Inhalt
1. Einleitung mit biographischen Informationen
2. Das Bild des Menschen bei Michel Eyquem de Montaigne und Blaise Pascal, dargestellt anhand ausgewählter Texte
2.1 „Über die Wechselhaftigkeit unseres Handelns“ Das Bild des Menschen bei Michel Eyquem de Montaigne
2.2 „Mißverhältnis des Menschen“ (Auszug) Das Bild des Menschen bei Blaise Pascal
2.3 Zum Textaufbau
3. Resümee
4. Bibliographie
1. Einleitung mit biographischen Informationen
Die vorliegende Arbeit ist als Verschriftlichung eines Referates über jeweils einen Text von Michel Eyquem de Montaigne und von Blaise Pascal zu ver- stehen.
Michel Eyquem de Montaigne wurde am 28. Februar 1533 auf Schloß Mon- taigne in der Dordogne geboren und starb ebenda am 13. September 1592. Montaigne betätigt sich als Schriftsteller und Philosoph und gilt als einer der Hauptvertreter der Moralisten. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Toulouse und Bordeaux, gehört er von 1557-1569 dem Parlamentsrat in Bordeaux an, wo er schließlich von 1582-1585 das Bürgermeisteramt beklei- det. Zuvor widmet er sich jedoch ausgiebig seinen Studien und verfaßt sein Hauptwerk, dieEssais, auf die im folgenden noch ausführlicher eingegangen werden soll. Montaigne gilt als Begründer der modernen essayistischen Lite- ratur, die Sachgehalte jeweils in subjektiv-persönlicher Spiegelung ohne An- spruch auf Allgemeingültigkeit thematisiert.
Blaise Pascal wurde am 19. Juni 1623 in Clermont in der Auvergne geboren und starb am 19. August 1662 in Paris. Pascal ist ein genialer Mathematiker. Auf ihn geht z. B. der Pascalsche Kegelschnittsatz zurück. 1642/43 wird Pascal durch die Konstruktion einer Rechenmaschine bekannt. 1646 wird er mit dem Jansenismus bekannt, einer einflußreichen religiösen Bewegung. Auf Grund von Krankheiten führt Pascal auf Anraten seiner Ärzte nach 1647 ein stärker weltzugewandtes Leben und beschäftigt sich mit der Kombinatorik und Wahrscheinlichkeitstheorie.
Ab 1654 arbeitet Pascal an denPensées, einer Schrift zur Verteidigung des Christentums, auf die auch noch näher eingegangen werden soll.
Im folgenden soll vor allem anhand der Texte gezeigt werden, welches Men- schenbild die jeweiligen Autoren zeichnen. Um das Ergebnis der Arbeit abzu- runden, sollen die Untersuchungsergebnisse von Hugo Friedrich bezüglich Montaigne und von Romano Guardini bezüglich Pascal berücksichtigt wer- den.
Anschließend soll ein vergleichendes Resümee gezogen werden.
Es sei angemerkt, daß dieser Arbeit der Text „Über die Wechselhaftigkeit unseres Handelns“ von Montaigne in der neuen Übersetzung von Hans Stil- lett zugrunde liegt. Der Text „Mißverhältnis des Menschen“ von Pascal ist der Sammlung „Anthropologie“ entnommen, die als Seminargrundlage diente.
2. Das Bild des Menschen bei Michel Eyquem de Montaigne und Blaise Pascal, dargestellt anhand ausgewählter Texte
2.1 „Über die Wechselhaftigkeit unseres Handelns“ Das Bild des Menschen bei Michel Eyquem de Montaigne
Der Text „Über die Wechselhaftigkeit unseres Handelns“ stammt aus dem zweiten Buch derEssaisdes Michel de Montaigne. Hierbei handelt es sich um freie Betrachtungen eines französischen Edelmannes aus der späthuma- nistischen Zeit des 16. Jahrhunderts. Montaigne behandelt in denEssaisalle möglichen Themen, die scheinbar nach dem jeweiligen Gusto des Verfassers ausgewählt wurden und deshalb zufällig und unzusammenhängend erschei- nen. Doch im Lauf der Lektüre wird deutlich, daß der gemeinsame Nenner der Mensch ist, der im Zentrum aller Gedanken und Überlegungen steht. Montaigne verfolgt nicht die Absicht, den Menschen z. B. nach Maximen oder ethischen Normen zu klassifizieren, bzw. ein Dogma aufzustellen, nach dem der Mensch zu leben hat. Es geht ihm nicht um die Vereinheitlichung des Menschen, sondern es geht ihm vielmehr um den Versuch, die Menschen in ihrer Vielfalt zu begreifen. Sein Forschungsobjekt ist der gewöhnliche Mensch mit all seinen Charaktereigenschaften. Er soll vorurteilslos und ohne erzieherische Absichten erforscht werden. Montaignes Maßstab für seine Forschungen ist dabei er selbst. Seine Frage, was der Mensch sei, mündet immer in die Frage: „Was bin ich?“.
In dem ersten Text des zweiten Buches derEssais„Über die Wechselhaftigkeit unseres Handelns“ stellt Montaigne anhand von Anekdoten und Zitaten antiker Schriftsteller die Widersprüchlichkeit des menschlichen Handelns recht lebensnah dar.
So ist z. B. Nero, der Inbegriff der Grausamkeit, erschüttert, als er ein Todesurteil unterschreiben muß. Die Agrigenter feiern das Leben, als ob sie morgen sterben müßten, aber bauen Häuser als ob sie ewig lebten. Das Mädchen, das aus Angst vor der Vergewaltigung durch einen feindlichen Soldaten einige Selbstmordversuche unternimmt, um ihre Tugend zu schützen, ist, wie sich hinterher herausstellt, eine Dirne.
Montaigne betätigt sich also in erster Linie als Beobachter, der die Handlun- gen und Äußerungen der Menschen zunächst schlicht betrachtet. Aus seinen Beobachtungen erhält er das Bild: Der Mensch ist ein Bündel von Widersprü- chen.
„Wir bestehen alle nur aus buntscheckigen Fetzen, die so locker und lose aneinan- derhängen, daß jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er will; daher gibt es ebenso viele Unterschiede zwischen uns und uns selbst wie zwischen uns und den andern.“ [1]
Montaigne versteht sich sicherlich nicht als Pionier, der diese Tatsache als erster aufdeckt. Er stellt jedoch fest, daß diese Erkenntnis die Menschenfor- scher bislang dazu bewegt hat, die faktische Unbeständigkeit des Menschen mit einem einheitlichen Urteil zu begründen, wie z. B. mit der Theorie der zwei Seelen in der menschlichen Brust. Es ist diese offensichtliche Fragwür- digkeit eines solchen Versuches, die Montaigne herausstellt. Er behandelt die traditionelle Methode zur Erforschung des Menschen kri- tisch. Diese sah bisher so aus, daß ein Forscher die gesamte Gattung Mensch oder den einheitlich betrachteten Charakter eines einzelnen Men- schen aus einer Distanz heraus betrachtet hat, um schließlich allgemeine Urteile über die Gattung bzw. den Menschen zu fällen. Dabei ist oft die Tat- sache untergegangen, daß der Beurteilende selbst ein Mensch ist. Montaig- ne überprüft im Gegensatz dazu seine Beobachtungen an sich selbst und bezieht sich stets in seine Ausführungen mit ein. Eines seiner Ziele ist es, den Ganzheitsbegriff der Gattung Mensch sowie den Ganzheitsbegriff des einheitlichen Charakters zu beseitigen, indem er zeigt, daß sich nicht nur je- der Mensch vom anderen unterscheidet, sondern auch jeder Mensch in sich einen vielfältigen Charakter hat.
Ohne sich direkt gegen bestimmte Philosophen oder Schriftsteller zu wenden, stellt er so gleich zu Beginn des Textes fest, daß diejenigen, die versuchen, die menschlichen Handlungen unter einem einzigen Gesichtspunkt zu begreifen, in die größten Schwierigkeiten geraten.
„Gewiß spricht einiges für den Versuch, einen Menschen nach den durchgängigsten Zügen seines Lebens zu beurteilen; angesichts der naturgegebenen Unbeständig- keit unserer Verhaltensweisen und Meinungen jedoch habe ich oft den Eindruck ge- wonnen, daß selbst die guten Schriftsteller irren, wenn sie sich in den Kopf setzen, ein festes und haltbares Ganzes aus uns zu weben: Sie greifen irgendeinen Grund- zug einer Person heraus und ordnen und deuten danach all deren Handlungen; so- weit sich diese aber nicht genügend zurechtbiegen lassen, werden sie als bloße Täuschungsversuche abgetan.“[2]
Montaigne stellt heraus, daß nahezu unendlich viele Kombinationsmöglichkeiten zwischen menschlichen Handlungen, ihren Motiven und Bedingungen existieren, so daß es keine allgemeine Maxime geben kann, die dieser Vielfältigkeit gerecht würde.
„Soviel Handlungen wir unternehmen, soviel Einzelurteile erfordern sie. Das sich- erste wäre meines Erachtens, unser Tun auf die jeweils nächstliegenden Umstände zurückzuführen, ohne sich mit längeren Untersuchungen abzugeben und ohne anderweitige Folgerungen daraus zu ziehen.“[3]
Die Ursache für die menschliche Unbeständigkeit sucht Montaigne im Menschen selbst. Er berücksichtigt zwar die Tatsache, daß der Mensch den ständig wechselnden Umständen in gewisser Weise unterlegen ist, er stellt jedoch gleichzeitig fest, daß „ich selbst [...] durch meine schwankende Haltung zu diesem verwirrenden Hin und Her“ beitrage.[4]
Wenn ich unterschiedlich von mir spreche, dann deswegen, weil ich mich als unterschiedlich betrachte. Alle Widersprüche finden sich bei mir in irgendeiner den Umständen folgenden Form.[5]
Hierauf folgt eine Art Formel, die Montaigne aus seinen Überlegungen enwik- kelt:
„Es gibt nichts rundum Zutreffendes, Eindeutiges und Stichhaltiges, das ich über mich sagen, gar ohne Wenn und Aber in einem einzigen Wort ausdrücken könnte.Ich unterscheide, dies ist das A und O meiner Logik.“[6]
Dieses Unterscheiden ist meines Erachtens nicht so zu verstehen, daß der Mensch von einem Standpunkt die ihn umgebenden Dinge unterscheidet und damit für sich einordnet. Es meint wohl vielmehr die Fähigkeit des Menschen, ein und dasselbe von vielen verschiedenen Standpunkten sehen zu können im Sinne der unterscheidenden Anschauung. So kann man in dieser Formel eine Steigerung der Vielfältigkeit, die den Menschen nach Montaigne charak- terisiert, ablesen. Gleichzeitig wird die Forderung Montaignes deutlich, die er am Ende des Textes artikuliert:
Man „sollte [...] es vernünftigerweise unterlassen, unser jeweiliges Tun nur von aussen zu beurteilen: Man muss tief bis ins Innere vordringen, um zu erkennen, welche Triebfedern unsre Bewegungen auslösen.“[7]
Diese beschreibende Menschenkunde, die Montaigne betreibt, hat eine klare Botschaft. Er hat entdeckt, daß die Mängel des Menschen, die er auch als solche anerkennt, die zuverlässigen Umrisse seiner Wirklichkeit bilden. In- dem Montaigne den Menschen seine Mängel als Eigenschaften vorführt und sie dabei aus ihrem christlich-theologischen Zusammenhang herausnimmt, zeigt er einen neuen Weg: Der Mensch soll nicht mehr an seiner Endlichkeit leiden. Sobald er sich in seinem „So sein“ begreift, kann er sich erkennen.
Diese Grundeinsicht über den Menschen hat eine Veränderung der anthropologischen Methode zur Folge. Das Klassifizieren der menschlichen Handlungen muß durch eine skeptische Betrachtung derselben ersetzt werden. Der Begriff der Skepsis erhält bei Montaigne wieder den alten Sinn des Wortes:
„sie ist ein Spähen, vor dem Welt und Mensch nicht ärmer werden, sondern reicher, eine erschließende Skepsis mit der Ehrfurcht vor der Überlegenheit der reinen Er- scheinung einer Sache über die immer nur unvollkommene Deutung der Sache.“[8]
Bei Montaigne findet also die Momentaufnahme des Individuellen den Vorzug vor einem schematisierenden Menschenbild, so daß die Essais in der Forschung als ein Hauptwerk der Moralistik angesehen werden.
2.2 „Mißverhältnis des Menschen“ (Auszug) Das Bild des Menschen bei Blaise Pascal
Der Text „Mißverhältnis des Menschen“ stammt aus denPensées, einer groß angelegten Schrift Pascals zur Verteidigung des Christentums. Auf Grund von Krankheiten konnte er das Werk jedoch nicht vollenden, so daß die nachgelassenen Fragmente, die meist einen aphoristischen Charakter ha- ben, in unzuverlässiger Form erstmals 1670 veröffentlicht wurden. Neben dem Christentum steht hier wie auch bei Montaigne der Mensch im Zentrum der Betrachtungen. Pascal kannte dieEssaisvon Montaigne gut und teilte seine Auffassung, daß der Mensch in einer Vielheit von Momenten existiert, die nicht zusammengezählt werden dürfen, sondern als Ganzheit verstanden werden müssen. Während Montaigne sich jedoch bemüht, das menschliche Verhalten aus seinen erniedrigenden Zwängen, wie z. B. die christlichen Dogmen, herauszulösen, rechristianisiert Pascal den Menschen. Die Widersprüche, in denen der Mensch verwickelt ist, werden bei Montaigne beobachtet und aufgezeigt. Bei Pascal wird diese Widersprüchlichkeit in ei- ner fast unerträglichen Spannung dargestellt, die er auch selbst so erfährt. Der Reiz des Daseins besteht für ihn darin, daß es ungewöhnlich und vor allem anstrengend ist.
In dem Text „Mißverhältnis des Menschen“ behandelt Pascal vorrangig das Problem des Standpunktes des Menschen in der Wirklichkeit. Nach seiner Auffassung ist der Mensch sozusagen ein Wesen der Mitte, unfähig die Extreme zu leben oder auch nur zu erkennen.
„Denn was ist schließlich der Mensch in der Natur? Ein Nichts im Vergleich mit dem Unendlichen, ein All im Vergleich mit dem Nichts, ein Mittelding zwischen nichts und allem, unendlich weit davon entfernt, die Extreme zu erfassen; das Ende der Dinge und ihre Anfänge sind ihm in einem undurchdringlichen Geheimnis unerbittlich ver- borgen.“[9]
Diese Tatsache müsste sich der Mensch nach Pascal zunächst bewußt ma- chen, um schließlich vor dem Hintergrund dieser Einsicht die Natur im ange- messenen Rahmen und mit einem angemessenen Ziel betrachten zu kön- nen. Statt dessen erforscht der Mensch die Natur in dem Irrglauben, irgend- eine wirkliche Erkenntnis des Wesens der Dinge aus diesen Forschungen ziehen zu können.
„Wer sich auf diese Art betrachtet, wird über sich selbst erschrecken, und da er sich von der Masse getragen meint, die ihm die Natur zwischen diesen beiden Abgrün- den des Unendlichen und des Nichts verliehen hat, wird er beim Anblick dieser Wunder erzittern, und ich glaube, wenn seine Neugier sich in Bewunderung verwan- delt, wird er eher bereit sein, sie schweigend zu betrachten, als sie voll Anmaßung zu erforschen.“[10]
In diesem Fall spricht Pascal meines Erachtens vor allem die Wissenschaft- ler an. Obwohl er selbst ein genialer Mathematiker war, gilt er als einer der größten Wissenschaftskritiker seiner Zeit. So widerspricht er z. B. der Auffas- sung Descartes, der hoffte, mit dem Werkzeug des rationalen Denkens auf allen Gebieten des Wissens mathematische Gewißheit erreichen zu können. Nach Pascal ist der menschliche Verstand unfähig über wissenschaftliche Theorien eine Einsicht in das Wesen der Dinge zu erlangen.
Der Mensch, „der die Mitte zwischen zwei Extremen einnimmt“[11], ist in jeder Hinsicht begrenzt.
„Unsere Sinne nehmen nichts Extremes wahr, zuviel Geräusch betäubt uns, zuviel Licht blendet, zu große Entfernung und zu große Nähe entziehen sich den Blik- ken.“[12]
Und so fasst Pascal zusammen:
„Das ist unser wahrer Zustand. Das macht uns unfähig, etwas entweder sicher zu wissen oder es überhaupt nicht zu kennen. Wir treiben auf einer weiten Mitte, immer unsicher und schwankend, von einem Ende zum anderen gestoßen; jeglicher Grenzpunkt, an den wir uns klammern und festhalten wollten, gerät ins Wanken und entschlüpft uns, und wenn wir ihn verfolgen, entzieht er sich unserem Zugriff, er ent- gleitet uns und wendet sich zu ewiger Flucht; nichts steht für uns still. Das ist unser natürlicher Zustand, der gleichwohl unserer Neigung am meisten widerspricht. Wir brennen vor Verlangen, einen festen Halt und eine letzte, beständige Grundlage zu finden, um darauf einen Turm zu errichten, der sich bis zum Unendlichen erheben soll, aber unser ganzes Fundament kracht auseinander, und die Erde tut sich bis in die Tiefen auf.“[13]
Man könnte meinen, daß dieses Ergebnis, daß es dem Menschen nie gelin- gen werde, einen festen Stand zu finden, einige Verzweiflung zumindest bei Pascal selbst auslösen sollte. Wo findet der Mensch denn nun den Halt, den er zum Leben so dringend braucht und sucht? Pascals Antwort diesbezüglich ist eindeutig: In Gott.
„Was kann [der Mensch] also anderes wahrnehmen als ein äußerliches Bild von der Mitte der Dinge, während er auf ewig verzweifelt, ihren Anfang oder ihr Ende zu er- kennen. Alle Dinge sind aus dem Nichts hervorgegangen und werden bis ins Unend- liche weitergetragen. Wer vermag diesen erstaunlichen Schritten zu folgen? Der Schöpfer dieser Wunder begreift sie. Keinem anderen ist es möglich.“[14]
In der Religion findet Pascal die Antworten auf die Fragen, welche die Wissenschaft nicht zu klären vermag. Gott ist für das Herz wahrnehmbar, und das Herz stellt bei Pascal ein Organ der Erkenntnis dar.
Der Glaube wohnt nach Pascal also im Herzen und ist ein höheres Wissensorgan bezüglich der Erkenntnis des Wesens der Dinge als die Vernunft. Nur durch die Gnade Gottes kann der tragische Dualismus, dem der Mensch unterliegt, aufgelöst werden, und das auch nur dann, wenn es sich um einen gläubigen Menschen handelt, genauer um einen Christen. Denn die christliche Religion vermag den offensichtlichen Widerspruch zwischen menschlicher Größe und menschlicher Niedrigkeit aufzuhellen.
Im vorliegenden Fragment erklärt Pascal die Erkenntnisunfähigkeit des Men- schen des weiteren unter Berücksichtigung der Tatsache, daß der Mensch selbst nur ein Teil des Ganzen ist. Nach Pascal kann ein Teil nicht das Gan- ze er-kennen. Des weiteren schließt er auch die Möglichkeit aus, dass der Mensch die Teile erkennt, zu denen er eine direkte Beziehung hat, da alle Dinge der Welt in einer wechselseitigen Beziehung zueinander stehen.
„Da also alle Dinge verursachte und verursachende sind, da sie eine Stütze benöti- gen und eine Stütze geben, mittelbar und unmittelbar sind und alle sich durch ein natürliches und unmerkliches Band gegenseitig erhalten, das die am weitesten von- einander entfernten und die unterschiedlichsten miteinander vereint, halte ich es für unmöglich, daß man die Teile erkennt, ohne das Ganze zu erkennen, wie man auch das Ganze nicht erkennen kann, ohne die Teile im einzelnen zu erkennen.“[15]
Schließlich sieht Pascal die Vollendung der menschlichen Ohnmacht gegen- über der Erkenntnis in dem Umstand, daß die Menschen „aus zwei einander widersprechenden und verschiedenartigen Naturen zusammengesetzt sind, aus Seele und Körper“[16]. Die Dinge sind dagegen einfach. Doch der Mensch ist eben nicht in der Lage, diese Einfachheit der Dinge anzunehmen, sondern er erfaßt sie immer unter dem Aspekt seines zusammengesetzten Wesens, das er zu allem Überfluß nach Pascal am wenigsten erkennen kann.
„Der Mensch ist für sich selbst der erstaunlichste Gegenstand der Natur, denn er kann nicht erfassen, was der Körper ist, und noch weniger, was der Geist ist, und weniger als alles übrige, wie ein Körper mit einem Geist verbunden sein kann.“[17]
Während Pascal dem Menschen seine Niedrigkeit nun eindrucksvoll vorge- führt hat, zeigt sich in dem berühmten Fragment 347, was nach Pascal den Menschen dennoch groß macht. Der Mensch ist ein denkendes Wesen.
„Der Mensch ist nur ein Schilfrohr, das schwächste der Natur, aber er ist ein denkendes Schilfrohr. [...] wenn das Weltall ihn zermalmte, so wäre der Mensch nur noch viel edler als das, was ihn tötet, denn er weiß ja, daß er stirbt und welche Überlegenheit ihm gegenüber das Weltall hat. Das Weltall weiß davon nichts. Unsere ganze Würde besteht also im Denken. Daran müssen wir uns wieder aufrichten und nicht an Raum und Zeit, die wir nicht ausfüllen können. Bemühen wir uns also, gut zu denken: Das ist die Grundlage der Moral.“[18]
Nach Pascal ist der Mensch also kein sich selbst genügendes Wesen. Mit seiner Fähigkeit zu denken, geht der Mensch sozusagen über sich hinaus. Er kann also aus sich selbst heraus nicht verstanden werden. Die Natur des Menschen bedarf nach Pascal einer letzten Bestimmung, die in der Stellung- nahme zu Gott erfolgt.
2.3 Zum Textaufbau
Bei erstmaligem Lesen scheinen die Texte von Montaigne und Pascal beide keine feste Struktur aufzuweisen. Es handelt sich jeweils um eine Sammlung von Gedanken, die relativ spontan entstanden zu sein scheint. Bei genauerer Betrachtung erkennt man schließlich die Sorgfalt, mit der beide Autoren ihre Texte verfaßt haben. Besonders die Art, wie die Form der Texte ihre Aussa- ge unterstützt, zeugt von der besonderen Aufmerksamkeit der Verfasser.
Dabei fällt bei Montaigne besonders der freie Umgang mit den Texten antiker Autoren, wie z. B. Lukrez, Horaz, Seneca, Plutarch etc. auf. Er übernimmt jedoch nicht geschlossene Argumentationszusammenhänge dieser Autoren. Die aus den überlieferten Texten herausgegriffenen Zitate dienen ihm lediglich als Exempla für die von ihm behandelten Themen, so daß Montaigne auch den historischen Zusammenhang vernachlässigt. Gleichzeitig zeigt der umsichtige Umgang Montaignes mit den Errungenschaften antiker Autoren die literarischen Qualitäten des Schriftstellers.
DieEssaiskönnten ihrem Aufbau und ihrem Inhalt nach also als Selbstgespräch gewertet werden. Es handelt sich hierbei ausdrücklich nicht um eine normative Richtlinie für Montaignes Lebensganzes, geschweige denn für die Menschen überhaupt.
Auch diePenséesvon Pascal sind ihrem Aufbau und ihrer Gestaltung nach Sammlungen von Gedanken, dennoch verfolgt er ein konkreteres Ziel als Montaigne. So sind seine Aussagen geradlinig und zielstrebig. Man vermutet hinter dem Stil des Textes automatisch einen mathematischen Geist, der al- les vermeidet, was den Zweck der Aussagen unklar machen könnte. Bei Pascal könnte man statt von einem Selbstgespräch eher von einem Zwiege- spräch reden, das er indirekt mit seinem Leser führt. Er spricht ihn aus dem Text heraus an und weiß seine pädagogischen Absichten in angenehme Formen zu kleiden, so daß der Leser sich nicht genötigt fühlt. Abschließend läßt sich feststellen, daß sowohl Pascal als auch Montaigne durch ihre Art der Formulierungen - wenngleich sie verschiedene Ziele ver- folgen - den Leser provozieren abzuwägen, ob er sich der jeweiligen Mei- nung anschließen will.
3. Resümee
Obwohl Montaigne und Pascal eine sehr ähnliche Auffassung bezüglich des menschlichen Verhaltens haben, kommen sie dennoch zu sehr unterschiedli- chen Ergebnissen wie der Mensch sich aus seiner Misere befreien kann bzw. soll.
Während Montaigne den Menschen in seiner Endlichkeit begreift, sieht Pas- cal den Menschen vor dem Hintergrund des jenseitigen Lebens. Nach Pascal ist der Mensch eben dadurch groß, daß er über sein Leben hinaus denken kann und sich so in einer Beziehung zu Gott befindet. Diejenigen, die ihr Le- ben vor dem Hintergrund des Glaubens an die Gnade durch Gott leben, sind, nach Pascal, vernünftig und glücklich. Sein Ziel ist es nicht, jeden einzelnen Menschen zu missionieren, sondern zu zeigen, daß der Weg, den er auf- zeigt, die letztendliche Befreiung aus der tragischen Dualität des Menschen bedeuten kann. Zu den bedeutsamen Voraussetzungen für dieEssaisvon Montaigne gehört demgegenüber die Tendenz, den Menschen wichtiger zu nehmen als den Schöpfer. Seine Menschenkunde funktioniert erst unter der Voraussetzung, daß der Mensch sich bejaht. Dann kann er sich schlicht als dualistisch und zutiefst widersprüchlich erkennen und schließlich auch so annehmen.
Der wichtigste Unterschied zwischen Michel de Montaigne und Blaise Pascal ist die Tatsache, daß, während Pascal pädagogische Absichten hat, Mon- taigne seine Aussagen ausdrücklich auf den Lebensabschnitt einschränkt, in dem sie gemacht wurden. Hierbei handelt es sich um die Zeit von seinem vierzigsten bis sechzigsten Lebensjahr. SeineEssaissollen also vor dem Hintergrund seiner eigenen, vom Alter bestimmten Individualität auswertbar sein. Sie erheben keinen Anspruch, für sein gesamtes Leben - und schon gar nicht für alle Menschen - eine normative Geltung zu haben.
4. Bibliographie
1. Ausgaben
Michel Eyquem de Montaigne
Montaigne, Michel de : Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stillet. In: Die Andere Bibliothek. Hrsg. von Hans Magnus Enzensberger. Eichborn Verlag. Frankfurt/M. 1998, S. 165-168
Blaise Pascal
Pascal, Blaise: Mißverhältnis des Menschen (Auszug). Deutsch von Ulrich Kunzmann. In: Anthropologie. Hrsg. von Gunter Gebauer. Reclam Verlag. Leipzig 1998, S. 59-68
2. Hand- und Wörterbücher
Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Hrsg. von Jürgen Mittelstraß. Verlag J. B. Metzler. Stuttgart, Weimar. 1995
3. Forschungsliteratur
Michel Eyquem de Montaigne
Friedrich, Hugo: Montaigne. 2., neu bearbeitete Auflage. Francke Verlag. Bern und München 1967
Blaise Pascal
Guardini, Romano: Christliches Bewußtsein. Versuche über Pascal. Verlag Jakob Hegner. Leipzig 1935
Pascal, Blaise: Pensées. Nebst kritischen Bemerkungen von Voltaire. Auswahl, Übersetzung und Vorwort von Dr. Kurt Esselbrügge, Dr. Riederer- Verlag. Stuttgart
[...]
[1] Montaigne, Michel de: Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stillet. In: Die andere Bibliothek. Hrsg. von Hans Magnus Enzensberger. Eichborn Verlag. Frankfurt/M. 1998, S. 168
[2] ebd.: S. 165
[3] ebd.: S. 166
[4] ebd.: S. 167
[5] ebd.: S. 167
[6] ebd.: S. 167
[7] ebd.: S. 168
[8] Friedrich, Hugo: Montaigne. 2. neubearbeitete Auflage. Francke Verlag. Bern und München. 1967, S. 9
[9] Blaise Pascal: Mißverhältnis des Menschen (Auszug). Deutsch von Ulrich Kunzmann. In: Anthropologie. Hrsg. Von Gunter Gebauer. Reclam Verlag. Leipzig. 1998, S. 61
[10] ebd.: S. 61
[11] ebd.: S. 63
[12] ebd.: S. 63
[13] ebd.: S. 64
[14] ebd.: S. 61
[15] ebd.: S. 66
[16] ebd.: S. 66
[17] ebd.: S. 67
[18] ebd.: S. 67f.
- Citar trabajo
- Anónimo,, 2000, Das Bild des Menschen bei Michel Eyquem de Montaigne und Blaise Pascal, dargestellt anhand ausgewählter Texte, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95861
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