"Das Schicksal des Liberalismus in den 70er Jahren war das Schicksal der nationalliberalen Partei." - Dieses Zitat Thomas Nipperdeys markiert unter Historikern den kleinsten gemeinsamen Nenner, so sehr sie sich auch in der Beurteilung liberaler Politik zwischen 1866 und 1879 entzweien mögen. Während einige betonen, die (National-)Liberalen hätten die nach ihnen benannte "Liberale Ära" entscheidend mitgeprägt, verweisen andere darauf, dass wichtige Ziele des deutschen Liberalismus damals nicht verwirklicht werden konnten. Doch welche Politik betrieben eigentlich diejenigen Liberalen, die Bismarck ab 1866/67 nicht gefolgt und in der 1861 gegründeten Deutschen Fortschrittspartei (DFP) geblieben waren? Arbeiteten sie während der "Liberalen Ära" nunmehr mit ihm und den Nationalliberalen zusammen oder opponierten sie auch weiterhin gegen die Regierung?
Im folgenden soll versucht werden, diese Fragen zu beantworten. Dabei fällt den ersten beiden Kapiteln dieser Arbeit die Aufgabe zu, einleitend wichtige Grundkenntnisse über die Geschichte der Deutschen Fortschrittspartei bis 1870 und deren innerparteiliche Organisation zu vermitteln. Darauf aufbauend beleuchtet danach der zentrale dritte Teil - gegliedert in die Abschnitte "Zusammenarbeit mit Bismarck", "Septennat oder entschiedener Liberalismus?" und "Die DFP auf dem Weg zur Oppositionspartei" - anhand ausgewählter Gesetzesvorlagen punktuell die Politik der Fortschrittsfraktion im Deutschen Reichstag zwischen 1871 und 1878. Welche organisatorischen und programmatischen Konsequenzen die Fortschrittspartei selbst aus den politischen Erfahrungen jener Zeit zog, verdeutlicht am besten die Behandlung ihres ersten nationalen Parteitages im November 1878, dem das vierte Kapitel gewidmet sein wird. Und vor diesem Hintergrund möchte ich dann abschließend den Versuch unternehmen, die Politik der Deutschen Fortschrittspartei während der "Liberalen Ära" unter besonderer Berücksichtigung ihres Verhältnisses zu der in den 1870er Jahren aufstrebenden Arbeiterbewegung einer ausgewogenen Beurteilung zu unterziehen.
Während die politische Verortung des Reichskanzlers als hinreichend bekannt angenommen werden kann, bedarf der Terminus entschiedener Liberalismus im Titel dieser Arbeit doch einer genaueren Erklärung: Im Gegensatz zu den "gemäßigten" hielten die "entschiedenen" Liberalen konsequenter an der frühliberalen Ideologie fest, bildeten also den linken Flügel des deutschen Liberalismus. [...]
Inhaltsverzeichnis
Einführung in das Thema
1. Vorgeschichte und Politik der DFP bis 1870
2. Die Organisation von Partei und Fraktion bis 1877/78
3. Die Politik der DFP-Reichstagsfraktion von 1871 bis 1878
a) Zusammenarbeit mit Bismarck
b) „Septennat“ oder entschiedener Liberalismus?
c) Die DFP auf dem Weg zur Oppositionspartei
4. Der DFP-Parteitag 1878
5. Schlussbetrachtungen
Literatur- und Quellenverzeichnis
Einführung in das Thema
„Das Schicksal des Liberalismus in den 70er Jahren war das Schicksal der nationalliberalen Partei.“[1] – Dieses Zitat Thomas Nipperdeys markiert unter Historikern den kleinsten gemein-samen Nenner, so sehr sie sich auch in der Beurteilung liberaler Politik zwischen 1866 und 1879 entzweien mögen. Während einige betonen, die (National-)Liberalen hätten die nach ihnen benannte „Liberale Ära“ entscheidend mitgeprägt, verweisen andere darauf, dass wichtige Ziele des deutschen Liberalismus damals nicht verwirklicht werden konnten. Doch welche Politik betrieben eigentlich diejenigen Liberalen, die Bismarck ab 1866/67 nicht gefolgt und in der 1861 gegründeten Deutschen Fortschrittspartei (DFP) geblieben waren? Arbeiteten sie während der „Liberalen Ära“ nunmehr mit ihm und den Nationalliberalen zusammen oder opponierten sie auch weiterhin gegen die Regierung?
Im folgenden soll versucht werden, diese Fragen zu beantworten. Dabei fällt den ersten beiden Kapiteln dieser Arbeit die Aufgabe zu, einleitend wichtige Grundkenntnisse über die Geschichte der Deutschen Fortschrittspartei bis 1870 und deren innerparteiliche Organisation zu vermitteln. Darauf aufbauend beleuchtet danach der zentrale dritte Teil – gegliedert in die Abschnitte „Zusammenarbeit mit Bismarck“, „Septennat oder entschiedener Liberalismus?“ und „Die DFP auf dem Weg zur Oppositionspartei“ – anhand ausgewählter Gesetzesvorlagen punktuell die Politik der Fortschrittsfraktion im Deutschen Reichstag zwischen 1871 und 1878. Welche organisatorischen und programmatischen Konsequenzen die Fortschrittspartei selbst aus den politischen Erfahrungen jener Zeit zog, verdeutlicht am besten die Behandlung ihres ersten nationalen Parteitages im November 1878, dem das vierte Kapitel gewidmet sein wird. Und vor diesem Hintergrund möchte ich dann abschließend den Versuch unternehmen, die Politik der Deutschen Fortschrittspartei während der „Liberalen Ära“ unter besonderer Berücksichtigung ihres Verhältnisses zu der in den 1870er Jahren aufstrebenden Arbeiterbewegung einer aus-gewogenen Beurteilung zu unterziehen.
Während die politische Verortung des Reichskanzlers als hinreichend bekannt angenommen werden kann, bedarf der Terminus entschiedener Liberalismus im Titel dieser Arbeit doch einer genaueren Erklärung: Im Gegensatz zu den „gemäßigten“ hielten die „entschiedenen“ Liberalen konsequenter an der frühliberalen Ideologie fest, bildeten also den linken Flügel des deutschen Liberalismus. Dabei sind die Linksliberalen allerdings deutlich von den republikanischen (Radikal-)Demokraten zu unterscheiden, denn anders als jene stellten sie weder die Monarchie infrage, noch forderten sie eine parlamentarische Regierungsbildung. Auch dem allgemeinen (Männer-)Wahlrecht standen sie eher skeptisch gegenüber. Als wichtigste Programmpunkte des „entschiedenen Liberalismus“ seit 1848/49 wären zu nennen: die nationalstaatliche Einigung Deutschlands, Souveränität der deutschen Parlamente in allen Verfassungsfragen, kein Vetorecht für den Monarchen bei der Gesetzgebung und Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament. Vor allem im zweiten Punkt unterschieden sich die Linksliberalen deutlich von den „gemäßigten“ Liberalen, welche bei der Lösung von Verfassungskonflikten das Vereinbarungs-prinzip vorzogen.[2]
1. Vorgeschichte und Politik der DFP bis 1870
Nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49 übernahmen zahlreiche ehemalige Demokraten die politischen Positionen des Linksliberalismus. Aber auch ein Teil der gemäßigten Liberalen rückte vor dem Hintergrund der rigiden Reaktionspolitik in den 1850er Jahren nach links. Auf diese Weise wurde der „entschiedene Liberalismus“ im Reaktionsjahrzehnt „zur treibenden, ideologisch bestimmenden und vor allem integrierenden Kraft innerhalb der bürgerlichen Opposition“.[3] Im Jahr 1858 gewannen die Liberalen bei den Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhaus die absolute Mehrheit der Sitze. Etwa drei Viertel der liberalen Abgeordneten schlossen sich danach der „Fraktion Vincke“ an, welche von der Regierung eine konsequente Reformpolitik verlangte.[4] Doch schon zwei Jahre später sorgte eine Militärvorlage für ernsthafte Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Fraktion. Im Rahmen einer Heeresreform sollte die preußische Armee um 49 Regimenter vergrößert, anstatt der dreijährigen eine zweijährige Dienstzeit eingeführt und die Landwehr in ihrer Bedeutung zurückgedrängt werden. Vor allem die beiden letztgenannten Vorhaben wiesen die Liberalen energisch zurück, widersprachen sie doch in eklatanter Weise den liberalen Ideen eines Volksheeres und der Wehrgerechtigkeit. Da jedoch auch die „Fraktion Vincke“ Preußens militärische Schlagkraft erhöhen wollte, zur vorgelegten Heeresreform aber keine programmatische Alternative zu bieten hatte, bewilligte sie schließlich im Mai 1860 der Regierung „zur einstweiligen Vervollständigung derjenigen Maßnahmen, welche für die fernere Kriegsbereitschaft erforderlich“ werden würden – ohne dafür eine Gegenleistung zu verlangen (!) – 9 Millionen Taler. Um diese Konzeptionslosigkeit zu beenden, legten einige Fraktionsmitglieder im Januar 1861 einen Programmentwurf vor, welcher bei den übrigen liberalen Abgeordneten jedoch auf Ablehnung stieß. Ein Teil der Reformer verließ daraufhin die „Fraktion Vincke“ und favorisierte gegenüber der preußischen Regierung fortan eine konsequentere Oppositionspolitik.[5]
Mit Blick auf die baldigen Abgeordnetenhauswahlen gründeten die Sezessionisten – nunmehr „Fraktion Junglithauen“[6] genannt – gemeinsam mit Mitgliedern des „Deutschen National-vereins“ am 9. Juni 1861 die strömungsübergreifende Deutsche Fortschrittspartei (DFP). In deren dementsprechend recht gemäßigtem Programm[7] schrieb man einleitend: „Wir sind einig in der Treue für den König und in der festen Überzeugung, daß die Verfassung das unlösbare Band ist, welches Fürst und Volk zusammenhält.“ Überdies könne die „feste(n) Einigung Deutschlands (...) ohne eine starke Zentralgewalt in den Händen Preußens (...) nicht gedacht werden“. Diesen eher versöhnlichen Worten zu Beginn schlossen sich allerdings entschieden liberale Forderungen an, welche von der „konsequenten Verwirklichung des verfassungsmäßigen Rechtsstaates“ mit „wirklich unabhängige[n] Richter[n]“ über die „Verantwortlichkeit der Minister“ gegenüber dem Parlament bis zur „Aufrechterhaltung der Landwehr“ und einer zweijährigen Militärdienstzeit reichen. Zudem verlangte das Programm „größte Sparsamkeit für den Militäretat im Frieden“ und „eine durchgreifende Reform des gegenwärtigen Herrenhauses[[8] ]“. Und nicht zuletzt wollte man die Wirtschaft durch „eine Revision der Gewerbegesetzgebung“ von ihren alten Fesseln befreien.[9] Mit diesem Aktionsprogramm gewann die DFP bei den Wahlen im Dezember 1861 109 der 352 Sitze im Preußischen Abgeord-netenhaus, welches allerdings nach einer Abstimmungsniederlage für die Regierung schon vier Monate später wieder aufgelöst wurde. Bei den Neuwahlen im Mai 1862 konnte der Fortschritt die Anzahl seiner Mandate sogar noch erhöhen und versuchte anschließend, die weitere Umsetzung der Heeresreform durch Verweigerung des Militärbudgets zu blockieren.
Der am 24. September 1862 neu ernannte preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck durchkreuzte jedoch die Pläne der Deutschen Fortschrittspartei mit seiner Ankündigung, dass er auch ohne Etatgesetz regieren werde, falls sich beide Häuser des Landtages (Abgeordneten- und Herrenhaus) nicht auf ein solches einigen könnten. Durch diesen von ihm mit Hilfe der sogenannten „Lückentheorie“ gerechtfertigten offenen Verfassungsbruch hatte sich der Streit um die Heeresreform in einen veritablen Verfassungskonflikt verwandelt.[10] Bis 1866 regierte Bismarck nunmehr ohne verfassungsgemäß verabschiedetes Budget. Gestärkt durch die außen-politischen Erfolge von 1864/66 und die Mehrheit der Öffentlichkeit hinter sich wissend, legte er schließlich im Spätsommer 1866 dem Parlament den Entwurf eines Indemnitätsgesetzes vor, der seine verfassungswidrige Regierungspraxis seit 1862/63 nachträglich legalisieren und zugleich als Grundlage für die künftige Zusammenarbeit zwischen Regierung und Landtag dienen sollte. Bei den vorangegangenen Wahlen im Juli hatte die DFP 60 ihrer bis dahin 143 Sitze im Abgeordnetenhaus verloren und geriet deshalb durch Bismarcks Antrag auf Indemnität in eine ernsthafte Krise: Die bisher wegen des gemeinsamen Kampfes um die preußische Verfassung verdeckten Differenzen zwischen den beiden Strömungen innerhalb der Partei traten nun offen zutage. Während sich die Gemäßigten von Bismarcks Versöhnungsangebot ein Ende der fruchtlosen Oppositionspolitik erhofften und nun liberale Ziele künftig nicht mehr gegen, sondern mit der Regierung durchsetzen wollten, bedeutete die Vorlage für die entschiedenen Liberalen in der Fortschrittspartei hingegen nichts weiter als die Legalisierung von Verfassungs-brüchen, welche zudem keine Gewähr dafür bot, dass sich dergleichen in Zukunft nicht wieder ereignen würde. Beide Seiten bekämpften einander erbittert und bezichtigten sich wechselseitig opportunistischer Servilität oder eines doktrinären Idealismus, welcher die Verwirklichung der politischen Ziele des Liberalismus auf absehbare Zeit unmöglich mache. Bei der Abstimmung am 3. September 1866 votierten schließlich neben den Konservativen und Altliberalen auch 43 Abgeordnete der Deutschen Fortschrittspartei für Bismarcks Indemnitätsgesetz.[11] Die darauf folgenden Auseinandersetzungen innerhalb der Fortschrittsfraktion endeten im Juni 1867 mit der Abspaltung der Nationalliberalen Partei, welche programmatisch allerdings durchaus an den zentralen Forderungen des Liberalismus wie nach dem Ausbau des Budgetrechtes, einer Reform des Preußischen Herrenhauses oder der Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament festhielt. Bis weit in die 1870er Jahre hinein sprachen viele Liberale jedoch noch von den zwei Fraktionen der einen großen liberalen Partei; die Übergänge zwischen dem rechten Flügel des Fortschritts und den linken Nationalliberalen waren ohnehin fließend.[12]
Im Sezessionsjahr legte Bismarck dem konstituierenden Reichstag des 1866/67 gegründeten Norddeutschen Bundes einen Verfassungsentwurf vor, der zwar durch einen Kompromiss zwischen ihm und den Nationalliberalen leichte Verbesserungen erfuhr, letztlich aber mit dem Programm der Deutschen Fortschrittspartei unvereinbar blieb und daher von ihrer Fraktion abgelehnt wurde. Führende Parteimitglieder wie Hoverbeck, Virchow und Waldeck begründeten dies unter anderem mit dem Fehlen verfassungsmäßig garantierter Grundrechte, einer dem Parlament verantwortlichen Exekutive sowie eines klar formulierten und umfassenden Budgetrechtes für die Reichstagsabgeordneten.[13] Einige Grundrechte wurden allerdings – unter Beteiligung der Fortschrittsfraktion – in den folgenden Jahren vom Reichstag als Gesetze verabschiedet, unter ihnen das Recht auf Freizügigkeit (1867), die Gewerbe-, Koalitions- und Bekenntnisfreiheit (alle 1869), das Verbot rückwirkender Strafgesetze (1870) und der Schutz des Briefgeheimnisses (1871).[14]
Spätestens an dieser Stelle ist es Zeit für einige Worte über die Organisationsstruktur der Partei und ihrer Reichstagsfraktion.
[...]
[1] Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd. II: Machtstaat vor der Demokratie,
München 1992, S. 317.
[2] Vgl. Jansen, Christian: Bismarck und die Linksliberalen, in: Lothar Gall (Hg.), Otto von Bismarck und die Parteien, Paderborn 2001, S. 91f.
[3] Vgl. ebd., S. 93.
[4] Vgl. Lorenz, Ina Susanne: Eugen Richter. Der entschiedene Liberalismus in der Wilhelminischen Zeit
1871-1906, Husum 1981, S. 46.
[5] Vgl. Seeber, Gustav: Deutsche Fortschrittspartei 1861-1884, in: Dieter Fricke u.a. (Hg.), Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd.1, Köln 1983, S. 625f.
[6] Der zumeist spöttisch gebrauchte Name rührt von der überwiegend ostpreußischen Herkunft ihrer Mitglieder her.
[7] Vgl. Hofmann, Robert: Geschichte der deutschen Parteien. Von der Kaiserzeit bis zur Gegenwart,
München 1993, S. 31.
[8] Die Mitglieder des Preußischen Herrenhauses wurden seit 1853 vom König auf Lebenszeit berufen.
[9] Vgl. Treue, Wolfgang: Deutsche Parteiprogramme seit 1861, Göttingen 19684, S. 62f.
[10] Vgl. Lorenz, Ina Susanne: Eugen Richter, a.a.O., S. 47f.
[11] Vgl. Sheehan, James J.: Der deutsche Liberalismus, München 1983, S. 147-149.
[12] Vgl. Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd. II, a.a.O., S. 317.
[13] Vgl. Seeber, Gustav: Zwischen Bebel und Bismarck. Zur Geschichte des Linksliberalismus in Deutschland
1871-1893, Berlin (Ost) 1965, S. 8.
[14] Vgl. Lorenz, Ina Susanne: Eugen Richter, a.a.O., S. 69.
-
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X.