Zur Aufnahme erschien ein 20-jähriger Patient. Er saß zusammengesunken auf dem Stuhl, hatte den Blick auf den Boden gerichtet und langen Haare verdeckten sein Gesicht. Es fiel ihm sichtlich schwer, sich zu artikulieren und er sprach nach langer Antwortlatenz mit sehr leiser Stimme wenige Worte, versuchte, nur mit Gesten zu antworten. Er berichtete, er habe Angst, mit fremden Menschen zu sprechen. Diese Angst bestehe schon immer. Außerdem erlebe er einen Verlust von Freude, leide an gedrückter Stimmung, Konzentrations- und Einschlafproblemen sowie an vermindertem Antrieb. Er habe die elfte Klasse aufgrund der sozialen Ängste wiederholen müssen, habe vermehrt schlechte Noten erhalten und sei schlussendlich nicht mehr in die Schule gegangen. Seitdem hätten sich die Ängste verstärkt. Der Patient sei seit einigen Monaten krankgeschrieben.
Inhalt
Aktuelle Anamnese
Biographische & soziale Anamnese
Psychopathologischer Befund
Diagnostik
Therapieziele
Therapieverlauf
Ergebnis
Kritische Reflexion des Falles
Literaturverzeichnis
Aktuelle Anamnese
Zur Aufnahme erschien ein 20-jähriger Patient. Er saß zusammengesunken auf dem Stuhl, hatte den Blick auf den Boden gerichtet und langen Haare verdeckten sein Gesicht. Es fiel ihm sichtlich schwer, sich zu artikulieren und er sprach nach langer Antwortlatenz mit sehr leiser Stimme wenige Worte, versuchte, nur mit Gesten zu antworten. Er berichtete, er habe Angst, mit fremden Menschen zu sprechen. Diese Angst bestehe schon immer. Außerdem erlebe er einen Verlust von Freude, leide an gedrückter Stimmung, Konzentrations- und Einschlafproblemen sowie an vermindertem Antrieb. Er habe die elfte Klasse aufgrund der sozialen Ängste wiederholen müssen, habe vermehrt schlechte Noten erhalten und sei schlussendlich nicht mehr in die Schule gegangen. Seitdem hätten sich die Ängste verstärkt. Der Patient sei seit einigen Monaten krankgeschrieben.
Biographische & soziale Anamnese
Bei der Geburt des Patienten habe es sich um eine Risikoschwangerschaft gehandelt, da die Mutter (+35 Jahre) an Diabetes, Herzbeschwerden sowie einem Herzinfarkt und unter Angina Pectoris Anfällen gelitten habe. Der Patient sei einige Wochen zu früh per sektio geholt worden. Während der Geburt habe die Mutter einen Herzstillstand erlitten und sei nach der Wiederbelebung zwei Tage intensivmedizinisch behandelt worden. Der Patient habe seine ersten Lebenswochen auf der Neugeborenenintensivstation und die ersten drei Lebensmonate in einer Klinik verbracht. Die motorische und sprachliche Entwicklung sei unauffällig gewesen. Der Patient sei somit bereits vor der Geburt und auch in den ersten Lebensmonaten starken Belastungen, sowie Gefühlen von Angst und Unsicherheit ausgesetzt gewesen.
Die Mutter leide an multiplen Erkrankungen (Diabetes und Dialysepflicht, diabetische Neuropathie, Herzprobleme) und sei infolge dessen oft laut und gereizt oder ziehe sich völlig zurück. Durch die abwesende, unberechenbare Mutter war der Patient oft auf sich allein gestellt und seine Grundbedürfnisse nach Bindung und Selbstwert seien nicht befriedigt worden. Auch habe er sich mehrfach um die kranke Mutter sowie den relativ alten Vater (+66 Jahre) kümmern müssen und habe hier eine elterliche Rolle eingenommen. Bis zu seinem zwölften Lebensjahr habe der Patient an Enkopresis und Enuresis gelitten und sei für acht Wochen in einer Klinik gewesen und dort erfolgreich behandelt worden. Die Eltern hätten sich voneinander getrennt, als der Patient etwa 5 Jahre alt gewesen sei und der Vater wohne aktuell in einer Nachbarwohnung. Die Mutter habe einen neuen Partner und es gebe vermehrt Streitigkeiten und Konflikte, welche der Patient still über sich ergehen ließ und teilweise in eine vermittelnde Rolle gedrängt worden sei.
Im Laufe ihrer Kindheit und Jugend lernte der Patient, eigene Bedürfnisse zurückzustellen, nicht zur Last zu fallen und die Stimmungsschwankungen der Mutter sowie Konflikte der Bezugspersonen schweigend über sich ergehen zu lassen. Aufgrund dessen entwickelte er ausgeprägte Defizite in Bezug auf die Wahrnehmung und Regulation von Emotionen und Bedürfnissen sowie die soziale Kommunikation.
Störungsaufrechterhaltend wirken der ausgeprägte soziale Rückzug, die Vernachlässigung eigener Emotionen und Bedürfnisse, ein starkes Harmoniestreben im zwischenmenschlichen Bereich im familiären Kontakt, ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten und damit einhergehend der Mangel an positiven, korrigierenden Erfahrungen sowie der Wegfall von Ressourcen (fortschreitendes Alter und Erkrankungen des Vaters und daraus resultierende Sorgen, Wegzug von Freunden).
Psychopathologischer Befund
Zum Aufnahmegespräch erscheint ein altersangemessen gekleideter, sehr dünner, blasser 20-jähriger Patient. Die Körperhaltung des Patienten ist sehr angespannt. Er blickt hauptsächlich zu Boden und meidet den Blickkontakt. Er lässt seine langen schwarz gefärbten Haare ins Gesicht hängen und versteckt sich dahinter. Die Körperhaltung ist zusammengesunken. Auf Fragen zeigt er eine lange Antwortlatenz. Seine Stimme ist sehr leise und die Sprache zum Teil undeutlich. Er berichtet von Konzentrationsproblemen. Gedächtnis- und Auffassungsprobleme werden nicht ersichtlich. Es liegen keine pathologischen Zwänge vor, keine inhaltlichen oder formalen Denkstörungen, Sinnestäuschungen oder Ich-Störungen. Es liegen Versagensängste und ausgeprägte Ängste in sozialen Interaktionen und daraus resultierendes Vermeidungsverhalten vor. Die affektive Schwingungsfähigkeit ist insgesamt stark gemindert. Die Mimik des Patienten bleibt weitgehend unverändert und wirkt insgesamt starr. Es besteht keine Suizidalität und es besteht keine Eigen- oder Fremdgefährdung.
Diagnostik
Zu Beginn der Behandlung wurde dem Patienten das Klinisch Psychologisches Diagnosesystem 38 (KPD-38, Forschungsstelle für Psychotherapie, Universitätsklinikum Heidelberg) ausgeteilt. Die Ergebnisse weisen überdurchschnittlich erhöhte Werte auf fast allen Skalen auf (Psychische Beeinträchtigung, wahrgenommene soziale Probleme, reduzierte Handlungskompetenz und reduzierte allgemeine Lebenszufriedenheit). Lediglich die Skalen Körperbezogene Beeinträchtigung und wahrgenommene soziale Unterstützung sind nicht erhöht. Der hohe Leidensdruck wird insbesondere durch die erhöhte Ausprägung der Beeinträchtigung auf den Skalen Allgemeine Lebenszufriedenheit und durch den erhöhten Gesamtwert deutlich.
Das Beck-Depressions-Inventar (BDI-II; Selbstbeurteilungsinstrument zur Erfassung des Schweregrads einer depressiven Symptomatik von A.T. Beck) ergab einen Summenscore von 26, was auf eine „mittelgradige“ Ausprägung depressiver Symptome (19 < 29) hinweist. Dies entsprach ebenfalls dem klinischen Eindruck, vor dessen Hintergrund folgende Diagnosen gestellt wurden: Soziale Phobie (F40.1), mittelgradige depressive Episode (F32.1), Kranker Familienangehöriger (Z63.7) und Probleme mit Bezug auf die Ausbildung: Unstimmigkeiten mit Lehrern (Z55.4).
Zum Ende des stationären Aufenthalts wurden die Fragebögen erneut ausgeteilt und die Ergebnisse zeigten eine signifikante Verbesserung auf allen Skalen. Das Beck-Depressions-Inventar ergab einen Summenscore von 15, was auf eine „milde/leichte“ Ausprägung depressiver Symptome (14<19) hinweist. Dies entspricht sowohl der klinischen Einschätzung als auch dem subjektiven Gefühl der Besserung.
Therapieziele
- Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung
- Erarbeitung eines psychosomatischen Krankheitsmodells in Bezug auf die sozialen Ängste und die depressiven Beschwerden
- Psychoedukation und Strategien gegen die sozialen Ängste
- Verbesserung der Wahrnehmung eigener Emotionen und Bedürfnisse
- Erarbeitung funktionaler Strategien zur Depressionsbewältigung
- Ressourcenaktivierung
Therapieverlauf
Der Patient erschien pünktlich und zuverlässig zu den vereinbarten Einzelgesprächen. Zu Beginn zeigte er sich sehr ängstlich und angespannt. Er benötigte viel Zeit, um auf Fragen zu antworten und sprach mit sehr leiser Stimme wenige Worte. Durch ein empathisches und stützendes Vorgehen konnte der Patient langsam zur Therapeutin Vertrauen fassen, sodass eine positive Kommunikationsbasis etabliert werden konnte. Die ersten Stunden wurden hauptsächlich psychoedukativ gestaltet (Angenendt & Hohagen, 2013), sodass der Patient sein Krankheitsverständnis vertiefen konnte und langsam Vertrauen aufbauen konnte. Psychoedukativ wurde über die Funktion von Angst, die Angstkurve und den Teufelskreis der Angst informiert. Durch die Kommunikation über Ressourcen des Patienten (Figuren aus der Serie „Dr. Who“) konnte ein Zugang zu ihm gefunden werden und er konnte sich langsam mehr öffnen. Über die Figuren aus der Serien gelang es ihm im Laufe der Therapie, eigene Wünsche und aktuelles Befinden besser auszudrücken.
Dysfunktionale Grundannahmen konnten identifiziert, reflektiert und beginnend modifiziert werden und der konstruktive Umgang mit negativen Kognitionen wurde besprochen („Ich werde etwas Falsches sagen. Die Anderen werden mich auslachen“).
Zur Bewältigung der sozialen Ängste wurde gemeinsam mit dem Patienten aufbauend auf ausführlicher Psychoedukation eine Angsthierarchie erstellt, um Verhaltensexperimente und Expositionsübungen gemeinsam durchzuführen (Stangier, Clark, & Ehlers, 2006). Hierbei zeigte sich der Patient motiviert, die Expositionen anzugehen und bemerkte schnell kleine Fortschritte. Auch gelang es dem Patienten, vermehrt Blickkontakt aufzubauen. Im Verlauf konnte der Patient immer mehr positive, korrigierende Erfahrungen sammeln (Bus und Zug fahren, Einkaufen). Auch gelang es ihm nach langem Zögern durch ein empathisches und ermunterndes Vorgehen, die klinikinterne Schule zu besuchen und positive, korrigierende Erfahrungen zu sammeln.
Im Laufe des Aufenthalts gelangen dem Patienten erste Schritte in einer Verbesserung der Wahrnehmung von eigenen Bedürfnissen und Gefühlen. Gemeinsam wurden Strategien zur Anspannungsreduktion erarbeitet (Musik hören, Bauchatmung) und von dem Patienten gewinnbringend umgesetzt. Zur Depressionsbewältigung wurden positive, ressourcenaktivierende Aktivitäten besprochen (Hautzinger, 2013) und zunehmend in den Alltag eingebaut (Zeichnen, Spaziergänge in der Natur, Freudetagebuch). Bei Auftreten von Emotionen, vor allem von Wut während den Therapiegesprächen verfiel der Patient jedoch oftmals wieder in sein Rückzugsverhalten und schwieg. Dieser Rückzug konnte teilweise im Nachhinein reflektiert werden.
In der letzten Therapiephase wurde die Rückkehr in den Alltag besprochen und ein Plan für die Zeit nach der Klinik erarbeitet. Bereits während dem stationären Aufenthalt wurde auf Wunsch des Patienten eine tagesklinische Behandlung geplant. Zum Ende des stationären Aufenthalts war der Patient positiv in die Zukunft orientiert und berichtete, dass er plane, das Abitur erfolgreich abzuschließen.
Ergebnis
Der Patient konnte sein Krankheitsverständnis erweitern sowie Strategien zum Umgang mit den Ängsten erlernen. Es gelang ihm, sich in Expositionsübungen seinen Ängsten zu stellen und er konnte so beginnend positive Erfahrungen sammeln. Es konnten Ressourcen reaktiviert werden und beginnend in den Alltag transferiert werden. Dysfunktionale Grundannahmen konnten identifiziert und reflektiert werden. Im Rahmen seiner derzeitigen Handlungsmöglichkeiten und bei weiterhin bestehender kognitiver Einengung gelang eine Modifikation dysfunktionaler Gedanken beginnend.
Kritische Reflexion des Falles
Durch die ausgeprägte Hemmung des Patienten zu sprechen war eine Therapie zu Beginn lediglich leidlich möglich. Durch eine gute Passung zwischen Therapeut und Patient gelang es dem Patienten jedoch, Vertrauen aufzubauen und mehr von eigenem Erleben preis zu geben. Dennoch liegt die Vermutung nahe, dass der Patient im stationären Setting immer wieder an eigenen Grenzen und somit in Überforderungszustände gelangte, die ein therapeutisches Arbeiten erschwerten. Gegebenenfalls wäre ein kleinschrittigeres Arbeiten mit mehreren kurzen Gesprächen pro Woche sinnvoller, um den Patient mit dem Setting und dem therapeutischen Arbeiten vertraut zu machen und so potentielle Überforderungszustände zu vermeiden. Eine ambulante Therapie, welche die multiple Exposition mit angstauslösenden Situationen verringert, wäre dennoch nicht zu empfehlen. Aufgrund des ausgeprägten Vermeidungsverhaltens und des starken sozialen Rückzugs wäre der Patient vermutlich nicht zu vereinbarten Terminen erschienen und hätte aus Angst die ambulante Therapie abgebrochen.
Differentialdiagnostisch wurde von der Vergabe einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung aufgrund des jungen Alters des Patienten abgesehen. Dennoch ist im weiteren Verlauf der Behandlung eine erneute differentialdiagnostische Prüfung empfehlenswert.
Zur Aufrechterhaltung der erreichten Therapiefortschritte ist eine Anbindung an weitere Hilfsangebote unabdingbar. Ein tagesklinischer Aufenthalt stellt einen wichtigen ersten Schritt dar und auch eine ambulante Psychotherapie direkt im Anschluss ist dringend empfehlenswert. Für die weitere Behandlung wäre die Gabe einer medikamentösen Unterstützung überlegenswert. Dies ließ sich im stationären Setting jedoch nicht mit dem Patienten thematisieren, da hierdurch die Gefahr eines kompletten Rückzugs oder eines Therapieabbruchs bestand.
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- Citation du texte
- Anonyme,, 2020, Kognitive Verhaltenstherapie eines Patienten mit sozialer Phobie (ICD-10: F40.1) und mittelgradiger depressiver Episode (ICD-10: F32.1), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/955790
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