Der vorliegende Essay fasst in Kürze die Methodik und Herangehensweise der Psychologin Elaine Aron in ihrer Forschung zum Thema "Hochsensibilität (HSP) auf. Hochsensible haben nach Arons Definition sehr gute Antennen für die Bedürfnisse anderer Menschen und ein großes Harmoniebedürfnis.
Das mache es ihnen schwer, sich adäquat abzugrenzen. Oft würden sie quasi telepathisch Gefühle anderer Menschen auffassen, mitleiden und übermäßig mitfühlen, und sich dann nicht mehr zentriert im eigenen Ich befinden. Aron schätzt den Anteil hochsensibler Menschen auf ca. 20 Prozent der Menschheit. In Deutschland ist ihre Forschung zum Thema HSP umstritten. Der vorliegende Essay beschreibt hierzu knapp die wichtigsten Kriterien.
Mission/Challenge:
KRITISCHE AUSEINANDERSETZUNG MIT FORSCHUNG
„Hochsensibilität ist eine belegbare Diagnose und ist auf Basis von ‚psychologischen Tests‘ definiert“ – Alltagspsychologie oder Wissenschaft?
Die bekannteste Literatur zum Thema „Hochsensibilität“ ist Elaine Arons „The Highly Sensitive Person“1. Die amerikanische Psychologin Aron stützt ihre Forschung stark auf die Theorien des schweizerischen Psychologen C.G. Jung und seine Literatur über Introvertiertheit2. Ihr Buch wurde seit den 90ern in rund 70 Sprachen übersetzt und gilt als Standardwerk zum Thema3. Die erste wissenschaftliche Übersetzung eines Fragenkatalogs oder Tests zum Thema in eine deutschsprachige Version gibt es seit 20154. Trotzdem ist Hochsensibilität (HSP) umstritten und auch in Deutschland nicht in den bekannten psychologischen Regelwerken zur Diagnostik wie dem ICD-10 5 definiert.
Aron bietet Interessierten die Möglichkeit eines Selbsttests im Internet6 an, dieser basiert auf ihren ursprünglichen Fragebögen zum Thema und beinhaltet 27 Fragen, die darauf abzielen, zu erörtern, ob man „sensiblere Antennen“ für Menschen und Umwelt hat, sowie schlecht Grenzen zwischen sich und seiner Umwelt ziehen kann.
Beispiele7 für Fragen bzw. zu bejahende Aussagen sind:
- Die Stimmung anderer Menschen beeinflusst mich.
- Ich tendiere dazu, Schmerz intensiv wahrzunehmen.
- Ich habe ein reiches, komplexes Innenleben.8
Zur Auswertung und Selbstdiagnose schreibt Aron:
If you answered more than fourteen of the questions as true of yourself, you are probably highly sensitive. But no psychological test is so accurate that an individual should base his or her life on it. We psychologists try to develop good questions, then decide on the cut off based on the average response. If fewer questions are true of you, but extremely true, that might also justify calling you highly sensitive. Also, although there are as many men as women who are highly sensitive, when taking the test highly sensitive men answer slightly fewer items as true than do highly sensitive women.9
Hochsensible haben nach Arons Definition sehr gute Antennen für die Bedürfnisse anderer Menschen und ein großes Harmoniebedürfnis. Das mache es ihnen schwer, sich adäquat abzugrenzen. Oft würden sie quasi telepathisch Gefühle anderer Menschen auffassen, mitleiden und übermäßig mitfühlen, und sich dann nicht mehr zentriert im eigenen Ich befinden. Das könne ein Vorteil, aber auch ein Nachteil sein, denn eine ungefilterte Wahrnehmung könne schon das alltägliche Umfeld bei der Arbeit, beim Einkaufen oder auf einer Party zu einer Herausforderung machen10. Diese und andere Merkmale sprechen aus Sicht von Aron für „Hochsensibilität“. Sie schätzt den Anteil hochsensibler Menschen auf ca. 20 Prozent11 der Menschheit. Woher diese Einschätzung stammt (Datenbasis) ist nicht angegeben.
In Deutschland wird sich in einer Reihe von Literatur auf Aron bezogen, federführend ist hier mit die deutsche Psychologin Sylvia Harke. Sie beschreibt in einer Reihe von Büchern und auf Vorträgen vor allem auch die Vorzüge von Hochsensibilität12: Hochsensibilität könne auch eine große Stärke sein. Sie helfe etwa dabei, Situationen frühzeitig einschätzen, Gefahren sowie aber auch Möglichkeiten frühzeitig einzuschätzen.
Zu Elaine Aron und der empirischen Basis des Prinzips Hochsensibilität: Aron ist approbierte Psychologin mit eigener Praxis in Mill Valley, Kalifornien13. Sie verfügt über einen Masterabschluss in klinischer Psychologie von der an der York University in Toronto, sowie einen Ph.D in klinischer Tiefenpsychologie, verliehen durch das Pacifica Graduate Institute, eine amerikanische private, gewinnorientierte Graduiertenschule mit zwei Standorten in der Nähe von Santa Barbara, Kalifornien14.
Befürworter von Arons Theorie bringen ihre Forschung in Kontext mit etalierten und anerkannten Konzepten u.a. der Resilienzforschung, des Neurotizismus und mit den Persönlichkeitskriterien der „Big Five“15. Sie selbst beschreibt ihren empirischen Ansatz als Produkt einer „fünf Jahre lang andauernden Untersuchungsreihe tiefgründiger Gespräche, klinischer Erfahrung und Beratungen für Hunderte von HSM“16 (= Hochsensible Menschen).
Arons Ansatz in der Erforschung17 von Hochsensibilität lässt sich auf Basis der vorliegenden und zitierten Informationen wie folgt beschreiben:
1. Beobachtung: Ein Teil meiner Patienten scheint sensibler auf die Umwelt zu reagieren als andere.18
2. Forschungshypothese: „Es gibt eine Ausprägung von Sensibilität bei manchen Menschen, die bedeutend höher ist, als der Durchschnitt.“ (= vergleichsweise hohe Streuung vom Median)
3. Design der Studie: Auswahl von Teilnehmern (Patienten/Klienten aus Arons Praxis), Aufsetzen eines Fragebogens basierend auf Gesprächen im „allgemeinen Therapiebetrieb“
4. Durchführung (Fragebogen austeilen, Teilnehmer instruieren)
5. Datenanalyse (Auswerten der Ergebnisse)
6. Interpretation der Daten („Bejahte“ Aussagen, Verteilung der Antworten, allg. Tendenzen)
7. Implikation der Theorie: „Coining“ des Begriffs „Hochsensibilität“19 (Highly-Sensitive Person), Definition als „trait“
8. Theorie: Es gibt hochsensible Menschen, die ihre Umwelt verstärkt und ungefilterter wahrnehmen als andere.
9. (Überarbeitung des Fragenkatalogs, weitere Testdurchläufe der Befragung, zielgruppenspezifische Tests...)
Anhand dieser Darstellung lässt sich gut der Einsatz von Induktion und Deduktion erkennen: zunächst beobachtete Aron den Sachverhalt, dass sich manche Klienten „vom Durchschnitt“ hinsichtlich ihres Reizverhaltens unterschieden. Als deduktiver Ansatz diente ihre Forschungshypothese.
Über die Art der Erhebungen sind keine Informationen zu finden (Skala?), Möglichkeit wäre hier etwa die Nutzung des Intervall- bzw. metrische Messniveaus (vgl. Studien zu IQ-Werten). Unabhängige Variable ist in diesem Fall etwa das Geschlecht, abhängige Variable das „Reizpotential für Hochempfindung“.
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1 Aron, Elaine (1997). The Highly Sensitive Person: How to Thrive When the World Overwhelms You. Harmony Books (as part of the Crown Publishing Group), New York.
2 Jungs Theorien müssen nach empirischen Standards heute kritisch betrachtet werden, insbesondere im Zusammenhang mit dem darauf basierenden Meyers-Briggs Persönlichkeitstest, vgl. Lilienfeld, Scott O. et al: Controversial and questionable assessment techniques. In: S. O. Lilienfeld, S. J. Lynn, J. M. Lohr (Hrsg.): Science and Pseudoscience in Clinical Psychology. Kapitel. Guilford Press, New York 2003, S. 39–76.
3 Strohmaier, Brenda (2015). Umstrittene Theorie: „Hochsensibilität ist keine Krankheit“. Erschienen in auf welt.de. Letzter Zugriff am 5.11.2020 unter https://www.welt.de/icon/partnerschaft/article137874821/Hochsensibilitaet-ist-keine-Krankheit.html
4 Blach, Christina (2015). Ein empirischer Zugang zum Konstrukt der hochsensiblen Persönlichkeit, Dissertation. Medizinischen Universität Graz, Graz (Österreich). S. 206. Letzter Zugriff am 5.11.2020 unter https://online.medunigraz.at/mug_online/wbabs.getDocument?pThesisNr=49094&pAutorNr=80045&pOrgNR=1
5 Dilling, Horst et al (2015). Internationale Klassifikation psychischer Störungen: ICD–10 Kapitel V (F) – Klinisch–diagnostische Leitlinien. Hogrefe Verlag, Göttingen.
6 Aron, Elaine (1996). Are You Highly Sensitive? Letzter Zugriff am 5.11.2020 unter http://hsperson.com/test/highly-sensitive-test/
7 Ebd.
8 Ebd.
9 Ebd.
10 Aron, Elaine (1997). The Highly Sensitive Person: How to Thrive When the World Overwhelms You. Harmony Books (as part of the Crown Publishing Group), New York.
11 Aron, Elaine (2007). Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen. MVG Verlag, München. S. 9.
12 Vgl. u.a. Harke, Sylvia (2017). Wenn Frauen zu viel spüren. Schutz und Stärkung für Hochsensible. Knaur Verlag,München.
13 Aron, Elaine (2020). About Dr. Elaine Aron. Letzter Zugriff am 5.11.2020 unter https://hsperson.com/about-dr-elaine-aron/
14 Ebd.
15 Böttcher, Jutta & Steisslinger, Vera (2018). Stand der wissenschaftlichen Forschung zum Thema Hochsensibilität. Kompetenzzentrum Hochsensibilität. Letzter Zugriff am 5.11.2020 unter https://www.aurum-cordis.de/forschungsstand-hochsensibilitaet
16 Aron, Elaine (2005). Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen. MVG Verlag, München. S. 10.
17 Sedlmeier, P. & Renkewitz, F. (2018). Forschungsmethoden und Statistik für Psychologen und Sozialwissenschaftler (3. Auflage). Hallbergmoos: Pearson. S. 16.
18 Aron, Elaine (2005).S. 10.
19 Aron, Elaine (1997). Sensory-Processing Sensitivity and Its Relation to Introversion and Emotionality. Journal of Personality and Social Psychology, Band 73, Nr. 2. S. 345.
- Citar trabajo
- Katharina Nagy (Autor), 2020, Hochsensibilität in der Forschung. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Thesen Elaine Arons, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/955893