Der Fokus dieser Arbeit richtet sich auf Kinder alkoholabhängiger Eltern und untersucht die potenziellen Auswirkungen mütterlicher Alkoholabhängigkeit auf die sozial-emotionale Entwicklung von Kindern. Der Begriff der Alkoholabhängigkeit wird im Folgenden synonym verwendet zu den Termini Alkoholkrankheit, Alkoholsucht sowie Alkoholabhängigkeitssyndrom.
Um das Thema im gegebenen Rahmen bearbeitbar zu machen, wurde die Fragestellung weiter spezifiziert auf die postnatalen sozial-emotionalen Auswirkungen des Alkoholkonsums auf die Entwicklung von Kindern, schwerpunktmäßig wird dabei die frühe Kindheit fokussiert. Das Alter wurde nicht explizit eingrenzt, um die Auswirkungen in ihrer Tragweite für die kindliche Entwicklung ganzheitlich zu betrachten. Dabei werden die Auswirkungen väterlicher Alkoholabhängigkeit nicht explizit angeführt. Vielmehr bezieht sich die Ausarbeitung primär auf die Entwicklung von Kindern, die mit einer alkoholabhängigen leiblichen Mutter im gemeinsamen Haushalt aufwachsen, obgleich sich einige Kapitel aufgrund der Literatur auf elterliche Abhängigkeit allgemein beziehen.
Methodologisch ist diese Arbeit in eine qualitative Erhebung eingebettet. Sie nähert sich der Thematik problemorientiert-linear an, indem sie zunächst die direkten und indirekten Entwicklungsrisiken des Aufwachsens von Kindern mit einer alkoholabhängigen Mutter anhand diverser Erklärungsansätze erläutert. Die potenziellen Auswirkungen mütterlicher Alkoholabhängigkeit auf die Kinder werden im Sinne der Fragestellung im Weiteren dargestellt und bewertet.
Anschließend werden im theoriebasierten Teil Risiko- und Schutzfaktoren aufgeführt, die die Entwicklung der Kinder maßgeblich bestimmen und die Intensität der Auffälligkeiten und Störungen im Entwicklungsverlauf modifizieren. Abschließend werden ausgewählte Interventions- und Unterstützungsmöglichkeiten durch die Soziale Arbeit beschrieben.
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Einführung in die Problematik Alkoholabhängigkeit
1.1 Diagnostische Kriterien von Alkoholabhängigkeit
1.2 Frauen und Alkoholabhängigkeit
2 Die direkten Auswirkungen – Alkoholkonsum in der Schwangerschaft
3 Erklärungsansätze der indirekten Auswirkungen mütterlicher Abhängigkeit
3.1 Belastungsfaktoren für die kindliche Entwicklung
3.1.1 Die sozial-emotionale Entwicklung in den ersten Lebensjahren
3.1.2 Das Bindungsverhalten von Kindern aus alkoholbelasteten Familien
3.2 Merkmale einer alkoholbelasteten Familie
3.2.1 Familienregeln und Alkoholismus in dem System Familie
3.2.2 Die Co-Abhängigkeit in der Familie
3.2.3 Die Rollenmodelle der Kinder
4 Folgen der (in-)direkten Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder
4.1 Die Rollenmodelle der Kinder und deren Entwicklungsrisiken
4.2 Verhaltensauffälligkeiten
5 Die Transmission der Alkoholabhängigkeit
6 Risiko- und Schutzfaktoren von Kindern
7 Interventions- und Unterstützungsmöglichkeiten durch die Soziale Arbeit
8 Methodisches Vorgehen
8.1 Qualitative Sozialforschung
8.2 Methodologische Vorüberlegungen
8.3 Erhebungsinstrumente
8.3.1 Leitfadeninterview
8.3.2 Problemzentriertes Interview
9 Auswertungsmethode
9.1 Einführung und Vorbereitung in die Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring
9.2 Kategorienbildung
10 Ergebnisdarstellung und Diskussion
11 Reflexion des Forschungsmethodischen Vorgehens
12 Ausblick und Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
Anhang 1: Problemzentrierter leitfadengestützter strukturierter Interviewleitfaden
Anhang 2: Postscript
Anhang 3: Transkriptionsregeln (Zeicheninventar) nach vereinfachtem System von Dresing/Pehl
Anhang 4: Transkriptionen
Anhang 5: Kategoriesystem
Einleitung
In Deutschland sind etwa 1,77 Millionen Menschen im Alter von 18 bis 64 Jahren von einer akuten Alkoholabhängigkeit betroffen, darunter liegt der Anteil an Frauen bei rund 519.000 (vgl. Pabst u.a. 2013, S. 328). Diese Zahlen lassen vermuten, dass auch viele Menschen aus dem direkten sozialen Umfeld von dem regelmäßigen Trinken des Abhängigen betroffen und beeinflusst sind. Den negativen Einfluss auf Kinder alkoholabhängiger Eltern belegen zahlreiche Studien und sie zeigen, dass Alkoholabhängige selbst vermehrt aus Familien stammen, deren Vater und/oder Mutter selbst zumindest zeitweise von Alkohol abhängig gewesen ist (vgl. Klein 2008, S. 22f.).
In der Bundesrepublik Deutschland leben ca. 2,65 Millionen Kinder und Jugendliche bis zu 18 Jahren, die mindestens einen alkoholabhängigen Elternteil haben (vgl. Klein 2008, S. 22f.). Somit ist jedes 7. Kind von einer elterlichen Alkoholbelastung betroffen. Hinter jeder Zahl steht ein Kind, das einer besonderen Herausforderung in seiner/ihrer Entwicklung ausgesetzt ist (vgl. Homeier/Schrappe/Böning 2015, S. 120). Mütterliche Alkoholabhängigkeit gilt durch das besondere Bonding zwischen Mutter und Kind sowie gesellschaftlichen Einflussfaktoren als größerer Risikofaktor als väterliche (vgl. Zobel 2008, S. 45; 2017, S. 27). Auf diese Gruppe von Kindern richtet sich der Fokus der vorliegenden Abschlussarbeit, in der nach den potenziellen Auswirkungen mütterlicher Alkoholabhängigkeit auf die sozial-emotionale Entwicklung von Kindern gefragt wird.
Dieses Thema ist für die Soziale Arbeit insofern fachspezifisch relevant, als sich sozialarbeiterische Praxis immer häufiger von Betroffenen psychischer Erkrankungen konfrontiert sieht, dazu zählen auch Suchterkrankungen. Die Kinder der Alkoholabhängigen galten lange Zeit als die „vergessenen Kinder“, doch in den letzten Jahren sind sie verstärkt in den Fokus gerückt, und zwar nicht nur der psychologischen Fachöffentlichkeit, sondern auch der Sozialen Arbeit (vgl. Zobel 2017, S. 22). Die Anzahl der betroffenen Kinder ihres Klientels ist unübersehbar hoch und die Problemlagen von Kindern, die in alkoholbelasteten Familien aufwachsen, vielschichtig und komplex. Daher findet eine verstärkte Auseinandersetzung mit den spezifischen kindlichen Entwicklungsrisiken und -chancen zum einen sowie der Umsetzung geeigneter Präventions- und Kinderschutzmaßnahmen statt. Die Debatte um Kinderrechte, die eine Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz und die Behandlung der Kinder als eigene Rechtssubjekte anstatt als Objekte der elterlichen Pflege und Erziehung diskutiert, hat diese Fokussierung unter anderem vorangetrieben (vgl. DGVN 2018, o.S.; GG Art. 6 Abs. 2).
Dies gilt auch für Forschungsaktivitäten in diesem Themenfeld, sodass Fachliteratur und aussagekräftige Studienergebnisse mittlerweile zahlreich verfügbar sind.
Um das Thema im gegebenen Rahmen bearbeitbar zu machen, wurde die Fragestellung weiter spezifiziert auf die postnatalen sozial-emotionalen Auswirkungen des Alkoholkonsums auf die Entwicklung von Kindern, schwerpunktmäßig wird dabei die frühe Kindheit fokussiert. Das Alter wurde nicht explizit eingrenzt, um die Auswirkungen in ihrer Tragweite für die kindliche Entwicklung ganzheitlich zu betrachten. Dabei werden die Auswirkungen väterlicher Alkoholabhängigkeit nicht explizit angeführt. Vielmehr bezieht sich die Ausarbeitung primär auf die Entwicklung von Kindern, die mit einer alkoholabhängigen leiblichen Mutter im gemeinsamen Haushalt aufwachsen, obgleich sich einige Kapitel aufgrund der Literatur auf elterliche Abhängigkeit allgemein beziehen. Der Begriff der Alkoholabhängigkeit wird im Folgenden synonym verwendet zu den Termini Alkoholkrankheit, Alkoholsucht sowie Alkoholabhängigkeitssyndrom.
Methodologisch ist diese Arbeit in eine qualitative Erhebung eingebettet. Sie nähert sich der Thematik problemorientiert-linear an, indem sie zunächst die direkten und indirekten Entwicklungsrisiken des Aufwachsens von Kindern mit einer alkoholabhängigen Mutter anhand diverser Erklärungsansätze erläutert. Die potenziellen Auswirkungen mütterlicher Alkoholabhängigkeit auf die Kinder werden im Sinne der Fragestellung im Weiteren dargestellt und bewertet. Anschließend werden im theoriebasierten Teil Risiko- und Schutzfaktoren aufgeführt, die die Entwicklung der Kinder maßgeblich bestimmen und die Intensität der Auffälligkeiten und Störungen im Entwicklungsverlauf modifizieren. Abschließend werden ausgewählte Interventions- und Unterstützungsmöglichkeiten durch die Soziale Arbeit beschrieben.
Die Erhebung wird anhand einer retrospektiven Interviewstudie in Form eines leitfadengestützten, problemzentrierten Interviews mit einem erwachsenen Kind einer alkoholkranken Mutter exploriert. Die theoriegestützten Erkenntnisse werden anhand von deduktiv gebildeten Kategorien auf den speziellen Einzelfall des Interviews kontextualisiert und mittels der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) ausgewertet, um daraus im Sinne qualitativer Sozialforschung induktive Schlüsse für die theoretische Problemstellung zu konstatieren und neue Hypothesen zu generieren. Abschließend endet die Arbeit mit einer reflexiven Betrachtung des forschungsmethodischen Vorgehens und einem Ausblick, in dem die Essenz der einzelnen Kapitel referiert wird, um daraus ein Resümee für die Soziale Arbeit zu formulieren.
1 Einführung in die Problematik Alkoholabhängigkeit
1.1 Diagnostische Kriterien von Alkoholabhängigkeit
Obwohl sich dieses Kapitel nicht auf den Gegenstand dieser Arbeit bezieht – die Entwicklung von Kindern mit einer alkoholbelasteten Mutter – so leistet es insofern eine Hinführung zur Thematik, als es das Krankheitsbild der „Alkoholabhängigkeit“ definiert und erläutert. Des Weiteren soll dieses Kapitel einen Einblick in die Lebenswelt alkoholabhängiger, kranker Mütter verschaffen.
Nach der weltweit anerkannten und aktuellen WHO-Diagnoseklassifikation der Medizin, die internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10, engl.: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) liegt ein „Alkoholabhängigkeitssyndrom“ (F10.2) (DIMDI 2018b, o.S.) vor, wenn mindestens drei der folgenden sechs Kriterien bei Betroffenen innerhalb eines Jahres erfüllt werden:
„I. Craving (starkes Verlangen oder eine Art Zwang, Alkohol zu trinken)
II. Kontrollverlust des Alkoholkonsums bezüglich Beginn oder Menge
III. körperliches Entzugssyndrom bei Reduzierung der Alkoholmenge
IV. Toleranzentwicklung gegenüber der Alkoholwirkung
V. Einengung des Interesses auf das Alkoholtrinken und dadurch Vernachlässigung anderer Interessen
VI. Anhaltender Alkoholkonsum trotz eindeutiger schädlicher Folgen (gesundheitlich, psychisch oder sozial).“ (Lindenmeyer 2013, S. 5f.)
Anhand der Diagnosekriterien wird deutlich, dass das Krankheitsbild der Alkoholabhängigkeit sehr heterogen ist (vgl. Lindenmeyer 2013, S. 6). „Den Alkoholiker gibt es nicht“ (ebd.), sondern differente und individuell ausgeprägte Abhängigkeitsphänomene von Alkohol, die beispielsweise vom Anlass des Trinkens, von der Trinkdauer sowie vom Abhängigkeitsgrad und der Abhängigkeitsform differenziert zu betrachten sind (vgl. Lindenmeyer 2008, S. 58). Somit besteht hier die Schwierigkeit, eine detaillierte Einteilung in verschiedene Typen der Alkoholabhängigkeit vorzunehmen. Die Diagnosekriterien dienen lediglich als Hilfsmittel in der klinischen Tätigkeit und beschreiben die Symptome und das spezifisches Suchtverhalten alkoholabhängiger Patienten (vgl. Lindenmeyer 2013, S. 6).
Jedoch gibt es bezüglich des Trinkverhaltens alkoholabhängiger Menschen ein Klassifikationsmodell, das vier verschiedene Typen vorsieht. Es wurde von dem amerikanischen Forscher E. M. Jellinek in den 1940er Jahren entwickelt und findet in Theorie wie Praxis häufig Anwendung; daher soll es im Folgenden kurz skizziert werden. Alpha- bzw. Konflikttrinker_innen benötigen Alkohol in bestimmten, konfliktgeladenen Situationen, bei denen persönliche Probleme mit Hilfe dieses Suchtmittels aufgelöst werden sollen. Bei dem Gamma-Typus, das heißt süchtige Alkoholiker_innen, entwickelt sich das Trinken zu einer seelischen und meist auch zu einer körperlichen Abhängigkeit, welches mit häufigen Kontrollverlusten einhergeht. Somit ist dieser Typus meist nicht in der Lage, kleinere Alkoholmengen zu konsumieren und aus eigener Willenskraft mit dem Trinken aufzuhören, wenn er/sie einmal angefangen hat, sodass das Trinken häufig in einem starken Rausch endet. Dagegen ist der/die Delta-, bzw. Spiegelalkoholiker_in insofern körperlich alkoholabhängig, als dass die Alkoholkonzentration im Blut einen bestimmten Pegel nicht unterschreiten darf. Der/die Betroffene konsumiert ganztägig und regelmäßig Alkohol, um sich wohl zu fühlen und die Gefühle zu kontrollieren, jedoch ohne Kontrollverlust. Zu einem Verzicht auf Alkohol sind die Betroffenen nicht in der Lage, sodass ein solch jahrelanger Alkoholmissbrauch mit dauerhaften körperlichen und seelischen Folgen einhergeht, ohne dass das soziale Umfeld des/der Betroffenen davon etwas mitbekommt. Bei den Epsilon-, bzw. Quartaltrinker_innen findet das Trinken episodisch statt und ist undiszipliniert, das heißt, es geht in den Trinkphasen mit einem völligen Kontrollverlust einher. Zudem besteht eine seelische Abhängigkeit vom Alkohol, die durch innere oder äußere Reize ausgelöst wird. Trotzdem ist der/die Abhängige in der Lage, über einen größeren Zeitraum hinweg abstinent zu leben. Je fortgeschrittener die Krankheit ist, desto mehr können sich die Trinkpausen verkürzen (vgl. Dietze/Spicker 2011, S. 30f.; Lindenmeyer 2013, S. 6).
Anhand der vier Trinker-Typen, von denen auch Mischformen auftreten können, wird deutlich, dass mit der Alkoholabhängigkeit, bzw. mit der Sucht, Alkohol zu trinken, zum einen ein unangenehmer körperlicher oder seelischer Zustand einhergeht. Zum anderen spielt der Kontrollverlust eine Rolle, der durch unkontrolliertes Trinken und dem Vollrausch gekennzeichnet ist und durch den die Alkoholiker_innen sich selbst oder anderen schaden. Die Trinkmenge liegt bei abhängigen Frauen durchschnittlich bei 60 Gramm Reinalkohol pro Tag, bei einem weiblichen risikoarmen Konsum dürfte es hingegen 20 Gramm pro Tag nicht überschreiten, dies entspräche circa 250 ml Wein (vgl. Homeier/ Schrappe/Böning 2015, S. 118). Das Alkoholabhängigkeitssyndrom wird über die körperlichen und/oder seelischen Folgen bestimmt, wie eintretende Entzugserscheinungen und/oder eigener sowie fremder Schadenszufügung. Solche negativen Folgen entwickeln sich während eines mehrjährigen Abhängigkeitsprozesses. Andererseits lässt sich eine Alkoholabhängigkeit feststellen, wenn der/die Betroffene sich selbst diese Diagnose stellt und ein entsprechender Leidensdruck vorhanden ist, sodass Hilfe in Anspruch genommen wird (vgl. Lindenmeyer 2008, S. 60f.; Dietze/Spicker 2011, S. 30).
Alkoholismus wurde allerdings erst in den 60er Jahren als Krankheit anerkannt, bis heute ist strittig, ab wann ein Trinkverhalten pathologisch wird. Der ICD-10 deklariert das Abhängigkeitsphänomen vor allem aufgrund von Etikettierungsprozessen nicht mehr als „Sucht“ oder „Alkoholabhängigkeit“, sondern als „Abhängigkeitssyndrom“. Dabei soll aber die ganzheitliche Perspektive auf Alkoholabhängigkeit nicht verloren gehen: Alkoholabhängigkeit ist kein individuell gewählter Lebensstil ist, sondern eine behandlungsbedürftige Krankheit, deren Therapie mittlerweile auch von den Krankenkassen finanziert wird (vgl. Spode, S. 3-6). Anzutreffen ist die Krankheit der Alkoholabhängigkeit in allen gesellschaftlichen Schichten gleichermaßen, die Mittel- und Oberschicht konsumiert überdies mehr Alkohol als die ärmeren und bildungsferneren Gesellschaftsschichten, jedoch ist die Mortalitätsrate bei letzteren höher (vgl. Mackenbach 2008, o.S.). Die alkoholbedingte erhöhte Sterblichkeit der unteren und bildungsfernen Schichten ist vor allem durch die ungleiche Verteilung sozioökonomischer Ressourcen zuungunsten der unteren sozialen Schichten bedingt (vgl. Richter/Hurrelmann 2007, S. 7).
1.2 Frauen und Alkoholabhängigkeit
Mehrere Faktoren haben seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts in Deutschland zu einem steten Anstieg des Alkoholkonsums von Frauen geführt: Zu ihnen zählen vor allem die gesellschaftliche Gleichstellung und Emanzipation der Frau sowie die damit einhergehende Abnahme der Stigmatisierung (regelmäßig) alkoholkonsumierender Frauen (vgl. DHS 2015b, S. 2). Auch die mit dem kapitalistischen Wirtschaftswachstum und dem Kriegstrauma in Nachkriegsdeutschland verknüpfte stärkere Konsumorientierung spielt für diese Entwicklung eine bedeutende Rolle (vgl. ebd.). Schließlich ist auch die zunehmende Verbreitung mediterraner Essgewohnheiten mit alkoholischen Getränken während der Mahlzeit in Mittel- und Nordeuropa zu nennen (vgl. ebd.). Insbesondere ist der Alkoholkonsum bei jungen Frauen in den letzten Jahren gestiegen, somit trinken immer mehr Frauen im gebärfähigen Alter (vgl. ebd.). Riskantes Konsumverhalten in der Schwangerschaft beginnt ab 12 Gramm reinem Alkohol1 am Tag, dieser trifft nach Schätzungen von Pabst et al. 2013 (zit. nach DHS 2015b, S. 2) auf 14,2 % der Frauen in Deutschland zu. Generell Alkohol in der Schwangerschaft, unabhängig von der Trinkmenge konsumieren sogar 25 % der Frauen (vgl. Popova 2017, o.S.).
Im Frühstadium der Schwangerschaft hat die Frau oftmals noch keine Kenntnis über ihre Schwangerschaft, doch hier herrscht noch das „Alles-oder-Nichts-Prinzip“ (Gerhard 2017, o.S.). Dieses impliziert, dass in den ersten 10 bis 14 Tagen einer Befruchtung die Eizelle automatisch abgestoßen wird, wenn sie sehr stark geschädigt wurde, wenn die Eizelle allerdings überlebt hat, nistet sie sich nach etwa zwei Wochen in die Gebärmutter ein und das Kind wird von dem Blutkreislauf der Mutter ernährt (vgl. Gerhard 2017, o.S.). Von da an fließt der Alkohol auch durch die Nahrungsquelle des Kindes, die Plazenta. Somit trinkt das Kind bei kleinen und großen Mengen fortan mit. Ein Grenzwert, „der als unbedenklich gilt, lehnen Fachleute ab“ (vgl. DHS 2015b, S. 1; Gerhard 2017, o.S.). Dies ist prekär angesichts der Zahlen, dass jede vierte Frau in Deutschland auch während der Schwangerschaft weiter Alkohol trinkt (vgl. Popova, Svetlana 2017, o.S.). Des Weiteren lag das Verhältnis bei der Diagnose Alkoholabhängigkeit in den 1960er Jahren zwischen Frauen und Männern bei 1:20, mittlerweile liegt das Verhältnis bei 1:3 (vgl. Pabst u.a. 2013, S. 328f.), daher nimmt diese Arbeit vornehmlich die mütterliche Abhängigkeit in den Fokus.
Die psychische und/oder körperliche Abhängigkeit von äthylalkoholhaltigen Substanzen kann nicht nur eigene körperliche und psychische Schäden verursachen, sondern insbesondere auch dem sozialen Umfeld der Abhängigen, wie der Familie, erheblichen physischen und psychischen Schaden zufügen. Die folgenden Kapitel beschreiben systematisch anhand der aktuellen Forschungslage die Entwicklungsrisiken für bzw. Auswirkungen auf Kinder, die mit einer alkoholabhängigen Mutter aufwachsen. Zunächst werden die durch die psychotrope Substanz verursachten Auswirkungen mütterlichen Alkoholkonsums von der Schwangerschaft an auf das Kind in den Blick genommen. In Abgrenzung von den indirekten Risiken und Begleiterscheinungen für die sozial-emotionale kindliche sowie die familiale Entwicklung werden diese unter den Begriff „direkte Auswirkungen“ subsumiert.
2 Die direkten Auswirkungen – Alkoholkonsum in der Schwangerschaft
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und Drogenbeauftragte (zit. nach DHS 2015a, S. 32) schätzt die Dunkelziffer von alkoholgeschädigten Neugeborenen in Deutschland auf 10.000 jährlich, davon sind etwa 3.000 bis 4.000 Kinder von der schweren Entwicklungsstörung des fetalen Alkoholsyndroms (FAS) betroffen, im ICD-10 auch Alkoholembryopathie (Q86.0) genannt (vgl. DHS 2015b, S.1; DIMDI 2018a, o.S.). Vor allem beim geringen Alkoholkonsum in der Schwangerschaft ist eine alkoholbedingte Schädigung nicht eindeutig diagnostizierbar, daher schwankt die Studienlage zur Datenerhebung erheblich. Einige Entwicklungsbeeinträchtigungen können sich erst im Grundschulalter entfalten wie beispielsweise Lern- und Konzentrationsschwierigkeiten, die Kausalität zum mütterlichen Alkoholkonsum in der Schwangerschaft ist dann kaum noch herstellbar. Trotzdem kann geringer Alkoholkonsum in der Schwangerschaft bereits schädlich sein und zu Spätfolgen beim Neugeborenen führen (vgl. DHS 2015b, S. 1). Valide nachweisbar ist dies bereits ab 120 Gramm Alkohol pro Woche.
Die Schäden beim Kind durch Alkoholkonsum in der Schwangerschaft sind irreversibel und äußern sich in Verhaltensstörungen sowie intellektuellen Beeinträchtigungen (vgl. DHS 2015b, S. 6). Sie werden unter der Bezeichnung Fetale Alkohol Spektrum Störung (Fetal Alcohol Spectrum Disorders (FASD)) subsumiert. In der Fachliteratur erfolgt eine Differenzierung der alkoholbedingten Störungen in drei Schädigungsbereiche: Wachstumsstörungen, Störungen des zentralen Nervensystems und Anzeichen von Fehlbildungen (Dysmorphie). Letzteres Störungsbild bezieht sich auf die somatische Ebene, wird Alcohol Related Birth Defects (ARBD) genannt und ist gekennzeichnet durch Fehlbildungen und Anomalien des Skelett- und Organsystems. Die neurologische Störung Alcohol Related Neurodevelopmental Disorder (ARND) wird durch eine Dysfunktion des zentralen Nervensystems kenntlich. Beide Störungsbilder werden nur bei nachweisbarer Alkoholexposition diagnostiziert. Eine weitere Formation ist die partielle Form des Fetalen Alkoholsyndroms (pFAS), bei der Schädigungsbereiche kumulieren, jedoch nicht unbedingt in allen drei Bereichen Schädigungen auftreten müssen. Dies ist beim Vollbild des Fetalen Alkoholsyndroms (FAS) anders, weil es die am stärksten ausgeprägte klinische Auffälligkeit bildet und für die Diagnosestellung eine Symptomatik in allen drei Schädigungsbereichen bestimmt werden muss.
Die Schäden von FAS prägen sich bei stark betroffenen Kindern zudem an optischen Merkmalen im Gesicht des Kindes aus: Eine verkürzte Lidspalten, kleine Augen, eine schmale Oberlippe, eine kurze Nase und ein kleiner Kopf sind charakteristisch für Kinder mit FAS (vgl. Gerhard 2017, o.S.). Laut WHO (zit. nach Boue 2018, o.S.) ist dies die häufigste Ursache einer geistigen Behinderung in den westlichen Industriestaaten.
Zur Feststellung der Diagnose des FAS muss das pränatale Ausgesetztsein des Körpers gegenüber Alkohol nicht nachgewiesen sein. Bei den Unterformen, Alcohol Related Neurodevelopmental Disorder (ARND) und Alcohol Related Birth Defects (ARBD), der komplexen Alkohol Spektrums Störung FASD muss hingegen für die beiden Unterformen zur Diagnosestellung eine Alkoholexposition belegt sein (vgl. DHS 2015b, S. 6). Da Alkoholkonsum in der Schwangerschaft jedoch tabuisiert ist und daher häufig unerkannt bleibt, werden diese Formationen der alkoholbedingten Schäden des Säuglings zu selten und spät erkannt (vgl. Biehahn 2014, o.S.). Des Weiteren rauchen Frauen, die exzessiv Alkohol konsumieren, häufiger als Kontrollgruppen, was einen weiteren Risikofaktor für das Kind darstellt, der sich in externalisierenden Verhaltensweisen und in einem niedrigeren Geburtsgewicht äußern kann (vgl. Zobel 2017 S. 45; siehe auch Kap. 4.2). Erkennbar können die alkoholbedingten Schäden durch Regulationsstörungen sowie dem Auftreten von Impulskontrollstörungen sein (vgl. Gerhard 2017, o.S.) und im Säuglingsalter daran, dass sich diese Kinder nur schwer von ihren Bezugspersonen beruhigen lassen, im Kleinkindalter unter anderem an Unruhe und leichter Reizbarkeit. Auch Ess- und Schlafstörungen können auftreten. In den darauffolgenden Jahren können sich dann Bindungsstörungen und intellektuelle Beeinträchtigungen manifestieren, die sich in Lern- und Verhaltensauffälligkeiten in der Schulzeit zeigen können, diese Kinder werden auch als „dissozial“ im Verhalten beschrieben. Sie finden keinen Halt in der Welt und brauchen sehr feste und klare Strukturen, um Orientierung zu finden (vgl. Biehahn 2014, o.S.).
Bei Kindern mit alkoholabhängigen Müttern liegt oftmals eine Beeinträchtigung der Reizverarbeitung vor, daher führen akustische und optische Reize schnell zu einer Reizüberflutung (vgl. Boue 2018, o.S.). Besonders prägnant ausgeprägt ist bei Kindern alkoholabhängiger Eltern(-teile) die fehlende Fähigkeit, Verhalten und Emotionen auf die Situation angemessen zu steuern. Des Weiteren lässt sich eine Alkoholintoxikation bei Kindern aus suchtbelasteten Familien häufiger als bei Kontrollgruppen konstatieren (vgl. Klein 2008, S. 28).
Diese bisher dargestellten Auswirkungen wurden als „direkte“ Auswirkungen elterlicher, insbesondere mütterlicher Alkoholabhängigkeit bestimmt, verursacht durch die psychotrope Substanz selbst. Unter indirekten Auswirkungen werden hier die Begleiterscheinungen verstanden, die sich aus der Abhängigkeit ergeben und die ihre Pathogenität in der Interaktion mit der Umwelt entfalten. Die Ansätze zur Beschreibung dieser Begleiterscheinungen der Abhängigkeit werden in den folgenden Abschnitten vor allem im Hinblick auf die sozial-emotionale Entwicklung von Kindern dargelegt. Im vierten Kapitel werden die Folgen, die sich aus den indirekten Auswirkungen für die kindliche Entwicklung und das kindliche Verhalten ergeben, untersucht.
3 Erklärungsansätze der indirekten Auswirkungen mütterlicher Abhängigkeit
3.1 Belastungsfaktoren für die kindliche Entwicklung
3.1.1 Die sozial-emotionale Entwicklung in den ersten Lebensjahren
Die Beziehungserfahrungen der frühen Kindheit sind prägend und formgebend für das weitere Leben eines Menschen. Diese Erfahrungen haben Auswirkungen auf die psychosoziale Entwicklung des Menschen, sie beeinflussen das Selbstbild sowie Selbstwertgefühl maßgeblich (vgl. Gebauer/Hüther 2005, S. 15f.). Trotzdem ist, wie Gebauer/Hüther (2005) betonen, das menschliche Gehirn zeitlebens formbar; Nervenzellverschaltungen können auch nach vielen Jahren der Nutzung noch umgebaut werden (vgl. S. 16). Je öfter und länger das Gehirn auf eine bestimmte Weise gebraucht wird, desto breiter werden die einzelnen Verschaltungen zu Gunsten nie oder wenig benutzter Bahnen ausgebaut (vgl. ebd.). Das bedeutet, dass nicht alle positiven oder negativen Erfahrungen die sozial-emotionale Entwicklung beeinflussen müssen. Durch Verhaltensweisen wie Achtsamkeit, Behutsamkeit, Mitgefühl und Empfindsamkeit gelingt es besonders gut, das Gehirn vor einer einseitigen Programmierung zu schützen. Hierfür braucht das Kind Menschen als Vorbilder, zu denen es eine enge vertrauensvolle Beziehung hat und die an das Kind glauben, damit ihm/ihr behutsam geholfen werden kann, das eigene Handeln zu reflektieren, Fehler zu erkennen und aus ihnen zu lernen, um eingefahrene Bahnen und Programmierungen wieder zu verlassen (vgl. ebd., S. 17f.; S. 24). Dabei sind die ersten Lebensjahre für die Gehirnentwicklung am prägendsten und später am wenigsten irreversibel und relativierbar (vgl. Arenz-Greiving 2003, S. 11). Der Umbau festgefahrener Bahnen gelingt desto besser, je mehr Sicherheit und Geborgenheit ein Mensch in seinen ersten Lebensjahren erfahren hat (vgl. Gebauer/Hüther 2005, S. 17).
Im Folgenden wird die sozial-emotionale Entwicklung von Kindern in den ersten drei Lebensjahren dargestellt, da diese essenziell für die Entwicklung der grundlegenden Hirnstrukturen sind. In jedem Lebensjahr wird ein Vergleich vorgenommen, in dem die Entwicklung unbelasteter mit der (potenziellen) Entwicklung von Kindern aus alkoholbelasteten Familien einander gegenüberstellt wird. Die Entwicklungsabschnitte der sozial-emotionalen Entwicklung sind hier idealtypisch in Anlehnung an Frech (2008) beschrieben, das bedeutet, individuelle Abweichungen sind nicht auszuschließen und natürlich. Des Weiteren wird nachstehend die primäre Bezugsperson synonym mit dem Begriff Mutter und Vater verwendet, wobei diese Arbeit den Schwerpunkt auf die Auswirkungen der mütterlichen Alkoholabhängigkeit setzt.
In den ersten postnatalen Wochen und Monaten bildet sich bei dem Säugling das Urvertrauen, das Gefühl, dass es in der Lage ist, seine Angst zu bewältigen und sich und seinen Mitmenschen Vertrauen schenken kann (vgl. Frech 2008, o.S.). Das Gefühl, die eigene Angst vor dem Abgetrenntsein vom Mutterleib zu bewältigen und zu überwinden, stellt eine Form der Selbstwirksamkeit dar. Der Säugling ist in dieser Lebensphase darauf angewiesen, dass die primäre Bezugsperson seine Bedürfnisse befriedigt und sein/ihr Schreien sowie seine/ihre Mimik und Gestik aufmerksam wahrnimmt und adäquat darauf eingeht, indem die Bedürfnislage des Kindes richtig interpretiert wird. Dies führt zu einem inneren emotionalen Gleichgewicht des Säuglings (vgl. ebd.).
Neugeborene dagegen, die in Alkoholiker_innen-Familien aufwachsen, sind permanent einer Atmosphäre der Anspannung und Angst ausgesetzt (vgl. Woititz 2008, S. 8f. ; S. 13-16). Die Lebenssituation der Heranwachsenden ist durch das ambivalente Verhalten der Mutter geprägt. Falls es einen abstinenten Elternteil gibt, wird dieser höchstwahrscheinlich durch die Co-Abhängigkeit in das System der Suchtfamilie verstrickt sein (s. Kap. 3.2.2). Phasen von emotionaler Wärme und Fürsorge können sich abwechseln mit Phasen der psychischen und physischen Vernachlässigung, möglich ist auch, dass die erstgenannte gar nicht mehr stattfindet. Dies nimmt Einfluss auf die sozial-emotionale Entwicklung des Neugeborenen, denn es lernt als Neugeborenes, Emotionen mimisch und verbal darzustellen. Dabei ist die Beziehung zwischen der primären Bezugsperson und dem Kleinkind entscheidend, denn die Emotionen werden in der Interaktion nachgeahmt und sogar nachempfunden.
Ab dem dritten Lebensmonat werden auf diese Weise die primären Emotionen erlernt, die Freude, Interesse, Überraschung, Ärger, Traurigkeit und Angst umfassen (vgl. Frech 2008, o.S.). Bei Menschen, die unter Alkoholeinfluss stehen, sind des Öfteren Mimik und Gestik widersprüchlich, sodass es möglich ist, dass die Säuglinge in ihrer primären Bezugsperson keinen Spiegel für ihre Gestik und Mimik wiederfinden. Erwachsene spiegeln die non-verbalen Äußerungen des Kindes instinktiv und zeigen dem Kind hiermit auch die Wirksamkeit seines Verhaltens. Im Alkoholrausch ist die Wahrnehmung vernebelt und verzerrt. Dies führt bei dem Säugling zu einer verzerrten Ausbildung des Selbstkonzepts, auch Ich-Identität2 genannt (vgl. Woititz 2008, S. 35; Frech 2008, o.S.). Wie ein Kind seine eigenen Fähigkeiten und Eigenschaften bewertet, ist von seinem/ihrem Selbstkonzept abhängig. Kinder mit einem positiven Selbstwertgefühl sprechen und handeln mit der Grundüberzeugung, Lebensaufgaben bewältigen und Konflikte lösen zu können, was auch als Charakteristika für Resilienz verstanden wird (s. Kap. 6).
Die Fähigkeit zur Empathie befindet sich im ersten Lebensjahr auf einer globalen Ebene, wenn die Mutter weint, wird der Säugling davon „angesteckt“ und weint auch, aber nicht, weil er/sie sich in die Mutter hineinversetzen kann, da zwischen den eigenen und fremden Gefühlen noch nicht differenziert werden kann (vgl. Frech 2008, o.S.). Um andere wahrzunehmen, muss das Kind sich zunächst selber spüren. Daher ist die Ich-Identität mit der Empathiefähigkeit verknüpft (vgl. Chae 2004, S. 80ff.). Die erste Chance eines Menschen zur Entwicklung seines Gefühls, sich in andere Personen hineinzuversetzen, liegt in der frühen Phase seiner/ihrer Kindheit. Abhängig von den Bedingungen, die das Kind in seiner/ihrer Familie vorfindet und der individuellen Antriebskraft, damit umzugehen, kann es lernen, unterschiedliche Sichtweisen zu integrieren und diese durch „passende“ Wirklichkeitskonstruktionen für die Bewältigung des Lebens zu ersetzen (vgl. ebd.). Um Empathie zu empfinden, muss sich der Mensch einer Gemeinschaft zugehörig fühlen. Dies geht mit der Grundüberzeugung einher, dass sich das Kind als ein wertvoller Teil dieser Welt wahrnimmt. Nach Huber bedarf es dazu einer Mutter, „die mit dem Kind einen intensiven Austausch pflegt. Und wenn die Mutter dem Kind eine sichere Bindungsfähigkeit mitgeben möchte, wird sie ‚feinfühlig‘ sein. Das bedeutet: Sie wird die Signale des Babys und kleinen Kindes erkennen, wird prompt darauf reagieren, so gut sie das kann, sanft und freundlich. Sie wird sich auf das Kind ‚einschwingen‘ und wie von selbst wird sie es wiegen, es herzen, es liebevoll umsorgen und pflegen, es schützen und in jeder Hinsicht achtsam mit ihm sein.“ (Huber 2005, zit. nach Lambrou 2017, S. 136f.)
Diese Feinfühligkeit, auch Sensitivität genannt, ist der Grundstein für eine gesunde Entwicklung. Diese ist meines Erachtens besonders gefährdet bei einer volatilen, diffusen Familienatmosphäre, in der die Kinder keine sicheren und konstanten Beziehungsmuster eingehen und erlernen können.
In dem zweiten Lebensjahr hat das Kind gelernt, Gesichtsausdrücke Emotionen zuzuordnen und diese gezielt einzusetzen (vgl. Frech 2008, o.S.). Der Ausdruck von Emotionen ist vielfältiger geworden, wodurch sich das Emotionsverständnis erweitert hat. Dazu werden soziale Regeln erlernt, die sich manifestieren. Bezüglich der Emotionsregulation kann das Kleinkind Selbstberuhigungsstrategien anwenden wie schaukeln oder nuckeln. Vor allem aber bedarf es der Bezugsperson, die auf die Gefühle des Kindes eingeht. Es befindet sich zudem in der Phase der egozentrischen Empathie. Das bedeutet, dass es mittlerweile auf die Gefühle seiner Mitmenschen reagiert und versucht, sich in diese hineinzuversetzen, das Empfinden von Empathie ist aber noch mit den eigenen Empfindungen „gekoppelt“. Zudem werden die sekundären Emotionen ausgebildet. Diese umfassen beispielsweise Stolz, Scham, Neid und Schuld. Hierfür bedarf es Sicherheit und Geborgenheit, um diesen Gefühlen Raum zu geben.
Die Atmosphäre in der Suchtfamilie ist hingegen geprägt von Anspannung und ängstlicher Erwartungshaltung. Beispielsweise kann die alkoholisierte Mutter zärtlich sein und im nüchternen Zustand kalt und abweisend (vgl. Arenz-Greiving 2003, S. 15, S. 19). Das Kleinkind ist bemüht, jede Situation zu beobachten und sein Verhalten auf die Stimmungsschwankungen der Eltern abzustimmen. Dadurch geraten seine/ihre eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund.
Ab dem dritten Lebensjahr können Kinder zwischen dem emotionalen Erleben und dem emotionalen Ausdruck unterscheiden (vgl. Frech 2008, o.S.). Das Kind benötigt eine enge Beziehung zur Bezugsperson, um seine/ihre Gefühle wahrzunehmen, zu zeigen und über diese zu sprechen. Das Emotionsverständnis steht in enger Interdependenz zur Sprachentwicklung und zum Bindungsverhalten. Somit wird das Kind mit Hilfe seines/ihres Sprachvermögens dazu befähigt, in Beziehung mit seinen/ihren Mitmenschen zu treten und diese zu stärken. So kann es in dieser sensiblen Phase mit Hilfe der Sprache viel über die Auslöser und Ursachen von Emotionen und ihre Individualität lernen und es beginnt, Zusammenhänge zwischen diesen Faktoren herzustellen. Zudem wird die Emotionsregulation und Empathiefähigkeit weiter ausgebaut. Die Ich-Identität baut sich zunehmend aus, deren Entwicklung stark von dem Gefühl abhängig ist, wie man in der Gesellschaft bzw. Gemeinschaft steht. Die Kinder aus alkoholbelasteten Suchtfamilien können ihr Erlebtes mit niemandem teilen und fühlen sich dadurch isoliert und andersartig (vgl. Woititz 2008, S. 32, S. 47-59), denn in Suchtfamilien wird der Tatsache, dass Vater oder Mutter alkoholabhängig sind, keine der faktischen Bedeutung angemessenen Relevanz zugemessen; die Realität wird verzerrt und die Sucht wird oftmals verleugnet. Dies ist Bestandteil des Konzepts der Co-Abhängigkeit und der unausgesprochenen „Familienregeln“ des Systems einer Suchtfamilie. Somit können Kinder kein Gefühl für Wahrheit oder Lüge erlernen. Damit tragen sie unwillentlich zur Aufrechterhaltung des Systems der Suchtfamilie bei, was es ihnen aber zugleich ermöglicht, den Alltag in diesem zerstörerischen System zu bewältigen, ohne sich unmittelbar (z.B. durch Flucht) zu gefährden. Damit fehlt den Kindern aus alkoholbelasteten Familien ein Modell für das Erlernen gesellschaftlich akzeptierter sozialer Werte und Normen, welches ihr Regelverständnis formt (vgl. ebd).
Bisher konnte gezeigt werden, dass Kinder zu eigenständigen Persönlichkeiten werden können, wenn Erwachsene ihnen die Möglichkeit eröffnen, stabile Bindungserfahrungen zu machen (siehe auch Kap. 3.1.2). Dies ist bei Kindern aus alkoholbelasteten Familien defizitär, da ihr Alltag von doppelten, paradoxen Botschaften geprägt ist, auch „double bind“ genannt, die sich beispielsweise in folgenden, typischen Sätzen ausdrücken lassen: „Ich hab dich lieb, geh weg […] Sag immer die Wahrheit […] Ich will nichts davon wissen […] Ich brauche dich. Ich komme ohne dich nicht zurecht“ (Woititz 2008, S. 30f.). Deshalb haben Kinder alkoholabhängiger Eltern permanent das Gefühl, nichts richtig machen zu können. Dies wird als sprachliche Inkohärenz definiert, welche es den Kindern erschwert, ein stabiles Selbstbild und ein positives Selbstkonzept zu entwickeln (vgl. ebd.). Diese besondere Form der Kommunikation bringt die Kinder in eine „Zwickmühle“, da sie zwei widersprüchliche Instinkte/Gefühle auslöst. Eine stabile Bindungserfahrung würde ihnen helfen, eigenverantwortlich, selbstbewusst und rücksichtsvoll mit sich und anderen umzugehen, denn ein stabiles Selbstbild bildet die Voraussetzung für die Entwicklung eines positiven Selbstwertgefühls (vgl. Gebauer/Hüther 2005, S. 17-21). Dadurch kann der Mensch seine/ihre eigenen Gefühle wahrnehmen, zulassen, ausdrücken und mit Stimmungen und Frustrationen umgehen. Alkoholabhängige Mütter verleugnen und verdrängen oftmals ihre Verfehlung mit der Argumentation, vor dem Eintritt in die Pubertät hätten die Kinder keine Beeinträchtigungen durch die Erkrankung davongetragen. Dahinter versteckt sich vermutlich die große Angst vor der Wahrheit, sich schon in den frühsten Jahren schuldig gemacht zu haben (vgl. Arenz-Greiving 2003, S. 12f.).
3.1.2 Das Bindungsverhalten von Kindern aus alkoholbelasteten Familien
Im Folgenden wird das Bindungsverhalten von Kindern ebenfalls in den ersten drei Lebensjahren dargestellt. Das Bindungsverhalten wird abgeleitet aus der Bindungstheorie, die von John Bowlby und Mary Ainsworth begründet wurde. Sie beschäftigt sich seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts mit den Auswirkungen mangelnder mütterlicher Fürsorge (vgl. Bowlby 2005 1953; zusammenfassend Stegmaier o.J.). Aus dieser theoretischen Perspektive wird versucht, mögliche Bindungsstörungen aufzuzeigen, die für Kinder aus alkoholbelasteten Familien auftreten können.
Bowlbys Theorie impliziert, dass der Säugling das angeborene Primärbedürfnis hat, nach Bindung zu streben und zu suchen. Das Bindungsverhalten wird durch die Trennung von der primären Bezugsperson aktiviert und hat gegenüber dem Explorationsverhalten3 des Kindes Priorität. Es kann durch Verhaltensweisen wie das Suchen der Bindungsperson, festklammern, weinen, Ärger oder Trauer, aber auch durch emotionalen Rückzug oder Resignation gekennzeichnet sein (vgl. Stegmaier o.J., o.S.). Mögliche Auslöser dafür können Angst, Schmerz oder Müdigkeit sein. Je sicherer die Bindungsqualität eines Kindes ist, desto leichter und nachhaltiger lässt sich das Bindungsbestreben zu Gunsten des Explorationsverhaltens deaktivieren. Das Bindungsbestreben wird vor allem durch eine Trennung von der primären Bezugsperson aktiviert. Bei Sicherheit und Wohlbefinden schaltet sich das Explorationsverhalten des Kindes ein, welches essentiell für die Lern- und Weiterentwicklung des Kleinkindes ist. Im Alter von ca. zwei Jahren nimmt das Explorationsverhalten bei einem natürlichen Entwicklungsverlauf deutlich zu, wobei sich das Kind noch seiner Bindung zur primären Bezugsperson rückversichert, wie zum Beispiel durch Blicke oder auch aufsuchenden Körperkontakt während der Erkundungsphase.
Die Bindungstheorie wurde von Bolbys Schülerin Mary Ainsworth 1969 modifiziert und erweitert, u.a. entwarf sie 3 Kategorien zur Differenzierung kindlicher Bindungsverhaltensstrategien, der später eine weitere hinzugefügt wurde durch Main/Salomon (1986, zit. nach Stegmaier o.J., o.S.). Außerdem erarbeitete sie das Konzept der Feinfühligkeit (s. Kap. 3.1.1), welches besagt, dass es für die Entwicklung einer sicheren Bindung wichtig ist, dass das Verhalten der Bindungsperson durch liebevolle Zuwendung geprägt ist. Sie ist in der Lage, die kindlichen Verhaltensweisen intuitiv wahrzunehmen, die Signale des Kindes richtig zu interpretieren, adäquat darauf einzugehen und emotionale Sicherheit zu bieten (vgl. Stegmaier o.J., o.S.). In ihrer Studie wurden Kinder im Alter von 12 Monaten in einer sogenannten standardisierten „fremden Situation“ gefilmt und untersucht, welchem Bindungstyp sie entsprechen (vgl. ebd.). In dieser „fremden Situation“ befindet sich das Kind in einem mit Spielzeug ausgestatteten fremden Raum, zusammen mit seiner Mutter. Nun werden verschiedene Szenarien durchgespielt, die wie folgt aussehen: Eine fremde Person tritt ein und nimmt mit der Mutter und dem Kind Kontakt auf. Insgesamt verlässt die Mutter jeweils zweimal für maximal drei Minuten den Raum, einmal mit und einmal ohne die fremde Person, die beim Kind zurückbleibt. Der/die Fremde kommt in der zweiten Sequenz erneut in den Raum, nachdem das Kind kurze Zeit ganz alleine war. Zum Schluss kehrt die Mutter zurück und die Fremde geht endgültig. Anhand des Verhaltens, welches das Kind bei der Wiedervereinigung mit der Mutter zeigt, wird sein Bindungstyp charakterisiert, denn Ainsworth geht davon aus, dass das Bindungssystem vom Kleinkind durch die plötzliche Trennung aktiviert wird (zit. nach Gebauer/ Hüther 2005, S. 40f.).
Es wird zwischen vier verschiedenen Bindungstypen bzw. Qualitäten unterschieden, die in der nachfolgenden Ausführung näher beschrieben werden (vgl. Stegmaier o.J., o.S.; Bowlby 2005 1953, S. 25). Die sichere Bindung entspricht dem sogenannten B-Bindungstyp. Kennzeichnend für Kinder mit diesem Bindungsverhalten ist, dass sie Nähe und Distanz zur Bezugsperson angemessen regulieren können. Sie reagieren auf Trennung mit angemessener Trauer oder Irritation und lassen sich daraufhin schnell wieder trösten und beruhigen. Die unsicher vermeidende Bindung entspricht dem A-Bindungstyp. Sie vermeiden auffällig den Kontakt und kompensieren den Stress der Trennung durch ein oberflächliches Explorationsverhalten. Die Trennung lässt sie äußerlich unbeeindruckt, sie isolieren sich und verhalten sich ablehnend oder resigniert gegenüber der Bezugsperson. Der unsicher ambivalente Bindungstyp C verhält sich paradox und anhänglich gegenüber der Bezugsperson. Die Trennung verunsichert sie sehr und ihr Bindungsbestreben ist außergewöhnlich aktiv, indem sie weinen, zur Tür laufen, um sich schlagen und sich kaum beruhigen lassen. In der Wiedervereinigung mit der Mutter4 verhalten sie sich dann insofern ambivalent, als sie abwechselnd anklammerndes und aggressiv-abweisendes Verhalten zeigen und nur schwer emotionale Balance und Einklang mit der Mutter finden. Der vierte Bindungstyp ist die desorganisierte Typ-D Bindung. Diese Bindungsqualität wird durch ein desorientiertes, nicht auf die primäre Bezugsperson bezogenes Verhalten gekennzeichnet. Es äußerst sich in apathischen Verhaltensweisen des Kindes, wie erstarren, sich im Kreis drehen, schaukeln und/oder in anderen Selbstberuhigungsstrategien (was auch als Hospitalismus bezeichnet wird5 ). Manchmal vermischen sich bei dieser Bindungsqualität Verhaltensweisen aus den anderen Bindungstypen, weshalb dieser Typus schwer zu diagnostizieren ist.
Das Verhalten der Eltern von unsicher-ambivalent gebundenen Kindern ist durch ein inkonsistentes Interaktionsverhalten gekennzeichnet. Es wird geschätzt, dass etwa 10-25 Prozent der 1-1,5-jährigen Kinder ein ambivalentes Beziehungsmuster aufweisen (vgl. Gebauer/Hüther 2005, S. 115f.). Beispielhaft dafür steht das Verhalten einer Mutter, die ihr Kind mit Kontaktangeboten überschüttet, wenn es gerade keinen Bedarf dazu hat und es wiederum ignoriert, wenn das Kind traurig, ängstlich oder verzweifelt ist. Alkoholabhängige Eltern/Elternteile verhalten sich häufig inkonsistent und ambivalent in ihrem Beziehungsangebot (vgl. Klein 2001, o.S.; Woititz 2008, S. 8). Aufgrund ihres wechselhaften Verhaltens lernen Kinder früh, sich vor den eigenen Eltern in Acht zu nehmen. Dadurch werden die Antennen der Kinder sensibel und sie müssen zu Reagierenden werden, obwohl sie von Natur aus unbeschwert und ungehemmt sind (vgl. ebd).
Welcher Bindungstyp sich durchsetzt, ist davon abhängig, welche Risiko- und Schutzfaktoren auf Seiten des Kindes vorhanden sind und wie diese wirken (s. Kap. 6).
Eltern, die zu sich selbst kein Vertrauen haben, nicht bindungsfähig sind und keine Verlässlichkeit in sich selbst entwickelt haben, können die Grundbedürfnisse des Kindes nicht befriedigen. Das Verhalten des nicht abhängigen Elternteils kann aufgrund psychischer Belastung ebenso variieren, wodurch die Familienatmosphäre noch aversiver wird. Seine/ihre Beziehung zu der abhängigen Mutter ist stark beeinträchtigt und hoch ambivalent und die Ablehnung des Kindes innerhalb der Familie kann sich außerhalb fortsetzen, wenn das Kind wegen seines auffälligen Verhaltens von Gleichaltrigen oder Erwachsenen gemieden wird. Somit kann bei einer emotionalen Störung oder Störung des Sozialverhaltens von Kindern in bis zu 70-80 % der Fälle von einem gestörten Familienumfeld ausgegangen werden (vgl. Zobel 2017, S. 26). Des Weiteren gibt es mittlerweile gesicherte Erkenntnisse dazu, dass ein Zusammenhang zwischen unsicherem Bindungsverhalten in früher Kindheit und emotionalen Defiziten sowie auffälligem Sozialverhalten vorliegt. Es wird angenommen, dass 80-100 % der Kinder aus suchtbelasteten keine sichere Mutter-Kind-Bindung in ihrer frühen Kindheit aufbauen können (vgl. Zobel 2017, S. 45). Entwicklungsdefizite, die durch Vernachlässigung von Säuglingen und Kleinkindern auftreten, setzen sich meist in der mittleren und späten Kindheit wie auch im Erwachsenenleben fort, da wichtige Entwicklungsschritte nicht erfolgreich bewältigt werden konnten (s. Kap. 4 ). Doch nicht in jeder Suchtfamilie herrschen dieselben Bedingungen. Der Bindungstyp D ist beispielsweise kennzeichnend für Kinder, die ein Trauma in der frühen Kindheit erlitten haben (vgl. Stegmaier o.J., o.S.). Dies ist meiner Ansicht nach denkbar, wenn beispielsweise Kriminalität und Gewalt mit der Alkoholerkrankung einhergehen und/oder diese mit anderen psychischen Erkrankungen oder Polytoxikomanie kumuliert.
Es gibt diverse Erklärungsansätze für die Auswirkungen auf Kinder alkoholabhängiger Eltern, von denen einige in dieser Arbeit exemplarisch dargestellt werden. Dabei ist hervorzuheben, dass die aufgeführten Thesen weder Allgemeingültigkeit noch Konsens beanspruchen können, vielmehr finden sich vermehrt kritische Stimmen und Gegenmodelle zur Bindungstheorie von Bowlby und Ainsworth (vgl. beispielsweise Vicedo 2013). Der gesellschaftspolitische Kontext, in der die Bindungstheorie in den 50er Jahren etabliert wurde, war geprägt von einer Diskussion über die Auflösung oder Aufrechterhaltung tradierter Geschlechterrollen. Versuche mit Rhesusaffen ergaben beispielsweise, dass die Bindung zur Mutter durch sozialen Umgang mit Gleichaltrigen kompensiert werden konnte. Ebenso blieb die Stellung des Vaters in Bowlbys Studien unberücksichtigt. Daher lässt sich zumindest in Frage stellen, ob die Rolle der Mutter tatsächlich exklusiv und unersetzlich für Kinder ist – ein relevanter Einwand, dem aber im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht weiter nachgegangen werden kann.
Im Folgenden werden Merkmale einer alkoholbelasteten Familie beschrieben, die Einfluss auf die Entwicklung von Kindern nehmen können.
3.2 Merkmale einer alkoholbelasteten Familie
3.2.1 Familienregeln und Alkoholismus in dem System Familie
Jeder Mensch bewegt sich in den verschiedensten Systemen und Subsystemen, jedes System hat seine eigenen Normen und Werte. Durch diese Normen und Werte entsteht eine verbindliche Kommunikations-und Interaktionsdynamik (vgl. Bartling/Echelmeyer/Engberding 2016, S. 86ff.). Die Systemregeln stellen Gebote für das Zusammenleben dar und können explizit oder implizit formuliert sein. Explizit wäre: „Jeder muss im Haushalt mithelfen“ und implizit wäre „in der Familie darf niemand offen seine/ihre Gefühle äußern“. Ein Familiensystem besteht aus einer speziellen Gruppe von Menschen, die sich durch ein exklusives Kommunikationsmuster von anderen Systemen abgrenzen (vgl. Riess 2007, S. 18-22). Die Familienregeln in einer alkoholbelasteten Familie sind häufig starr und implizit formuliert. Nach dem systemischen Ansatz sind Probleme einzelner Personen, die in ein familiäres System eingebettet sind, nie isoliert voneinander zu betrachten. Sie werden als Probleme gelesen, die aus der wechselseitigen Beziehungsdynamik entstehen.
In der Systemtheorie wird die Person mit dem identifizierten Problem als „Symptomträger_in“ oder auch „Indexpatient_in“ bezeichnet – im Rahmen dieser Arbeit die alkoholabhängige Mutter. Homöostase bezeichnet das Gleichgewicht innerhalb eines (Familien)-Systems. Jedes Familienmitglied hat bestimmte Rollenmuster und Interaktionsweisen, die sich als funktional erwiesen haben, um das Gleichgewicht in der Familie aufrechtzuerhalten. Dieses spezifisch erlernte Verhaltensmuster hat sich im Hinblick auf die Bedürfnisse, Anliegen und Wünsche Einzelner oder Teilen des Systems als funktional erwiesen. Eine Alkoholabhängigkeit verändert das Familienleben grundlegend und wird als eine Krankheit der gesamten Familie beschrieben, der sich keiner entziehen kann (vgl. Zobel 2017, S. 22).
„Wenn in einem Mobile ein Teil verändert wird, dann verändert sich das ganze Gleichgewicht. Es gerät aus der Balance, die Gewichte müssen dann neu verteilt werden. Das passiert auch in der Alkoholiker-Familie. Jeder versucht, sich entsprechend richtig zu verhalten, ‚doch es gibt keinen gesunden Weg, sich dem Alkoholismus in der Familie anzupassen. ‘“ (Lambrou 2017, S. 95 mit einem Zitat von Wegscheider 1981)
Eine solch massive Störung des Gleichgewichts des Systems Familie durch ein abhängige Frau/Mutter stellt die restlichen Familienmitglieder vor besondere Herausforderungen, insbesondere in sozial-emotionaler und soziökonomischer Hinsicht. Sie müssen ihre Kommunikations- und Interaktionsmuster an die Lebensbedingungen mit einer abhängigen Mutter/Frau anpassen. Unter dieser weitestgehend dysfunktionalen Familienatmosphäre leiden insbesondere die Kinder, die den trinkenden Elternteil in seinen/ihren wechselnden Phasen zwischen Abstinenz und Trinken als extrem erleben. Dadurch wird ihre sozial-emotionale Entwicklung stark beeinflusst (vgl. Zobel 2008, S. 42-47).
Die nachstehenden impliziten Regeln bestimmen den Familienalltag mit einem alkoholabhängigen Familienmitglied, wie der Mutter, maßgeblich:
„1. Das wichtigste im Familienleben ist der Alkohol
2. Der Alkohol ist nicht die Ursache von Problemen.
3. Der abhängige Elternteil ist nicht für seine Abhängigkeit verantwortlich, Schuld sind andere oder die Umstände.
4. Der familiäre Status quo muss unbedingt erhalten bleiben, koste es, was es wolle.
5. Jeder in der Familie ist ein ‚enabler‘ (Zuhelfer), der bewusst oder unbewusst die Sucht ermöglicht.
6. Niemand darf darüber reden, was wirklich los ist.
7. Niemand darf sagen, wie er sich wirklich fühlt“ (Wegscheider 1988, zit. nach Zobel 2008, S. 43; vgl. ausführlich Rennert 2008, S. 202-214).
Anhand der Regeln wird deutlich, dass der Alkohol das zentrale Element ist, das das System Suchtfamilie dominiert, weil die familiäre Atmosphäre und Gefühlslage zum einen davon abhängig ist, ob die Suchtkranke getrunken hat oder nicht (Zobel 2008, S. 44). Doch „mit einem/r Alkoholiker/in zu leben – das ist, wie einen Saurier im Wohnzimmer zu haben“ (Kolitzus 2007, S. 58), die Situation ist unkontrollierbar. Trotzdem wird ein Kontrollverlust der Abhängigen häufig als persönliches Versagen des/der nicht alkoholabhängigen Familienmitglieder bewertet. Deshalb stehen diese Regeln in einem engen Zusammenhang mit co-abhängigem Verhalten.
Nach dem systemtheoretischen Ansatz gerät durch die Alkoholabhängigkeit eines Familienmitglieds, wie die der Mutter, diese Homöostase ins Ungleichgewicht. Damit dieses Gleichgewicht wieder ausbalanciert werden kann, versuchen die restlichen Familienmitglieder die fehlende Funktionalität des/der Abhängigen durch komplementäre Verhaltensweisen zu kompensieren (vgl. Aßfalg 2006, S. 15).
Des Weiteren sind die Grenzen, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Familiensystem hin extrem unklar und vor allem für Kleinkinder diffus, eben weil, wie bereits erwähnt, das elterliche Verhalten von einer Volatilität geprägt ist, die zu unvorhersehbaren Verhaltensänderungen führen kann (Klein 2008, S. 24). In diesem diffusen und aversiven Familiensystem werden Kinder hineingeboren, sind lange Zeit von diesem abhängig und befinden sich in einer ausweglosen Lage. Sie leiden unter den ambivalenten Erfahrungen und entwickeln Loyalitätskonflikte. Einerseits lieben sie die alkoholabhängige Mutter und umsorgen sie, andererseits werden sie von ihr permanent enttäuscht und bestraft und es kommt zu extremen Hassgefühlen (vgl. Arenz-Greiving 2003, S. 17ff.). Außerdem unterstützen die unausgesprochenen Familienregeln die schwierige Lebenssituation, in der sich Kinder aus alkoholbelasteten Familien befinden, weil sie das Alkoholproblem sowohl innerhalb als auch außerhalb der Familie nicht ansprechen dürfen und somit mit ihren Gefühlen, Problemen und Ängsten isoliert und alleine gelassen werden (vgl. Arenz-Greiving 2003, S. 23-26).
Nach Black (1988) können die Regeln auf den Leitsatz „Rede nicht, traue nicht, fühle nicht“ (zit. nach Arenz-Greiving 2003, S. 26) zugespitzt werden. Folgender Text eines/r Betroffenen verdeutlicht ihre Situation in poetischer Weise:
„Ich erinnere mich an dich aus Zeiten, die lange zurückliegen, als ich in einer Hölle lebte, die extra für Kinder gebaut worden war. Die Wände deines Zuhauses waren meine einzige Rettung. Ich bin aber sicher, du hast das nie gewusst, denn ich kam dir niemals wirklich nah. Trotzdem habe ich dich immer gekannt, aber du mich nie. Ich war ein einsames, total verschrecktes Kind – wusste nicht wohin. Wusste nicht, an wen mich wenden […] Viele Jahre später weißt du nicht mehr, dass du mich kanntest – ich aber weiß, dass ich dich kenne. Ich brauchte dringend einen Ort, wie den, wo du warst. Einen Ort, der so anders war, als der, von dem ich kam.“ (Woititz 2012, S. 26f.)
Die Sehnsucht der Kinder wird in diesem Textdeutlich: Sie wünschen sich, im Leben einen Anker, einen Halt zu finden, den sie in ihrem krankmachenden Familiensystem nicht finden können, so sehr sie sich auch bemühen.
Durch die in diesem Kapitel dargestellten dysfunktionalen und widersprüchlichen Familienregeln im System der Familie werden die Co-Abhängigkeit und die Rollenmodelle der Kinder erschaffen (vgl. Rennert 2012, S. 198), die im folgenden Kapitel näher erläutert werden. Sie stellen einen Versuch der Adaption und Systemstabilisierung dar. Aus der Perspektive der Kinder, die in einer solch belastenden und bedrohlichen Umgebung aufwachsen, können sie als „Überlebensstrategien“ verstanden werden.
3.2.2 Die Co-Abhängigkeit in der Familie
Der Begriff der Co-Abhängigkeit (engl. Co-dependency) stammt aus dem Sprachgebrauch der anonymen Alkoholiker und bezeichnet die Auswirkungen auf die Angehörigen des/der Alkoholkranken sowie die spezifischen Verhaltensweisen, die sich manifestieren können (vgl. Dietze/Spicker 2011, S. 148). Co-Abhängigkeit besteht in der „Verleugnung oder Unterdrückung des wahren Selbst, die auf der irrigen Annahme beruht, dass Liebe, Akzeptanz, Sicherheit, Erfolg, Nähe und Seelenheil nur von der Fähigkeit der Person abhängig sind, ‚das Richtige zu tun‘.“ (Rennert 2012, S. 198).
Die Verhaltensweisen der co-abhängigen Person helfen unbewusst, das Suchtverhalten aufrechtzuerhalten oder sogar zu fördern, ohne dies zu beabsichtigen (vgl. Aßfalg 2006, S. 1). Grundsätzlich gibt drei verschiedene Phasen der Co-Abhängigkeit, die Beschützer- und Erklärungsphase, die Kontrollphase und die Anklagephase (vgl. Dietze/Spicker 2011, S. 188; Rennert 2008, S. 71f.).
In der Fachliteratur wird sowohl die Ansicht vertreten, dass die co-abhängige Person unweigerlich in die Spirale der Abhängigkeit mit hineingezogen wird, wie auch die Annahme, auf Seiten der Co-abhängigen bestehe bereits eine Disposition zur Dependenz aus. Es besteht ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis: Der/die co-abhängige Partner_in erlangt eine Selbstwerterhöhung, da er/sie sich ‚opfert‘ um das gewohnte Leben aufrechtzuerhalten. Dies wird auch als die Sucht, gebraucht zu werden, beschrieben (vgl. Kolitzus 2011, S. 51; Aßfalg 2006, S. 1f.). Zugleich ist der/die abhängige Partner_in auf die Unterstützung des/der Partners/der Partnerin angewiesen. Bei dem Konzept der Co-Abhängigkeit macht diese/r das Leben des/der anderen zum eigenen Lebensinhalt, der/die Abhängige wird „zu Tode“ umsorgt (vgl. Aßfalg 2006, S. 32). Metaphorisch lässt sich das Konstrukt der Co-Abhängigkeit so beschreiben, dass alle Systemmitglieder in einem Boot miteinander sitzen und auf einen Wasserfall zutreiben und je mehr die nicht alkoholabhängigen Familienmitglieder rudern, desto mehr kann sich das abhängige Familienmitglied zurücklehnen. Das Boot wird aber durch die Dysbalance mit hoher Wahrscheinlichkeit sinken. Hinzu kommt das co-abhängige, unberechenbare und gestresste Verhalten des nicht alkoholabhängigen Elternteils, bei dem der/die Suchtkranke zum Lebensmittelpunkt werden kann. Somit werden Vorsätze und Versprechungen oft nicht eingehalten – zum Leidwesen der Kinder, die vernachlässigt werden (Zobel 2008, S. 46; Rennert 2008, S. 76, Klein 2008, S. 25).
Aufgrund ihrer geschlechtsspezifischen Sozialisation sind Frauen häufiger von Co-Abhängigkeit betroffen als Männer; die Zuschreibung von (traditionellen) Genderrollen sieht für Frauen vor, ihre Identität und ihren Selbstwert vor allem und im Unterschied zu Männern hauptsächlich auf einer funktionierenden Partnerschaft zu gründen (vgl. Rennert 2012, S. 215-218). Für die Kinder alkoholabhängiger Mütter bedeutet dies ein höheres Risiko der Deprivation, da sich Väter weitaus weniger häufig und ausdauernd co-abhängig und systemstabilisierend verhalten und häufiger als Frauen den/die alkoholabhängige/n Partner/in verlassen oder sich scheiden lassen (vgl. Woititz 2008, S. 17; Aßfalg 2006, S. 24). Unter sozialisationstheoretischem Aspekt erklärt sich auch die hohe Gefahr der Parentifzierung in Familien mit alkoholabhängigen Müttern, eine Gefahr, die bei völliger Abwesenheit von Vätern bzw. männlichen Bezugspersonen nochmals steigt.
„Kinder übernehmen bisweilen Eltern- oder Partnerrollen, das System gerät in seiner ursprünglichen Ordnung durcheinander, wird im Extremfall auf den Kopf gestellt. Dieses Phänomen, Parentifizierung genannt – es umfasst, dass Kinder weitgehend Elternrollen und -verantwortung übernehmen –, ist bei Kindern Suchtkranker besonders häufig zu beobachten. Alleinerziehende Suchtkranke stellen eine spezielle Risikogruppe dar, da sie einerseits stärker überfordert sein können und andererseits der bisweilen präventive Effekt des nicht suchtkranken Elternteils (‚buffering effect‘) fehlt.“ (Klein 2008, S. 24)
Da in den meisten Familien immer noch die typischen Rollenmuster herrschen, nach denen die Mutter für den Haushalt und die Kinder zuständig ist, sind insbesondere die Kinder alkoholabhängiger und zudem alleinerziehender Mütter auf sich alleine gestellt oder sogar für Carearbeiten hauptverantwortlich.
Diese beschriebenen dysfunktionalen Familienregeln sowie die Co-Abhängigkeit lassen sich zusammenfassend als familiäre Verhältnisse kennzeichnen, die von Instabilität, Emotions- und Respektlosigkeit, Angst, mangelnder Förderung und mangelndem Interesse sowie Überforderung gekennzeichnet sind. Die Kinder wachsen unter Bedingungen erhöhten Stresses auf. Zudem lässt sich schlussfolgern, dass das Kind unter der gegebenen aversiven Umgebung und der dysfunktionalen Atmosphäre in der alkoholbelasteten Familie sowohl körperlich als auch emotional vernachlässigt und überfordert wird (vgl. Zobel 2008, S. 45).
Kinder, insbesondere von Suchtkranken, sind sehr feinfühlig und haben ein ausgeprägtes Gespür für den Geruch von Alkohol und die interfamiliären Spannungen, sie entwickeln feine Antennen für die Atmosphäre und Beziehungsdynamiken innerhalb der Familie (vgl. Kolitzius 2007, S. 61f.). Sie lernen, wie alle Kinder am Modell und können sich dabei ebenso wie der Partner/die Partnerin des Abhängigen in die Co-Abhängigkeit verstricken. Die Situation für Kinder aus suchtbelasteten Familien ist divers, wenn der Vater auch alkoholabhängig ist oder die Familie verlassen hat, lebt das Kind in einer derart pathologischen Familienstruktur, in der es keine Möglichkeit hat, dem (Co-)Abhängigkeitsverhältnis zur Mutter auszuweichen (vgl. Arenz-Greiving 2003, S. 10ff.). Zusammenfassend wird anhand der dargestellten Aspekte der familiären Co-Abhängigkeit und der unausgesprochenen Familienregeln deutlich, dass Kinder in einer alkoholbelasteten Familie permanent überfordert werden und ihre kindergerechten Bedürfnisse meist nicht erleben. Aufgrund der inkonsequenten Erziehungshaltung der Eltern erfahren sie ein Wechselbad zwischen Härte und Verwöhnung. Aufgrund dieser emotionalen Unsicherheit erfahren die Kinder, dass sie sich nicht auf ihre Eltern verlassen können. „Das einzige Zuverlässige ist die Unzuverlässigkeit“ (Arenz-Greiving 2003, S. 19). Diese Erfahrungen werden von jedem Kind anders verarbeitet und können ihre sozial-emotionale Entwicklung beeinflussen, die von der Dynamik geprägt ist, spezifische Rollen zu übernehmen und die starren Familienregeln unter allen Umständen einzuhalten. Die Systemstabilisierung durch das Kind wird umso essenzieller, je weniger Unterstützung durch verlässliche, funktionale Systemmitglieder zu erwarten ist. Das Kind ist gezwungen seine/ihre Rolle in der Familie an die dysfunktionalen Familienstrukturen anzupassen, dabei wird seine/ihre Kindheit wird geopfert (vgl. Arenz-Greiving 2003, S. 27f.). Diese Anpassungsleistung an das familiäre System, woraus sich die Rollenmodelle der Kinder ableiten, wird im nachstehenden Kapitel erläutert.
3.2.3 Die Rollenmodelle der Kinder
Jeder Mensch übernimmt unterschiedliche Rollen im Alltag und versucht dadurch, sich bestmöglich in die Situation und die jeweilige Umgebung einzufügen. Welche Rolle wann situationsadäquat ist, hängt von dem Kontext ab, in dem man sich befindet. Die Rollen, die Kinder in einer Alkoholiker-Familie einnehmen, dienen als Überlebens- und Bewältigungsstrategien (vgl. Arenz-Greiving 2003, S. 27). Die belastenden, vernachlässigenden Umstände zwingen das Kind zur Anpassung und zur Einnahme bestimmter Rollen als Versuch, der belastenden Atmosphäre durch aktives Handeln, Rebellion, innerer Zurückgezogenheit oder spaßigem Verhalten entgegenzutreten. Somit werden Formen der Bewältigungsstrategie entwickelt. Diese Rollen stellen auch eine Ausformung des co-abhängigem Verhaltens dar (Rennert 2008, S. 80; Zobel 2017, S. 27ff.). Die Übernahme einer bestimmten Rolle entwickelt sich langsam und unbewusst aufgrund der Notwendigkeit, das Ungleichgewicht des Familiensystems wieder auszubalancieren. Abhängig von differierenden Faktoren wie Alter, Geschlecht, individueller Persönlichkeit, Entwicklungsphase, Intellekt sowie Geschwisterkonstellation ist, welche Rolle bzw. Rollenkombination vom Kind übernommen wird (vgl. Kolitzus 2007, S. 67; Rennert 2008, S. 80f., Arenz-Greiving 2003, S. 27-35, S. 19ff.; Zobel 2017, S. 25, S. 31).
Dazu werden nachstehend vier verschiedene Rollenmodelle beschrieben, die erstmalig von Wegscheider (1988) entwickelt wurden und seither durch eine Vielzahl an Autoren modifiziert, erweitert und neu aufgegriffen wurden.
„Der/die Held_in“, auch als „Macher“, „Partnerersatz“ oder „verantwortungsbewusstes Kind“ bezeichnet, ist meist das älteste Kind der Familie, das durch besondere Leistungen nach Aufmerksamkeit, Anerkennung und dem Gefühl, wertvoll zu sein, strebt. Diese Leistungen zeichnen sich durch frühe Selbstständigkeit und Verantwortungsübernahme aus. Die Persönlichkeitsmerkmale des/der Helden/in verlaufen von Perfektionismus über neurotisch-zwanghafte Akzentuierungen bis hin zu altklugem Verhalten. „Vor allem, wenn die Mutter abhängig ist, fällt der ältesten Tochter die Verantwortung für Haushaltsführung und Erziehung der jüngeren Geschwister zu“ (Arenz-Greiving 2003, S. 28). Somit haben eigene regressive Bedürfnisse keinen Raum, ihren Selbstwert ziehen sie aus Botschaften wie „Das ist aber toll, dass du deiner Mama hilfst!“ (ebd., S. 29). Da sie ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse nicht artikulieren, sind sie emotional „unterernährt“. Sie stellen auch häufig eine/n Ersatzpartner/in für den nicht süchtigen Elternteil dar (vgl. Kolitzus 2007, S. 66-73). Sie fühlen sich für die Bedürfnisse eines jeden Familienmitgliedes zuständig und versuchen, es allen recht zu machen. Solch ein Verhalten kann außerdem co-abhängige Wesenszüge annehmen, weil das Abhängigkeitsverhältnis durch die Fürsorge stabilisiert werden kann (vgl. Rennert 2008, S. 80f.). Die Intention der/des Helden/in ist es, die familiäre Situation unter Kontrolle zu bringen und der abhängigen Mutter zur Genesung zu verhelfen. Durch ein solch aktives Handeln schützt sich das „Heldenkind“ zum einen vor eigenen Gefühlen und Ängsten, die es zu Hause erlebt, jedoch nicht ausgesprochen werden dürfen. Zum anderen wird der Status-quo der Familie unbewusst erhalten, indem diese durch die Leistungen des/der Held_in aufgewertet wird (vgl. Zobel 2017, S. 27). Ressourcenorientiert betrachtet ist der /die Held_in sehr zuverlässig, dominant und zielstrebig. Sie besitzen meist ein besonderes Einfühlungsvermögen und eine ausgeprägte soziale Intelligenz. Sie neigen zu guten schulischen Leistungen und suchen sich auch später häufig problembehaftete Partner für ihre sozialen oder intimen Beziehungen aus, um die Führung übernehmen zu können (vgl. Arenz- Greiving 2003, S. 29f.).
Konträr dazu verhält sich die Rolle des „Sündenbocks“, oftmals übernommen vom Zweitgeborenen. Es handelt sich um das „ausagierende“ Kind, das durch Rebellion und Auflehnung gekennzeichnet ist. Typisierende Persönlichkeitsmerkmale sind Trotz, Feindseligkeit, die Neigung zu delinquentem Verhalten und Schwierigkeiten in der Schulzeit. Zudem hat das Kind ein niedriges Selbstwertgefühl, zentrale Emotionen sind Wut und Trauer, dies ist die einzige Rolle, die sich der familiären Situation realistisch stellt. Durch sein oppositionelles Verhalten lenkt das Kind vom Problem der/des Abhängigen ab und erlangt durch sein/ihr herausforderndes Benehmen zumindest negative Aufmerksamkeit (vgl. Zobel 2017, S. 27), wodurch es einen Beitrag zur familiären Homöostase leistet (vgl. Arenz- Greiving 2003, S. 31). Dies kann sich in der frühen Kindheit durch Einnässen äußern, später in Schulverweigerung bis hin zu kriminellen Handlungen oder frühen Schwangerschaften. Fähigkeiten des Sündenbocks sind Mut und Risikofreude (vgl. Kolitzus 2007, S. 67).
„Das verlorene Kind“ ist häufig ein drittgeborenes, es lebt zurückgezogen, nahezu apathisch in seiner eigenen Welt, um der familiären Atmosphäre fernzubleiben (vgl. Zobel 2017, S.28f.). Hinter dem fügsamen und unauffälligen Verhalten steckt ein vernachlässigtes Kind, das sich unsicher, einsam, und bedeutungslos fühlt und Konflikten meist widerstandslos aus dem Weg geht. Charakteristisch für diese Kinder ist, dass sie meistens Einzelgänger/innen sind, Identitätsfindungsschwierigkeiten haben und zu Tagträumen neigen (vgl. Arenz-Greiving 2003, S. 32f.). Durch seine/ihre Zurückhaltung entkommt dieses Kind sowohl negativer als auch positiver Aufmerksamkeit aus dem Elternhaus und entlastet die familiäre Situation durch seine/ihre „Unsichtbarkeit“. Zentrale Gefühle sind Niedergeschlagenheit, Verlassenheit sowie Entscheidungsschwierigkeiten, sie „schwimmen und driften“ orientierungslos durchs Leben. Positiv sind ihr Geschick, sich selbst zu behaupten, ihre Kreativität und ihre Unabhängigkeit von anderen Menschen (vgl. Kolitzus 2007, S. 66f.).
„Der/die Clown_in“, ist meist das jüngste Kind der Familie, auch „schutzbedürftiges Baby“ (Kolitzus 2007, S. 66) genannt, strebt danach, durch seine aufgeschlossene, lustige und unterhaltsame Art, viel Aufmerksamkeit zu bekommen. Konstatierte Persönlichkeitsmerkmale sind Hyperaktivität, Extrovertiertheit, Sensibilität, Konzentrationsschwäche und ein hohes Anlehnungsbedürfnis (vgl. Zobel 2017, S. 28). Der/die Clown_in wirkt häufig ängstlich, unreif und wenig belastbar. Sein/ihr Verhalten wirkt oft hysterisch, infantil und emotional gestört. Sie können weder richtig ernsthaft, noch angemessen traurig sein (vgl. Arenz-Greiving 2003, S. 33). Dadurch fällt es schwer, diese Kinder mit ihrer Emotionsausprägung ernst zu nehmen. Positiv ist der/die Clown_in insofern, als dass er/sie der Familie Freude und Humor beschert und von alkoholbelasteten Alltagsorgen ablenkt. Zudem ist diese Rolle oft charismatisch, wortgewandt und eine unterhaltsame Gesellschaft (vgl. Kolitzus 2007, S. 67).
Ackermann (1987, zit. nach Zobel 2017, S. 28f.) definierte zusätzlich noch vier weitere Rollen: „Das Chamäleon“ ist automatisiert und passt seine/ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche an die der anderen an und bezieht keine eigene Stellung. Der/die Distanziert_e bleibt jederzeit unangreifbar und auf Abstand, wobei eigene Emotionen nicht ausgelebt, sondern unterdrückt werden. Diese Rolle ist sehr konfliktscheu. Die dritte Rolle des „Übererwachsenen“ nach Ackermann ist sehr rational, kontrolliert und selbstkritisch. Gefühle und Spontaneität haben bei dieser Rolle keinen Raum. Die vierte Rolles des Unverletzten beschreibt die Rolle eines Kindes, das trotz dysfunktionaler Familienstrukturen eine „gesunde Entwicklung“ (Zobel 2017, S. 28; Herv. i. O.) durchläuft.
Resümierend lässt sich die Übernahme einer bestimmten Rolle als kindliche Schutzstrategie bzw. Überlebensstrategie verstehen, mit der es versucht, mit der aversiven Familienatmosphäre umzugehen, über die es mit niemanden reden darf (vgl. Arenz-Greiving 2003, S. 36).
Bei Einzelkindern kann das Kind in verschiedenen Entwicklungsphasen diverse Rollen - oder auch mehrere gleichzeitig besetzen. Bei mehr als vier Kindern werden Rollen mehrfach besetzt (vgl. Kolitzus 2007, S. 73f). „Der/die Held_in“, „der Sündenbock“, „das verlorene Kind“ und „der/die Clown_in“ bilden die vier wesentlichen Kernkonstrukte von Rollenmodellen, in denen sich sowohl Kinder, Jugendliche als auch erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern mit den essenziellen Hypothesen einer Rolle identifizieren können (vgl. Zobel 2017, S. 30f.). Die Attribuierung der einzelnen Rollen ist nicht distinkt, zum einen ist das Verhaltensreportire von Kindern vielfältiger als in den vier Kernkonstrukten beschrieben, zum anderen konnten sich 75 % der Erwachsenen Kinder aus suchtbelasteten Familien mit mindestens zwei der vier Rollen identifizieren. Dabei konnten sich 25 % der Befragten keiner Rolle zuordnen. Zudem tritt das Rollenverhalten auch bei Kindern aus dysfunktionalen Familienverhältnissen auf. Bei unbelasteten Familien, den Kontrollgruppen, ist dieses Phänomen deutlich seltener zu beobachten. Somit wurde die Wissenschaftlichkeit dieser Theorie bereits validiert, doch sind die hier dargestellten Rollen Konstrukte nicht dogmatisch und ausschließlich zu betrachten.
[...]
1 Dies entspricht „einem kleinen Glas Wein“ (DHS 2015b, S. 2).
2 Auf der Grundlage von Eriksons Theorie ist die Ich-Identität gekennzeichnet durch ein Gefühl der eigenen Unverwechselbarkeit,- Begrenzung und deren Bejahung. Sie umschließt verschiedene Bereiche, wie das Kennen und Bewusstsein des eigenen Körpers, seiner Fähigkeiten, die eigene Geschichte und die persönlichen Beziehungen zu Menschen. Die Ich-Identität wird im Laufe des Sozialisationsprozesses in der Interaktion mit Menschen und Dingen (Identifizierung und Abgrenzung) erworben und verfestigt sich in der späteren Adoleszenz (vgl. Diepold 2005, S. 85).
3 Explorationsverhalten kann auch als Neugier-Verhalten oder Erkundungstrieb bezeichnet werden. Dabei handelt es sich um ein Grundbedürfnis nach gerichtetem, zielstrebigem Aufsuchen von neuen Situationen, Reizen und Aufgaben. Es regt zum äußeren und inneren Probehandeln an und ist bei Kleinkindern besonders ausgeprägt (vgl. Gebauer/Hüther 2005, S. 40f.).
4 Wenn der Vater die primäre Bezugsperson des Kindes darstellt, kann das Bindungssystem ebenso an ihn gekoppelt sein. Dies war jedoch zurzeit von Bowlbys und Ainsworth selten, die daher durchgängig Mütter im Blick hatten.
5 Hospitalismus beschreibt die psychischen und körperlichen Schäden und Defizite, die Kinder infolge von andauernder Deprivation entwickeln. Häufig wurde dieser Begriff auch bei Kindern verwendet, die über längere Zeit in Kliniken oder Heimen untergebracht waren, in denen die liebevolle emotionale Bindung zu mindestens einer konstanten Bezugsperson gefehlt hat (vgl. Hellbrugge 1966, S. 385ff.).
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- Diana Schmidt (Autor), 2018, Mütterliche Alkoholabhängigkeit und die kindliche Entwicklung. Potenzielle Auswirkungen und Effekte, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/956411
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