Marie Luise Kaschnitz (1901-1974)
Gedichtinterpretation - ,,Hiroshima"(1957)
Das Gedicht ,,Hiroshima", welches 1957 von Marie Luise Kaschnitz veröffentlicht wurde, handelt von dem Piloten, der am 6.8.1945 die Atombombe auf die Stadt Hiroshima in Japan warf. Es war der erste Einsatz einer Atombombe, wobei schätzungsweise zwischen 70000 und 200000 Menschen umkamen und 80 Prozent des Stadtgebietes vernichtet wurden. Marie Luise Kaschnitz ist eine 1901 in Karlsruhe geborene Offizierstochter mit dem Geburtsnamen Marie Luise von Holzing Beerstett. Sie entstammt dem elsässischen Adel und arbeitete zunächst im Buchhandel in Weimar und München. 1924 begann sie als Sekretärin am Archäologischen Institut in Rom zu arbeiten und heiratete ein Jahr später Guido von Kaschnitz-Weinberg. 1926 veröffentlichte sie erste Gedichte und Texte in Zeitungen später dann ganze Gedichtbände und Erzählungen. Nach dem Tod ihres Mannes im Jahre 1958 lebte sie als freie Schriftstellerin in Frankfurt. Sie ist vor allem als Lyrikerin in die deutsche Literaturgeschichte eingegangen und für ihre Humanität in ihren Werken bekannt, weshalb sie auch im Jahre 1955 den Büchner-Preis erhielt. Sie starb 1974 in Rom und ist in Bollschweil begraben.
Nach dem ersten Lesen des Gedichtes erscheint es mir sehr fremd und eigenartig. Ich erhoffe mir von einer gründlichen Interpretation mehr Klarheit über ,,Hiroshima".
Das Gedicht ist in zwei Strophen untergliedert, die sich in Aufbau und Form deutlich unterscheiden.
Der Inhalt der ersten Strophe, die aus acht Zeilen besteht, trifft einige Aussagen über den Piloten, der die Atombombe auf Hiroshima abwarf. Es wird beschrieben, dass er ins Kloster ging und dort die Glocken läutete, sich selbst aufhing sowie wahnsinnig war und nachts Gespenster abwehrte, die ,,Auferstandene aus Staub" waren. Der Inhalt dieser Strophe stellt nichts anderes als die Nemesis-Legende dar, welche besagt, dass die Männer, der für den
Atombombenangriff zuständigen Einheit, von Schuldgefühlen geplagt worden wären, weshalb einer in ein Kloster mit Schweigepflicht eintrat, ein anderer irre geworden wäre und unter ihnen schlimme Krankheiten verbreitet waren.
Die 15-versige zweite Strophe hingegen wirkt wie eine Antithese zur Ersten. Sie beginnt mit der Aussage: ,,Nichts von alledem ist wahr." An dieser Stelle tritt das lyrische Ich aktiv auf, indem es sagt, dass es den Piloten vor einiger Zeit in einem Vorort gesehen hat. Er wird als lieber Familienvater mit einer jungen Frau und zwei Kindern beschrieben, sowie wie die Familie miteinander im Garten spielt. Zwei Textstellen sind jedoch besonders auffällig in dieser Strophe. Die erste Stelle sind die Zeilen 12 bis 13. Der Ich-Erzähler berichtet, dass die jungen Hecken und Rosenbüsche noch nicht groß genug wären, um sich hinter ihnen zu verstecken. Die andere Stelle sind die letzten drei Verse, welche aussagen, dass das Gesicht des Piloten vom Lachen ,,verzerrt" ist, da der Photograph hinter der Hecke steht. Der Photograph steht als Symbol für die gesamte Menschheit, wie die letzte Zeile zeigt. (,,[...] der Photograph hinter der Hecke stand, das Auge der Welt.") Diese beiden Textstellen werfen in meinen Augen ein negatives Licht auf die ansonsten, durch das heile Familienleben dargestellte, freundliche Strophe. Diese Stimmung wird durch die Wörter ,,verstecken" und ,,verzerrt" erzeugt, von welchen für mich eine gewisse Negativität ausgeht. Das Gedicht ist ein Prosagedicht, besitzt also keinen Reim und hat auch ansonsten keine geschlossene Form. Es wirkt auf mich auch noch ,,offener" durch die unterschiedlichen Längen und den gegensätzlichen Inhalte der beiden Strophen. Während der Pilot in der ersten Strophe als ,,Bösewicht" dargestellt wird und für seine Fehler büßen muss, ist er in der zweiten Strophe der liebe Ehemann und Vater einer glücklichen Familie in einer scheinbar heilen Welt. Dieser Kontrast, der hier von Marie Luise Kaschnitz verwendet wird ist nur ein künstlerisches Mittel, dass sie in ihrem Gedicht ,,Hiroshima" verwendet. Weiterhin nutzt sie die Wirkung der stilistischen Mittel Wiederholung sowie Metapher. Die Wiederholung ist in der ersten Strophe angewandt. Hier wird der erste Vers in der dritten und in der fünften Zeile wiederholt. Dieser Vers verkörpert in meinen Augen eine Anklage an den Piloten, denn es heißt nicht: der die Bombe auf Hiroshima warf, sondern: ,,Der den Tod auf Hiroshima warf [...]". Und das Wort Tod strahlt für mich ein ungeheuer hohes Maß an Spannung und Negativem aus. Dieser Vers prägt die erste Strophe ganz erheblich, wodurch die Strophe sehr gespannt und durchaus traurig wirkt. Schuld daran ist auch, dass diese große Last einem Einzigen angehangen wird, nämlich dem, der die Bombe abgeworfen hat. Weiterhin verwendet die Autorin einige Metapher, wie zum Beispiel: ,,Die Hecken waren noch jung [...]". Das ist zwar eine Personifizierung, diese Tatsache scheint für mich jedoch hintergründig zu sein. Jung bedeutet halt nicht alt. Marie Luise Kaschnitz will in meinen
Augen damit ausdrücken, dass, auch wenn zwölf Jahre (Zeit zwischen Bombenabwurf und Erscheinung des Gedichtes) eine lange Zeit sind und Hecken in dieser Zeit sehr groß werden können, die Wunden immer noch tief sind und noch lang kein Gras über die Sache gewachsen ist. Auch der Photograph ist eine Metapher und steht für die Gesamtheit der Menschen, die den Piloten beobachten. Dieser Metapher wird jedoch in der letzten Zeile von der Autorin selbst ,,entschlüsselt".
Auf mich wirkt das Gedicht ,,Hiroshima" von Marie Luise Kaschnitz so, als dass sie die Nemesis-Legende mit diesem Werk in Frage stellen möchte, bzw. die Leser zum Nachdenken über diesen Sachverhalt anregen möchte. Das würde also bedeuten, dass diese Legende nur ein Gerücht sei, dass, wahrscheinlich von den Amerikanern, verbreitet wurde, um zu zeigen, dass sie die schrecklichen Folgen des Bombenabwurfs erschreckt habe und sie sozusagen ihre gerechte Strafe (Nemesis ist die griechische Göttin der ausgleichenden Gerechtigkeit) bereits bekommen haben. In Wirklichkeit hingegen sei dass nur eine Lüge und die verantwortlichen Männer führen ein gutes Leben und sind wohlmöglich noch stolz auf ihre Leistung. So steht der, ,,[...] der den Tod auf Hiroshima warf [...]" stellvertretend für alle, die für dieses schreckliche Ereignis verantwortlich sind, und für einen großen Teil der Amerikaner, die in ihrem Patriotismus diese Menschen als Helden feierten. Ich glaube auch, dass die Autorin die Leser dazu aufruft nicht zu vergessen, was da schreckliches passiert ist und zu versuchen, eine Wiederholung dieses Unglücks zu vermeiden, jedenfalls kann ich das aus diesem Gedicht für mich entnehmen.
Abschließend kann ich behaupten, dass die Interpretation zum Verständnis des Gedichtes beigetragen hat und ich nun ein klareres Bild von dem Gedicht habe als vor Arbeit mit dem Text. Nach wie vor kann ich jedoch nicht behaupten, dass mir das Gedicht gefällt, auch wenn ich mich der Botschaft nur anschließen kann.
- Quote paper
- Chranz (Author), 1999, Kaschnitz, Marie Luise - Hiroshima, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95738
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