Interkulturelle Kommunikation am Beispiel Frankreich und Deutschland
Überwindung nationaler Stereotypen ? Deutsch-Französische Kulturarbeit
Die alten und neuen Vorurteile im deutsch-französischen Verhältnis
Man sollte nicht erwarten, daß ich in dieser Studienarbeit die alten und neuen Vorurteile, die Franzosen über Deutsche und Deutsche über Franzosen hatten und haben, vorführe als abschreckende Beispiele für zu verurteilende Meinungen, die man im Interesse der Völkerverständigung berichtigen müsse. Ein solches Verständnis der Vorurteilsproblematik griffe aus drei Gründen zu kurz.
Erstens handelt es sich bei Vorurteilen nicht um isolierte Meinungen, die Gruppen von Menschen über andere Gruppen haben, sondern Vorurteile haben Syndromcharakter, d.h., sie bilden eine Konfiguration von Wahrnehmungs-, Interpretations- und Verhaltensmustern, mit denen eine Gruppe einer anderen entgegenzutreten gewohnt ist. Sie bilden ein weitverzweigtes, zusammenhängendes Geflecht von Wahrnehmungsgewohnheiten, die ein stereotypes Bild von der anderen Gruppe produzieren1. Der traditionelle Begriff der nationalen Stereotypen trifft diesen Sachverhalt schon besser, obwohl auch er den "syndromatischen" Charakter der stereotypen Wahrnehmungssysteme nicht voll umschreibt.
Zweitens. Die stereotypen Formen der Fremdwahrnehmung ordnen nicht nur der Fremdgruppe bestimmte Attribute zu, sondern sind immer auch reflexiv. Das heißt, sie beeinflussen, werden beeinflußt, stehen im Dienst der Selbstwahrnehmung. Ich möchte das an einem Beispiel verdeutlichen. Im deutschen Selbstverständnis Frankreich gegenüber wird Ordnung, Sauberkeit, Zuverlässigkeit, Solidität betont. Im deutschen Selbstverständnis den USA gegenüber dagegen die deutsche Kultur, Goethe, Schiller, Hölderlin. Das heißt: Es werden jeweils die scheinbar abweichenden Eigenschaften hervorgehoben. Frankreich gegenüber auf den kulturellen Werten zu insistieren brächte so wenig, wie den USA auf technischer Leistung zu bestehen2.
Die stereotype Form der Wahrnehmung einer anderen Nation bedeutet also immer auch eine Form der Selbstdefinition durch Abgrenzung von anderen. Es handelt sich immer um ein ingroup-outgroup- Verhältnis, oder um ein Freund-Feind-Verhältnis.
Drittens. Stereotype Wahrnehmung umfaßt nicht nur negative, sondern auch positive Attribute. Ich lebte mal in einer Gegend, in der es sehr viele Möchte-gern-Franzosen gibt. Sie sprechen in Frankreich mit Deutschen französisch und vermeiden den Kontakt mit deutschen Touristengruppen, weil sie nicht als Deutsche identifiziert werden möchten. Aber die Frankophilie ist nur die Kehrseite der Frankophobie. Das Bild von Frankreich im Kopf des heutigen frankophilen Deutschen ist genauso stereotyp, wie das Bild vom "Erbfeind Frankreich" im Kopf seines Großvaters. Auch seine Wahrnehmungsmuster von Frankreich stehen in Beziehung zu seinem Selbst. Der Frankreich-Feind spaltet Ich-Anteile, und zwar die negativen, ab und projiziert sie auf Frankreich, wie der Frankreich- Freund positive Anteile, Wunschphantasien und Idealvorstellungen auf das andere Land überträgt. Bei beiden gibt es ein systematisches Mißverständnis der Realität.
Systematisch ist dieses Mißverständnis deshalb, weil das Mißverständnis kein "unschuldiges", zufälliges ist, sondern eine Funktion sowohl für die individuelle Ich-Stabilität als auch für die gesamtgesellschaftliche Systemstabilität hat. Diese doppelte funktionale Einbindung der Vorurteilssysteme macht sie so unangreifbar und resistent gegen willentliche Veränderung oder Abbau. Deshalb ist es besser, von stereotypen Systemen zu sprechen3.
Die Stabilisierung eines schwachen Ich durch das nationalistische Ticket ist billig zu haben. Man ist Deutscher, Franzose in der Regel durch Geburt, man kann stolz darauf sein, ohne eine eigene Leistung zu erbringen. Freilich scheint es mir hier einen signifikanten Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich zu geben.
Der Mechanismus der Ich-Stabilisierung durch den Rekurs auf die Nation scheint in Frankreich trotz Vichy, Indochina und Algerien noch ungebrochen zu funktionieren. Das wird etwa deutlich an der uneingeschränkt positiven Einstellung zur Force de frappe und der ebenso negativen Einstellung zur Kriegsdienstverweigerung. Da gibt es kaum Irritationen - quer durch die Parteien von rechts nach links.
In Deutschland dagegen ist die Einstellung zur Bundeswehr und zur Frage der Kriegsdienstverweigerung höchst gespalten. Ein wichtiger Grund ist sicher der, daß die Selbstdefinition als Deutscher aus historischen Gründen nicht mehr ungebrochen auf die Größe der Nation sich beziehen kann. Es gibt Stimmen in Deutschland, die die Schwäche des deutschen Nationalgefühls bedauern und mehr Selbstbewußtsein fordern.
Um nicht mißverstanden zu werden: Die Bemerkung über die Rolle der Nation bei der Herstellung von Ich-Stabilität in Frankreich und Deutschland sind nicht wertend, sondern analytisch gemeint.
Die gesamtgesellschaftliche Systemstabilisierung vollzieht sich vor allem über die Definition von Freund- und Feindgruppen. Das alte deutsch-französische Verhältnis bis in die Nazi-Zeit ist ein klassisches Beispiel für diesen Mechanismus: Durch die Etablierung der jeweiligen anderen Nation als Feind wird die eigene Nation definiert und integriert. Auf literarischer Ebene läßt sich diese Abgrenzung durch die Aufrichtung eines wesensmäßig anderen an Thomas Manns "Betrachtungen eines Unpolitischen" studieren. Für Thomas Mann ist französischer Geist, französische Zivilisation, die westliche Ausprägung der Demokratie das schlechthin Andere und Fremde, das mit deutscher Wesensart unvereinbar ist4.
Man könnte die - zugegebenermaßen gewagte - Hypothese aufstellen, daß das plötzliche Verschwinden des alten deutsch-französischen Vorurteils-Syndroms in Deutschland daher rührt, daß die Abgrenzung von Frankreich, die System-Integration, vermittelt durch einen Erbfeind im Westen, gegenstandslos wurde, weil die Bundesrepublik in einen anderen Gegensatz, den Ost-West-Konflikt, hineingezogen wurde. Nicht die Versöhnungspolitik Schumans und Adenauers wäre also die Ursache für das Kraftloswerden der alten deutsch-französischen Vorurteile - junge Menschen in Deutschland verstehen die Rede vom "Erbfeind" gar nicht mehr - sondern die Etablierung eines neuen politischen Gegensatzes, der Selbstdefinition und Integration der Gesellschaft ermöglichte.
Die Vorurteilsebene, von der ich bisher gesprochen habe, ist gewissermaßen die offizielle Ebene der Vorurteile. Auf dieser Ebene sind die Vorurteile Korrelat der realen Politik, ihre ideologische Spiegelung. Vorurteile werden, wenn nicht manipuliert und im Sinne politischer Ziele instrumentiert, so doch verstärkt oder gesellschaftlich gebilligt.
Neben oder unterhalb dieser offiziellen Ebene der Vorurteile gibt es aber noch eine zweite Ebene: die Ebene der Alltags-Vorurteile. Die offiziellen alten Vorurteile, das Freund-Feind-Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich gibt es nicht mehr. Junge Menschen heute können die Haßstrukturen, die in der Rede vom "Erbfeind" sich manifestierten, gar nicht mehr verstehen. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern ebenso für Frankreich, wie Umfragen gezeigt haben. Aber unterirdisch, latent sind sie noch wirksam. Es wurde im Rahmen eines Forschungsprojektes des Deutsch-französischen Jugendwerks Interviews mit Angehörigen dreier Generationen in Frankreich und Deutschland durchgeführt: der Großvätergeneration, Teilnehmern des Ersten Weltkriegs, der Vätergeneration, Teilnehmern des Zweiten Weltkriegs, und schließlich der Generation derjenigen, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs geboren wurden. Die Auswertung dieser Interviews zeigt deutlich, daß die alten Vorurteile noch wie altes Felsgestein in die Gegenwart hineinreichen. Virulente Feindbilder wurden nicht gefunden, sondern guten Willen und viel Verständnis für das andere Volk. Aber latent, gleichsam wie ein Mythos, sind die Spuren der alten Feindschaft noch spürbar. Vorurteile sind hartes Gestein. In Generationen sedimentiert, lassen sie sich nur in Generationen abtragen.
Neben diesen alten, durch Feindschaft geprägten Vorurteilen fand man - vor allem bei der jüngeren Generation - neue Vorurteile, die von den alten deutlich unterschieden sind. Diese Vorurteile beziehen sich vor allem auf Ungleichheiten in der sozioökonomischen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland und Frankreich. Wirtschaftswunder, Mercedes und hoher Lebensstandard in Deutschland sind die Reizworte für junge Franzosen. Das Nachrichtenmagazin "Spiegel" hat in einem Titelbild einmal die Vorstellung vom Deutschen karikiert: ein feister Deutscher mit bayrischem Trachtenhut, dem die D-Mark-Scheine aus der Tasche quellen und als Emblem der Mercedes-Stern5. Das ist freilich schon einige Jahre her.
Diese neuen Vorurteile machen sich fest an spezifischen Entwicklungstendenzen in den europäischen Ländern, das, was Interviewte "Amerikanisierung des Lebens" nannten. Und für junge Franzosen gilt Deutschland als Vorreiter für diese negativ eingeschätzten Tendenzen. Freilich gibt es MacDonalds auch schon auf dem Boul`Mich und die Gruppe der Franzosen ist nicht klein, für die Deutschland auf einer Reihe von Sektoren Modellcharakter hat.
Auf deutscher Seite knüpfen die neuen Vorurteile ebenfalls an ökonomische Entwicklungen an: Junge Deutsche nehmen einen Modernitätsrückstand in Frankreich wahr: technische, hygienische und bürokratische Unzulänglichkeiten, liebenswürdige Schlamperei nach dem Motto: Warum denn einfach, wenn es kompliziert geht; modernste technische Apparate mit dem kleinen Nachteil, daß ein Schild daran hängt: hors service...
Solche Vorurteile sind moderat. Ihnen fehlt - im Gegensatz zu den alten deutschen Vorurteilen - der Aspekt der Feindschaft. Sie sind auf der gleichen Ebene angesiedelt wie die Vorurteile von Franzosen gegen die Belgier oder die von Deutschen gegen Ostfriesen.
Freilich wird diese Vorurteilsschablone auch umgedreht: Es wurde zu einer Weltanschauung für den deutschen Studenten, eine Ente zu fahren. Ich habe schon auf die Frankophilie junger deutscher Intellektueller hingewiesen. Sie produzieren das Vorurteilsmuster umgekehrt: Die negativen Anteile häufen sich auf Deutschland, in der für ihre Wahrnehmung der autoritäre Obrigkeitsstaat und der Faschismus ungebrochen weiterexistiert, während Frankreich das Land phantastischer Freiheit und Geistigkeit ist.
Dennoch sollte man solche Vorurteile nicht leicht nehmen. Es könnte Situationen geben, in denen solche harmlosen Vorurteile umschlagen können in Haßstrukturen. Ökonomische und soziale Krisen sind solche, Vorurteile aktivierende Situationen. Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland kann man im Augenblick studieren, wie die immer latent vorhandenen Vorurteile gegen Ausländer bösartig und giftig werden können.
Zum letzten Punkt: Wie kann man Vorurteile bekämpfen, welche Möglichkeiten gibt es, sie zu vermindern, sie abzubauen ?
Zu zeigen, daß Vorurteile eine stereotype, die Realität verkennende Form der Wahrnehmung sind, genügt nicht. Vorurteile sind nicht bloß eine Form der falschen Wahrnehmung der Realität, sondern sie erfüllen spezifische Funktionen für das Individuum und die Gesellschaft. Dies macht sie resistent gegen berichtigende neue Erfahrungen. Deshalb genügt es auch nicht, die Gruppen, die Vorurteile gegeneinander haben, zusammenzubringen. Die Begegnung kann Vorurteile ebenso verstärken wie sie vermindern. Amerikanische Untersuchungen, die in einem Ferienlager mit weißen und farbigen Kindern durchgeführt wurden, haben ergeben, daß sich bei einem Drittel der Kinder die Vorurteile verminderten, bei einem weiteren Drittel das Vorurteilsniveau gleich blieb und beim letzten Drittel die Vorurteile verstärkten. Bei dem ersten Drittel handelte es sich um Kinder, die ohnehin eher vorurteilsfrei waren, beim letzten Drittel um Kinder, die vorher schon starke Vorurteile hatten6.
Vorurteile blockieren neue Erfahrungen, sie wirken als Filter, das nur ausgewählte, die Vorurteile bestätigenden Eindrücke durchläßt.
Vorurteile haben eine individuelle und eine gesellschaftliche Funktion, sie stabilisieren das schwache Ich und integrieren soziale Gruppen.
Vorurteile dienen als Selbstdefinition - sowohl von Individuen als auch von gesellschaftlichen Gruppen und Staaten. Diese Form der Selbstdefinition geschieht durch Abgrenzung. Aber es ist auch eine Selbstdefinition durch Gemeinsamkeit, durch Solidarität möglich.
Vorurteile sollen Angst abwehren. Sie stellen Schemata bereit, nach denen wir unsere Wahrnehmungen strukturieren. Sie erzeugen den Schein, eine undurchschaubare Welt überschaubar zumachen. Ziel muß sein, daß solche vorurteilshaften Kategorisierungssysteme nicht mehr für unsere Sicherheit notwendig sind. Wir müssen lernen, den anderen als anders erfahren zu können, ohne mit Angst zu reagieren. Hierzu gehört die Fähigkeit, sich auf neue Situationen ohne Abwehr einlassen zu können. Aber es gehört auch Liebe dazu, oder anders ausgedrückt: die Fähigkeit, den anderen libidinös und nicht aggressiv zu besetzen. Dies gilt auch umgekehrt: "Geliebt wirst Du einzig, wo Du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren" (Adorno)7.
Sicher ist die Begegnung eine unverzichtbare Bedingung des Abbaus nationaler Vorurteile. Wievi el Franzosen, wieviel Deutsche haben ein festgefügtes stereotypes Bild vom Nachbarn, ohne je den Boden des Nachbarlandes betreten zu haben!
Begegnungsprogramme können aber nur dann die vorurteilshafte Realität verändern, wenn sie Situationen schaffen, in denen Offenheit möglich wird in dem Sinne, daß die psychischen Mechanismen durchschaubar werden, auf Grund derer Menschen sich mißverstehen und hassen. Dazu ist Aufklärung im doppelten Sinne notwendig: Aufklärung über den anderen, inwiefern und weshalb er anders ist und Aufklärung über das eigene Selbst. Die Fragen, die da gestellt werden müssen, lauten: Wie reagiere ich in ambivalenten Situationen ? Was macht mir am anderen angst ? Wo mobilisiert das Fremde in mir Abwehr ? Zur unverstellten Wahrnehmung des anderen ist Selbsterkenntnis notwendig.
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- Fritz Höfler (Autor), 1999, Interkulturelle Kommunikation am Beispiel Frankreich und Deutschland, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95291