Was hat Clean Eating mit Vegetarismus zu tun? Die Frage ist durchaus berechtigt, scheinen doch beide etwas mit Ernährung zu tun zu haben, wenngleich sie sicherlich nicht eine Seite derselben Medaille zu sein scheinen. Nichtsdestotrotz ist die Verbindung für eine Betrachtung des 19. und der Anfänge des 20. Jahrhunderts durchaus beachtlich, da insbesondere in der vegetarischen Bewegung des 19./20. Jh. grundgelegt wird, was wir als Prinzipien später in der Vollwerternährung oder eben –in neuerer Zeit– im Clean Eating wiederentdecken können.
Die ‚Clean Eater‘ des 19. Jahrhunderts?
Eduard Baltzers Ernährungsprämissen einer neuen Zeit in seinem
Vegetarischen Kochbuch
Was hat Clean Eating mit Vegetarismus zu tun?
Die Frage ist durchaus berechtigt, scheinen doch beide etwas mit Ernährung zu tun zu haben, wenngleich sie sicherlich nicht eine Seite derselben Medaille zu sein scheinen. Nichtsdestotrotz ist die Verbindung für eine Betrachtung des 19. und der Anfänge des 20. Jahrhunderts durchaus beachtlich, da insbesondere in der vegetarischen Bewegung des 19./20. Jh. grundgelegt wird, was wir als Prinzipien später in der Vollwerternährung oder eben –in neuerer Zeit– im Clean Eating wiederentdecken können.
Daher ist die Suche nach dem Clean Eating in vergangenen Tagen nicht einer besonderen persönlichen Betrachtungspräferenz geschuldet, sondern eher einer Notwendigkeit, da uns der moderne Vegetarismus (und damit meine ich tatsächlich den Vegetarismus der Moderne) in seinen vielschichtigen Ansätzen durchaus Wege ebnete in eine Ernährungsweise, die auf möglichst natürlichen, unverarbeiteten und frischen Lebensmitteln beruhte, alles Künstliche weitestgehend ablehnte und kein großer Freund von zugesetztem Zucker oder zu viel Salz gewesen ist.
Die vegetarische Bewegung der Moderne ist folglich ein wertvoller Beiträger zur Ernährungsdebatte unserer Gegenwart, da neben genannten Aspekten auch Fragen nach einer umweltschonenden und ökologischen Landwirtschaft, der Tierethik und Ressourcenschonung in dieser Zeit bearbeitet worden sind.
Dass die Ernährung im 21. Jahrhundert bewegt wird von allerhand unterschiedlichen Ernährungsweisen und stetig wechselnden Trends, die von kurzfristigen Diäten bis hin zu überzeugten Lebensweisen reichen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Menschen zu jeder Zeit Gedanken um die richtige Ernährungsweise gemacht haben.
Auf dem Weg zum modernen Vegetarismus
Insbesondere in der zeitlichen Mitte der, weitgehend als Moderne bezeichneten Epoche– insofern man der allgemeinen Definition der Geschichts- und Sozialwissenschaften hier folgen mag– also um 1860 entwickelt sich zunehmend ein Interesse an alternativen Lebensweisen, was auch ein neues Verständnis von Ernährung generierte.
Beeinflusst von Ideen des Humanismus und der Aufklärung, allen voran durch Persönlichkeiten wie Jean-Jaques Rousseau (1712-1843), der mit seinem Roman Èmile der vegetarischen Bewegung Vorschub leistete, oder dem einflussreichen vegetarischen Schriftsteller Jean Antoine Gleizès (1773-1843), der den Fleischkonsum als „Tiermord“ deklarierte1, stellte sich für die Gesellschaft der Moderne die Frage, was eine gute und richtige Ernährungsweise auszeichnete, ganz neu.
Die bereits in der Antike durchaus übliche Praxis der vegetarischen Ernährung, wie die Beispiele des Pythagoras, Plutarch oder Ovids zeigen, gerieten mit der Zeit, wenn nicht in Vergessenheit, so doch in den philosophischen Hintergrund, weshalb man durchaus von einer Renaissance der vegetarischen Idee zur Zeit der Aufklärung sprechen kann.
Inspiriert von diesen, längere Zeit abseitigen Gedanken, entfaltete sich auch in der Moderne des 19. Jahrhunderts eine vegetarische Bewegung, die den Verzehr von Tieren entschieden ablehnte oder sogar gänzlich auf tierische Produkte wie Milch, Molkereiprodukte und Eier zu verzichten suchte.
Insbesondere im Rahmen der Lebensreformbewegung, die verschiedene gesellschaftliche Bewegungen vereinte und von Naturheilkunde, über Kleidungs- und Bildungsreformen noch viele weitere gedankliche Ausrichtungen umfasste, gewann die vegetarische Lebensweise als anzustrebendes Ziel an großer Bedeutung. Doch auch die gesellschaftlich brisante Soziale Frage, die im Zuge der Industrialisierung existentielle Ernährungsfragen stellte, spielt in den Kontext moderner, sozial ausgerichteter Ernährungsfragen mit hinein, was zahlreiche Verweise auf die ökonomisch verträgliche bzw. äußerst kostengünstige vegetarische Lebensweise nahelegen können.
Der moderne Vegetarismus, der eine möglichst ursprüngliche, reine und unverarbeitete Kost propagierte, bezieht seine Grundfundamente nicht mehr allein aus der ethischen Haltung zum Tier und ist daher keine reine Anknüpfung an antike und aufklärerische Vorbilder.
Seine moderne Ausprägung speist sich sowohl aus ethischen, als auch aus ökologisch- nachhaltigen, sozialen, gesundheitlichen und ökonomischen Positionen. Der Charakter des modernen Vegetarismus ist ebenso vielschichtig wie unterschiedlich begründbar, weshalb es durchaus Gesundheitsvegetarier geben konnte, die sich nicht aufgrund des Tierwohls, sondern aus ästhetischen und gesundheitsorientierten Motiven heraus für eine vegetarische Lebensweise entschieden.
Den meisten Vegetariern gemein war jedoch eine spezifische Vorliebe für frische, ‚reine‘ Produkte und möglichst unverarbeitete bzw. wenig verarbeitete Lebensmittel, sei es nun aus Kostengründen, den Idealen des eigenen Körpers folgend oder aus lebensreformerischem Ansatz heraus, um Mensch und Natur wieder miteinander zu versöhnen.
Vegetarismus und Lebensreform– ganz natürlich miteinander verbunden?
Ein erheblicher Anteil vegetarisch lebender Menschen des ausgehenden 19. und beginnenden 20.Jh. standen den lebensreformerischen Ideen nahe, wenngleich man eine entsprechende Zuordnung zu einer klar umrissenen Gruppe von „Lebensreformern“ nicht treffen kann. Vielmehr handelt es sich um eine retrospektive Sammelbezeichnung verschiedener Gruppierungen, die neue, alternative Denk-und Lebensweisen zu etablieren suchten.
Daneben sollte man auf eine synonyme Bezeichnung von Vegetariern und Lebensreformern ebenso verzichten, da die Schnittmengen zwar oftmals sehr groß, die Ausrichtungen der Lebensreform aber zu vielschichtig gewesen sind, als das man schlichtweg von jedem Vegetarier behaupten könne, er sei Lebensreformer, ebensowenig wie von jedem lebensreformerisch Denkenden, er sei strikter Vegetarier gewesen.
Den Lebensreformern gemein war die Suche nach einem natürlichen Zustand des Menschen und der bestmöglichen Einheit von Natur und Mensch, die ihrer Meinung nach mit der „modernen“ Entwicklung, die Industrialisierung und Materialismus mit sich brachte, gestört wurde.
Die Entfremdung des Menschen von seiner Natur, aber auch von der ihn umgebenden und der Einheit mit Gott waren tragende Topoi der lebensreformerischen Bewegungen. Die Entfremdung des Menschen von seiner natürlichen, ursprünglichen Ernährungsweise war in diesem Kern jedoch auch ein Anliegen der vegetarischen Bewegung.
Natürlichkeit und natürliche Lebensweise wurden so zu Leitgedanken einer ganzen Generation und prägten die Zeit zwischen 1860 und 1930 nachhaltig.2
Natürlich, rein und frisch- die Herausbildung einer spezifischen Vorstellung von naturgemäßer Ernährung in der Moderne So verwundert es nicht, dass Eduard Baltzer (1814-1882), ein Vordenker der vegetarischen und Lebensreformbewegung, sein Kochbuch Vegetarianisches Kochbuch für Freunde der natürlichen Lebensweise nannte . Ab 1908 tritt das erfolgreiche, sich zum Standardwerk der vegetarischen Küche entwickelnde Werk unter dem Titel Vegetarisches Kochbuch für Freunde der natürlichen Lebensweise in Erscheinung.
Baltzers Werk war im Übrigen das erste deutsche vegetarische Kochbuch überhaupt, das 1868 in der Erstauflage bei H.Hartung& Sohn in Leipzig erschien und bis 1939 ganze 20 Neuauflagen verzeichnen konnte. Erst einige Jahre später, 1871, erschien beispielsweise Emil Weilshäusers Illustriertes Vegetarisches Kochbuch, ebenfalls in Leipzig.
Bereits in Baltzers Titel nimmt nicht allein das ‚natürlich‘ auf die genannten Vorstellungen einer entsprechenden Lebensweise Bezug, sondern auch der Begriff ‚vegetarisch‘, der sprachlich oft fälschlicherweise mit den Vegetabilien (Bezeichnung für pflanzliche Lebensmittel) als Basis dieser Ernährungsweise zusammengebracht wird. Vielmehr leitet sich vegetarisch von lat. vegetus (=körperlich u. geistig lebendig, gesund) ab und deutet auch an dieser Stelle auf eine vor Gesundheit und Natürlichkeit strotzende Lebensweise hin.
Die Prämissen einer natürlichen Ernährung setzt Baltzer bereits in den ersten Textseiten seines Kochbuches fest. Ohne lange Einleitungssätze bringt er auf den Punkt, was er im Grunde für natürlich bzw. naturgemäß hält und wie sich der Mensch daran ausrichten solle:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Für Baltzer ist vor allem der rohe Verzehr pflanzlicher Speisen zu bevorzugen, was in heutiger Zeit sehr an die rohvegane bzw.
[...]
1 So heißt es u.a. in Gleizès Thalysia: „Der (Tier)Mord laeßt sich durch nichts entschuldigen; er ist im physischen wie im moralischen Sinne gleich abschreckend. ‚Der gekochte Mord‘, werden einige Spaßvoegel sagen, ‚riecht nicht so unangenehm‘; aber woher wissen sie das? Koennten Sie sich nicht ebenfalls taeuschen, wie jene Soldaten bei der Belagerung von Jerusalem? ‚Der gekochte Mord‘ riecht nicht so unangenehm!’ Ungluecklicher, bei diesem abscheulichen Geruch kriecht die Sinnpflanze, die menschlicher ist als du, in sich selber zurück und schließt ihre Blaetter, als ob es Nacht wäre (…)“, vgl. Jean-Antoine Gleizès: Thalysia oder das Heil der Menschen. Berlin: Verlag von Otto Janke 1872, S.38.
2 eig.Anm.: Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten und der Gleichschaltung vieler, im Vereinswesen organisierter Gruppen, die zur Lebensreform zu zählen sind, löste sich diese in ihren vielfältigen Strukturen auf. An den Anfangserfolg der Lebensreformbewegung(en) konnte nach der NS-Zeit nicht mehr angeknüpft werden, was sowohl am Wegfall der Vereine und organisierten Gruppen als auch am abfallenden Interesse der Bevölkerung an breitgefächerten, alternativen Lebenskonzepten begründet liegt.
- Citar trabajo
- Julia Eydt (Autor), Die "Clean Eater" des 19. Jahrhunderts? Eduard Baltzers Ernährungsprämissen einer neuen Zeit in seinem Vegetarischen Kochbuch, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/956385
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