Gliederung
1 Gesichtergedächtnis
1. Theorien zur Gesichtererkennung
2. Individuelle Unterschiede
2 Stimmengedächtnis
3 Das Autobiographische Gedächtnis
1. Skripten
2. Das Schema-plus-Zusatz-Modell
3. Das Dynamische Gedächtnis
4. Das Autobiographische Gedächtnis
4 Anwendungsaspekte der Gedächtnisforschung im Bereich der Augenzeugenaussagen
1. Zeugenaussagen
2. Das Kognitive Interview
3. Theoretische Perspektiven
1. Die Koexistenzhypothese
2. Die Substitutionshypothese
3. Die Quellen-Beobachtungs-Hypothese
4. Gegenüberstellungen
5. Zusammenfassung
6. Literatur
Abstract
Die vorliegende Arbeit wird sich mit verschiedenen Aspekten des Gedächtnisses beschäftigen. Besondere Aufmerksamkeit werde ich den Bereichen widmen, die für die Anwendung bei Zeugenaussagen wichtig sind. Diese sind vor allem die Gedächtnisleistungen, die bei der Menschenerkennug und der Ereigniswiedergabe eine Rolle spielen. Am Ende werde ich auf Forschungsergebnisse bei Zeugenaussagen eingehen.
1. Gesichtergedächtnis
Unser Alltag ist bestimmt durch soziale Interaktion und Kommunikation. Um soziale Kontakte knüpfen zu können, muß gewährleistet sein, daß wir unsere Kommunikationspartner wiedererkennen. Das kann zum einen aufgrund des Aussehens geschehen und zum anderen durch die Wiedererkennung der Stimme, die wir im nächsten Kapitel besprechen.
Wir kennen verschiedene Tiefen, des Kennens eines Gesichtes. Es gibt Gesichter, bei denen wir keine Probleme hätten, sie zu erkennen, selbst, wenn Sie als Clown geschminkt wären. Es gibt aber auch Gesichter, die wir nicht gut kennen und somit auch nicht gut, oder zumindest in einigen Situationen, nicht wiedererkennen. Man hätte wahrscheinlich große Probleme, den Postboten zu erkennen, wenn man ihm im Urlaub in Badehose träfe. Welches sind aber die Komponenten, die den Grad und die Güte von Wiedererkennung bestimmen?
Ein wichtiger Teil, der es uns ermöglicht, Menschen wiederzuerkennen, ist die Dynamik des Gesichtes. Die Mimik und der Ausdruck verrät uns viel über eine Menschen und hilft uns auch, ihn im Gedächtnis zu behalten. Leider haben viele Studien nur mit Fotos gearbeitet, die es galt, zu identifizieren. Dabei fiel die Dynamik des Gesichtes natürlich ganz heraus, und es läßt sich auch die Übertragbarkeit in das Feld bezweifeln. Bahrig (1984) fand, daß Gesichter besser wiedererkannt wurden, wenn sie in Natura gesehen wurden, als auf Photographien.
Zunächst sollten wir die Unterscheidung zwischen wiedererkennen und identifizieren treffen. Normalerweise treten diese beiden Komponenten im Alltagsleben gemeinsam auf. Es gibt allerdings die Situation, daß wir jemanden sehen, er uns bekannt vorkommt, wir aber nicht wissen, wer derjenige ist, oder woher wir ihn kennen. Diese Art, des Gesichtergedächtnisses wird in den meisten Versuchen abgetestet. Die Wahrscheinlichkeit, daß wir in eine solche Situation geraten, nimmt mit steigendem Grad der Bekanntheit des Gesichts ab.
Weitere Fehler bei der Gesichtererkennung beschrieben Young, Hay und Ellis (1982), die sie aus einer Tagebuchstudie extrahierten:
- Personen werden nicht erkannt. (Meist eher Menschen, die man noch nicht oft gesehen hat). ➔ gefunden in 114 Fällen
- Verwechslungen (Sie können meistens schnell behoben werden) ➔ gefunden in 314 Fällen
- Erkennen, aber keine Identifizierung (Meistens bei Menschen, die in einem anderen Kontext als bisher getroffen wurden) ➔ gefunden in 233 Fällen
- Unvollständige Identifikation (Zum Beispiel fehlt der Name oder andere Details) ➔ gefunden in 190 Fällen
Damit haben wir auch schon einen weiteren wichtigen Faktor zur Wiedererkennung gefunden. Die Umgebung, in der die zu erkennende Person üblicherweise gesehen wird. Wenn diese Verbindung aufgehoben wird, kann es zu Fehlleistungen kommen.
Entscheidend für die Zuverlässigkeit der Identifikation ist auch die Distinktheit eines Gesichtes zu anderen. Rhodes, Brennan und Carey (1987) bildeten am Computer Karikaturen (distinkt) und fanden, daß diese leichter erkannt werden, als undistinkte.
1. Theorien zur Gesichtererkennung
Eine noch zu klärende Frage ist die, wie die Enkodierung von Gesichtern vor sich geht. Young et al. (1985) entwickelten ein dreistufiges Modell (s. Abbildung 1.1). Seine erste Stufe ist die Gesichtserkennungseineit (Face Recognition Unit; FRU). Auf dieser Stufe sieht das Gesicht bekannt aus. Auf der zweiten Stufe, dem Personenidentit ä tsknoten (Person Identity Node; PIN) können Leute zum Beispiel dem Umfeld zugeordnet werden, in dem man sie gesehen hat, oder dem Beruf, den sie ausüben. Vielleicht weiß man, daß jemand ein Showmaster ist, kann sich aber nicht erinnern, welche Show er moderiert und wie er heißt. Die letzte Stufe ist die der Namenskodierung. Hier wird eine Person eindeutig zugeordnet. Der Name und alle wichtigen Attribute sind verfügbar.
Bei Youngs Modell wird davon ausgegangen, daß die Prozesse aufeinander aufbauen und die nächste Stufe nicht ohne die davor erreichbar ist. Reaktionszeitstudien von Young, McWeeny, Ellis und Hay (1986) ergaben, daß Erkennung auf der FRU-Ebene schneller möglich ist, als die auf PIN-Ebene oder sogar als auf der Namenskodierungsebene. Die Ergebnisse unterstützen die Annahme. Es wurde allerdings ein Patient (PH) mit einer neuronalen Läsion gefunden, der Menschen identifizieren konnte, aber nicht in der Lage war zu sagen, ob das Gesicht ihm bekannt vorkam oder nicht. Aufgrund dieser Entdeckung entwickelten Burton, Bruce und Johnston (1990) das Interactive Activation and Competition (IAC) - Modell. Sie gehen nicht von aufeinander aufbauenden, sondern von parallelen Prozessen aus, die verschieden hohe Aktivierungsschwellen haben. Dadurch wird es wahrscheinlicher, daß FRU vor PIN aktiviert wird, läßt bei Läsionen aber auch die Möglichkeit zu, daß PIN ohne FRU funktioniert.
1.2 Individuelle Unterschiede
Allgemein läßt sich sagen, daß die Selbsteinschätzung, wie gut sich Probanden Gesichter einprägen können, schlecht ist. Woodhead und Baddeley (1981) fanden zwischen Selbsteinschätzung und tatsächlicher Leistung eine Korrelation von r = - 0.05. Aber die Versuche wurden mit Fotografien durchgeführt und lassen sich vielleicht nicht auf die Realität übertragen.
Weitere Versuche ergaben, daß ältere Menschen und Kinder nicht so zuverlässig Gesichter enkodieren (Chung und Thomson, 1995) und daß Frauen bessere Wiedererkennungsleistung erbringen, aber nur bei Frauengesichtern (Goldstein und Chance, 1971).
2 Stimmengedächtnis
Genauso, wie man einen Menschen an seinem Äußeren erkennen kann, so kann man ihn auch an seiner Stimme erkennen. Vielleicht hat es jeder schon einmal erlebt, daß man während eines Filmes registriert, daß die Synchronstimme eines Schauspielers normalerweise einen anderen Schauspieler Synchronisiert. Man verbindet mit dieser Stimme einen ganz speziellen Menschen und auch ganz besondere Eigenschaften. Schon allein die Tonlage verrät uns viel über das Alter und das Geschlecht des Sprechers.
Bricker und Pruzansky (1966) fanden, daß Probanden mit 98%-iger Sicherheit ihre Arbeitskollegen anhand der Stimme identifizieren konnten. McGehee (1937) entdeckte in einer Studie, in der Probanden eine Geschichte vorgelesen wurde, daß die Identifizierungsrate der Leserstimme mit zunehmender Zeit zwischen Vorlesen und Abfrage sank. Aber nach drei Monaten erkannten immerhin noch 35% der Probanden die Stimme wieder.
Wir müssen aber bedenken, daß die Versuche im Labor abgehalten wurden und somit ideale Bedingungen herrschten. Im normalen Leben sind wir umgeben von Störgeräuschen und Ablenkungen. Clifford (1983) setzte seine Experimente im Feld an. Er ließ einen Mann an Bankschalter gehen und die Beamten fragen, was er tun müsse, wenn er sein Scheckbuch verloren hätte. Es stellte sich heraus, daß die Bankangestellten schon nach vier Stunden kaum mehr fähig waren, die Stimme wiederzuerkennen. Wenn aber detaillierte Informationen über den Sprecher gegeben werden, ist die Erinnerung besser (Palmeri, Goldinger und Pisoni, 1993).
3 Das Autobiographische Gedächtnis
Unser autobiographisches Gedächtnis enthält alle Erinnerungen und alles Wissen, das wir über uns und über unser bisheriges Sein haben. Unsere Gedächtnisinhalte erlauben es uns, adäquat auf verschiedenste Situationen zu reagieren. Sie beeinflussen unsere Emotionen, wenn wir zum Beispiel an etwas trauriges denken, und sie bestimmen unsere Kommunikation ("Weißt du, was mir gestern passiert ist?"). Aber wie speichern wir diese Unzahl von Informationen über Gewesenes in unserem Gedächtnis? Abelson und Schank (1977) entwarfen das Konzept des Skripts, das nun im Folgendem besprochen werden soll.
1. Skripten
Ein Skript ist sozusagen ein semantisches Gerüst von einem Geschehen. Es ist die generalisierte Vorstellung von einem Ereignis. So kann zum Beispiel jeder sagen, wie ein Restaurantbesuch vor sich geht. Auch wenn er nun keinen konkreten Besuch im Kopf hat. Skripten entstehen aus Erfahrungen und Wissen, die man bis jetzt gemacht hat. Sie können viele Untergeordnete Skripten haben. Ein solches Skript ist in Abbildung 3.1 dargestellt.
2. Das Schema-plus-Zusatz-Modell
Für die Anwendung im Alltag ist das Konzept der Skripten zu rigide. Man erinnert sich natürlich an Sachen, die nicht in Skripten integriert werden können, weil sie einmalig sind. Also läßt sich die Datenspeicherung nicht nur über dieses Konzept erklären.
Nakamura, Graesser, Zimmerman und Riha (1985) ließen Probanden einem Vorleser zuhören, der vorher geratete schemarelevante, oder schemairrelevante Aktionen durchführte. In Abbildung 3.2 sind Beispiele für diese Handlungen gegeben. Nachher sollten die Probanden berichten, an welche der Aktionen sie sich noch erinnerten. Die schemairrelevanten Handlungen wurden sehr viel besser erinnert, als die schemarelevanten. Außerdem war die Rate für falschen Alarm bei schemarelevanten Aktionen dreimal so hoch wie für schemairrelevante. Wir schlußfolgern also, daß distinkte Handlungen besser behalten werden, als Skriptrelevante.
Nakamura et al. deuteten diese Ergebnisse nach dem Schema-plus-Zusatz-Model. Sie gehen davon aus, daß im Gedächtnis zum einen die skriptgeleiteten Erinnerungen vorhanden sind, und zwar sowohl über Handlungen, die gesehen wurden, als auch über jene, die nicht gesehen wurden. Zum anderen enthält das Gedächtnis Erinnerungen, die nicht in das Skript passen. Diese unerwarteten Ereignisse werden anscheinend sehr viel besser erinnert. Diese Form der Datenspeicherung ist ökonomischer, als wenn jedes Ereignis für sich genommen enkodiert werden würde. Mit Skripten verhält es sich wie mit allen Heuristiken. Sie machen Fehler zwar möglich, halten ihre Wahrscheinlichkeit allerdings minimal.
3. Das Dynamische Gedächtnis
Da weitere Forschungen (Brewer und Tenpenny; 1996) ergaben, daß die Relevanz eines Ereignisses ein zusätzlicher großer Faktor ist, wurde die Theorie des dynamischen Gedächtnisses entwickelt. Man fand, daß eine Unterscheidung zu fällen sei zwischen schemairrelevanten und schemainkonsistenten Items. Schemairrelevante Items sollten solche sein, die auch inhaltlich irrelevant sind und inkonsistente solche, die das Schema st ö ren, die unerwartet sind. Schemairrelevante Items wurden in Experimenten weniger gut erinnert. Auch die Vermischung von verschiedenen Skripten (z.B. "Besuch beim Arzt" ↔ "Besuch beim Zahnarzt") zeigen, daß die Verarbeitung komplexer sein muß, als die bisherigen Theorien es zu fassen vermögen.
Schank (1982) postulierte folgende Punkte seines erweiterten Ansatzes, um den Kritikpunkten gerecht zu werden:
- Das neue System ist dynamisch. Die Skripten werden dann abgefragt, wenn sie gebraucht werden. Sie können für jede Gelegenheit variabel kombiniert werden.
- Die Annahme, daß viele Skripten alle dasselbe Element beinhalten, ist hinfällig. Der Ansatz geht nun davon aus, daß jedes Element nur einmal gespeichert ist und nur über Verweise in der entsprechenden Kombination abgerufen wird. Diese Art der Speicherung ist mit der auf einem Computer vergleichbar. Wenn ich in ein Dokument Teile aus einem anderen einfügen will, kann ich diese entweder hineinkopieren und doppelten Speicherplatz belegen, oder ich erstelle eine Verknüpfung zum Quelldokument, was sehr viel ökonomischer ist. Mit den Verknüpfungen zwischen den MOPs lassen sich die Verwechslungen bei verschiedenen Themengebieten erklären.
- Es wurden Skripten auf verschiedenen Ebenen angenommen. Skripten auf hoher Ebene heißen MOPs (Memory Organisation Packets). Sie enthalten Themengebiete, deren Aktivierung wiederum andere MOPs aktiviert. Das MOP "Schule" könnte zum Beispiel die MOPs "Freundschaft", "Wissenschaft", "Literatur" oder "Sport" aktivieren.
- Ein und dasselbe Ereignis kann auf vielen verschiedenen Ebenen der Generalisierung gespeichert werden. Eine Klassenarbeit kann zum Beispiel sein:
- Heute, als wir in der Schule eine Arbeit geschrieben haben
- Das Schreiben einer Arbeit
- Erleben einer Prüfungssituation
- Eine weitere Einheit stellen die TOPs dar (Thematic Organisation Point). Sie sind den MOPs übergeordnet und erlauben eine so abstrakte Zuordnung wie: "ein Ziel nicht erreichen", "seinen Willen bekommen", etc.
4. Das Autobiographische Gedächtnis
Tulvin (1972) traf eine Unterscheidung zwischen dem episodischen und dem semantischen Gedächtnis. Das episodische Gedächtnis bezeichnet die Erinnerungen, die spezifischen Inhalts sind (noetisch). Spezifisch in dem Sinne, daß wir über konkretes Wissen über die Situation, anwesende Leute und Objekte zum Zeitpunkt des Lernens verfügen. Im semantischen Gedächtnis befinden sich generalisierte Wissensinhalte, zum Beispiel abstraktes Verständnis dafür, wie die Umwelt sich verhält, oder wie man redet, etc. Manchmal fällt es uns zum Beispiel schwer, zu entscheiden, ob wir einen bestimmten Wissensinhalt durch Lesen, Hören oder Sehen erlernt haben (autonoetisch). Diese beiden Formen werden aber nicht als unabhängig angenommen, sondern Tulvin geht vielmehr davon aus, daß viele persönliche Erfahrungen durch Abstraktion und Generalisierung in das semantische Gedächtnis überführt werden.
Das autobiographische Gedächtnis kann zum Beispiel biographischen Inhalts sein ("Ich bin in Lübeck geboren"). Es kann generell, aber auch spezifisch sein. ("Wir aßen Sonntags immer Forelle" ↔ "an jenem Abend hatten wir zum Essen Besuch."). Außerdem ist noch eine weiter Kategorisierung möglich. Erinnerungen können in zweierlei Sichten repräsentiert sein: aus der Sicht eines Beobachters und aus der Feldsicht (wie es erlebt wurde).Robinson und Swanson (1983) fanden, daß Erinnerungen, die aus der Feldsicht heraus berichtet wurden, lebhaftere Empfindungen auslösten, auch dann, wenn die Versuchspersonen ihre Erlebnisse erst nach Aufforderung aus dieser Perspektive schilderten. Es ist aber möglich, Erlebnisse aus beiden Perspektiven zu schildern.
Brewer (1986) warf die Frage auf, ob die Erinnerungen als Kopie des Geschehens repräsentiert sind, oder ob sie bei Abfrage rekonstruiert werden. Aufgrund der Schilderung von irrelevanten Kleinigkeiten aus der Erinnerung, könnte man annehmen, daß es sich um Kopien handelt. Nach den Ergebnissen von Robinson und Swanson (1983, s.o.) kann man eine Speicherung in Form einer Kopie allerdings ausschließen, da sonst keine Beobachterperspektive möglich wäre. Die Fähigkeit, zwischen den Perspektiven zu wechseln, zeigt sogar, wie flexibel wir in den Rekonstruktionen des Geschehens sind. Mit der Annahme der Rekonstruktion läßt sich auch erklären, warum gerade in Details beim Berichten von Erinnerungen so viele Fehler gemacht werden, wie es Barclay und Wellman (1986) in ihrem Experiment fanden. Sie ließen Probanden Einzelheiten aus von ihnen geführten Tagebüchern wiedererkennen. Gegen die Rekonstruktion spricht meines Erachtens allerdings, daß wir uns teilweise ungewollt an Dinge erinnern. Da die Rekonstruktion ein Vorgang ist, bei dem aus Verknüpfungen zu anderen Erinnerungen, allgemeinem Wissen und plausiblen, logischen Folgerungen eine spezielle Situation wiederhergestellt wird, ist es unökonomisch, daß diese Prozesse spontan ablaufen. Es scheint hier viel denkbarer, daß fertige Bilder, also Kopien, zum Vorschein kommen.
Es stellt sich die Fragen, wie die erworbenen Wissensinhalte organisiert sind. Ein Überblick über die Studien zu diesem Thema läßt den Schluß zu, daß sie nach Zeit und nach Themen sortiert sind. So kann eine Verlobungsfeier dicht bei dem Fest der dazugehörigen Hochzeit gespeichert sein (zeitliche Nähe), sie kann aber auch gleichzeitig dem Themenkomplex "Feiern" zugehörig sein. Die Aktivierung einer Erinnerung kann auch die Aktivierung der nahe liegenden Gedächtnisinhalte zur Folge haben.
Linton (1982) entdeckte in der Auswertung der Studie über ihre eigenen Tagebücher, daß es zwei Arten von Vergessen zu geben scheint. Bei der ersten handelt es sich um eine Art Verschwimmen der Tatsachen. Linton konnte einzelne Teilereignisse nicht mehr korrekt zuordnen. Zum Beispiel konnte sie nicht mehr alle Einzelheiten dem richtigen Kongreß, von denen sie viele besucht hat, zuordnen, ohne jedoch die Einzelheiten an sich vergessen zu haben. Die zweite Art von Fehlern ist das Vergessen von Ereignissen. Nach 6 Jahren hatte Linton 30% der aufgeschriebenen Erlebnisse vergessen. Erstaunlich war für sie die Entdeckung, daß die Wahrscheinlichkeit, ein Ereignis zu behalten nicht mit der gerateten Wichtigkeit des Ereignisses zu korrelieren schien. Eine Frage, die leider nicht bearbeitet oder beantwortet wurde ist die, ob ein Ereignis besser erinnert wird, wenn es nah (zeitlich oder thematisch) an einem anderen gespeichert ist, das erinnert wurde.
Im Gegensatz zu Lintons Ergebnissen fanden Rubin und Kozin (1984), daß die Wichtigkeit und die emotionale Involviertheit doch mit dem Erinnern von Geschehen korreliert. Eine weitere Studie von Wagenaar und Groeneweg (1990) beschäftigt sich mit Erlebnissen von Menschen, die zur Zeit des 2. Weltkrieges in Konzentrationslagern inhaftiert waren. Nach 40 Jahren konnten die Betroffenen zwar noch über den Alltag in den Lagern berichten, aber an über nach der Befreiung berichtete Morde und andere sehr emotionsbelastete Ereignisse war die Erinnerung weniger gut.
Um diese unterschiedlichen Ergebnisse zu deuten, bietet sich die Theorie über ein mittleres Aktivierungsniveau von Berlyne (1960) an. Sie besagt, daß die Aktivierung, die durch das Arousal (Lärm, Druck...), aber auch durch das Befinden (Aufregung, Trauer...) bestimmt wird, sich am positivsten auf den Organismus und seine Leistungen auswirkt, wenn es sich in einem mittleren Bereich befindet. In Abbildung 3.4 sieht man, daß der Graf des Befindens über dem Aktivierungsgrad eine umgedrehte U-Funktion ist. Zuviel und auch zuwenig Aktivierung wirkt sich negativ auf die Leistung, in unserem Fall auf die Gedächtnisleistungen aus.
Bevor wir uns gleich mit den Anwendungsgebieten der Gedächtnisforschung beschäftigen, soll noch ein letztes Thema angesprochen werden: Falsche Erinnerungen. Dieses Thema findet vor allem im Bereich des sexuellen Mißbrauchs eine immer größer werdende Bedeutung. Es ist wahrscheinlich, daß es Erlebnisse gibt, die verdrängt worden sind. Es ist aber noch wahrscheinlicher, daß es lange nicht so viele sind, wie angeblich gefunden werden (Cohan, 1996). Lindsay und Read (1994) sagen, daß in "memory recovery"-Therapien häufig Erinnerungen an den Tag gebracht werden, die niemals stattgefunden haben. Bruck, Ceci, Francoier und Barr (1995) fanden zum Beispiel, daß Kinder mit suggestiven Fragen wie "Er schaute doch in dein Ohr, oder?" nach einer medizinischen Untersuchung sehr einfach zu beeinflussen waren.
4 Anwendungsaspekte der Gedächtnisforschung im Bereich der Augenzeugenaussagen
Alle der bis jetzt angesprochenen Aspekte der Gedächtnisforschung finden Anwendung und sind übertragbar auf das Gebiet der Augenzeugenaussagen. Es ist nicht nur von großem Interesse, was ein Zeuge gesehen hat und wie man ihn dazu bringt, sich an möglichst viele Details zu erinnern, sondern auch, ob das, was er berichtet, auch tatsächlich so geschehen ist. So zeigte ein Versuch von List (1986), bei dem Probanden einen Ladendiebstahl auf Video verfolgten, daß Teilereignisse, die im Vornherein als wahrscheinlicher in Bezug auf einen Ladendiebstahl geratet wurden, besser erinnert wurden, als unwahrscheinlichere. Aber auch der Falsche Alarm (fälschlicherweise angenommenes Vorhandensein eines Ereignisses) bei wahrscheinlichen Ereignissen war viel höher. (s. 3.1, 3.2, 3.3)
1. Beeinflußbarkeit von Zeugenaussagen
Es bestehen außer den Verzerrungen nach Wahrscheinlichkeiten aber noch andere Einflüsse, die eine Zeugenaussage verfälschen können. Loftus et al. (1979) nahmen an, daß die Darbietung von Distraktoren zwischen dem Ereignis und der Wiedergabe der Erinnerung die Aussagen der Versuchspersonen beeinflussen können. Außerdem postulierten sie, daß suggestive Fragestellungen seitens der Polizei die Tatsächlichen Ereignisse verfälschen können.
In ihren Versuchen ließen sie Probanden Filme über einen Vorfall schauen und gaben ihnen dann einen Unfall- bzw. Tatbericht zu lesen. Die Versuchsgruppe bekam teilweise falsche Daten, die Kontrollgruppe nur richtige Daten. Die Ergebnisse, nämlich, daß bei den Berichten der Versuchsgruppe die falschen Daten aus dem Bericht mit einflossen, unterstützten die Hypothesen von Loftus et al.
In einer Studie von Loftus und Palmer (1974) wurde die Beeinflußbarkeit der Probanden durch suggestive Fragen belegt. Ihnen wurden Fragen gestellt, wie: "Wie schnell waren die Autos, als sie ineinander rasten ?" Das Wort rasten wurde variiert mit: kollidierten, ineinander fuhren, aufeinandertrafen, etc. Die angegebene Geschwindigkeit korrelierte mit der von der Frage vorgegebenen Wucht des Aufpralls. Ob die Versuchspersonen in ihrer Erinnerung beeinflußt werden oder ob sie Impression Management betreiben, ist nicht geklärt. Weitere Faktoren, die die Zuverlässigkeit der Aussagen beeinträchtigen, ist zum einen die Zeit, die zwischen Darbietung und Abfrage liegt, und zum anderen die Zeit, die zwischen Darbietung und Vorlage des Distraktors liegt. Beide korrelieren negativ mit der Glaubwürdigkeit der Aussagen.
Wenn ein Distraktor als zu unwahrscheinlich wahrgenommen wird, hat er keine Auswirkung auf die Richtigkeit der Aussage. Loftus (1979) führte einen Versuch durch, bei dem die Versuchspersonen einen Film sahen, in dem einer Frau eine knallrote Brieftasche geklaut wurde. Als in dem Bericht, den die Probanden im Anschluß lasen, eine falsche Farbe der Brieftasche beschrieben wurde, hatte das keine verfälschenden Folgen, die Probanden wurden nur vorsichtiger, sobald sie einmal gemerkt haben, daß der Bericht fehlerhaft war.
Die Akkuratheit einer Zeugenaussage variiert mit dem Alter. Ältere Menschen und Kinder zeigen schlechtere Leistungen (Ceci und Brucks, 1993). Zusätzlich sind Kinder noch viel anfälliger für suggestive Fragen als Erwachsene. Es gibt nur eine Studie, die ein abweichendes Ergebnis liefert. Cohen und Java (1995) zeigten, daß zwar die Gedächtnisleistungen bei Älteren generell geringer sind, auf dem Bereich der Gesundheit (z.B. Arztbesuche, Apothekenbesuche, etc.) allerdings besser als bei jüngeren Menschen. Dieses Phänomen wurde damit erklärt, daß das Thema Gesundheit für ältere Menschen eine viel größere Rolle spielt und viel mehr Raum in ihrem Leben einnimmt.
Herrmann (1991) stellte fest, daß Künstler, Architekten und Verkäufer sehr einfach durch falsche Berichte zu verwirren waren. Studenten waren dagegen weniger einfach zu manipulieren, was allerdings daran liegen mag, daß bevorzugt Psychologiestudenten für dererlei Versuche rekrutiert werden und diese nun schon einige Erfahrung und eine gesunde Skepsis mitbringen.
Bemerkenswert erscheint mir auch, daß das Angebot von Geld (25$) für richtige Antworten nicht die Antwortraten verändert (Loftus 1979).
2. Das kognitive Interview
Natürlich ist man bei einer Straftat bemüht, daß sich ein Zeuge an möglichst viele Details erinnert. Geiselman, Fisher, Mackinnon du Holland (1986) faßten die Komponenten, die ein Verhör besonders effektiv zu machen scheinen, zusammen und entwickelten so das kognitive Interview. Die vier wichtigsten Elemente sind:
- Man muß den Zeugen mental in die Zielsituation zurückversetzen. (Z.B. durch zurückrufen des Wetters, was der Zeuge dort zu tun hatte, etc.)
- Man muß den Zeugen jedes Detail erzählen lassen, wie irrelevant es auch scheinen mag.
- Der Zeuge soll das Geschehen in verschiedenen Zeiten und vorwärts und rückwärts erzählen.
- Er soll auch die Perspektiven wechseln, also so erzählen, als hätte er wo anders gestanden, oder, als hätte er sich selber gesehen.
Durch die Aneinanderreihung dieser verschiedenen Instrumente, gelingt es, viele Schlüsselreize auszulösen, die einen weiteren Teil der Erinnerung aktivieren. Geiselman et al. testeten ihre Methode gegen herkömmliche Techniken: Sie zeigten Probanden einen Film und fragten zwei Tage später den Inhalt ab. Die Versuchspersonen, die nach dem Verfahren des kognitiven Interviews befragt wurden konnten sich an 41.2% der im Film gezeigten Inhalte erinnern, die, die nach der herkömmlichen Methode befragt wurden nur 29.4%. Natürlich hängt der Erfolg eines Verhörs auch von der Kooperationsbereitschaft und der emotionalen Verfassung des Zeugen ab.
3. Theoretische Perspektiven
Die Wissenschaft hat natürlich versucht, Erklärungsansätze zu finden, um erläutern zu können, warum ein Distraktor zwischen Geschehen und Berichten Verfälschungen hervorruft und, um zu klären, was mit dem ursprünglichen Gedächtnisinhalt geschieht. Ist er noch vorhanden, oder ist er gänzlich verschwunden. Einige der plausibelsten Ansätze seien hier dargestellt.
1. Die Koexistenzhypothese
Die Koexistenzhypothese geht davon aus, daß sowohl die Originalversion, als auch die falsche Berichtversion im Gedächtnis repräsentiert sind, die falsche Version aber abgerufen wird, weil sie erst vor kürzerer Zeit präsentiert wurde und dadurch besser aktivierbar ist.
2. Die Substitutionshypothese
Die Substitutionshypothese sagt aus, daß das Ursprüngliche Wissen durch die neue Information ersetzt oder zumindest transformiert wurde. Die alte Information ist damit unwiederbringlich verloren. Loftus et al. (1978) baten im Rahmen einer Untersuchung ihre Probanden, zu versuchen, beide Versionen, also die falsche, neue und die originale, wiederzugeben, aber nur die wenigsten konnten dies. Es scheint also so zu sein, daß die alte Information zerstört ist. Dieser Prozeß ist mit einem Updatevorgang bei einem Computer vergleichbar, bei dem veraltete Information einfach durch die überarbeitete und hoffentlich bessere einfach ersetzt wird.
3. Die Quellen-Beobachtungs-Hypothese
Diese Theorie nimmt an, daß die Quellenzuschreibung der Information nicht funktioniert. Die Probanden haben hiernach, wenn sie Fehler begangen haben, sich nicht mehr erinnern können, ob die richtige Information nun in Bild (Film) oder Schrift (Bericht) übermittelt wurde. Die Theorie ist aber nicht in der Lage, zu erklären, warum die Informationen zwar mit ihrer Quelle, aber nicht mit den zugehörigen Informationen verknüpft sind.
2. Gegenüberstellungen
Zum Abschluß stelle ich noch ein zweites Aufgabenfeld der Gedächtnisforschung im Rechtswesen vor: Die Wiedererkennung eines Verdächtigen. In der Praxis sieht es so aus, daß der Zeuge eine oder mehrere Reihen mit Personen sieht und entscheiden soll, ob der von ihm gesehene Verdächtige dabei ist, und wenn ja, welche der Personen es ist. Gerade in diesem Bereich der Tatsachenfindung unterlaufen der Justiz viele Fehler, da die Zeugen die Verdächtigen oft nur sehr kurz gesehen haben. Aber es spielen noch andere Aspekte eine Rolle, die für die Fehler verantwortlich sein können.
Eine Gegenüberstellung mutet manchmal wie ein Multiple-Choice Test an, da die Zeugen, obwohl man ihnen sagt, daß der Verdächtige nicht unbedingt in der Reihe stehen muß, annehmen, daß die Polizei ja nicht ohne Verdächtigen eine Gegenüberstellung macht (Fruzetti, Tolan, Teller und Loftus, 1992).
Man sollte denken, daß, je länger die Interaktion zwischen Zeuge und Täter war, die Zuverlässigkeit der Aussage zunimmt. Aber Read (1995) fand Erstaunliches. Er ließ Kaufhausangestellte Kunden, mit denen sie gesprochen haben, in einer Gegenüberstellung identifizieren. Er variierte die Länge der Interaktion, die Ähnlichkeit zu den anderen Personen in der Reihe und ob die gesuchte Person überhaupt in der Reihe stand oder nicht. Die Ergebnisse zeigten, daß die Rate des falschen Alarms mit Dauer der Interaktion stieg. Auch das Vertrauen, das die Probanden in ihr eigenes (häufig falsches) Urteil hatten stieg ebenfalls mit der Dauer des Gespräches. Read interpretierte die Ergebnisse so, daß man seine perzeptuellen Fähigkeiten überschätzt, weil man meint, nach einer längeren Interaktion viel über eine andere Person zu wissen.
5 Zusammenfassung
Alle dargestellten Bereiche des Gedächtnisses, Gesichtergedächtnis, Stimmengedächtnis und autobiographisches Gedächtnis, sind fehlerbehaftet, und es wurden noch lange nicht alle Aspekte des Datenverlustes erörtert (z.B. Drogenkonsum). Da gerade im Bereich des Rechtswesens ein Fehler schwerwiegende Folgen haben kann, sollte die Forschung noch weiter in die Richtung der Fehlervermeidung arbeiten. Wie kann man definitiv bestimmen, ob ein Gedächtnisinhalt der Wahrheit entspricht oder nicht, wenn nicht einmal die Person selber es weiß. Es ist denkbar, daß falsche Erinnerungen erzeugt werden, wie in den Versuchen von Loftus et al., um dann Unterschiede zwischen den originalen und den falschen Erinnerungen festzustellen. Vielleicht sind hier Körperreaktionen oder die Wortwahl ein Indikator.
Alles in allem läßt sich sagen, daß die Gedächtnisforschung ein großes Gebiet ist, das noch viel Aufmerksamkeit benötigt.
6 Literatur
Cohen, G.(1996). Memory in the real World. (2nd edition). East Sussex: Psychology Press
Herkner, W.(1986). Psychologie. Wien: Springer-Verlag
- Quote paper
- Katharina Wöhrmann (Author), 1997, Forschungsaspekte des Gedächtnisses und deren Anwendung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95903
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