In der Arbeit wird der Frage nachgegangen, wie VR den Prozess der Chronifizierung von Schmerzen beeinflussen könnte. Um die Frage zu beantworten, wird zunächst ein kurzer Überblick über die theoretischen Hintergründe des Schmerzes aus psychologischer Sicht gegeben. Anschließend setzt die Autorin sich mit einigen Studien zur Schmerzbehandlung mithilfe von VR auseinander und arbeitet heraus, welche Mechanismen sich als wirksam erwiesen haben und wie sie für eine Anwendung bei subakuten Schmerzen eingesetzt werden könnten. Abschließend wird dargestellt, welche Implikationen sich daraus für die Umsetzung in der Praxis ergeben.
Eintauchen, um durchzuhalten. Virtual Reality in der Schmerztherapie
Virtual Reality zur Schmerzbehandlung
Virtual Reality (VR) wird im klinischen Kontext bereits seit mehr als einem Jahrzehnt für die Behandlung von verschiedenen Krankheiten eingesetzt und evaluiert.1 Vor allem bei der Behandlung von Phobien und anderen Angsterkrankungen zeigten sich VR-Therapien ähnlich wirksam wie herkömmliche Psychotherapien.2 Auch in der Behandlung von Schmerzen werden VR-Systeme seit einigen Jahren mit Erfolg eingesetzt. Die schmerzreduzierende Wirkung von VR zeigte sich beispielsweise bei der Behandlung von Brandopfern3, im Verlauf von Chemotherapien4 und bei schmerzhaften Zahnbehandlungen5. Akute Schmerzen konnten dabei teilweise genauso stark reduziert werden wie durch die Einnahme von Opioiden.6
Aufgrund dieser positiven Ergebnisse gab es bereits einige Versuche, die Wirksamkeit von VR auch bei chronischen Schmerzen zu testen. Allerdings zeigten VR-Therapien bei Patient_innen mit chronischen Schmerzen keine oder nur eine zeitlich begrenzte Wirkung, die oftmals nicht länger als zwei Stunden über die Dauer der Anwendung hinaus anhielt.7 Eine langfristige Linderung chronischer Schmerzen durch VR ist also bislang noch nicht gelungen.
Auch mit anderen Verfahren wie Physiotherapie, Entspannungstraining und medizinischen Behandlungen lassen sich chronische Schmerzen oftmals nur unzureichend behandeln. Medikamente zeigen zwar schmerzlindernde Wirkungen, diese sind jedoch zeitlich begrenzt und beinhalten Nebenwirkungen, sodass ein Großteil der Patient_innen mit chronischen Schmerzen keine adäquate Medikation findet.8
Dass es keine ausreichenden Therapiemöglichkeiten gibt, ist höchst problematisch. Schätzungen zufolge leiden weltweit etwa 20% der Bevölkerung unter chronischen Schmerzen9 ; je nach Definition und Stichprobe werden sogar Werte bis zu 30%10 und 47%11 angegeben. Dadurch ergeben sich nicht nur Einschränkungen für die Betroffenen, die sich im Haushalt, im Beruf und im sozialen Leben äußern12, sondern auch hohe ökonomische Belastungen für die gesamte Gesellschaft: Zu den Folgen chronischer Schmerzen gehören Arbeitsausfälle, Frühberentungen und enorme Kosten im Gesundheitswesen.13
Vor diesem Hintergrund kommt der Prävention eine wichtige Rolle zu. Daher gehe ich der Frage nach, wie VR den Prozess der Chronifizierung von Schmerzen beeinflussen könnte. Um die Frage zu beantworten, gebe ich zunächst einen kurzen Überblick über die theoretischen Hintergründe des Schmerzes aus psychologischer Sicht. Anschließend setze ich mich mit einigen Studien zur Schmerzbehandlung mithilfe von VR auseinander und arbeite heraus, welche Mechanismen sich als wirksam erwiesen haben und wie sie für eine Anwendung bei subakuten Schmerzen eingesetzt werden könnten. Abschließend stelle ich dar, welche Implikationen sich daraus für die Umsetzung in der Praxis ergeben.
Theoretischer Hintergrund
Schmerz wird von der IASP (International Association for the Study of Pain) wie folgt definiert: »Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potenzieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit den Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.«14 Gemäß dieser Definition ist Schmerz ein physiologisch wahrnehmbares Phänomen, das auch ohne direkte Gewebeschädigung (wie beispielsweise bei chronischen Schmerzen) auftreten kann und sowohl eine somatosensorische15 als auch eine emotionale Komponente beinhaltet.16
Chronische Schmerzen unterscheiden sich von akuten Schmerzen durch ihre Dauer (mehr als 3 Monate), die Komplexität ihrer Ursache sowie durch ihre Funktion: Während akute Schmerzen als eine Art Warnfunktion zur Schonung zu verstehen sind, haben chronische Schmerzen diese Funktion verloren und bleiben losgelöst davon bestehen.17
Um zu verstehen, wie aus akuten Schmerzen ein chronisches Leiden wird, werden im Folgenden Komponenten dargestellt, die Risikofaktoren für eine Chronifizierung18 von Schmerzen darstellen:
- Depressive Stimmung
- Angst
- Stresserleben
- Passives Vermeidungsverhalten
Auf der emotionalen Ebene erweisen sich depressive19 und ängstliche Stimmungslagen20 als signifikante Risikofaktoren für die Chronifizierung von Schmerzen. Ein solches Befinden kann einerseits zu Passivität und Zurückgezogenheit und infolgedessen zu einer Schwächung der Muskulatur führen. Andererseits kann eine depressive Verstimmung auch zu einer dauerhaft angespannten Muskulatur führen, was wiederum in einem erhöhten Schmerzempfinden resultieren kann.21 Neben diesen Mechanismen zählt auch ein erhöhtes Stresserleben zu den Risikofaktoren für eine Chronifizierung vorhandener Schmerzen.22
Auf behavioraler Ebene gilt das weit verbreitete passive Vermeidungsverhalten (wenig körperliche und soziale Aktivität, Schonung) als starker Prädiktor für chronische Schmerzen.23 Verminderte körperliche Aktivität spielt im Prozess der Chronifizierung eine Schlüsselrolle.24
Wie die prognostisch ungünstigen Emotionen mit dem körperlichen Vermeidungsverhalten zusammenhängen und damit den Prozess der Schmerzchronifizierung erklären, stellt das Fear-Avoidance-Modell25 dar: Auf (akuten) Schmerz wird mit Angst reagiert, was dann wiederum ein Vermeidungsverhalten mit verringerter körperlicher Aktivität nach sich zieht. Dieses Verhalten führt zu einer Angstreduktion und wird dadurch verstärkt. Als Folge ergibt sich - ähnlich wie bei einer Phobie - eine zunehmende Immobilität, aus der wiederum chronische Schmerzen resultieren.26
Ebenso zeigt das Modell, wie diese »Schmerzspirale« durchbrochen werden kann. Wenn auf wahrgenommene Schmerzen keine Angst folgt, kann eine fortlaufende Konfrontation mit den schmerzauslösenden Bewegungen zur (vollständigen) Genesung führen. Damit liefert das Modell einen Ansatz zum präventiven Umgang mit chronischen Schmerzen.
Es scheint also relevant zu sein, bereits im Akutstadium der Schmerzen zu intervenieren, um den darauffolgenden Prozess günstig zu beeinflussen. Die Frage ist nun, wie VR dazu beitragen kann.
Bisherige Forschung und Konsequenzen für eine VR-Anwendung im Prozess der Schmerzchronifizierung
Immersion
Mit dem Begriff Virtual Reality werden viele verschiedene Hard- und Softwareumgebungen zusammengefasst. Unter VR versteht man im Allgemeinen Simulationen, die auf verschiedenen Kombinationen aus Interaktionsanwendungen und displaybasierten Anwendungen beruhen.27 Die verschiedenen Systeme lassen sich durch die jeweiligen Immersionslevel beschreiben und kategorisieren. Immersion kann verstanden werden als »Eintauchen« und »Einfühlen« in die virtuelle Umgebung. Der Grad der Immersion ist demnach ein Anzeichen dafür, wie real sich die virtuelle Umgebung für die Nutzerin anfühlt.28 Den hochgradig immersiven Head-Mounted Displays stehen displaybasierte Anwendungen gegenüber, die ein vergleichsweise geringeres Eintauchen ermöglichen.29
Es ist anzunehmen, dass der Grad der Immersion durch VR einen Einfluss auf die Stärke der Schmerzreduktion nimmt, wobei meines Wissens bisher keine Studie existiert, in der dieser Zusammenhang direkt untersucht wurde. Die Autor_innen eines vergleichenden Reviews kamen immerhin zu dem Ergebnis, dass eine höhere Immersion durch VR zu mehr Entspannung (messbar über physiologische Variablen wie Herz- und Atemfrequenz sowie Hauttemperatur und -leitfähigkeit) führte.
Der Grad der Immersion wirkt sich zudem auf den Grad der Ablenkung aus. So stellen der Informatiker Xin Tong und seine Kolleg_innen30 einen direkten Zusammenhang zwischen den beiden Größen her: Je immersiver eine virtuelle Umgebung sei, desto größer sei die Ablenkung von der realen Welt. Auf die Rolle der Ablenkung für die Reduktion von Schmerzen gehe ich im Folgenden noch ein.
[...]
1 Gregg/Tarrier 2007.
2 Valmaggia u.a. 2016.
3 Morris/Louw/Grimmer-Somers 2009.
4 Chirico u.a. 2016.
5 Hoffman u.a. 2001.
6 Hoffman 2004.
7 Garrett/Taverner/McDade 2017; Jin u.a. 2016.
8 Wiederhold/Gao/Sulea 2014.
9 Breivik u.a. 2006.
10 Ebd.
11 Smith u.a. 1999.
12 Ebd.
13 Schmidt/Chenot/Kohlmann 2011.
14 Siehe https://www.iasp-pain.org/Taxonomy (zuletzt aufgerufen: 12.03.2018).
15 die Körperwahrnehmung betreffende
16 Kröner-Herwig 2010.
17 Kröner-Herwig 2010.
18 Übergang der akuten Schmerzen in ein chronisches Stadium
19 Jarvik u.a. 2005; Linton 2000; Pincus u.a. 2002.
20 Poiraudeau u.a. 2006; Sieben u.a. 2002.
21 Pfingsten/Korb/Hasenbring 2011.
22 Ebd.
23 Pfingsten/Korb/Hasenbring 2011.
24 Grotle/Vollestad/Brox 2006.
25 Zunächst theoretisch von Lethem u.a. (1983) postuliert, wurde das Fear-Avoidance- Modell seitdem ständig überarbeitet (Vlaeyen/Linton 2000) und inzwischen mehrfach empirisch bestätigt (Leeuw u.a. 2007; Vlaeyen/Linton 2012).
26 Pfingsten/Korb/Hasenbring 2011.
27 Parsons/Trost 2014.
28 Tong u. a. 2016.
29 Darüber hinaus gibt es noch Systeme, die über Sensoren oder Kameras die Bewegungen des Körpers tracken und als 3D-Modell auf einen Bildschirm projizieren. Beispiele hierfür sind Microsoft Kinect und Nintento Wii. Auf diese Varianten kann ich hier aus Platzgründen nicht näher eingehen.
30 Tong u. a. 2016.
- Arbeit zitieren
- Anonym,, 2018, Virtual Reality in der Schmerztherapie. Über- und Ausblick zur Behandlung chronischer Schmerzen mit Virtual Reality Szenarien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/962154
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