. Die Gebäude sind alle samt aus Holz oder Ziegeln errichtet und gelten somit als fest. Charakteristisch für Rayonzentren ist der relativ hohe Anteil an zugezogener Bevölkerung, während der Anteil an Ewenen und Ewenken (also der einheimischen Bevölkerung) sehr gering ist.
Im Zuge der Kollektivierung wurden einige der Faktoreien-Stadium II zu Betriebszentren deklariert. Sie wurden als Hauptorte der nun entstehenden Sowchosen und Kolchosen ausgewählt und sollten entsprechende Funktionen und aufgaben erhalten. Aber es entstanden auch Betriebszentren an anderen Orten. Die Betriebszentren wurden aber bereits im Zuge des Kriegsbeginnes 1941 wieder aufgegeben. Bei der späteren Zusammenlegung der einzelnen agrarwirtschaftlichen Betriebe entwickelten sich einige der Faktoreien-Stadium II weiter zu Faktoreien des Stadiums III. Diese ab 1951 entstandenen Faktoreien haben etwa 40 bis 800 Bewohner unterschiedlicher Nationalitäten in unterschiedlicher Zusammensetzung. Die Leute wohnen heute permanent in Holz- oder Ziegelhäusern, während zu Beginn der Entwicklung noch viele in bodensteten Zelten lebten. Eine Faktorei-Stadium III erfüllt neben kommerziellen, kommunikativen und produktiven Funktionen auch zunehmend infrastrukturelle Aufgaben. Die Wohn- und Wirtschaftsfunktion sind räumlich getrennt und so ist stets ein eigener Kolchoskomplex, an den die übrigen Wirtschaftsgebäude angegliedert sind, vorzufinden.
Einige dieser Faktoreien-Stadium III werden heute aufgrund ihrer Struktur auch als Betriebszentren betrachtet, obwohl sie eine andere Genese aufweisen. Neben diesen als Hauptsiedlungen klassifizierten Siedlungstypen existier(t)en stets auch Nebensiedlungen, wie z.B. Fischer- und Jagdhütten, Rentierzüchter- und Jagdbasen, Rentierfarmen oder wissenschaftliche (z.B. meteorologische) Stationen. Auch das bis heute vorkommende traditionelle urikit wird als Nebensiedlung klassifiziert. Bei dem urikit handelt es sich um ein Sommerlager der Nomaden, in dessen Nähe Feuer entzündet werden um die äußerst zahlreichen Mücken zu verscheuchen. Etwa alle 5 Tage werden die runden Stangenzelte um ca. 10 km verlagert, da man neues Brennholz benötigt. Zusätzlich gibt es auch noch Siedlungen, deren Entstehung auf die Erkundung und Gewinnung von Bodenschätzen zurückzuführen ist, z.B. Bergbausiedlungen, Salzsiedereien, geologische Stationen, etc.. Da diese eine quasi geschlossene Bevölkerungsinsel in der Wildnis darstellen und eine kurze Entwicklung haben (die wenig mit der Siedlungsgeschichte des Ewenkischen Autonomen Kreises zu tun hat), wurden sie hier nicht weiter berücksichtigt.
Quelle:
HABECK, Joachim Otto: ,,Seßhaftwerdung und Seßhaftmachung sibirischer Rentiernomaden"; Berichte aus dem Arbeitsgebiet Entwicklungsforschung; Heft 30; Münster 1998
- Citation du texte
- Heike; Arning Becker (Auteur), 1999, Phasen der Veränderung der Siedlungsstrukturen im Ewenkischen Autonomen Kreis, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/96247