Nacherzählung Theodor Storm: Hans und Heinz Kirch
Hans Kirch schaffte es mit seiner Tüchtigkeit und seinem Ehrgeiz vom Matrosen, zum Kapitän und zum Schiffseigentümer im Norden Deutschlands. Heinz wird als Erstgeborener im Sinne dieses bürgerlichen Strebens erzogen. Er sollte auch einmal zu Ehren in Rat und Kirche kommen.
Das Wenige an Zärtlichkeiten, die Hans Kirch besass, schenkte er dem Jungen. Als Heinz sechs war, durfte er erstmals mit aufs Schiff. Heinz freute sich, schon jetzt ein Schiffer zu werden. Nach dem Mittagessen wurde der kleine Heinz dem Matrosen anvertraut, während der Vater sich in der Kajüte ausruhte. Nach einer guten Stunde stieg Hans wieder auf Deck und musste mit Entsetzen feststellen, dass Heinz auf dem Mastbaum vorn über dem Bug sass. Gelähmt vor Angst konnte er nur hilflos beobachten, wie Heinz selbst wieder behutsam zu seinem Vater kletterte. Die überstandene Angst wechselte in Zorn über und Heinz musste zusehen, wie sein Vater den Matrosen züchtigte. Im nächsten Frühling musste Heinz gewaltsam an Bord gebracht werden. Die anfängliche Zärtlichkeit kam immer seltener zutage, je mehr der eigene Wille in Heinz wuchs. Hans liebte seinen Sohn vor allem deshalb, weil er seine ehrgeizigen Pläne mit ihm verwirklichen wollte. Als Heinz 12 war, kam seine Schwester zur Welt, was der Vater lediglich zur Kenntnis nahm. Heinz wuchs zu einem guten, begabten Schüler heran, der aber auch manche herbe Streiche durchführte. Ausser für Wieb interessierte er sich nicht besonders für Mädchen. Wieb war die Tochter eines Matrosen und einer etwas zweifelhaften Frau. Für Wieb stahl Heinz Äpfel, wischte ihr Tränen ab und ging mit ihr zum Hafen hinunter. Manchmal lösten sie ein Boot und Heinz ruderte Wieb zwischen dem Hafen und der vorgelagerten Insel umher. Einmal wagten sie es sogar bis zur Insel. Dort fand ein Jahrmarkt statt. Nachdem sie Karussell gefahren waren und Kuchen gegessen hatten, blieben Wiebs Augen an einem Ringlein haften. Heinz kaufte ihr den Ring. Nach der Konfirmation musste Heinz als Schiffsjunge auf den Schiffen seines Vaters einige Fahrten machen. Anschliessend, nach Vaters Plänen, heuerte Heinz im Alter von 17 Jahren auf einem Hamburger Schiff, das in chinesische Gewässer fuhr und dessen Rückkehr nicht vor einem Jahr erwartet wurde, an.
Am letzten Abend ging Heinz zum Hafen, um sich von Wieb zu verabschieden. Schweigend ruderten sie wieder hinaus. Wieb hielt mit der Hand ein Tuch um ihre Schultern fest. Da stellte Heinz fest, dass Wieb ihren Fingerring nicht mehr trug. Wieb stand auf und trat im schwankend Boot zu Heinz. Sie zog an einer Schnur den Ring hervor und legte sie zögernd um Heinz' Hals. Darauf fielen sich die beiden in die Arme und küssten sich innig. Als Heinz nach Hause kam, die Lichter in der Stadt waren schon ausgelöscht, war die Haustüre bereits verschlossen. Seine Mutter liess ihn auf sein Klopfen hin herein. Der Vater war wütend und schrie: " Klopf nicht noch einmal so an deines Vaters Tür! Sie könnte dir verschlossen bleiben!" Am Morgen verabschiedete sich Heinz.
Monate vergingen, ohne dass ein Brief von Heinz eintraf. Das Hamburger Schiff kehrte in seinen Heimathafen zurück, aber Heinz war nicht gekommen.
Eines Tages brachte der Postbote einen dicken, unfrankierten Brief von Heinz. Als der Bote auf die Bezahlung des Portos bestand, war der Vater so wütend, dass er den Brief ungeöffnet zurück gab.
Weitere 15 Jahre vergingen. Die Mutter starb, ohne zu wissen, wo ihr Sohn war.
Wieder ein paar Jahre später erhielt Hans von seiner Schwester, mit der er selten Kontakt hatte, die Nachricht, dass Heinz zurück gekommen sei. Er war aber noch nicht hier, sondern weilte noch in Hamburg. Hans holte seinen Sohn nach Hause. Heinz war kaum wieder zu erkennen. Stark gealtert, mit Vollbart und Narben im Gesicht. Heinz wurde im Haus aufgenommen. Bei den gemeinsamen Essen wollte er aber nichts erzählen und er gab nur knappe Antworten auf die Fragen seiner Familie. Der Vater war enttäuscht, dass sein Sohn mit 35 Jahren immer noch Matrose war.
Plötzlich tauchte ein Gerücht auf: der Heimgekehrte sei gar nicht Heinz Kirch, sondern der Hasselfratz, ein Junge aus dem Armenhaus, der gleichzeitig mit Heinz zur See ging und ebenfalls nichts von sich hören liess. Der Vater wie die Schwester wurden missstrauisch. Einerseits weil sich Heinz den Familienangehörigen so gleichgültig und teilnahmslos gegenüber stand, andererseits eine Tätowierung, die er sich als Jugendlicher machen liess, nicht mehr sichtbar war. Waren es die Narben, die den Anker verschwieden liessen? Eines Abends wollte Heinz von seinem Vater aber doch noch wissen: "Warum damals, da ich noch jung war, habt Ihr das mit dem Brief mir angetan? Warum? Denn ich hätte Euch sonst mein altes Gesicht wohl wieder heimgebracht." Der Vater erschrak und trotzig antwortete er: "Viel Rühmliches mag auch nicht darin gestanden haben!". Heinz lachte hart und bestätigte dem Vater, dass nicht ganz alles regulär hergegangen sei. Heinz verliess darauf schweigend das Zimmer.
Das Gerücht, dass Hans nicht den richtigen Heinz beherbergte, hielt sich hartnäckig.
Eines Abends ging Heinz in die Kneipe am Hafen. Nachdem die Bestellung auf sich warten liess, stand er auf und folgte der Schenkmagd in die Küche. Heinz erkannte in ihr Wieb. Wieb liess vor Schreck die Gläser fallen und rief: "Heinz, du bist es; oh sie sagten , du seist es nicht!" Verlegen standen sie sich gegenüber. Wieb war unterdessen mit dem Kneipenbesitzer verheiratet. Heinz kehrte in die Gaststube zurück, betrank sich schweigend und kehrte erst in der Früh' nach Hause.
Kurz darauf kam es zwischen Vater und Sohn zu einer heftigen Auseinandersetzung. Darauf hin beschloss Heinz für immer zu gehen, während der Vater entschied, seinen Sohn auszubezahlen und zu verabschieden. Am Abend legte der Vater widerwillig einen Briefumschlag mit einigen Geldscheinen in Heinz' Zimmer. Am Morgen stand Heinz in aller Früh auf, nahm einige Geldscheine aus dem Umschlag, hinterliess in englischer Sprache einen kurzen Dank für die Almosen, sagte für immer 'auf Wiedersehen' und verliess leise das Haus. Kurz vor Mittag klopfte Wieb an die Türe von Vater Kirch und murmelte. "Verzeihung, Ihr Heinz ist fort, für immer." Der Vater schrie von Schmerz verzehrt: "Was geht das dich an!" Wieb fasste Mut und sagte: "Hören sie mich! Aus Barmherzigkeit mit ihrem eigenen Kinde! Sie meinen, er sei es nicht gewesen, aber ich weiss es, dass niemand anders war!" und sie zog die Schnur mit dem kleinen Ring aus ihrer Tasche. "Das gab ich ihm, da wir noch Kinder waren, dass er mich nicht vergesse! Er hat's auch wieder heimgebracht und hat es vor meinen Augen in den Staub geworfen!" Hans sass wie ein totes Bild da und antwortete mit harter Stimme: "Mag er geheissen haben, wie er will, der diesmal unter meinem Dach geschlafen hat; mein Heinz hat schon vor 17 Jahren mich verlassen!".
Hans zog sich aus dem Geschäft zurück. Eines Nachts erlitt er einen Schlaganfall, erholte sich aber wieder recht gut davon. Von seinem früheren Jähzorn aber blieb nur noch eine weinerliche Unschuld zurück. Wieb begleitete den alten Mann. Ihr Mann hatte sich tot getrunken. Hans berücksichtigte Wieb in seinem Testament. Sein Geschäft lag in besten Händen seines Schwiegersohnes und ein Erbe war auch schon geboren.
Wo aber ist Heinz geblieben?
- Arbeit zitieren
- Käthi Styger (Autor:in), 2000, Storm, Theodor - Hans und Heinz Kirch, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95752