Inhaltsverzeichnis
1. Die Mainauer Naturlehre - Einleitung
2. Astronomie und Diätik
3. Die philosophische Zeit - Augustinus und Aristoteles
4. „Einführung in die Grundprobleme der Komputistik“
4.1. Der Tag
4.2. Das Jahr - Jahresteilung
4.3. Die Jahreszeiten
Exkurs I: „Die kosmische Zahl Vier“
Exkurs II: Zeitauffassung
II.A. Die Zeitauffassung des Mittelalters
II.B. Wandel des Zeitbegriffs
II.B.a. Aristoteles
II.B.b. Kloster
II.B.c. Handel
II.B.d. Mechanik
4.4. Die Zyklen - Die Indiktion
4.5. Die Monate
4.5.1. Sonnenmonat
4.5.2. Mondmonat
4.5.3. Kalendermonat
4.6. Besondere Tage
4.3.1. „ drier hande tage “
4.3.2. Die Unglückstage
4.3.3. Bewegliche Feste
5. Schlußbemerkung
6. Literatur
1. Die Mainauer Naturlehre - Einleitung
Die Mainauer Naturlehre entstand ca. 1300 nach Christus wahrscheinlich durch einen Geistlichen, möglicherweise auch durch einen Ritter des Deutschen Ordens, der wahrscheinlich auf der Insel Mainau oder zumindest am nördlichen Ufer des Bodensees lebte. Es existiert die - allerdings unbewiesene und unwahrscheinliche - Vermutung, daß es sich bei dem Verfasser um Hugo von Langenstein handelt.
Überliefert ist der Traktat durch Konrad von St. Gallen, der ihn im zweiten Drittel des 14. Jahrhunderts niederschrieb. Die Mainauer Naturlehre existiert nur in einer einzigen Handschrift. Sie hatte also keinen großen Einfluß zu verzeichnen.
Den Titel erhielt der Traktat von seinem Entdecker und Herausgeber Wilhelm Wackernagel. Allerdings ist die “Wahl des Titels [...] nicht gerade glücklich zu nennen: streng genommen ist nicht von der Natur im allgemeinen die Rede, sondern von solchen Phänomenen, die von Bedeutung für die Zeitrechnung sind, und von der Praxis der Zeitrechnung selbst. Eine Überschrift wie 'Buoch von der zît' oder dgl. wäre dem Inhalt angemessener gewesen.“[1]
Francis B. Brévart würdigt die Mainauer Naturlehre als „erstes, umfangreiches komputistisches Werk in deutscher Sprache“[2]. Auch bei Karl Stackmann findet sie Anerkennung als ein „Kabinettstück früher deutscher Fachprosa“[3]. Vermutlich wurde sie als Unterrichtsbuch verfaßt, was man aus der direkten Ansprache der Schüler, der Formulierung von Merksätzen auf fingierte Fragen, den häufigen anschaulichen Beispielen und Illustrationen sowie an der Ausrichtung an den quadrivalen Unterricht ersehen kann. Der Verfasser der Mainauer Naturlehre faßt in ihr „exemplarisch all das zusammen, was ein gelehrter Mann am Anfang des 14. Jahrhunderts von einigen der mathematischen Fächer der Quadriviums wußte, bzw. was er aus den ihm zur Verfügung stehenden Quellen für vermittelnswert hielt.“[4]
Die Mainauer Naturlehre entspricht einer Zusammenfassung mehrerer Quellen, denen sie teilweise wörtlich folgt. Andererseits werden die Quellentexte auch stark zusammengefaßt oder Passagen nach inhaltlichen Gesichtspunkten ausgewählt. Folgende Texte standen dem Verfasser nach Francis B. Brévart zu Verfügung:
- Zur Astronomie: Johannes Sacrobosco : De sphaera mundi - ca. 1230, erfolgreichstes astronomisch-kosmographisches Lehrbuch des ganzen Mittelalters.
- Zur Komputistik: Johannes Sacrobosco : Libellus de anni ratione, seu ut vocatur vulgo computus ecclesiasticus - ca. 1230 - 1235, ähnlich der ‚ Sphaera ‘ ein viel gebrauchtes Lehrbuch, das zu den Pflichtvorlesungen der Universität gehörte.
- Zur Medizin/Diätik: Secretum secretorum - pseudo-aristotelisches Kompendium des 10. Jahrhunderts. Die Mainauer Naturlehre gilt als „eines der frühesten Zeugnisse für die ndl./dt. Rezeption der Philippus-Tripolitanus-Fassung“[5].
- Augustinus: „Civitas Dei“,„Confessiones “- Möglicherweise auch Schriften von Martianus Capella, Alfraganus und Aristoteles, auf die sich die Mainauer Naturlehre des öfteren bezieht. Allerdings waren deren Ansichten im 13. und 14 Jahrhunderts schon längst Allgemeingut der Gelehrten.
In dieser Arbeit wird untersucht, welche Bedeutung die Mainauer Naturlehre dem Begriff Zeit zuweist, was ihr im Zusammenhang damit wichtig erscheint und in welchem zeitgeschichtlichen Kontext es steht.
2. Astronomie und Diätik
Astronomie und Diätik sind für die Betrachtung des Begriffes Zeit in dieser Arbeit nicht wichtig, oder zumindest nur eingeschränkt. Da beide Themen aber einen relativ großen Raum in der Mainauer Naturlehre einnehmen, soll trotzdem ein wenig darauf eingegangen werden.
Man kann die Astronomie als Voraussetzung der Zeitrechnung ansehen, da die Zeit anhand der Himmelskörper gemessen wird. Deswegen sind Erklärungen diverser astronomischer Grundlagen durchaus sinnvoll.
Astronomie und Diätik stehen insofern in Beziehung zu einander, daß im Mittelalter das Theorem von Abbildlich- und Abhängigkeit des Mikro- und Makrokosmos‘ anerkannt war. So glaubte man an eine Verbindung bzw. Analogie zwischen dem menschlichen Körper und dem Kosmos. Astrologische Grundlagen waren deswegen bestimmend für die Medizin und Diätik. Fast jeder Arzt kannte sich im Mittelalter in Dingen der Astrologie aus und wandte diese Kenntnisse auch für die Diagnose und Behandlung an.
Andererseits kann die Diätik in gewisser Weise als Konsequenz der Zeitrechnung betrachtet werden. Unter Diätik versteht man die Ernährung von Gesunden und Kranken, sowie Richtlinien zu einer vernünftigen Lebensführung. Diesbezügliche Ratschläge werden aber oft in Anbetracht bestimmter ‚Zeiten‘ (z.B. Jahreszeiten, Monate, Tage) erteilt. Mit Hilfe der Astronomie konnten ‚gute‘ und ‚schlechte‘ Zeiten für bestimmte Handlungen bestimmt werden. Die Nacht zum Beispiel war im Mittelalter immer eine ‚böse‘ Zeit. Sie galt als Symbol des Bösen und der Sünde, sie gehörte den Toten. Nacht war immer gleichgesetzt mit Tod, Angst und Schutzlosigkeit. Interessant ist es deswegen, daß in der Mainauer Naturlehre die Nacht ausdrücklich und objektiv als bloßer Schatten der Erde verzeichnet wird: „ die naht daz ist der erden schetewe, die von der sunnen gant. “ (5,4-5). In der häufigen Qualifizierung von guten und bösen Zeiten findet die Nacht jedoch keinen weiteren Platz.
Über den ganzen Text verteilt finden sich in der Mainauer Naturlehre viele Ratschläge zum Thema Gesundheit. So erfolgt häufig eine Zuordnung der vier elementaren Wahrnehmungsqualitäten kalt, warm, dürr und feucht[6], die wiederum Ratschläge zur richtigen Verhaltensweise nach sich ziehen[7]. Aber auch die Eigenschaften gut und böse werden häufig zugeordnet.[8] Daraus resultieren wiederum Angaben und Ratschläge, welche Tätigkeiten zu welchem Zeitpunkt zu unterlassen oder sinnvoll seien.[9]
3. Die philosophische Zeit - Augustinus und Aristoteles
Die Mainauer Naturlehre beginnt mit nahezu rein astronomischen Ausführungen, und zwar mit dem Aufbau der Welt (Seite 1-3). Sie bestehe aus den vier Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer sowie den Sphären der Sterne. Die Sterne werden unterteilt in die sieben ‚Planeten‘ Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter und Saturn sowie die Fixsterne des Firmaments. Die Elemente und die Planeten werden zudem noch nach verschiedenen Eigenschaften (kalt, warm, feucht, dürr, gut, böse, Farbe) qualifiziert. Die Eigenschaften der Elemente werden sogar in Beziehung zum Naturell der Menschen gesetzt.
Außerdem finden sich noch Bemerkungen zu den Größenverhältnissen von Erde und Planeten. Es heißt, selbst der kleinste Stern sei noch größer als die Erde, obwohl er nur wie ein Punkt am Himmel erscheint (1,11-16).
Auch auf die Schwerkraft wird eingegangen. So hätten die Planeten und das Firmament unterschiedliche Umlaufrichtungen. Die Kraft des Firmaments wäre so groß, daß es alles darunter liegende einschließlich der vier Elemente mit sich ziehen würde. Doch durch die entgegengesetzte Bewegung der sieben Sterne würde diese Kraft im Bereich der vier Elemente aufgehoben (2,12-3,12). Schwerkraft ist auch auf der Erde zu finden. So wäre der Fall immer als Bewegung zum Erdmittelpunkt zu sehen (3,15-3,23).
Abschließend zu den astronomischen Ausführungen folgt eine anschaulichen Zeichnung des Aufbaus der Welt (Erde, Wasser, Luft, Feuer, Sphären von Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter, Saturn, Firmament, Primum Mobile). Dazu vermerkt der Verfasser, daß dies (nämlich die Sphären) die Welt sei. Aber auch hundert Jahre würden Welt genannt. Damit ist der Übergang zur Zeitberechnung geschaffen. Nun wird der philosophischen Betrachtung von Zeit eine gute halbe Seite gewidmet.
Der Verfasser folgt in seiner Abhandlung über Zeit und Zeitrechnung dem Libellus de anni ratione, seu ut vocatur vulgo computus ecclesiasticus (ca. 1230-1235) von Johannes de Sacrobosco, verwendet aber auch andere Quellen wie z.B. Augustinus und Aristoteles.
Die Theorien zur Zeit waren im Mittelalter nicht einheitlich. Es gab jedoch einen Grundstock von Schriften, der die damaligen Diskussionen bestimmte. Dazu zählten der Timaeus (37cff.) des Platon (427 - 347 v. Chr.), die Confessiones (Buch XI) des Augustinus (354 - 430 n. Chr.) und die Physica (Buch IV) des Aristoteles (384 - 322 v. Chr.), die im 13. Jahrhundert allgemein bekannt wurde. Die unterschiedlichen Auffassungen von Aristoteles und Augustinus wurden im Mittelalter ausführlich diskutiert.
Begonnen wird mit dem Verhältnis von Zeit und Ewigkeit, das zu „den traditionellen Themen der Philosophie der Zeit“[10] gehört. Es wird gesagt, Zeit und Ewigkeit seien völlig verschieden. Ewigkeit gehöre zu Gott, dessen Ort sich noch hinter dem Firmament im Primum Mobile befinde. Nur in unserer Welt gäbe es Zeit, die identisch mit Vergänglichkeit sei.
Diese Aussagen stimmen mit der damals gängigen Meinung überein. Zeit und Ewigkeit wurden als die beiden Teile der Heilsgeschichtlichen Zeit angesehen. Ewigkeit war damit zeitlos. Die Zeit strebe ihrer Auflösung in die Ewigkeit entgegen. Die Ewigkeit war für den gläubigen Menschen im Mittelalter höher gestellt als die vergängliche Gegenwart, weil sie ohne Anfang und Ende ist und bei Gott angesiedelt wurde.
Daraufhin wird der Begriff Gegenwart charakterisiert als ein „ vil cleines stundel, daz du ez kume maht vor cleine merken “ (4,6f.) - also ein unendlich kleiner Zeitraum. Da im folgenden Augustinus zitiert wird, ist eine Überprüfung Augustinus‘ Thesen und Argumentation berechtigt. Augustinus findet ausgehend von 100 Jahren immer kleinere Zeiteinheiten, bis er zu dem Schluß kommt, daß Gegenwart gänzlich ohne Ausdehnung ist. „Könnte man irgendwas von Zeit sich vorstellen, so winzig, daß es gar nicht mehr sich teilen läßt, auch nicht in Splitter von Augenblicken: solche Zeit allein wäre es, die man ‚gegenwärtig‘ nennen dürfte; sie aber fliegt so reißend schnell von Künftig zu Vergangen, daß auch nicht ein Weilchen Dauer sich dehnt. Denn sowie sie sich ausdehnt, zerfällt sie schon wieder in Vergangenheit und Zukunft; aber als Gegenwart ist sie ohne Ausdehnung.“[11] Die Mainauer Naturlehre und Augustinus korrespondieren also in diesem Punkt miteinander. Aber auch Aristoteles ist der Auffassung, daß das Jetzt ohne Ausdehnung ist. Anschließend folgt in der Mainauer Naturlehre die Aussage, Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart seien keine Zeit, d.h. sie ‚sind‘ nicht. „ unde die für gevarne zit en ist niht ein zit.die kunftige zit ist niht ein zit. unde diz stundel en ist och niht ein zit. “ (4,7-9) Die Frage, ob Zeit, die in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgeteilt wird, ‚sein‘ kann, wird bei Augustinus und Aristoteles ausführlich diskutiert. Beide kommen nach längerer Argumentation zu der Schlußfolgerung, welche die Mainauer Naturlehre zitiert: Vergangenheit ‚ist‘ nicht mehr. Sie war zwar Gegenwart, hat sich aber schon von dieser zur Vergangenheit gewandelt. Zukunft ‚ist‘ noch nicht. Sie wird zwar Gegenwart werden, ist es aber noch nicht. Gegenwart kann auch nicht ‚sein‘. Denn wenn sie immer ‘ist’, ist sie Ewigkeit. Gegenwart hat allerdings keinerlei Ausdehnung in der Zeit, weil sie sofort in Vergangenheit zerfällt. Also kann sie auch nicht ‚sein‘.
Zur Gegenwart wird vermerkt, sie sei nur der Anfang der Zeit, selbst aber keine Zeit. „ diz stundel [...] ist nuwen ein angenge der zite, als ein punctel einer linien anegenge ist, unde ist doch nicht eine linige. “ (4,8-10) Es stellt sich die Frage, wem der beiden Denker die Mainauer Naturlehre denn nun folgt. Bisher sind Übereinstimmungen sowohl mit Augustinus als auch Aristoteles zu verzeichnen. Jedoch haben die Gelehrten in einigen Punkten sehr unterschiedliche Auffassungen. An dieser Stelle ist ein erster Hinweis darauf zu erkennen, welche Ansicht die Mainauer Naturlehre vertritt. Aristoteles begreift nämlich im Gegensatz zu Augustinus das Jetzt nicht als Teil der Zeit, sondern lediglich als Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft. Eine ähnliche Auffassung wird auch in diesem Beispiel veranschaulicht. Die Mainauer Naturlehre gibt allerdings keine Argumentation wieder. Es werden lediglich die Schlußfolgerungen vermerkt.
Nun wird jedoch wiederum Augustinus zitiert: „ wir sin in der zit, wir reden von der zit. waz abir diu zit sie, des vermisse wir genzliche. “ (4,12-13). Gemeint ist wohl das folgende Zitat Augustinus‘: „Was ist also ‘Zeit’? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht.“[12] Er drückt darin aus, daß es natürlich ist,in der Zeit und mit der Zeit zu leben. Versucht man jedoch, die Zeit zu analysieren, entzieht sie sich. Sie zerfällt in die ausdehnungslosen Jetztpunkte der Gegenwart, die ja selbst nicht ‚sind‘. Zusätzlich wird Augustinus noch ein weiteres anschauliches Beispiel in den Mund gelegt, um das ‚Nichtsein‘ von Vergangenheit und Zukunft zu veranschaulichen. „ unde geschiht der zit, als der ein linigen machen will mit einer nadeln durch win in eime napfe. daz gestrichene en ist niht. daz du solt strichen en ist niht. unde belibet dir nuwen ein punctel. “ (4,13-16).
Am Schluß der philosophischen Überlegungen über den Zeitbegriff wird eine Art Merksatz formuliert, der wiederum Augustinus in den Mund gelegt wird: „die zit ist ein twale an der die zergenclichen dinc beweget werdent. “ (4,17f.) Der Merksatz enthält also zwei Aussagen:
1.) Zeit ist ein Kontinuum[13]. 2.) Die vergänglichen Dinge werden in der Zeit bewegt.
Zu 1.) Zeit ist ein Kontinuum:
Unter der Voraussetzung einer richtigen Übersetzung ist an dieser Stelle eine gewisse Ungereimtheit zu verzeichnen. Denn Augustinus sprach „als erster von einer kleinsten, unteilbaren Zeiteinheit“[14]. Er denkt sich die Zeit bestehend aus unendlich vielen Zeitatomen, die wiederum selbst nicht mehr teilbar sind. Deswegen kann Zeit nach Augustinus‘ Lehre kein Kontinuum sein. In der Zeit vor dem 13./14. Jahrhundert spielte die Lehre vom Zeitatom eine große Rolle. Es sollte, ähnlich wie das Körperatom, die kleinste, selbst nicht mehr teilbare Einheit sein. Manche Gelehrte meinten sogar, dieses Zeitatom genau bestimmen zu können. Bei Beda Venerabilis (672/73 - 735) zeigt sich zum ersten Mal die Tendenz, ihm eine genaue Zeitspanne zuzuweisen. Hrabanus Maurus (780 - 856) bestimmte das Zeitatom auf die ‚Länge eines Wimpernschlages‘, auf ca. 0,16 Sekunden (376. Teil eines ostentum, welches wiederum als 60. Teil einer Stunde definiert ist). Honorius Augustodiensis unterteilte später im 12. Jahrhundert das Jahr in Monate, Tage, Stunden, Punkte, Minuten, Teile, Momente, Zeichen und Atome und berechnete eine Stunde auf 22.560 Atome. Es sein nur kurz angemerkt, daß zu dieser Zeit noch nicht einmal eine Stunde annähernd genau gemessen werden konnte...
Das Kontinuum im Aristotelischen Sinne ist jedoch als unendlich teilbar definiert, bzw. besteht aus Teilen, die durch eine gemeinsame Grenze verbunden sind. In Aristoteles Sinne ist das Jetzt jedoch selbst bloß eine Grenze und damit kein Teil der Zeit. Also kann es auch kein Zeitatom geben.
Die überwiegende Mehrheit der scholastischen Philosophen schloß sich Aristoteles Argumentation an, und die Lehre von den Zeitatomen verschwand aus dem mittelalterlichen Denken. Man kann deswegen davon ausgehen, daß auch die Mainauer Naturlehre von Aristoteles‘ Kontinuumslehre überzeugt ist.
Zu 2.) - Die vergänglichen Dinge werden in der Zeit bewegt.
Diese Aussage entspricht ebenso Aristoteles‘ Meinung: in der Zeit findet Bewegung statt, d.h. Zeit und Bewegung stehen in Zusammenhang miteinander. Augustinus stimmt Aristoteles übrigens in diesem Punkt zu. „Denn ich höre, daß kein Körper sich bewege, außer in der Zeit[...]. Wenn ein Körper in Bewegung ist, so ist die Zeit [...] das Mittel, die Dauer der Bewegung zu messen.“[15] Im elften Buch seiner Confessiones sagt er außerdem, daß viele Gelehrte die Zeit mit der Bewegung der Himmelskörper gleichsetzten. Dem stimmt er - genau wie Aristoteles - nicht zu. Denn welche Bewegung stattfindet, ist beider Meinung nach unerheblich. Selbst wenn die Himmelskörper still ständen und sich lediglich eine Töpferscheibe drehen würde, wäre dadurch Zeit erfahr- und meßbar. Augustinus geht sogar so weit, zu sagen, daß selbst wenn überhaupt keine äußere Bewegung stattfände, die innere Bewegung der Gedanken reichen würde, um den Verlauf der Zeit wahrzunehmen. Zeit und Bewegung stehen also in Verbindung miteinander.
Dabei gilt es jedoch zu bedenken, daß das Jetzt im Aristotelischen Sinne nicht als Teil der Zeit angesehen wird. Denn wäre die Zeit aus lauter Jetzten zusammengesetzt, müßte alle Bewegung unmöglich sein. Wäre im Jetzt aber Bewegung möglich, müßte es wiederum teilbar sein - und das widerspricht der Voraussetzung.
Jean Leclercq vermerkt, daß „im Bereich der Ideen und Gedankensysteme [...] die Zeit - in philosophischen Begriffen -[...] als eine Aufeinanderfolge“[16] geklärt war, und zwar entsprechend Aristoteles‘ Definition: „Tempus est numerus motus secundum prius et posterius“ (Zeit ist das Maß einer Bewegung, die sich von einem Vorher zu einem Nachher vollzieht). Dieser Aussage schließt sich die Mainauer Naturlehre nicht hundertprozentig an, denn von einem ‚Maß‘ ist hier nicht die Rede.
Mit dem Merksatz schließt die philosophische Betrachtung der Zeit ab. Der Verfasser der Mainauer Naturlehre hält sich in seinen Ausführungen an Aristoteles‘ Erkenntnisse, die er jedoch teilweise Augustinus in des Mund legt. Er gibt nicht die Argumentation wieder, fügt aber statt dessen zur Verdeutlichung seiner Aussagen anschauliche Beispiele ein.
Zeitrechnung erfordert eine Zeitmessung. Deswegen soll noch Augustinus‘ und Aristoteles‘ Begründung erwähnt werden, warum und wie man Zeit messen kann, wenn sie doch nicht ‚ist‘, bzw. die Gegenwart keine Ausdehnung hat. Das ‚Organ‘ der Zeitwahrnehmung ist für sie die Seele oder der Geist. Augustinus führt dieses Verhältnis zwischen Seele und Zeit sogar in eine Art Identität über. Im Geist könnten sowohl Vergangenheit als auch Zukunft als Gegenwart ‚sein‘: „vielmehr sollte man, genau genommen, etwa sagen: Zeiten ‚sind‘ drei: eine Gegenwart von Vergangenem, eine Gegenwart von Gegenwärtigem, eine Gegenwart von Künftigem. Denn es sind diese Zeiten als eine Dreiheit in der Seele“[17]. Und dort im Geist kann die Zeit dann auch gemessen werden, als das Gegenwärtige von Vorübergegangenem. „Der Eindruck, der von den Erscheinungen bei ihrem Vorüberziehen in dir erzeugt wird und dir zurückbleibt, wenn die Erscheinungen vorüber sind, der ist es, den ich messe als etwas Gegenwärtiges, nicht das, was da, den Eindruck erzeugend, vorüberging“[18].
Mit dem Stichwort ‚Bewegung‘ aus dem Merksatz ist ein Übergang zur Zeitrechnung geschaffen, der sich die Mainauer Naturlehre mit ihrem Hauptthema der „Einführung in die Grundprobleme der Komputistik“[19] nun zuwendet.
4. „Einführung in die Grundprobleme der Komputistik“
4.1. Der Tag
Begonnen wird mit dem Tag. Er wird anhand von zwei verschiedenen Definitionen unterschieden. Einmal gibt es den ‚astronomischen‘ Tag, der der Zeit des Sonnenlichts entspricht. „ Aber ein meister, heizit aristotiles, der sprichet von dem tage, der da dez naturlichen tages teil ist, unde sprichtet sin wort zuo latine also:‚dies es lacio solis super terram.‘Der tac, sprichet er, ist der sunnen ufganc ubir die erde. “ (5,5-8) Außerdem gibt es den ‚natürlichen Tag‘, der 24 Stunden besitzt. „ Ein naturliche dac, den die romer zuo mitter naht an hebent, [...] der gat ze mitter naht zu. der het vier unde zwenzic stunden.“ (5,1-3).
Dazu ist folgendes zu vermerken: die Zusammenfassung des Lichttags und der Nacht zu einem vollen Tag von 24 Stunden war im allgemeinen -zumindest für die Normalbevölkerung - noch nicht geläufig. Allerdings war es für sie auch nicht üblich, ein Lehrbuch über Zeitrechnung und Astronomie zu lesen (auch wenn es in unüblicher Weise in Deutsch und nicht in Latein geschrieben war). Der kleinen gebildeten Gesellschaftsschicht, wie Geistlichen, Astronomen oder Kalenderberechnern, die als Adressaten der Mainauer Naturlehre anzusehen sind, war jedoch eine umfassende Kenntnis eigen. Die erste Definition des Tages, der ‚astronomische‘ Tag, entspricht eher der des gewöhnlichen mittelalterlichen Menschen.
Darauf folgt die Erklärung der klassisch-heidnischen Wochentage (5,8-20). Sie erhalten ihren Namen auf Grund der jeweiligen astrologischen Tagesregenten, d.h. von demjenigen Planeten, der zur ersten Stunde (nach Mitternacht) des jeweiligen Tages herrscht. Im Anschluß daran folgt ein Schema zur Bestimmung der Regenten zu jeder beliebigen Stunde jeden Tages (5,20-30). Diese Bestimmung war wichtig, da je nach Eigenschaften des herrschenden Planeten (gut, böse oder neutral) bestimmte medizinische bzw. diätische Verhaltensregeln zu beachten waren.
Auffällig ist vielleicht, daß die Wochenzählung mit dem Sonntag begonnen wird. Doch erst seit der 1976 getroffenen internationalen Vereinbarung beginnt die Woche auch heutzutage nicht mehr mit dem Sonn-, sondern mit dem Montag.
Anschließend werden die Wochentage nach „ der iuden wisheit “ (5,31-33) kurz benannt. Darauf wiederum folgen die Wochentage des christlichen Mittelalters einschließlich einer Begründung, warum die Woche mit dem Sonntag (und nicht wie bei den Juden mit dem Samstag) begonnen wird (5,33-6,11).
An dieser Stelle wurde also gleichzeitig mit dem Tag die Woche abgehandelt, auch wenn auf sie selbst nicht direkt eingegangen wird. Es stellt sich die Frage, warum die Woche überhaupt und warum gerade mit sieben Tagen festgesetzt wurde. Tag, Monat und Jahr haben ihre anschauliche Begründung in den Himmelskörpern. So läßt sich der Tag aus zwei von der Erde aus sichtbaren Kreisbewegungen, der von Sonne und des Sternbilds der Großen Bärin, ablesen. Das Jahr entspricht der einmaligen Erdbewegung um die Sonne (bzw. der scheinbaren Sonnenbewegung um die Erde) und der (Mond-)Monat dem 12maligen Wechsel zwischen Voll- und Neumond im Jahr. Für die Woche findet sich allerdings keine äquivalente Kreisbewegung am Himmel.
So gab es in den alten Zeitrechnungen keine Hinweise auf die uns bekannte Woche. In der Frühzeit gab es eine Wocheneinteilung in fünf Tage, entsprechend den fünf Fingern einer Hand. Wann die Änderung zur Sieben-Tage-Woche erfolgte, ist jedoch ungeklärt. Bekannt ist allerdings, daß ausgehend von der babylonischen Hochkultur die Sieben-Tage-Woche in die jüdisch-christliche übernommen wurde. Im ersten Jahrhundert vor Christus war sie bei einem Teil des römischen Imperiums schon gebräuchlich, während die Germanen sie erst im fünften Jahrhundert nach Christus verwendeten.
Auch zur damaligen, ‚babylonischen‘ Zeit war es zum Beispiel möglich, mit freiem Auge sieben sich bewegende ‚Sterne‘ (Sonne, Mond und fünf Planeten) zu sehen. Die sieben Tage symbolisieren jedoch ebenso den Schöpfungsmythos, der davon ausgeht, daß Gott in sechs Tagen die Welt erschuf und an einem weiteren Tag ruhte. Letztendlich stellt die Woche aber auch einfach eine Unterteilung des Mondmonats entsprechend der Mondphasen dar.
4.2. Das Jahr - Jahresteilung
Nun wendet sich die Mainauer Naturlehre der Jahresteilung in Jahreszeiten zu. Im gesamten Text wird jedoch nicht definiert, was überhaupt ein Jahr ist. Nach mittelalterlicher Ansicht entsprach es der Dauer der Sonnenkreisbewegung um die Erde. Erst durch den deutschen Naturforscher Nikolaus Kopernikus (1473-1543) wurde das heliozentrische System aufgestellt, das die Sonne - und nicht die Erde - als Mittelpunkt unseres Planetensystems annimmt.
Die Zeitmessung eines Jahres ist nicht so einfach wie die des Monats. Denn das Jahr ist viel länger und deswegen nicht so gut überschaubar. Außerdem gibt es kein so eindeutiges Himmelszeichen wie den Mond, das dem Beobachter eine Zeitmessung mit bloßen Auge ermöglicht. Genaue Zeitmeßgeräte fehlten noch.
Das Jahr entspricht zudem nicht genau einer Anzahl von 12 Mondmonaten. Richtet man sich nach einem Mondkalender, stimmen irgendwann die Daten nicht mehr mit den Jahreszeiten überein. Die Kenntnis darüber ist aber für die Landwirtschaft äußerst wichtig. Deswegen ist ein auf den Sonnenlauf ausgerichteter Kalender die logische Folge.
Man entdeckte den Schatten als Meßlatte. Denn die Sonne steht im Jahr unterschiedlich hoch am Himmel. Daraus resultieren über das Jahr hin unterschiedliche Schattenlängen auch zu gleichen Uhrzeiten. Als Hilfsmittel zur Jahresmessung wurden spezielle Stäbe mit über die Generationen erarbeiteten Markierungen verwendet. Oft wurden aber auch Bauten errichtet, die nur an einem bestimmten Tag im Jahr einen bestimmten Schattenwurf ergaben (so z.B. Stonehenge in England, das die Bestimmung der Sommersonnenwende möglich machte).
4.3. Die Jahreszeiten
Zuerst wird eine Zweiteilung in Sommer und Winter erwähnt (6,12), auf die jedoch nicht weiter eingegangen wird. Sie entspricht wohl eher dem Empfinden des gewöhnlichen mittelalterlichen Menschen, der in starker Beziehung zur Natur lebt. Denn dieser unterschied eigentlich nur Sommer und Winter. Eine Vierteilung in Frühling, Sommer, Herbst und Winter, die im weiteren abgehandelt wird (6,13-8,23), entsprach eher den Gelehrten. Möglicherweise spielt die Mainauer Naturlehre genau auf diesen Umstand an, wenn sie zwischen ‚Leuten‘ und ‚Meistern‘ unterscheidet: „ Daz iar teilent dieliutein zwei, in denwinter unde in den sumer. abir diemeisterteilent ez in vier teil. “ (6,12f.)
Geht man von der Vierteilung des Jahres aus, bieten sich jeweils immer zwei Möglichkeiten an, die Jahreszeiten beginnen zu lassen. Entweder fangen sie mit der charakteristischen Wetteränderung an, das wäre an Sant Clementen, Sant Peters Tag, Sant Urbans Tag oder Sant Bartholomeus Tag. Oder sie beginnen auf Grund der die Witterung bedingenden astronomischen Vorgänge, wenn die Sonne in die vier Kardinalpunkte während ihrer scheinbaren jährlichen Wanderung um die Erde eintritt. Das wäre zu dem „ sumerliche “ (7,6) und „ winterlich solsticium “ (6,18) sowie zu dem „ lenzeliche “ (6,26f.) und „ winterliche equinoccium “ (7,16).
Die Begriffe ‚Solsticium‘ und ‚Äquinoccium‘ werden natürlich an entsprechender Stelle erklärt: „ solcsticium daz ist, so die sunne als verre ist, daz si niht verrer mac, oder so nahe, daz sie niht naher en mac. “ (6,18-20) „ Equinoccium daz ist, so diu naht unde der tag gelich lanc sint. “ (6,27f.)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Wie die Tabelle zeigt, konnten je nach Benutzung eines System in der Datierungen von Ereignisse große Abweichungen verzeichnet werden.
Aber auch das Jahr selbst konnte während der Geschichte und an verschiedenen Orten zu unterschiedlichen Zeitpunkten beginnen, wie die Mainauer Naturlehre weiter berichtet. Dies geschah unter der Herrschaft von Numa Pompilius[20] im Winter, von Romulus im Frühling, bei den Arabern im Sommer und bei den Juden im Herbst.
Zum Jahresanfang im Frühling werden einige auf der Bibel basierende Begründungen erwähnt (6,28-33). Daran ist erkenntlich, daß die Mainauer Naturlehre von einem richtigen Anfang im Frühling ausgeht.
Nicht erwähnt wird allerdings, daß auch in den einzelnen mittelalterlichen, europäischen Regionen das Jahr zu unterschiedlichen Zeitpunkten beginnen konnte. So setzte die Zeitrechnung im Mittelalter zuerst mit Weihnachten, der Passionszeit, der Auferstehung oder Verkündigung ein, doch das Osterfest bzw. der Tag der Beschneidung Christi am 1. Januar evancierten bald zu den am meist verbreiteten Jahresanfängen. In Mitteleuropa lag der Jahresbeginn vorwiegend am 25. Dezember, während er in Frankreich zu Ostern und auf den Britischen Inseln sowie in Teilen Frankreichs, Deutschlands und Italiens am 25. März stattfand. Erst 1582 mit Einführung unserer heutigen Gregorianischen Kalenders wurde einheitlich der 1. Januar festgesetzt. Trotzdem blieben auch dann noch lange Zeit die alten Kalender parallel in Gebrauch.
Im Anschluß an die einzelnen Jahreszeiten werden auch immer wieder diätische Ratschläge erteilt. Ein besonders großer Abschnitt (7,20-8,23) folgt auf den die Jahreszeiten abschließenden Herbst. Es wird hier jedoch nicht weiter darauf eingegangen.
Exkurs I: „Die kosmische Zahl Vier“
[21] Mit der Vierteilung des Jahres beginnt ein untergeordneter Abschnitt, in dem der Verfasser der Mainauer Naturlehre die Zahl Vier zum Ausgangspunkt mehrerer Erörterungen nimmt (8,23-10,5). Das Jahr wird in vier Teile geteilt. Es gibt „ vier frone vasten “ (8,24), so wie der Menschenleib aus vier Elementen besteht. Auch der Tag wird (von den Ärzten) in vier Teile geteilt und ebenso das Menschenalter. Außerdem findet man noch vier Winde.
Zahlen hatten im Mittelalter (und auch schon lange vorher) einen verborgenen Sinn, der ihnen einen über ihren reinen Zahlenwert hinausreichenden Sinn zuteilte. Zahlen stellten Ordnungsfaktoren für Raum und Zeit dar. „Die kosmische Zahl Vier ordnet die ganze Schöpfung Gottes mit den vier Elementen und Jahreszeiten, Himmelsrichtungen und Weltteilen, den Materien des Körpers und Lebensabschnitten sowie der Abfolge der Weltreiche räumlich-dinglich“[22]. Sie demonstriert die Äquivalenz von Mikro- und Makrokosmos, wie man leicht an den Ausführungen in der Mainauer Naturlehre sehen kann, die die einzelnen Punkte zueinander in Beziehung setzen.
Exkurs II: Zeitauffassung
II.A. Zeitauffassung des Mittelalters
Nach der Vierteilung des Jahres folgt die Nennung der vier Fastentage, der Quatember, die ursprünglich von der Kirche bestimmt, später jedoch zur Erhebung von Abgaben gebraucht wurden. Auch weitere Fastentermine werden noch genannt (8,23-9,8).
Nun geht die Mainauer Naturlehre auf die Vierteilung des Tages ein (9,8-20). Es gäbe nach den Ärzten eine Teilung des 24-Stunden-Tages in 4 Teile á 6 Stunden (jeweils drei vor und nach Mitternacht, Sonnenaufgang, Mittag, Sonnenuntergang). Diesen Abschnitten werden wieder die Eigenschaften kalt, warm, feucht und trocken zugeordnet.
Die erwähnte Teilung stammt aus dem römischen Altertum und wurde schon früh von den Christen übernommen. Dort wurden die je nach den gottesdienstlichen Verrichtungen benannten Tagesabschnitte die Kanonischen Stunden genannt. Sie teilten sich in sieben verschiedene auf: matutinum (im dritten Viertel der Nacht), hora prima (bei Sonnenaufgang), hora tertia (um die Mitte des Vormittags), hora sexta (Mittag), hora nona (Mitte des Nachmittags), verspera (eine Stunde vor Sonnenuntergang), und completorium (nach Sonnenuntergang). Diese Namen fallen jedoch nicht in der Mainauer Naturlehre.
Betrachtet man nun aber nochmals die Aufteilung in gleiche Abschnitte von jeweils sechs Stunden, fällt folgendes auf: die Rechnung geht nur dann auf, wenn man Mitternacht auf 24, Sonnenaufgang auf 6, Mittag (als Höchststand der Sonne) auf 12 und Sonnenuntergang auf 18 Uhr festlegt. Der Zeitpunkt der jeweiligen Sonnenstände ist jedoch nach den Jahreszeiten und Gegenden unterschiedlich. Scheint in unseren Breitengraden die Sonne im Sommer für 15 Stunden, tut sie dies im Winter nur für 9. Legt man jedoch oben genannte Regel fest, bedeutet das zwangsläufig eine unterschiedliche Länge der Stunden!
Im Mittelalter war noch eine weitere, aus der Antike übernommene Tradition der Zeiteinteilung üblich. Sie fand schon seit dem 2. Jahrtausend vor Christus Anwendung und beruhte auf der Zeitmessung durch Sonnenuhren, die nachweislich schon im 3. Jahrtausend vor Christus verwendet wurden. Der Tag (als die Dauer von Tagesanbruch bis Dämmerung) wurde in 12 untereinander gleich lange Abschnitte geteilt - die sogenannten Temporalstunden. Diese Stunden waren zwar im Verhältnis zu den direkt folgenden Tagen (relativ) gleich lang. Über die Monate und Jahreszeiten hin betrachtet, konnte deren Länge jedoch erheblich differieren (von etwa 30 Minuten im Winter bis zu 90 Minuten im Sommer). Der Höchststand der Sonne zeigte auf der Sonnenuhr immer Mittag, also die sechste von den zwölf Stunden an. In der Nacht, die auch auf zwölf Stunden festgesetzt wurde, konnte die Zeit mit Wasseruhren gemessen werden.
Wasseruhren fanden nachweislich schon im 16. Jahrhundert vor Christus Verwendung. Es gab zwei verschiedene Arten: Aus- und Einlauf-Wasseruhren. Aus einem Behälter lief Wasser aus. Die Zeitmessung erfolgte dann entweder anhand einer Meßlatte innerhalb des Auslaufbehälters. Oder das auslaufende Wasser wurde in einem weiteren Behälter gesammelt, in dem sich die Meßlatte befand. Der Wasserfluß ist je nach Fülle des Gefäßes und dem daraus resultierenden differierenden Druck unterschiedlich stark. Deswegen gibt es geringfügige Abweichungen zwischen den gemessenen Stunden. Läßt man diesen Umstand jedoch außer acht, ist ein erheblicher Unterschied zwischen Wasser- und Sonnenuhr zu bemerken: man kann mit der Wasseruhr immer gleich lange Stunden (sogenannte Äquinoktialstunden [23] ) messen. Die von der Wasseruhr gemessenen Stunden sind zu jeder Jahreszeit und in jeder Gegend gleich lang.
Diese Tatsache zeichnete die Wasseruhr im Empfinden der Menschen des Mittelalters jedoch nicht vor der Sonnenuhr aus. Im Gegenteil - man versuchte die Meßergebnisse den Jahreszeiten anzugleichen (durch Veränderungen der Meßskala oder der Fließgeschwindigkeit des Wassers), um mit der Wasseruhr die Temporalstunden messen zu können. Denn das damalige Zeitverständnis war von unserem grundverschieden.
Die Menschen des Mittelalters lebten in einer Agrargesellschaft. Rund 90 % der Bevölkerung lebte auf dem Land und hatte deswegen ein enges Verhältnis zur Natur. Dies bestimmte auch die Denkform und das Zeitverständnis im speziellen. Die Menschen lebten in einer ‚natürlichen Zeit‘. Der Begriff der Stunde, bzw. die Einteilung von Tag und Nacht waren vor der beginnenden Veränderung der Zeitvorstellung im ca. 14. Jahrhundert eine wissenschaftliche Festlegung, die im Alltag keine Rolle spielte. Die schon erwähnte Verwendung von Sonnenuhren macht deutlich, daß Zeit in Verbindung mit dem Tageslicht, bzw. dem Stand der Sonne gesehen wurde. Auch anhand der Aufeinanderfolge von Tag und Nacht, der ‚Fülle‘ des Mondes und der Aufeinanderfolge der Jahreszeiten (dem Jahr) erkannte der einfache, ungebildete Mensch den Lauf der Zeit. Diese Wahrnehmung war bestimmend für eine im Vergleich zu heute unterschiedliche Zeitauffassung.
Das Zeitverhältnis war geprägt durch Ungenauigkeit. Die Menschen der Agrargesellschaft mußten sich auf Grund der Abhängigkeit von der Wirtschaftlichkeit ihrer Arbeit der Natur anpassen. Bezogen auf den Tag bedeutete dies folgendes: Das Leben war an das Tageslicht gebunden. Auf Grund ungenügender Beleuchtungsmöglichkeiten und der Gefahr eines Brandes wurde die Nacht fast ausschließlich zum Schlafen genutzt (im Winter konnten das 11, im Sommer nur 4 Stunden sein). Am Tag mußte die Orientierung anhand des Standes der Sonne erfolgen. Denn mechanische Uhren gab es erst nicht, entsprachen dann aber auch lange Zeit einfach nicht dem ländlichen Bedürfnis.
Bezogen auf das Jahr war es nicht wichtig, zu wissen, in welchem man geboren wurde oder in welchem man sich überhaupt befand. Der Blick in die Zukunft auf die notwendigen Ereignisse (wie z.B. die Ernte, der Zeitpunkt der Aussaat) waren wichtiger. Natürlich war dafür die Kenntnis des jeweiligen Zeitpunktes im Jahr notwendig. Man benötigte eine Orientierungshilfe, wann die besten Zeitpunkte für die diversen Agrartätigkeiten oder die Pflichten eines in einem feudalen System lebenden Menschen (wie Abgaben) waren.
Eine Orientierungshilfe lag in den Namenstagen der Heiligen und den Festen des Christentums, welche die Heilsgeschichte wiederholten. Die Bauern wurden darüber durch den Pfarrer der Gemeinde informiert oder benutzten selbst Merkhilfen (z.B. den Merkspruch "Cosiojanus" oder Bretter/Stöcke mit Kerben). Die Mainauer Naturlehre nennt und verwendet selbst auch viele Namenstage. Ebenso wird ein Merkspruch angeboten, der zur Bestimmung der zwei bösen Tage, die jeder Monat besitzt, dienen soll (18,2-13).
Zeit wurde nicht so wie heute als objektives Abstraktum, das durch eine Zahl bestimmbar ist, wahrgenommen, sondern immer verbunden mit einer bestimmten Handlung, einer körperlichen Erfahrung. So gab es die ‚Zeit der Ernte‘, man bestimmte eine Zeitdauer nach der ‚Dauer des Reiskochens‘ oder benannte die Monate nach den unterschiedlichen Landbewirtschaftungstätigkeiten (z.B. Januar: Dreschmonat). Der Zeitlauf wurde immer in Zusammenhang mit Geschichten, die zum entsprechenden Zeitpunkt geschehen waren, gezählt. Je weiter ein Ereignis zurücklag, um so unbestimmter wurde die Zeitangabe, um so eher fiel es in einen regelrecht zeitlosen Raum. Ein Zeitraum wurde durch Strecken gemessen (z.B. die Zeit, in der man eine bestimme Strecke geht). Umgekehrt wurde auch der Raum durch Zeit gemessen (z.B. ein ‚Morgen‘ Land als die Fläche, die in dieser Zeit gepflügt werden konnte).
Die Zeit wurde auch nicht wie heute als linear, sondern als zyklisch wahrgenommen. Denn der Rhythmus der Natur unterliegt wiederkehrenden Zyklen (Verhalten der Pflanzen und Tiere, Jahreszeiten, Verlauf der Sonne, des Mondes oder der Gestirne im allgemeinen). So hatten die Menschen die Vorstellung, die Zeit sei ein zyklisches Phänomen und die biologischen Phasen würden sich ewig wiederholen.
Der Gedanke der ständigen Wiederholung ist auch im Zählen der Generationen zu erkennen. Im Mittelalter spielte der Vorfahren- bzw. Ahnenkult eine zentrale Rolle. Man maß damit die Zeit, sah in den Generationen aber auch Wiederholungen der Vergangenheit, die in der Gegenwart erneut abgebildet wurden. Dieses Gewicht auf die Generationen entstand wohl durch die Isolierung der Menschen auf ihr direktes Umfeld wie Dorf oder Familiengehöft. Folgerung dieser Isolierung war jedoch auch eine gewisse zeitliche Unabhängigkeit von anderen Menschen - im Gegensatz zum Kloster, wo eine genaue zeitliche Abstimmung mit anderen nötig war, die eine Zeitmessung erforderte.
Das Christentum birgt zwar durch die Geburt Christi und den Glauben an das in der Zukunft liegende Jüngste Gericht in sich schon die Auffassung eines linearen Zeitflusses. Doch die lineare Zeitvorstellung verringerte sich im Frühen Mittelalter. Als Grund dafür wird die ungewisse und schwierige Lebenssituation der Menschen angeführt, die nur eine Konzentration auf die Gegenwart zuließ. Zudem wurde auch in der Kirche in jährlichen Zyklen die Heilsgeschichte, und in wöchentlichen der Schöpfungsmythos wiederholt.
Die Äquinoktialzeit war bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts weiterhin für breite Schichten der Bevölkerung, vor allem für die Landbevölkerung, ungewöhnlich. „In gewisser Hinsicht existierte für den mittelalterlichen Menschen nur eine ‚reale Gegenwart‘, der auch Vergangenheit und Zukunft gleichsam inhärent waren.“[24].
II.B. Wandel des Zeitbegriffs
Während des 13. und besonders des 14. Jahrhunderts wandelten sich Zeiterfahrung und Zeitbegriff. Folgende Faktoren waren maßgeblich:
II.B.a. Aristoteles
Das Bekanntwerden der aristotelischen Definition von Zeit („Tempus est numerus motus secundum prius et posterius.“) führte zu Diskussionen im 13. und 14. Jahrhundert. Zeit wurde nun ein Platz in der Physik eingeräumt und nicht mehr nur noch unter spekulativen Gesichtspunkten zugehörig zur Astronomie erörtert (A. Meier nennt es die „Spaltung von Philosophie und Naturwissenschaft.“[25] ). Sie wurde immer stärker als objektive Gegebenheit erfaßt.
Schon Aristoteles löste sich davon, daß Zeit die Bewegung von Himmelskörpern sei. Zeit müßte es auch geben, wenn die Himmelskörper sich nicht bewegten. Solange es irgendeine Bewegung überhaupt gäbe, gäbe es auch Zeit. So könne man - rein theoretisch - auch die Umdrehung einer Töpferscheibe als Tag definieren. Deswegen sei Zeit das Maß der Bewegung.
Diese Argumentation wurde im 13. Jahrhundert angenommen und noch erweitert. Man war bestrebt, eine genau definierte Grundeinheit zur Messung und Berechnung von Zeit zu erlangen (z.B. die Äquinoktialstunde oder -Minute). Dieses Bestreben kann als Hinweis darauf verstanden werden, daß man sich in der Zeitvorstellung mehr zum Abstrakten, das von der Natur losgelöst ist, hinwendete. Es handelt sich dabei um „eine gedankliche, theoretische Vorarbeit zur Entwicklung einer mechanischen Räderuhr“[26].
II.B.b. Kloster
Im Gegensatz zu den natürlichen Rhythmen der Landbevölkerung stand das Leben im Kloster. Dort fanden auch die Wasseruhren Verwendung, wenn auch eher selten (sehr komplizierter Mechanismus, sehr wertvoll, Gefahr des Einfrierens). Deren Äquinoktialstunden wurden allerdings lange Zeit noch in Temporalstunden umgerechnet.
Schon im frühen Mittelalter gab es jedoch einzelne Gelehrte, die mit der Abstraktzeit umzugehen wußten. Der Papst (z.B. 529/3 von Gregor I.) wendete sich aber bisweilen gegen eine Quantifizierung der Zeit. Zahlendeutung war noch stark allegorisch verhaftet. Die Kirche versuchte immer einen eher bewahrenden als erneuernden Einfluß zu nehmen. Trotzdem werden vielfach die „spezifische Atmosphäre des Klosterlebens sowie das Ziel eines gerichteten Zeitmusters als die zentralen Voraussetzungen für die Entstehung der mechanischen Uhr und damit des Zeitbewußtseins der westlichen Zivilisation angeführt bzw. eingeschätzt.“[27] Folgendes macht die spezifische Atmosphäre des Klosterlebens aus:
a) Zeitersparnis: Eine genaue zeitliche Abgestimmtheit war auf Grund der regelmäßigen Lebensweise der Mönche und der starren Vorgaben für den Zeitpunkt der Gebete zu den sieben kanonischen Stunden, der Mahlzeiten und Arbeiten nötig. Denn es gab eine starke Reglementierung des Alltags mit Strafen für Unpünktlichkeit. Außerdem gab es das Gebot, die von Gott gegebene Zeit optimal auszunutzen. Um des im Jenseits angesiedelten Heils teilhaftig zu werden, durfte die hiesige Lebenszeit nicht verschwendet werden. Ausgerichtet auf die Ewigkeit mußte die Zeit im Sinne der christlichen Lehre sinnvoll genutzt werden.
In der Abstraktzeit wurde dann eine gewisse Zeitersparnis gesehen, da die Zeit ökonomischer und effizienter genutzt werden konnte. Mit einer nach unserer Auffassung ‚richtigen‘ Verwendung der Wasseruhr (oder dem Gebrauch von Räderuhren) konnten Zeiten festgesetzt werden, die für alle verbindlich und genau zu bestimmen waren.
Wann diese ‚produktive Zeit‘ der Äquinoktialstunden in den Klöstern Verwendung fand, ist umstritten. Es geschah entweder Ende des 14. Jahrhunderts oder schon in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts - zuerst mit Hilfe der Wasser- und später der Räderuhren.
Auch die Entwicklung und Anwendung von arbeitssparenden Maschinen (z.B. wurde Pferde-, Wind- und Wasserkraft in diversen Mühlen verwendet) hat einen Ursprung im Kloster. Es lag im Bestreben der Mönche, unnötige Arbeit einzusparen, um sie für das Beten oder die Meditation nutzen zu können.
b) Wissenschaft: Nach Rudolf Wendorff erhält "das Zeitbewußtsein seine Antriebe im wesentlichen aus drei Bereichen [...] : Natur, Gesellschaft und Denken."[28] Zum Thema Natur wurde weiter oben schon etwas gesagt.
Zu den beiden letztgenannten Punkten ist zu erwähnen: aus gesellschaftlichen Gründen hatte das Denken des Mittelalters seinen Ort im Kloster. "Vom 4. bis fast zum 15. Jahrhundert gibt es in diesem Kulturbereich keine nennenswerte rationale naturwissenschaftliche Forschung [...] - außer im Bereich der Klöster"[29]. Denn verschiedene Sachzwänge der geschichtlichen Situation verhinderten den kulturellen Fortschritt, was sich besonders im Bereich der Städte abzeichnete. Es fand zwar eine lebhafte Entwicklung zwischen 1150 und 1250 statt, die dann aber wieder abschwächte. Anfang des 15. Jahrhunderts gab es zwar 3.000 Städte in Deutschland, von denen aber 2.800 nur bis zu 1.000 Einwohnern hatten. Lediglich 15 Städte überschritten die 10.000-Einwohner-Grenze. Der Aufstieg der Städte begann erst wieder im Hochmittelalter. Damit war die Voraussetzung zur Zeitmessung und -Berechnung in den Städten nicht gegeben, nämlich die Notwendigkeit zu einer straffen Koordination eines komplexen Gemeinschaftswesens.
Am Ende des 5. Jahrhunderts wiederum war es der Kirche schon gelungen, die Begabten in ihren Dienst zu ziehen. Die Arbeit für die Ziele der Kirche brachte diesen Ruhm und Ehre ein. Die Kirche hatte deswegen ein Monopol auf die Zeitmessung und Zeitberechnung.
c) Linearität: Es bildete sich im Mittelalter die Auffassung, daß Zeit nicht mehr nur noch zyklisch gesehen werden kann; der Mensch muß handeln und sich auf eine bestimmte Weise verhalten, um ein Ziel, nämlich seine Erlösung, zu erlangen. Zeit wurde zwar noch als von Gott gegeben betrachtet. Aber es stand dem Menschen frei, wie er sie nutzte. Dies birgt die Auffassung der Linearität in sich.
Einige Wissenschaftler vermuten auch die tatsächliche Erfindung der Räderuhr in der Klostergemeinschaft. Dies kann jedoch noch nicht belegt werden. Eine Tatsache aber ist vielmehr, daß die abstrakte Zeit, wenn auch in einer ungewöhnlichen Form der Berechnung (so z.B. im 20-Minuten-Rhythmus[30] ), erstmals im Kloster Anwendung fand. „Mit dieser Zeiterfahrung und der Innovation der Räderuhr konstituierte sich vermutlich der entscheidende Impuls für eine gesamte Apperzeption der ‚Uhrenzeit‘ in den Klöstern als Basis für den Übergang der neuen Zeitrechnung in säkuläre Bereiche!“[31]
Die Pflicht und Gewohnheit der Zeitmessung, die im Kloster angewandt wurde, griff auf die Städte über. Denn der Rhythmus des klösterlichen, bzw. kirchlichen Lebens wurde durch das Läuten der Kirchenglocken öffentlich gemacht. Große Glocken kamen im 5. Jahrhundert auf, im 7. Jahrhundert wurden nachweislich die sieben kanonischen Stunden ausgeläutet. Dadurch wurden die Kirchglocken zu akustisch wahrnehmbaren Zeitsignalen für die ganze Bevölkerung. Die Landbevölkerung war zwar vorerst nicht empfänglich dafür, da sie sich weiterhin nach dem Rhythmus der Natur zu verhalten hatte. In den Städten jedoch fiel die Zeitwahrnehmung auf fruchtbaren Boden. Ähnlich wie im Kloster gab es hier einen Bedarf nach genauerer Abstimmung der sozialen und organisatorischen Tätigkeiten. So wurden dort bald viele verschiedene Glocken verwendet, um viele unterschiedliche Ereignisse anzuzeigen (es gab Gemeinde-, Arbeits-, Schmiede-, Bier-, Tor-, Zins-, Gerichts-, Markt-, Feuer-, Sturm-, Wetterglocken). Diese ständige akustische Präsenz der Glocke führte zu einer ständigen Zeitwachheit der Stadtmenschen.
II.B.c. Handel
Kaufmänner planten auch in kleineren Zeiteinheiten als Wochen und Tage. „Für die Aneignung einer modernen Zeitrechnung nach kleinen Zeiteinheiten, wie sie sich in der Neuzeit vollziehen sollte, wurde so der Grundstein gelegt!“[32]
Im 13. Und 14. Jahrhundert existierten zwei verschiedene Zeitauffassungen: 'Zeit der Kirche' und 'Zeit der Geschäftsleute'. Nach Auffassung der Kirche gehörte Zeit nicht dem Menschen, sie wurde ihm von Gott gegeben. Deswegen war es Sünde, wenn die Zeit nicht zu gottgewollten Zwecken verwendet wurde. Dazu gehörte auch, sie zu messen oder Gewinn aus ihr zu ziehen (Handel und Zinsnehmen wurden geächtet, weil die von Gott gegebene Zeit mißbraucht würde). Innovationen bezüglich der Zeitrechnung wurden als gefährlich erachtet, weil sie die Autorität der Kirche, die in gewissem Sinne ein Monopol auf die Zeitberechnung hatte, untergraben konnten.
Die ‚Zeit der Geschäftsleute‘ steht zur ‚Zeit der Kirche‘ im Widerspruch. Denn sie kostet, bzw. bringt Gewinn - ‚Zeit ist Geld‘. Das Verhältnis des Kaufmanns zur Zeit ist also durch Zeitkontrolle und Termin-Optimierung gekennzeichnet. Zeit wurde zum Mittel, das man gebrauchen kann, um es z.B. für sich arbeiten zu lassen.
Die Zeit blieb aber für die Kaufmänner bis zum 16. Jahrhundert stets temporal. Erst ab dann wurde das Prinzip der Äquinoktialstunden genutzt, auch wenn es schon vorher bekannt war. Denn auch im Spätmittelalter dominierte noch die kirchliche, liturgische Zeitvorstellung und -Gebung, von der sich die Kaufleute nicht einfach absetzen konnten.
Städte und der Handel bekamen mit der Zeit eine immer größere Bedeutung. Dies führte dazu, daß auch außerhalb des Klosters die Zeitmessung vorangetrieben wurde und allmählich eine Säkularisierung der Zeit stattfand. In Verbindung mit diesem Prozeß steht das Abwenden von der zyklischen Zeit. Die kommende Zeit sollte genutzt werden, also mußten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von einander abgegrenzt werden.
II.B.d. Mechanik
Die Verbesserung der Mechanik schaffte als Ergebnis schließlich die Uhr. Sie war zwar anfangs noch sehr ungenau, führte aber zu einer Objektivierung der Zeit, zur „Kollektiv- Zeit“[33].
Es stellt sich die Frage, warum überhaupt die Räderuhr geschaffen wurde. War die Theorie und damit verbunden die Zeitauffassung der Grund oder die Weiterentwicklung der Mechanik? Es ist wohl eher davon auszugehen, daß die sich verändernde Zeitauffassung den Impuls zur Entwicklung darstellt. Denn „zwischen dem letzten Drittel des 13. und dem letzten Drittel des 14 Jahrhunderts [wurde] nach Wegen gesucht [...], die mechanischen Uhren herzustellen und zu benutzen, und man fand diese Wege.“[34]
Ohne das Bedürfnis nach einer einheitlichen Zeit, wäre die darauf folgende schnelle Verbreitung nicht möglich gewesen. Schon 1275 wird in einem Text eine mechanische Uhr beschrieben, 1286 ist in London in der St.-Pauls-Kathedrale eine sogar erwiesen. Im 14. Jahrhundert wurden Kirchen und Rathäuser mit großen Schlaguhren ausgestattet, die häufig astronomische Hinweise gaben, so daß im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts die mechanische Uhren in die Städtelandschaften Europas Einzug erhalten hatten. „Was seit dem 14. Jahrhundert nun in den Städten durch den Klang der Glocke verkündet wurde, war keine ‚Ereigniszeit‘ mehr, sondern eine ‚abstrakte Zeit‘“[35]
Allerdings waren die Räderuhren noch lange Zeit sehr ungenau und hatten Abweichungen von 10 bis 30 Minuten zu verzeichnen. Deswegen mußten die Sonnenuhren weiterhin benutzt werden, um als Justierungshilfen zu dienen.
Es sein noch angemerkt, daß die tragbaren Uhren durch Erfindung der Federkraft (im Gegensatz zum Antrieb durch Gewichte) erst Ende des 15. Jahrhunderts entwickelt wurden. Außerdem wurde erst am Anfang der Neuzeit die Idee der neuen Zeitmessung auf die ganze Bevölkerung übertragen. Denn das Europa des Mittelalters war bestimmt durch die agrarische Gesellschaftsform, was eine weitgehende Gleichgültigkeit der abstrakten Zeit gegenüber nach sich zog.
4.4. Die Zyklen - Die Indiktion
Nach der Erläuterung der Vierteilung des Tages wendet sich die Mainauer Naturlehre den vier Winden zu (9,23-10,5), auf die hier jedoch nicht weiter eingegangen wird. Darauf folgt ein recht langer Abschnitt über astronomische Grundkenntnisse (10,5-12,9), die ich hier kurz erwähne. Es heißt, alle Sterne empfingen ihr Licht von der Sonne, auch der Mond. Auf dieser Basis wird die Sonnen- und Mondfinsternis erklärt sowie die Entstehung des Mondschattens, der nicht durch die Erde geworfen wird. Vielmehr würde der Mond immer voll von der Sonne angestrahlt und nur die der Sonne abgewandte Seite läge im Schatten. Der Eindruck des von der Erde aus sichtbaren Mondschattens entstünde deswegen auf Grund der unterschiedlichen Ansichten auf den Mond je nach unterschiedlicher Stellung des Mondes auf seinem Umkreis um die Erde.
Unvermittelt und ohne rechten Übergang kommt die Mainauer Naturlehre nun wieder auf die Komputistik zu sprechen und handelt die Indiktion ab. Tausend Jahre würde man ewig nennen, hundert die Welt und fünfzehn die Indiktion (12,10f.).
Zuerst kommt ein kurzer Abriß über die Entstehung der Indiktion (12,11-22), die nach heutiger Forschung jedoch noch nicht geklärt ist. Die Mainauer Naturlehre schildert die im Mittelalter vertretene Ansicht, sie hänge mit der Steuerverfassung des Imperium Romanum zusammen. Es gibt jedoch auch Papyrusfunde, die auf einen Ursprung in Ägypten hindeuten.
Neben dem 19jährigen Mond- und dem 28jährigen Sonnenzyklus beachtete man im Mittelalter noch den 15jährigen Indiktionszyklus. Dieser steht im Gegensatz zu den beiden erstgenannten in keinem Verhältnis zu astronomischen Vorgängen. Die Indiktion war eine der häufigsten Jahresbezeichnungen des Mittelalters und gab als Ordnungszahl die Stelle an, an der sich ein Jahr in dem 15jährigen Zyklus befand.
Die Mainauer Naturlehre gibt das Berechnungsverfahren an (12,22-13,11). Der Indiktionszyklus ist mit der ‚normalen‘ Zeitrechnung verbunden, da das erste Jahr des ersten Indiktionszyklus in das Jahr 3 vor Christus gelegt wurde - weil „ got an dem vierden iare geborn wart “ (13,7-8). Man muß deswegen die Jahreszahl um drei vermehren und dann durch 15 dividieren. Dadurch kann man ersehen, wieviele Zyklen bereits verflossen sind (was im Mittelalter jedoch kaum eine Rolle spielte) und im wievielten Jahr des Zyklus man sich befindet.
Auch den Anfang des Indiktionszyklus benennt die Mainauer Naturlehre, es sei „ der ahte tac vor dem octobri “ (13,11f.), also der 24. September. Die Einbürgerung dieses Datums, das von ca. 850 bis ca. 1350 nach Christus Verwendung fand, geht wahrscheinlich auf den Kirchenvater Beda (gest. 735) zurück.
Es gab jedoch noch mindestens zwei weitere Anfänge, die die Mainauer Naturlehre allerdings nicht nennt. Die griechische Indiktion, welche die älteste und im Orient allgemeingültige darstellte, begann am 1. September. Die päpstliche Indiktion begann mit dem 25. Dezember, bzw. 1. Januar.
4.5. Die Monate
Nun wendet sich die Mainauer Naturlehre der Jahresteilung durch Monate zu. Es wird einführend festgestellt, daß es drei verschiedene Arten Monate gäbe: Sonnen-, Mond- und gewöhnlicher Kalendermonat. „ die ersten sint der sunnen manden, die andern sint dez manen manden, die dritten der gewonheite manden. “ (13,14-16).
Vor deren Abhandlung vermittelt der Verfasser noch einige astronomische Grundlagen (13,18-28), denn er möchte „ ein wenic kunden vor hin daz guot darzuo zu wissene ist. “ (13,17) Es wird erklärt, was ein Zodiak (ein vollständiger Umkreis eines Himmelskörpers), ein Zeichen (der zwölfte Teil des Zodiaks) und ein Grad (der 30igste Teil eines Zeichens) ist. Außerdem wird erklärt, wie man bestimmen kann, in welchem Zeichen, bzw. Grad die Sonne gerade steht.
4.5.1. Sonnenmonat
Darauf folgt die Definition des Sonnenmonats: „ der sunnen mande daz ist die zit, die wile diesunne an eime zeichen louft. “ (13,31-32). Im weiteren vermittelt die Mainauer Naturlehre eine Tierkreiszeichenlehre (13,28-15,5), die auch sonst häufig in der kalendarischen Literatur Beachtung findet. Die Zeichen werden mit den Eigenschaften kalt, warm, feucht und dürr sowie in Hinblick auf ihre wetterbestimmende Kraft beschrieben. Beim Zeichen Leo werden außerdem noch die Hundstage vermerkt (14,17-22), die schon seit der Antike als besonders schädlich für die Gesundheit galten. Deswegen solle man nicht zur Ader lassen.
4.5.2. Mondmonat
Anschließend wird der Begriff Mondmonat definiert. „ dez manen mande ist diu zit in der dermane wider keren mac von der sunnen “ (15,6f.), also die Zeit von einem Neumond zum nächsten. Den tatsächlichen Neumond zu bestimmen, ist mit bloßem Auge jedoch kaum bzw. oft nicht leistbar. Man begann deswegen erst dann mit der Zählung, wenn die Mondsichel zum ersten Mal sichtbar war. Somit konnte die Monatslänge nicht akkurat bestimmt werden und es kam zu Verschiebungen von einem bis zu drei Tagen.
Darauf wird der Sinn und Zweck der Epakte genannt, ohne jedoch sie genau zu definieren. „ epacte, die leret welhes tages der mane enzundet werde. “ Denn „ die ist swere unde erdrozzenlich. “ (15,11-13). Diese Aussage ist durchaus richtig. Die Epakte gibt das Mondalter eines bestimmten Tages in den verschiedenen Jahren des 19jährigen Monzyklus, insbesondere des 22. März, in bereits abgelaufenen Tagen an. Jedem Jahr kommt demnach eine Epakte zu, die in 19jährigen Zyklus wiederkehrt. Jede Epakte ist auf Grund des Tagesunterschieds zwischen Mond- und Sonnenjahr (354 zu 365 Tage) um elf größer als die des Vorjahres. Nur die Epakte des 19. Jahres steigt um zwölf Tage an und gewährleistet so die zyklische Wiederholung der Zahlenreihe. Eine Anleitung zur Berechnung der Jahresepakte wird nicht geliefert. Nur die Goldene Zahl wird noch erwähnt, die für deren Berechnung wichtig war.
Die Goldene Zahl ist die kalendarische Entsprechung der Jahre des Mondzyklus von 19 Jahren. Sie durchläuft die christliche Zeitrechnung in der Reihe von 1-19. Sie wird ab einem Jahr vor Christus gezählt, was die Mainauer Naturlehre allerdings nicht angibt. Sie nennt als Entdecker der Goldenen Zahl Julius Caesar persönlich, der auf Grund 20jähriger Mondbeobachtung die Zahl entdeckt haben soll (15,13-22). Mit der Goldenen Zahl ließ sich eine beliebige Jahresepakte leicht berechnen. Man mußte die um eins verminderte Goldene Zahl mit elf multiplizieren und das Produkt durch 30 teilen. Der Rest ergab die gesuchte Epakte.
4.5.3. Kalendermonat
Nachdem Sonnen- und Mondmonat erklärt worden sind, kommt der Verfasser der MainauerNaturlehre auf die Kalendermonate zu sprechen: „ Nu will ich von dem gewonlichen mandensagen. der gewonlich mande daz sint die tage die von den alten ziten unde nu geschriben sintin unsern kalendenern. “ (15,22-25).
Begonnen wird mit Romulus‘ Kalender (15,25-16,10), der ab 752 vor Christus Verwendung fand. Der sagenhafte Erbauer Roms wird als Gründer des altrömischen Zeitrechnungswesens genannt. Er setzte das Jahr auf zehn Mondmonate fest. „ da von wizzest daz romelus der meister waz der erste under den romeren der daz iar mit den manden tielte. Der mahte niht wan zehen manden, Unde sprach, ez were ein iar. “ (15,25-27). Kalenderberechnungen sind immer der Versuch gewesen, den Sonnen- und Mondrhythmus in ein gemeinsames Jahresschema zu bringen. Da dieser Kalender jedoch mit 10 Mondmonaten rechnete, war ein Zuschlag von 61 Schalttagen nötig, um das Sonnenjahr zu vervollständigen. Die Schalttage wurden von den Priestern willkürlich bestimmt und ausgerufen.
Deswegen wurde eine Kalenderverbesserung vorgenommen (16,10-22). Der Verfasser der Mainauer Naturlehre nennt als Urheber den der Sage nach zweiten König von Rom, Numa Pompilius. Wie schon einmal weiter vorne erwähnt ist der Name falsch geschrieben. Numa Pompilius führte zwei weitere Monate ein. Da es sich jedoch wiederum um Mondmonate handelte, war dieses Jahr immer noch um 11 Tage zu kurz.
Als nächster Verbesserer wird Julius Cäsar angeführt (16,22-17,12). Er beauftragte den Gelehrten Sosigenes mit einer Kalenderreform, deren Ergebnis 46 vor Christus schließlich als Vorläufer unseres heutigen Kalenders eingeführt wurde. Mit ihm wurde das Sonnenjahr aufgenommen sowie unsere heutigen Monatsnamen, die heute übliche Länge der Monate und die Tatsache, daß alle vier Jahre ein Schalttag hinzugerechnet wird (der 24. Februar wurde doppelt gezählt).
Doch auch dieser Kalender war noch ungenau. Denn er zählte 365,25 statt der tatsächlich 365,2422 Tage und war somit 11 Minuten und 14 Sekunden zu lang. Dieser Umstand war schon seit der Antike bekannt, denn er führte über die Jahrhunderte schließlich zu erheblichen Abweichungen. Zur Entstehungszeit der Mainauer Naturlehre stimmte der Osterkalender um mehr als eine Woche nicht mehr. Dort wird die Ungenauigkeit auch vermerkt: „ doch ubergreif er mit eime zwelften teile einre stunden. “ (16,27f.). Meint der Verfasser den tatsächlichen zwölften Teil einer Stunde, der ja fünf Minuten entsprechen würde? Dann wäre die Aussage falsch bzw. sehr ungenau. Aber möglicherweise rundet er die 11 Minuten und 14 Sekunden auf zwölf Minuten auf und meint mit einem Teil einer Stunde eine Minute. Denn dann wäre die Angabe nahezu richtig.
Aber erst 1582 kam es schließlich zu der Kalenderreform, die den auch heute noch gültigen Gregorianischen Kalender entwickelte. Inzwischen hatte sich die Jahreslängen- Überschreitung von 11 Minuten und 14 Sekunden auf zehn Tage angesammelt. Die Tagundnachtgleiche des Frühjahrs fiel nicht mehr auf den 21. März, auf den sie nach den Beschlüssen des Konzils von Nizäa, das den christlichen Kalender und speziell das Osterdatum angeordnet hatte, fallen sollte, sondern auf den 11. März. Es wurden deswegen zehn Tage eingespart, indem man auf den 4. Oktober 1582 gleich den 15. Oktober folgen ließ. Außerdem wurde noch eine verbesserte Schaltjahrregelung eingeführt: jedes 4. Jahr erhält mit dem 29. Februar einen Schalttag, bis auf die nicht durch 400 teilbaren Jahrhunderte. Man kann also nicht von einer wirklichen Reform sprechen, da abgesehen von der Korrektur um 10 Tage lediglich die Schaltjahrregelung geringfügig verschärft wurde. Auch jetzt gibt es noch einen Fehlbetrag von knapp 3 Stunden in 400 Jahren, der sich aber erst in 3.300 Jahren auf einen ganzen Tag ansammelt.
4.6. Besondere Tage
4.6.1. „drier hande tage“
Nach der Entstehungsgeschichte des 12monatigen Kalenders mit 365 Tagen folgt die Erklärung von „ drier hande tage “ (17,13), nämlich den Kalenden, Nonen und Iden (17,12- 27). Diese Datumsbezeichnung stellt die verbreitetste des Mittelalters dar und stammt noch von den Römern. Die uns geläufige fortlaufende Zählung der Monatstage stammt aus dem Morgenland. Sie war zwar den Römern schon im 2. Jahrhundert nach Christus bekannt, konnte sich gegen die alte Datumsbezeichnung jedoch nicht durchsetzen.
Die Kalenden waren der Monatserste, der Tag, an dem der Pontifex die Mondsichel das erste Mal erblickte. Sie werden in der Mainauer Naturlehre als gute Zeit klassizifiert. Außerdem wird vermutet, daß das Wort kalo, das die Bedeutung rufen hätte, Herkunftswort der Kalenden sowie des Kalenders sei. Die Nonen bezeichnen den Zeitpunkt des ersten Mondviertels. Nach einem Opfer an die Göttin Iuno Lucina, das auch die Mainauer Naturlehre erwähnt (17,15f.), wurden sie unmittelbar nach Erblicken der Mondsichel morgens durch den Pontifex festgelegt und vor versammelten Volk und Senat ausgerufen. Sie fielen nach dem Merkwort MOMJUL im März, Oktober, Mai und Juli auf den 7. Tag unserer Zählung, bei den restlichen Monaten auf den 5. Tag. Die Iden entsprechen dem Zeitpunkt des Vollmonds. Sie fielen an den ‚MOMJUL-Monaten‘ auf den 15., sonst auf den 13. Tag. Zur Angabe eines bestimmten Tages zählte man von den drei Tagesbezeichungen rückläufig.
4.6.2. Die Unglückstage
Nun folgt ein Abschnitt über die von der Antike her tradierten Unglückstage, von denen es immer zwei pro Monat gab (17,27-18,1). Bestimmte Handlungen sollten dann unterlassen werden, besonders der Aderlaß, „ daz man iht arcwande daz man menslich bluot opfere demduvele. “ (17,35-18,1) Die Mainauer Naturlehre zieht Augustinus als Referenz für diese Bestimmung an (18,1f.). In einem ‚Galater‘-Kommentar spricht er sich tatsächlich gegen den heidnischen Brauch aus, an den Kalenden Blut zu opfern.
Daraufhin bietet die Mainauer Naturlehre ein Verfahren zur Bestimmung der üblen Tage und sogar der schädlichen Stunden an den jeweiligen Tagen an, das auf einem Merkspruch, ähnlich dem Gedicht Cosiojanus, basiert (18,1-13).
4.6.3. Bewegliche Feste
Der letzte Abschnitt der Mainauer Naturlehre beschäftigt sich im Gegensatz zu der bisher behandelten „ zit die man geschriben mac unde stete ist “ mit „ der bewegelichen zit die manahtet bi dem loufe dez manen unde het keine stat in dem kalendario. “ (18,14-19,13). Gemeint sind damit die fünf beweglichen Feste, genannt „ septuagesima, quadragesima, pascha, rogationes, pentecoste “ (18,17f.). Für die richtige Datierung der Feste entscheidend war die Kenntnis des Ostertermins, in der Mainauer Naturlehre als pascha angeführt („ den osteren sprechint die iuden pascha “ (18,29)). Er fiel nach dem Beschluß des Konzils von Nicaea vom Jahre 325 nach Christus auf den ersten Sonntag nach dem Frühlingsvollmond (die Ostergrenze). Die anderen Fest-Sonntage waren alle von ihm abhängig.
Die Mainauer Naturlehre nennt Heilsgeschichtlichen Ursprung und Bedeutung der Festtage. Sie macht jedoch weder Angaben über den Zusammenhang zwischen Ostern und den anderen Festtagen, noch gibt sie eine Anleitung für die (zugegebenermaßen komplizierte) Berechnung der jeweiligen Termine an.
Zuletzt wird noch der Advent erwähnt. Er entspricht dem „ tac an dem got geborn wart “ (19,12) und beginnt mit der vierwöchentlichen Fastenzeit vor Weihnachten das Kirchenjahr. Er ist zwar auch wie die anderen fünf Festtage beweglich, kann diesen aber trotzdem nicht zugerechnet werden. Denn er gehört nicht zu „ den ziten die man ahtet nach dem manen. “ (19,8-9)
Er wird im Gegensatz zu den vorher behandelten Festtagen auch zeitlich bestimmt: „ dersunnentac der da stat nach dem fiunften tage vor dem Decembri unde vor dem dritten tage hin in Decembri “ (19,9-11), d.h. er liegt zwischen 26. November und 6. Dezember.
5. Schlußbemerkung
Damit endet die Mainauer Naturlehre. Zusammenfassend kann man feststellen: in allen Bereichen, besonders der Astronomie, kratzt sie nur an der Oberfläche der Materie. In Bezug auf die Komputistik fehlen entscheidende Angaben für die praktische Nützlichkeit. So wird z.B. nicht angegeben, wie der Osterfesttermin berechnet werden kann, so daß auch die beweglichen Feste nicht selbst errechnet werden können. Auch im Bereich Medizin, bzw. Diätik ist die Mainauer Naturlehre für eine Verwendung im Alltag nicht geeignet. Man benötigte dafür ausführlichere Werke, die die gesuchten Auskünfte zur schnellen Orientierung in Tabellen, bzw. systematisch angeordneter Form anboten.
Aus diesem Grund nennt Francis B. Brévart die Mainauer Naturlehre „ein irgendwie mißratenes Zwischending“[36] - sie hatte auch tatsächlich keinen Erfolg zu verzeichnen.
6. Literatur
- Meinauer Naturlehre. Hg. v. Wilhelm Wackernagel. Suttgart: Gedruckt auf Kosten des Literarischen Vereins bei Ludwig Friedrich Fues, 1851. Alle Zitate stammen aus dieser Ausgabe.
- Die sogenannte Mainauer Naturlehre der Basler HS. B VIII 27. Hg. H.R. Plant, Marie Rowlands, R. Burkhart. Göppingen: Alfred Kümmerle Verlag, 1972
- Augustinus: Confessiones. München: Kösel-Verlag, 1955
- Keil, G.: ‚Mainauer Naturlehre‘ (‚Buoch von der zît‘). In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hg. Kurt Ruh, G. Keil, W. Schröder, u.a. Berlin / New York: 1985. Band 5
- Brévart, FrancisB.: Die Mainauer Naturlehre. In: Sudhoffs Archiv 71 (1987)
- Deutsche Philologie im Aufriß. Hg. Wolfgang Stammler. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 1966
- Ehlert, Trude (Hg.): Zeitkonzeptionen - Zeiterfahrung - Zeitmessung. Stationen ihres Wandels vom Mittelalter bis zur Moderne. Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag, 1997
- Graut, Edward: Das physikalische Weltbild des Mittelalters. Zürich und München: Artemis Verlag, 1980
- Leclercq, Jean: Zeiterfahrung und Zeitbegriff im Spätmittelalter. In: Antiqui und Moderni. Hg. A. Zimmermann. Berlin / New York: Walter De Gruyter, 1974
- Lexikon des Mittelalters. Hg. Norbert Angermann. München: Lexma Verlag, 1998
- Stackmann, Karl: Hugo von Langenstein. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hg. Karl Langosch. Berlin: Walter De Gruyter, 1955. Band 5
- Sulzgruber, Werner: Zeiterfahrung und Zeitordnung vom frühen Mittelalter bis ins 16. Jahrhundert. Hamburg: Verlag Dr. Kovac, 1995
- Wendorff, Rudolf: Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa. Westdeutscher Verlag, 1980
[...]
[1] Stackmann, Karl: Hugo von Langenstein. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hg.Karl Langosch. Berlin: Walter De Gruyter, 1955. Band. 5. S. 429
[2] Brévart, F.B.: Die Mainauer Naturlehre. In: Sudhoffs Archiv 71 (1987). S. 157
[3] Stackmann, S. 430
[4] Brévart, S. 177
[5] Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hg. Kurt Ruh, G. Keil, W. Schröder, u.a. Berlin / New York: 1985. S. 1176
[6] So z.B. bei den Erläuterungen zu den vier Elementen und den äquivalenten Leuten, den ‚Planeten‘, den Jahreszeiten, den vier Tageszeiten sowie den Sternzeichen.
[7] So z.B. bei den Erläuterungen zu den Jahreszeiten, besonders im Anschluß an den Herbst finden sich viele unter Berufung auf Aristoteles.
[8] So z.B. bei den Erläuterungen zu den ‚Planeten‘, bzw. den Stunden der Planetenregenten, den Sternzeichen und den Monaten.
[9] Z.B. Erklärung der Hundstage, Merkspruch zur Bestimmung der zwei üblen Tage eines jeden Monats.
[10] Lexikon des Mittelalters. Hg. Angermann, Norbert. München: Lexma Verlag, 1998. S. 511
[11] Augustinus: Confessiones. München: Kösel-Verlag, 1955. S. 633ff.
[12] Augustinus, S. 629
[13] Übersetzung nach: Die sogenannte Mainauer Naturlehre der Basler HS. B VIII 27. Hg. Plant, H.R., Rowlands, Marie, Burkhart, R. Göppingen: Alfred Kümmerle Verlag, 1972. S. 30
[14] Pabst, Bernhard: Zeit aus Atomen oder Zeit als Kontinuum. Aspekte einer mittelalterlichen Diskussion. In: Ehlert, Trude (Hg.): Zeitkonzeptionen – Zeiterfahrung – Zeitmessung. Stationen ihres Wandels vom Mittelalter bis zur Moderne. Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag, 1997. S. 80
[15] Augustinus, S. 651
[16] Leclercq, Jean: Zeiterfahrung und Zeitbegriff im Spätmittelalter. In: Antiqui und Moderni. Hg. A. Zimmermann. Berlin / New York: 1974. S. 19
[17] Augustinus, S. 641ff.
[18] Augustinus, S. 661
[19] Stackmann, S. 429
[20] In der Mainauer Naturlehre heißt es allerdings NummaPompeius. Dieser Fehler geht wohl nicht so sehr auf den Verfasser als vielmehr auf den Abschreiber zurück, der des abzuschreibenden Stoffes nicht gelehrt war. Dieser Fehler wird später (16,11) nochmals wiederholt.
[21] Lexikon des Mittelalters, S. 446
[22] Lexikon des Mittelalters, S. 446
[23] genannt nach den zwei Äquinoktia (Tag-und-Nacht-Gleichen), an denen Nacht und Tag gleich lang sind und somit auch alle Stunden dieser Tage.
[24] Sulzgruber, Werner: Zeiterfahrung und Zeitordnung vom frühen Mittelalter bis ins 16. Jahrhundert. Hamburg: Verlag Dr. Kovac, 1995. S.19
[25] Zitiert nach Leclercq, S. 6
[26] Sulzgruber, S. 41
[27] Sulzgruber, S. 46
[28] Wendorff, Rudolf: Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa. Westdeutscher Verlag, 1980. S. 121
[29] Wendorff, S. 92
[30] Die Stunde als 60 Minuten wurde von König Karl V. eingeführt.
[31] Sulzgruber, S. 64
[32] Sulzgruber, S. 155
[33] Leclercq. S. 8
[34] Leclercq. S. 14
[35] Sulzgruber, S. 94
[36] Brévart, S. 178
- Quote paper
- Angelika Bechtoldt (Author), 1996, Die Mainauer Naturlehre unter dem Gesichtspunkt des Zeit-Begriffs, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95682
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.