Gliederung:
A Einleitung - Ingeborg Bachmann und die moderne Poesie
B Hauptteil
1 Analyse
1.1 Lyrische Grundsituation im Zusammenhang mit den Merkmalen des lyrischen Ich
1.2 Bauform
1.3 Formale Aspekte
1.4 Sprachkünstlerische Mittel und deren Wirkung auf den Leser
2 Auseinandersetzung mit der Problematik
2.1 Charakterisierung der Geliebten anhand der Bildhaftigkeit
2.2 Darstellung der Liebe des lyrischen Ich
2.3 Autorintentionen
C Abschluss Bezug zur heutigen Zeit
Im Winter ist meine Geliebte
unter den Tieren des Waldes.
Dass ich vor Morgen zurück muss,
weiß die Füchsin und lacht,
Wie die Wolken erzittern! Und mir
auf den Schneekragen fällt
eine Lage von brüchigem Eis.
Im Winter ist meine Geliebte
ein Baum unter Bäumen und lädt
die glückverlassenen Krähen
ein in ihr schönes Geäst. Sie weiß,
dass der Wind, wenn es dämmert,
ihr starres, mit Reif besetztes Abendkleid hebt und mich heim jagt.
Im Winter ist meine Geliebte
unter den Fischen und stumm.
Hörig den Wassern, die der Strich
ihrer Flossen von innen bewegt,
steh ich am Ufer und seh,
bis mich Schollen vertreiben,
wie sie taucht und sich wendet.
Und wieder vom Jagdruf des Vogels
getroffen, der seine Schwingen
über mir steift, st ürz ich
auf offenem Feld: sie entfiedert
die Hühner und wirft mir ein weißes
Schlüsselbein zu, Ich nehm's um den Hals
und geh fort durch den bitteren Flaum.
Treulos ist meine Geliebte,
ich weiß, sie schwebt manchmal
auf hohen Schuh'n nach der Stadt,
sie küsst in den Bars mir dem Strohhalm
die Gläser tief auf den Mund,
und es kommen ihr Worte für alle.
Doch diese Sprache verstehe ich nicht.
Nebelland hab ich gesehen,
Nebelherz hab ich gesehen.
Aus Ingeborg Bachmann:
Anrufung des Großen Bären. München 1956.
Die moderne Form der Lyrik ist kaum mit der "herkömmlichen", früheren Poesie vergleichbar. Sie ist im ersten Moment verwirrend und schwer verständlich. Nach eingehender Beschäftigung entfaltet sie allerdings ihren vollen Reiz und übt eine Faszination auf den Leser aus, die dessen Interesse weckt und seine Fantasie anregt. Die Autoren der heutigen Zeit verlassen sich nicht mehr auf die althergebrachte Dichtkunst. Sie lösen sich von den alten Vorstellungen über die Entstehung und den Inhalt der Poesie, indem sie ganz neue Wege einschlagen. Völlig widersprüchliche Worte werden zu scheinbar unsinnigen Wendungen gekoppelt, denen der Leser vorerst nur mit Unverständnis und Verwirrung begegnen kann. Aber genau dieser Aspekt ist es, der das Interesse des Lesers weckt.
Eine typische Vertreterin dieser modernen Poesie ist die Österreicherin Ingeborg Bachmann. 1926 in Klagenfurt geboren, zeigte sie schon früh Interesse an der Literatur. Sie verfasste zahlreiche Gedichte, sowie H örspiele und Kurzgeschichten. Ihre Werke zählen zu den bedeutendsten der Gegenwartsliteratur.
Eines ihrer bewegendsten Gedichte ist "Nebelland", das 1556 im Rahmen des Gedichtbandes "Anrufung des Großen Bären" publiziert wurde. Es handelt sich hierbei um ein typisches Gedicht der Gegenwartslyrik, da es nicht eindeutig erschlossen werden kann, so dass ich als Rezipient nur - in der Hoffnung, den rechten Weg einzuschlagen - Mutmaßungen zum Inhalt das Gedichts anstellen kann, die auf meinem subjektiven Verst ändnis dieser Art der Lyrik beruhen. Dass es sich um ein Liebesgedicht handelt, steht nat ürlich außer Frage. Ich vermute, dass sich der Inhalt des vorliegenden Werkes mit einer unerfüllten Liebe beschäftigt. Das männliche Lyrische Ich betet eine Geliebte an, die ihn jedoch nicht beachtet und sich anstelle dessen mit anderen M ännern umgibt. Natürlich ist dabei auch nicht auszuschließen, dass es sich um ein weibliches Lyrisches Ich handelt, wobei dann ein homosexuelle Beziehung angestrebt werden würde. Bezogen auf meine Rezeption, gehe ich jedoch vom ersteren Fall aus.
Dem Gedicht liegt eine kühle, fast schon melancholische Stimmung zu Grunde. Es klingt zwar traurig, doch der Leser merkt deutlich, dass dem Lyrischen Ich viel an der beschriebenen Frau liegt und er sie wirklich zu lieben scheint. Die Position des Lyrischen Ich ist nicht eindeutig zu klären, da er einerseits persönliche Erfahrungen schildert und somit einen sehr nahen Bezug zum Beschriebenen hat. Auf der anderen Seite jedoch sind es bestimmte Formulierungen und Bilder, wie beispielsweise das der K älte, das ihn von der beschriebenen Person distanziert. Dies wiederum unterstreicht den Inhalt und die Aussage des Gedichts. Doch wie bereits erw ähnt, kann der Leser eine innige Verbundenheit des Ich mit der Geliebten spüren.
Die Bauform betreffend, könnte es sich um die Addition-Variation-Summation handeln, denn das Verhalten, das Auftreten und der Charakter der Geliebten wird in jeder Strophe neu und von einer anderen Seite aus beschrieben. Ebenso ihr Verhalten, dem Lyrischen Ich gegen über. Geht man von dieser Bauform aus, stellen die beiden letzten Zeilen die Bilanz dar, die am Ende gezogen wird.
Das Gedicht hat eine sehr regelmäßige äußere Form. Es besteht aus sechs Strophen à sieben Zeilen. Nur die letzte Strophe bildet eine Ausnahme, denn sie umfasst nur zwei Zeilen. Die Metrik ist frei und die Zeilenlängen sind unregelmäßig. Auch der Rhythmus ist nicht eindeutig zu bestimmen, jedoch tendiert er, bedingt durch die zahlreichen Enjambements, eher zu einem fließend-strömenden Charakter. Diese Formmerkmale lassen vielleicht auch auf die Gefühle des Lyrischen Ich schließen. Durch die Unregelmäßigkeit von Metrum, Reim und Zeilenlängen könnte man vermuten, dass der Sprecher auf irgendeine Weise beunruhigt ist, was wahrscheinlich mit dem Verhalten seiner Geliebten zusammenhängt.
Besonders kennzeichnend für den inhaltlichen Aufbau des Gedichts ist die metaphorische Sprache, die sich durch das gesamte Werk zieht und maßgebend für das inhaltliche Verst ändnis ist. Ich erwähne diesen Aspekt an dieser Stelle, da es zu aufwendig wäre, alle im Gedicht beschriebenen Bilder als Metaphorik zu kennzeichnen, da das gesamte Gedicht aus lyrischen Bildern besteht. Zu deren Erklärung komme ich dann an passender Stelle.
"Im Winter ist meine Geliebte unter den Tieren des Waldes." (Zeile 1-2) Dieser erste Ausspruch lässt den Leser bereits erahnen, was das Thema des Gedichtes ist. Der Winter wird sofort mit K älte, Schnee und Eis assoziiert. Es ist die Zeit, in der kaum etwas wächst und die in der Poesie oft mit dem Tod oder Lebensabend gleichgesetzt wird. So wird also gleich zu Beginn des Gedichtes ein negatives Bild aufgebaut, wo allerdings trotzdem noch etwas Hoffnung mitschwingt, denn zum einen kann der Winter auch sehr sch ön sein und zum anderen kommt nach dem Winter auch immer noch ein Frühling, der die Geister wieder erwachen lässt.
Diese widersprüchliche Grundstimmung zieht sich durch das ganze Gedicht. das Lyrische Ich scheint sehr betr übt, dennoch hat der Leser das Gefühl, dass der Sprecher immer noch etwas Hoffnung in seinem Herzen trägt. Die Geliebte befindet sich nun also unter den Tieren des Waldes. Das klingt so, als ob sie eine unter vielen ist. Es gibt viele Menschen, es gibt viele Frauen und sie ist eine davon, jedoch wird diese Beschreibung in Zeile 4 konkretisiert, als die Geliebte die Gestalt der Füchsin annimmt. Sie ist also eine Frau unter vielen, jedoch für das Lyrische Ich ist sie etwas ganz besonderes, was sich durch seinen Charakter und durch seine Art von allem anderen abhebt. Die Füchsin ist als Fabeltier bekannt, dass durch seine Intelligenz und Listigkeit oft zu besonderer Bedeutung kommt. Jedoch wird ein Fuchs auch als sch önes geschmeidiges, wendiges und flexibles Tier beschrieben, das immer etwas Geheimnisvolles hat. Die Füchsin lacht, weil sie weiß, "[dass das Lyrische Ich] vor Morgen [zurück muss]" ( Zeile 3-4). Diese Zeilen klingen nicht als ob die Geliebte lacht, weil sie besonders viel Spaß hat. Es scheint mehr Hohn und Spott zu sein. Dies in Zusammenhang mit der Personifikation der F üchsin lässt den Leser den Eindruck gewinnen, dass sie deutlich über dem Lyrischen Ich steht und dieses sich auch zurückgestellt fühlt, so dass ihm nichts anderes übrig bleibt, als zu ihr hinaufzuschauen. Und irgendwie scheint auch ein gewisser Stolz auf die Geliebte und eine ehrliche Bewunderung mitzuspielen.
Dies ist auch in der nächsten Zeile zu spüren, wo es heißt: "Wie die Wolken erzittern!" (Zeile 5 ). Die Geliebte lacht und die Wolken erzittern. Auffällig wird hier, dass dieser Hauptsatz, der zum, am vorherigen Zeilenende durch ein Komma abgetrennten, vorhergehenden Hauptsatz geh ört, nun am Zeilenanfang groß geschrieben wurde. Dieses Mittel dient wahrscheinlich dazu, die Aussage dieser Zeile zu intensivieren.
Das Erzittern der Wolken erinnert an den griechischen Götterglauben, wo nur die Götter die Macht und die Erhabenheit hatten, den Himmel beben zu lassen. Diese Formulierung dr ückt also sehr deutlich aus, wie groß die Verehrung des Lyrischen Ich an seine Geliebte ist. Vielleicht soll dieser Satz auch zeigen, wie gro ß seine Angst vor einer neuen Enttäuschung durch die Geliebte ist. Und während sie lacht "[fällt ihm] auf den Schneekragen eine Lage von brüchigem Eis." (Zeile 6-7). Den " Schneekragen" würde ich wie folgt deuten: Der Kragen soll eine der empfindsamsten Körperstellen schützen: Den Nacken. Ist dieser Kragen nun aber aus Schnee, der ja bekanntlich sehr kalt, nass und unangenehm ist. Die Autorin baut hier anhand des " Schneekragen[s]" und des "brüchige[n] Eis [es]" ( Zeile 6-7) ein Bild der Kälte auf, mit der die Geliebte dem Lyrischen Ich begegnet. Und diese kühle Abweisung trifft ihn an seiner wundesten Stelle. Ich vermute, dass man den Nacken hier gleichbedeutend mit dem Herzen verstehen kann. Die Geliebte, die er so sehr anbetet und verehrt, kehrt ihm den R ücken zu und trifft ihn mit dieser Gefühlskälte direkt in sein Herz.
Die zweite Strophe beginnt ebenso wie die erste mit einem Enjambement. Dieses sprachk ünstlerische Mittel setzt die Autorin sehr häufig ein, so dass das Geschriebene sehr flüssig und fließend klingt.
Auch hier ist von der Geliebten die Rede, die dieses mal in Gestalt eines " Baum[es] unter Bäumen" (Zeile 9) auftritt. Diese Personifikation hat dieselbe Bedeutung wie in der ersten Strophe. Auch hier ist die Geliebte wieder eine von vielen. Jemand der allerdings "die glückverlassenen Krähen/ ein[lädt] in ihr schönes Geäst. " (Zeile 10- 11) Mit den Krähen assoziiert man hässliche Tiere, die krächzend im Winter umherfliegen. Vögel, die im Sommer den Bauern die Kirschen von den Bäumen fressen, die ungeliebte und ungebetene Gäste sind. Die Krähe ist also negativ konturiert. Mit den glückverlassenen Krähen könnte die Autorin Menschen meinen, die vielleicht von der Gesellschaft geächtet, ohne großen Reichtum oder Ehre in den Tag hineinleben und versuchen, so gut es geht, "über die Runden zu kommen". Eben diese Menschen lädt die Geliebte zu sich ein, bewirtet sie wahrscheinlich und kümmert sich um sie. Dieser Umstand bedrückt das Lyrische Ich, da es sich von seiner Geliebten vernachlässigt und zurückgestellt fühlt. Der Leser bekommt den Eindruck, dass er fast schon eifersüchtig ist, da seine Angebetete diese Menschen zu sich einlädt, ihn aber außen vor lässt. Sie umgibt sich mit anderen Männern und beachtet ihn dabei nicht, was ihn nat ürlich zutiefst betrübt.
"Sie weiß,/ dass der Wind, wenn es dämmert,/ ihr starres, mit Reif besetztes / Abendkleid hebt und mich heimjagt ." ( Zeile 11 -14)
Auch an dieser Stelle arbeitet die Autorin mit denselben Mitteln wie in der ersten Strophe. Auch hier baut sie wieder ein Bild von eisiger Kälte auf. Den Wind könnte man mit der Vergänglichkeit des Augenblicks gleichsetzen, da der Wind ein sehr kurzlebiges nat ürliches Phänomen ist, das genauso schnell auftaucht wie es wieder verschwindet. Gemeint sind eventuell die kurzen Momente, die er mit seiner Geliebten hat. Vielleicht, wenn sie ihn doch einmal ansieht oder ihm ein Lächeln schenkt. Doch diese Augenblicke verschwinden genauso schnell wie eine Windböe und das Lyrische Ich wird wieder aus dem Traum von der Vorstellung, der Geliebten näher zu kommen, gerissen, als sie ihm sofort wieder mit einer Kälte gegenübertritt, die er als besonders schmerzhaft empfindet. Doch wenn der Wind ihr Abendkleid hebt, das sonst mit Reif besetzt ist, werden diese Augenblicke besonders unvergesslich, weil sie dann ihre Majestätik und Kälte ablegt und ihn "unter ihr Abendkleid schauen lässt". Doch darf man dabei nicht vergessen, dass das Abendkleid mit Reif besetzt ist. Der Reif ist zwar zart und schön anzuschauen, jedoch auch zerbrechlich und vergänglich wie der Wind. Zusätzlich unterstützt er das Bild der Kälte, das hier immer wieder auftaucht. An Ende dieser zweiten Strophe wird das Lyrische Ich heimgejagt. Ich glaube nicht, dass es die Geliebte selbst ist, die ihn heimjagt , sondern eher die Angst des Lyrsichen Ich vor einer neuen Enttäuschung, vor einer neuen Abweisung und davor, dass sie ihn mit ihrer Ignoranz noch mehr verletzt.
Auch die dritte Strophe beginnt mit den Worten: "Im Winter ist meine Geliebte/[...]." Dieses Mal ist sie "[...] unter den Fischen und stumm." (Zeile 15-16) Auch hier ist sie wieder eine von vielen und trotzdem erkennt sie das lyrische Ich sofort. Das zeigt wieder ganz deutlich seine Liebe zu ihr. Anschlie ßend an diese ersten zwei Zeilen der dritten Strophe kommt ein Schachtelsatz, der sich über die nachfolgenden fünf Zeilen erstreckt.
Das Lyrische Ich beschreibt wie es am Ufer steht und den Wassern hörig ist. Hier bestätigt sich das Gefühl des Lesers wiederum, dass das Lyrische Ich eine ausgegrenzte Position einnimmt. Er scheint abseits am Ufer zu stehen, seine Geliebte bewundernd, bleibt sie für ihn doch unerreichbar, weil sie sich im Wasser befindet. Das Wasser, dem er hörig ist. Das Wasser symbolisiert hier eventuell "den Fluss des Lebens", das hei ßt, die Zeit die davonließt, Veränderungen, die sich vollziehen und Menschen, die kommen und gehen. Das lyrische Ich hat anscheinend das Gefühl, dass ihn die Zeit "davonläuft" . Es ist ihm klar, dass er nicht ewig seine Geliebte von weitem bewundern kann.
Doch das Wasser kann ebenso als Lebenselixier gedeutet werden, so dass sich das lyrische Ich vom pulsierenden Leben der Geliebten ausgeschlossen fühlt, aber gern daran teilhaben würde. Die Geliebte steht inmitten zahlreicher gesellschaftlicher Aktivit äten. Sie kostet ihr Leben aus und kümmert sich nicht um die Folgen ihres Lebenswandels. Unbekümmert hat sie ihren Spaß und folgt dem Ruf ihres Herzens nach dem Leben, den das Lyrische Ich auch vernimmt, ihm jedoch nicht folgen kann. Vielleicht, weil er zu viele Vorbehalte hat oder sich davor fürchtet "ins Wasser zu springen". Das Wasser, das den "[...] Strich/ ihrer Flossen von innen bewegt,[...]" steht hier für die Abenteuerlust und Spontaneit ät der Geliebten. Das Wasser - das Leben - umgibt sie wie ein unsichtbarer Schleier, der sie frisch und impulsiv erscheinen lässt. Die Schollen, die ihn vertreiben, könnte man dahingehend interpretieren, dass sie wieder die Ignoranz und Abweisung der Geliebten ihn gegen über darstellen sollen. Er stellt also erneut fest, dass seine Liebe unerfüllt bleiben wird und wendet sich daraufhin wiederum von ihr und somit vom "aktiven" Leben ab, inmitten dessen sie sich befindet. Doch in den letzten Zeilen dieser Strophe lässt die Autorin den Leser ahnen, dass er sich nach genau diesen Dingen sehnt und immer noch ein wenig Hoffnung darauf hat, von seiner Geliebten ernst genommen zu werden: "[...] wie sie taucht und sich wendet." (Zeile 21). Es ist der letzte bewundernde Blick bevor er geht.
"Und wieder vom Jagdruf des Vogels/ getroffen, [...]" . Bei dieser Formulierung denkt der Leser sofort an einen mächtigen Falken oder an einen anderen Greifvogel. Es ist ein Tier, das sich majest ätisch in die Lüfte erhebt, um dann lautlos wieder zu Boden zu st ürzen, um ein Opfer zu fangen. Der Greifvogel wird gewöhnlich mit Anmut und Kraft assoziiert. Vielleicht ist es die Kraft, die zum Lyrischen Ich zurückkehrt, so dass er erneut den Jagdruf vernimmt. Er rafft sich also nach so zahlreichen Enttäuschungen durch die Geliebte wieder auf und gibt die Hoffnung nicht auf, sie tatsächlich eines Tages zu erobern. Doch der Leser bekommt den Eindruck, dass er diese Hoffnung eher als Last empfindet, denn jedes Mal, wenn er wieder die Kraft gewonnen hat, an die Geliebte heranzutreten, erwartet ihn eine neue Entt äuschung, ein neuer verletzender Blick oder eine Geste, die nur auf Abneigung schließen lässt. Er "stürz[t] [...] / auf offenem Feld" (Zeile 24-25), niedergeschlagen zieht er sich ein weiteres Mal zurück, versunken in Trostlosigkeit und Selbstzweifel. Das offene Feld könnte die Einsamkeit des Lyrischen Ich symbolisieren, in der er sich immer wieder findet und aus der er sich auch scheinbar nicht befreien kann. Vielleicht ist es auch dieses Gefühl des Alleinseins, was ihn immer wieder versuchen lässt, etwas Liebe und Zuneigung zu erhaschen.
Doch die Geliebte "entfiedert/ die Hühner und wirft [ihm] ein weißes/ Schlüsselbein zu." ( Zeile 25-27). Die entfiederten Hühner stehen eventuell für die zahlreichen Menschen, denen es schon genauso erging wie dem Lyrischen Ich. Menschen, die die Geliebte missachtet und verstoßen hat, obwohl sie nur auf der Suche nach etwas Zärtlichkeit und Geborgenheit waren. Vielleicht könnte man die Geliebte sogar mit der Gesellschaft gleichsetzen. Menschen öffnen sich ihr, versuchen ihren Maßstäben zu entsprechen "buhlen um ihre Gunst", um Liebe und Vertrautheit in dieser materiell eingestellten Welt zu finden. Doch die Gesellschaft will solche Menschen nicht. Sie strebt nach arbeitenden und funktionierenden Individuen, denen wahre Gef ühle genauso fremd sind wie ihr. Und an diesem Prinzip sind schon tausende zerbrochen, weil sie sich einsam und unverstanden fühlten.
In dieser vierten Strophe spürt der Leser zum ersten Mal eine Verbitterung in den Worten des Lyrischen Ich. Er scheint endlich genug davon zu haben, dass die Geliebte nur mit ihm spielt, seine Gef ühle missachtet und ihn immer wieder verletzt. Doch schließlich wirft sie ihm "[...] ein weißes Schlüsselbein zu", das vielleicht erneut seine Hoffnung symbolisiert. Jedoch klingt es wie ein Almosen, den sie ihm zuwirft. Wahrscheinlich bekommt jeder ihrer Liebhaber einen Hühnerknochen, so, dass es nichts besonderes ist. "[Er nimmt's] um den Hals/ und geh[t] fort durch den bitteren Flaum"( Zeile 27-28).
Das Paradoxon am Ende dieser Zeilen zeigt deutlich, dass seine Hoffnung nun immer mehr schwindet und dass es ihm zwar sehr schwer fällt, von der Geliebten abzulassen, doch sieht er ein, dass es keinen anderen Ausweg gibt, als sie zu vergessen. Es ist eine bittere und schmerzhafte Einsicht, die jedoch unbedingt n ötig ist, was das Lyrische Ich zwar ungern aber doch einsieht. Und so klingen auch die nächsten Zeilen als ob das Lyrische Ich eine Bestätigung für die Richtigkeit seiner Entscheidung sucht, denn "Treulos ist [s]eine Geliebte,[...]" ( Zeile 29).
Die Autorin bedient sich hier dem Mittel der Inversion, um die Treulosigkeit der Geliebten besonders in den Vordergrund zu rücken. Das Lyrische Ich berichtet weiterhin, dass sie manchmal aufgemacht in die Stadt geht und "[...] in den Bars mit dem Strohalm / die Gläser tief auf den Mund [küsst]" (Zeile 32). Sie betrinkt sich also. Sie gibt sich einem Rausch hin, taucht ab in eine andere Welt. Vielleicht ist es auch die Flucht vor der Trostlosigkeit des Lebens. Sie betrinkt sich "[...] und es kommen ihr Worte für alle."(Zeile 34). Sie wird anscheinend noch offener und beschäftigt sich mit zahlreichen Leuten, spricht mit ihnen, aber wendet sich nach wie vor vom Lyrischen Ich ab, denn "[...]diese Sprache versteh[t] [er] nicht." (Zeile 35).
Ich glaube nicht, dass mit dieser Formulierung ausschlie ßlich die Sprache der Geliebten gemeint ist. Vielmehr ist es wohl ihr Lebenswandel und ihre Art, mit anderen Menschen umzugehen, die für das lyrische Ich unverst ändlich sind. Sie spricht zwar mit vielen Menschen, doch kommt es hierbei nicht auf die Qualit ät an, sondern auf die Quantität. Mit jedem, dem sie begegnet, kann sie sich nur flüchtig auseinandersetzen. Ihr bleibt keine Möglichkeit, "in den Menschen hineinzusehen", der vor ihr steht. Seine wahren Gef ühle bleiben ihr durch ihre Oberflächlichkeit verschlossen. Wahrscheinlich hat sie bereits völlig die Sensibilität verloren, andere Menschen wirklich zu verstehen und auf sie einzuwirken. Die Geliebte scheint jedoch in Wirklichkeit nur damit besch äftigt, sich des Scheins Willen mit möglichst vielen Menschen zu umgeben, ohne, dass sie auch nur einen von ihnen tatsächlich kennt - von ehrlichen Gefühlen keine Spur.
Das Lyrische Ich kommt sich vor, als befände es sich in einem Nebelland. An einem Ort, an dem es nur von Nebel umgeben ist, wo es sich verlassen und einsam fühlt. Trostlosigkeit und Wehmut hallen in den Worten des Lyrischen Ich wieder. Es ist die Ausweglosigkeit, die sich immer wieder bemerkbar macht. Der Nebel verdeckt die Sicht der Menschen auf das Wesentliche - das Gefühl der Liebe. Die Menschen sind nicht mehr imstande, echte Gefühle zu empfinden, weil ihnen der Blick durch Gro ßstädte, rationales Denken und Oberflächlichkeit vernebelt wurde. Diese Bilanz am Ende des Gedichts klingt erschreckend. Jeder Mensch lebt in der heutigen Zeit ausschließlich für sich selbst, in einer Einsamkeit, die vielleicht nicht einmal jedem bewusst ist, weil sie bereits zur Gewohnheit geworden ist.
Das Lyrische Ich scheint vor dieser Vorstellung Angst zu haben, weil man das Nebelland auch mit Angst und Ungewissheit in Verbindung bringen könnte. Für das Lyrische Ich, dem materielle Werte völlig egal sind und dessen Leben durch die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit geleitet wird, ist das eine Horrorvision. Es scheint fast, als sähen sich die Menschen untereinander nicht einmal: Sie reden aneinander vorbei, als existiere der Gegenüber gar nicht. Es ist wie die Geliebte, dass die Menschen mit den Gefühlen anderer nur zu ihrem eigenen Vorteil umspringen, wie es ihnen gefällt und dass sie aber gleichzeitig eine Ignoranz und eine Abgestumpftheit gegenüber den Bedürfnissen und Gefühlen ihrer Mitmenschen entwickeln.
"Nebelland hab ich gesehen,
Nebelherz hab ich gesehen." (Zeile 36-37)
Dieser Parallelismus der letzten Zeilen ist eine gesellschaftliche Kritik, die auf die Oberflächlichkeit und Gefühlskälte des modernen Menschen abzielt. Das Nebelland steht für den allgemeinen Umgang miteinander und für die Gesamtheit der Gesellschaft, die abgestumpft für jegliche Empfindungen ihrer Arbeit nachgeht. Das Nebelherz seht speziell für die Gefühle des Menschen, die nur noch eine zurückgestellte Rolle spielen und somit so gut wie keine Bedeutung mehr haben, weil die Menschen durch diese Verdr ängung von jeglicher Emotion vergessen haben, wie man Gefühle ausdrückt und empfängt. Das Lyrische Ich scheint zu den wenigen Menschen zu gehören, die noch offen zu ihren Empfindungen stehen und so aber keinen Zugang mehr zu der sie umgebenen Gesellschaft finden, so dass sie unwillkürlich in die Einsamkeit st ürzen und irgendwann resigniert so werden wie ihre Mitmenschen. Doch einen Lichtblick scheint es zu geben: Der Nebel kann sich auch auflösen und die Perspektive auf die wirklich wichtigen Dinge des Lebens wieder freigeben. Die Metapher des Nebels tr ägt die Hoffnung in sich, dass man, wenn man nur lange genug im Dunst umherirrt, vielleicht doch noch jemanden findet, der sich aufs Menschsein besonnen hat und nicht mehr Werkzeug des Fortschritts sein möchte.
Wie stark die Gefühle des Irischen Ich sind, ist deutlich an der Art zu erkennen, wie er seine Geliebte beschreibt. Ihr Charakter und ihre Eigenarten werden zwar nie konkret genannt, jedoch arbeitet die Autorin mit zahlreichen Bildern, um die Geliebte dem Leser näher zu bringen. Wie bereits erwähnt, ist sie in der ersten Strophe eine Füchsin unter den Tieren des Waldes. Ausgehend von dieser Personifikation, kann man annehmen, dass sie klug und gebildet, aber wahrscheinlich auch hinterlistig und schwer zu durchschauen ist. Dass ihr Lachen die Wolken erzittern lässt, zeugt von ihrer Macht über andere Menschen und über ihren großen Einfluss, den sie auch auf die Gefühle des Lyrischen Ich nimmt. In der nachfolgenden Strophe ist sie "ein Baum unter B äumen", was für ihre Charakterliche St ärke sprechen würde, denn Bäume symbolisieren Lebenskraft, Standfestigkeit und Beständigkeit[1]. Sie lädt die Krähen zu sich ein, ist also gastfreundlich und anderen Menschen gegen über scheinbar aufgeschlossen.
In der dritten Strophe ist sie unter den Fischen und stumm. Diese Beschreibung stellt einen Gegensatz zu den charakterlichen Eigenschaften aus der zweiten Strophe dar, denn Fische sind alles andere als standhaft. Sie sind schnelllebig, gewandt und wandern stets von einem Ort zum anderen. Dieser Gegensatz zeigt auf, wie vielfältig und facettenreich der Charakter der Geliebten ist und wie sehr sie das Lyrische Ich damit zu beeindrucken scheint. Wie groß seine Liebe zu ihr sein muss zeigt bereits die Wahl der Bilder, mit der er sie charakterisiert. Er h ätte ja ebenso auch negativ konturierte Begriffe mit der Beschreibung der Geliebten in Verbindung bringen k önnen. Doch dies tut er nicht. Er baut ein Naturbild auf. Bereits zu Zeiten der Minnelyrik wurde die Natur, die als vollkommen galt, mit einer schönen Frau verglichen. Etwas Ähnliches könnte auch hier zum Tragen kommen.
Außerdem bekommt der Leser den Eindruck, dass er sie st ändig beobachtet und jede ihrer Regungen genau kennt. Er scheint zwar stets abseits zu stehen, jedoch hat er nie Augen für etwas anderes als sie. Er ist ihr hörig und kann ihr vieles verzeihen, doch verletzt ihn ihre Kälte letztendlich doch so sehr, dass ihm keine andere Wahl bleibt, als sich abzuwenden, denn sonst würde er an dieser Enttäuschung zerbrechen. Irgendwann muss er einsehen, dass sie ihn nie verstehen wird und eine völlig andere Auffassung vom Leben hat als er. Ihr geht es nur darum, Spaß zu haben, doch er möchte eine ernsthafte Beziehung mit einem wahren Gef ühl der Liebe und der Vertrautheit, was er bei ihr allerdings nie finden wird, weil sie dieses Gefühl gar nicht zu kennen scheint.
Ingeborg Bachmann wollte vielleicht eben dies in ihrem Gedicht ausdrücken: Die mangelnden zwischenmenschlichen Empfindungen und emotionalen Beziehungen.
Ich denke nicht nur, dass es auch heute noch - über vierzig Jahre nach Veröffentlichung des Gedichts - genug Menschen gibt, die taub sind für die Probleme und Gefühle anderer. Ich glaube sogar, dass dieser Trend noch zugenommen hat. Bedingt durch so genannte Groschenromane, Seifenopern und anderen kommerziellen Veröffentlichungen, ist das Gefühl von Liebe längst so versiegt, dass es Menschen heute schon peinlich ist, Liebe offen zu zeigen. Die Sehnsucht nach Geborgenheit wird als Schwäche interpretiert und das Vertrauen schamlos ausgenutzt. Liebe und Herzschmerz sind zu einem kommerziellen Bestandteil der Unterhaltungsindustrie verkommen.
Die Liebe ist nicht mehr aufregend und geheimnisvoll, weil sie - breitgetreten von den Medien - ihren Flair und ihre Besonderheit verloren hat. Es ist, was jeder weiß, was jeder tut und worüber jeder spricht, doch bleibt der Kern - das Gefühl - irgendwann zwischen Oberflächlichkeit und Keine-Zeit-haben einfach auf der Strecke. Vielleicht sollten wir überlegen, ob es Geld, Macht, Fortschritt und Modernisierung wert sind, das elementarste Gefühl - die Liebe - so oberflächlich zu behandeln, dass es früher oder später im Nebelland verloren geht.
1 Aus: Raju Kurray: Tatoos mit Henna. Augustus Verlag. Augsburg 1998.
- Arbeit zitieren
- Madlen Jannaschk (Autor:in), 1999, Bachmann, Ingeborg - Nebelland - Analyse eines fikitionalen Textes - Lyrik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95686
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