Gliederung:
1. Einleitung
2. Wer ist Wolfgang Hilbig?
3. "eine zerstörung wie sie nie gewesen ist" -Zum Gedichtband "abwesenheit"
4. Der Text
5. Analyse des Gedichtes
6. Vier Deutungsebenen
6.1. "das meer kocht und dampft in der kohle in sachsen" - Die Weltkatastrophensicht
6.2. "eine restlos zerbrochene sprache" - Die Sprachkritik
6.3. Psychoanalytische Sicht
6.4. "ich werde aus der tür gehn und denken: adieu -" Die Außenseiter-Position
7. Versuch einer Interpretation
8. Die literarische Qualität
Anhang:
Bibliographie
1. Einleitung
Die hier vorliegende Belegarbeit versucht, moderne Lyrik am Beispiel des Gedichtes "das fenster" von Wolfgang Hilbig transparent zu machen. Sie ist aus einem Vortrag entstanden, den ich am 21.November 1998 im Rahmen des Grundkurses "Zeitgenössische Lyrik" gehalten habe.
Im folgenden soll versucht werden, dieses auf den ersten Blick sehr schwer zu erschließende Gedicht aus sich selbst heraus zu erhellen, die möglichen Ebenen einer Interpretation aufzuzeigen sowie zu einer eigenen Sichtweise und Bewertung zu kommen.
2. Wer ist Wolfgang Hilbig?
Wolfgang Hilbig, geboren am 31. August 1941 in Meuselwitz südlich von Leipzig, stammt aus einer Bergarbeiterfamilie. Sein Großvater mütterlicherseits kam -als Analphabet und Waise- aus einem winzigen Dorf in der polnischen Ukraine als Bergmann nach Meuselwitz. Nachdem sein Vater schon 1942 bei Stalingrad als vermißt gemeldet wurde, wuchs er mit seiner Mutter in der Familie der Großeltern auf. "Lesen war für mich eine Hauptbeschäftigung in der Kindheit" (Hilbig, Materialien 1994, S. 12) sagt Hilbig über sich selbst. Nach der Lehre als Bohrwerksdreher arbeitete er als Werkzeugmacher, Erdarbeiter, als Außendienstmonteur, Hilfsschlosser in einer LPG, Abräumer in einer Ausflugsgaststätte und zuletzt als Heizer - und "immer" schrieb er "nebenbei und insgeheim" (Hilbig, Materialien 1994, S. 12). Nachdem 1978 einige Gedichte von ihm in der Anthologie "Hilferufe von drüben" in der Bundesrepublik veröffentlicht worden sind, ergaben sich Kontakte zum S. Fischer Verlag, und in der Folge erschien 1979 sein erster Gedichtband "abwesenheit" in Frankfurt am Main. Mangels Erlaubnis des Urheberrechtsbüros der DDR gab es "unangenehme Reaktionen" (Hilbig, Materialien 1994, S. 12), die in einigen Wochen Haft und einer Geldstrafe bestanden - aber auch die Fürsprache namhafter DDR-Schriftsteller wie Franz Fühmann, Stefan Hermlin, Christa Wolf und anderen. Diese bewirkten eine Veröffentlichung in der DDR unter dem Titel "stimme stimme" (Leipzig 1983) und letztlich die Möglichkeit, als freier Schriftsteller leben zu können. Von einer Reise in die Bundesrepublik 1985 kehrte er mit einem ganzen Jahr Verspätung zurück: das Visum war längst abgelaufen, wurde aber vom Kulturministerium der DDR auf Jahre hinaus verlängert. Seitdem lebte Hilbig in der Bundesrepublik. 1986 veröffentlichte er bei S. Fischer seinen bisher letzten Gedichtband "Versprengung". Außerdem erschienen in den Folgejahren mehrere Erzählungen und Romane, wie der stark autobiographisch geprägte Roman "Eine Übertragung" (1989) und "Ich. Roman" (1993). Nach dem Fall der Mauer verlegte Hilbig seinen Wohnsitz wieder in den Osten Berlins, wo er auch schon in den ersten Jahren als Schriftsteller gelebt hatte.
3. "eine zerstörung wie sie nie gewesen ist" -Zum Gedichtband "abwesenheit"
Der Band "abwesenheit", dessen Abschlußdas im folgenden zu analysierende Gedicht "das fenster" bildet, versammelt Lyrik aus den Jahren 1965-1977. Zwischen der Entstehung der ersten und der letzten Texte liegen somit zwölf Jahre. Umso erstaunlicher ist die sprachliche wie thematische Geschlossenheit dieses Bandes.
Bereits in den frühen Gedichten, wie "ratlosigkeit" oder "h. selbst-portrait von hinten" von 1966, fand der Autor seine eigene, charakteristische Sprache. Oft introvertiert, zuweilen nüchtern und kühl, dann wieder novalisch-elegisch, manchmal eigenartig brodelnd, ja glühend, ist sie immer von mächtiger Suggestionskraft. Es ist eine metaphernreiche, stark mit Synästhesien arbeitende, bizarre Sprache, die durch ihre besondere, tiefempfundene Eigenart fasziniert. Mit Ausnahme von "gleichnis" und der beiden Sonette, in denen Hilbig auch die Beherrschung dieser klassischen Form demonstriert, verzichtet Hilbig nahezu vollkommen auf die harmonisierende Wirkung des Endreims. Sehr häufig verwendet er dagegen den archaisch anmutenden Stabreim, worin ein sehr kunstvoller Sprachbau ersichtlich wird. Wenn diese Sprache sich zuweilen in ein strenges Metrum fügt - wie bei "gleichnis" (1970) oder in den Sonetten (aus demselben Jahr!) - ergibt sich ein majestätisch fließender, an Hölderlin gemahnender, elegischer Ton. Aber auch in Texten, die sich nicht an ein festes Versmaßhalten, hat Hilbig das Metrum sehr bewußt eingesetzt. So entstehen hymnische Zeilen oder Strophen in heterogenen, zerrissenen Texten - wie in Teilen des Gedichts "stimme stimme" (1969) er nutzt aber auch häufig seine Sprachmacht, um den Flußder Sprache teilweise gänzlich zu zerstören, wie in "spiegel und säge" (1973).
Der Zerrissenheit der Sprache entspricht auch eine syntaktische Zerstückelung. Sprachfetzten, abgerissene Gedanken, abstrakt metaphorische Einwürfe charakterisieren die Textgestalt. Dieser Zerstörung der Oberflächenstruktur steht die Destruktion der traditionellen Regeln der Orthographie gegenüber. Großschreibung gibt es nicht einmal bei Eigennamen, was die Übersichtlichkeit bewußt behindert. Der Autor geht darin noch weiter, indem Wortgruppen immer wieder durch Zeilen, ja manchmal sogar durch Spatien getrennt werden. Das auf der Textoberfläche entstehende Chaos steht so in merkwürdiger Ergänzung zu der Zerstörtheit und Zerrissenheit der Sprache.
Thematisch kreisen die Texte um ein Milieu aus Kneipe und Klo, Straße und Suff, Gerümpel und Gasse, aber auch Einsamkeit, Traum und Erotik, Herbst, Katastrophen, Kirche und Glaube sowie Sprachskepsis und Poetik. Hilbig zeigt sich hier als nüchterner Beobachter des nackten, alltäglichen Lebens. Zentrale Inhalte sind dabei immer wieder die Erfahrung von Kälte, Entfremdung, Ohnmacht, Haltlosigkeit, Sinnlosigkeit. Sinnbild dafür wird der Bahnhof: "bahnhof das ist aller orte kältester nachts / schläft niemand", wo die einzige Alternative der Trunk wird: "seht uns trinken / gefangenschaft trinken aus schmutzigem glas / trinken bis der teufel kommt sprechen / zu keinem". Es ist ein neurotisches, zwanghaftes und einsames Warten, ein Warten auf Godot: "grau grau graues durcheinander / von wo kein zug abfährt" (aus: "bahnhof" 1968); das entseelte, sinnlos alltägliche Chaos kann nur vergessen werden, um in der Ernüchterung die Sinnlosigkeit dieses Seins dann doppelt schmerzhaft zu spüren. Hilbig wird hier zum seismographischen Beobachter einer ausweglos dem Nichts überantworteteten Seelenlandschaft.
Eindringlich gelingt dem Autor der Entwurf einer ganzheitlichen Zerbrochenheit in dem Titelgedicht "abwesenheit", das damit eine zentrale Stellung einnimmt. Das Tun der Hände wird als ebenso zerstückelt erfahren wie das des Mundes:
"alles das letzte ist uns zerstört unsere hände zuletzt zerbrochen unsere worte zerbrochen: komm doch geh weg bleib hier - eine restlos zerbrochene sprache" .
In diesem Aufschrei bricht sich machtvoll innere Zerrissenheit Bahn, wird Identitätsverlust ganz elementar spürbar. Die menschliche Existenz unserer Zeit wird hier als Abwesenheit definiert: Abwesenheit von Sinn, von Halt, von jeglicher Möglichkeit, sich zu äußern. So kann die zentrale These dieses Gedichts als zentrale Botschaft des Gedichtbandes gelten:
"das ist der stolz der zerstörten und tote dinge schaun auf uns zu tod gelangweilte dinge - es ist eine zerstörung wie sie nie gewesen ist" ( aus "abwesenheit" 1969).
Wolfgang Hilbig als einen "Arbeiterschriftsteller" zu definieren, wie es in der Bundesrepublik nach dem kometenhaften Erfolg seiner ersten Veröffentlichung in Mode gekommen war, greift meiner Einschätzung nach wesentlich zu kurz. Er ist ein Intellektueller, der durch die elementaren Erfahrungen seiner Jugend eine ganz besondere Sichtweise entwickelt hat, ein Dichter, der die gesamt deutsche Lyriklandschaft dadurch entscheidend bereichert hat. Franz Fühmann hat das in seinen oft zitierten Worten treffend formuliert, wenn er zum Lyrikband "abwesenheit" rezensierte: Hilbig sei ein Dichter, der "mit der Wucht der Elemente wie mit der von Haut und Haar umgeht und die Würde der Gattung Mensch auch in der Latrinenlandschaft bewahrt, ein großes Kind, das mit Meeren spielt; ein Trunkener, der Arm in Arm mit Rimbaud und Novalis aus dem Kesselhaus durch die Tagebauwüste in ein Auenholz zieht, dort Gedichte zu träumen, darin Traum und Alltag im Vers sich vereinen" (Fühmann, zitiert nach Zimmermann 1994).
4. Der Text:
das fenster
der wald stürzte ins meer
doch es blieb nacht durchs fenster ist nicht
zu sehen wie ich früher geschrieben hab -
was ist das fenster ...
dunkel und still wie
glas zu leben ohne den donner
von untergängen - wie gottlos - wessen
sturm krönt schäumend das nächtliche
ummauerte meer - wessen schwarz
dieser wörter - rah wie hölzern
ein flügel in seinem licht
sich rührt er treibt den schatten
einer sinnlosen unruhe langsam
über die ziegelmauer
ein bild kaum zu ertragen -
die mauer frißt mich hohe schiebetüren
versperren lärmend die leere man sieht
den hohlen ungeheuren speicher der schweigt
der hallt von toter arbeit rasselnd
die krane schwenken die ketten -
ein marsrotes kap in dieser beleuchtung -
es trennt mich vom unbewachten meer das greulich
kocht von gewürm und schaum wie ich ist es süchtig
nach sünde seht mich vorgebeugt weit
in die nacht
zerschnitten vom fenster -
gottlos und süchtig nach sünde -
rah - die wörter fliegen in der luft die wörter
stehen der hektik der ratten bei
leerer speicher wo sie rasselnd huschen die
wörter verjagt vom meer das wortlos tobt - was
sind anreden abgeschlagen von der rußgeschwärzten
rosaroten ziegelmauer die mich trennt
von diesem volk getreten
an sein ufer
finisterre
rah - finisterre
finster das fenster
der wald stürzte ins meer am fenster die
nacht ist der schatten früherer wörter -
und hier ist die sucht zu sündigen ich sündige -
aber endlich allein - ohne mein volk -
das ist das fenster ...
5. Analyse des Gedichtes
Bereits bei oberflächlicher Betrachtung fällt die symmetrische Gliederung auf: das Gedicht hat 5 Strophen, von denen die mittelste mit 11 Zeilen die längste ist, gefolgt von der zweiten und vierten, die jeweils 10 Zeilen aufweisen. Die erste und letzte Strophe bilden gewissermaßen einen Rahmen um den Mittelteil, wobei die letzte mit 8 Zeilen doppelt so lang ist wie die erste.
Diese Rahmenstruktur läßt sich auch noch an weiteren Merkmalen festmachen: beide Strophen enden mit drei Pünktchen, die suggerieren, daßnoch etwas unausgesprochen und damit den Gedanken des Lesers überlassen bleibt. Und: die letzte Zeile der letzten Strophe wiederholt den Wortlaut der letzten Zeile in der ersten Strophe wörtlich - aber in Variation: durch den Austausch des Buchstabens w gegen d wird das Fragepronomen zum referierenden Relativpronomen, aus der Frage: "was ist das fenster ..." wird die Antwort: "das ist das fenster ...".
Im Schriftbild ist die generelle Kleinschreibung auffallend; eine syntaktische Gliederung ist nicht erkennbar, außer den drei Pünktchen sind Gedankenstriche die einzigen vorkommenden Satzzeichen. Der Rhythmus der Sprache pendelt unregelmäßig zwischen den verschiedenen Metren hin und her. Hilbig verzichtet in diesem Gedicht auch auf die harmonisch-bindende Wirkung von Endreimen, wobei er aber - gegen den Schlußdes Gedichtes hin zunehmend - Stabreime verwendet: schatten - sinnlosen, lärmend - leere, speicher - schweigt, krane - ketten - kap, greulich - gewürm, mich - meer, schaum - süchtig - sünde - seht, anreden - abgeschlagen, rußgeschwärzt - rosarot, finisterre - finster - fenster - volk.
An dieser Stelle mag eine zusammenfassende Inhaltsparaphrase nützlich sein. Der Autor baut in der ersten Strophe vor unseren Augen ein Katastrophenszenario aus der Vergangenheit auf; aus dem Umstand, daßes durch das "fenster" vom betrachtenden lyrischen Subjekt nicht zu sehen ist, leitet sich die Frage ab, was das Fenster eigentlich sei. In der zweiten Strophe erfährt der Leser vom ummauerten Meer, eine nächtliche Sturmsituation wird gezeigt; lautmalerisch sorgt ein Möwenschrei für Schaurigkeit. Die Mittelstrophe zieht nun das lyrische Subjekt mit in das Geschehen hinter dieser Mauer hinein. Vor dem Leser baut sich gewissermaßen das Bild einer Industrie- bzw. Hafenanlage auf: Krane, Ketten, das Kap; und aus dieser näheren Sicht auf das Meer zeigt sich eine vermehrte Bewegung desselben, die scheinbar von unten, von innen kommt: "meer das greulich kocht" und das lyrische Subjekt magisch anzieht: "seht mich vorgebeugt weit / in die nacht". Ist es das lyrische Subjekt, das wir in der vierten Strophe "zerschnitten vom fenster" sehen? Die Wörter werden jetzt wie Ratten vom Meer verjagt, dem Leser kommt automatisch das Sprichwort in den Sinn: "Die Ratten verlassen das sinkende Schiff.". Das lyrische Subjekt ist dem Meer verfallen, "süchtig nach sünde". In der letzten Strophe kulminiert das Geschehen, die Katastrophe tritt ein: "finisterre", ein Wortkonstrukt, was als lateinisch "finis terrae" - "Ende der Erde", "Weltende" übersetzt werden kann, und doch auch große Ähnlichkeiten mit dem deutschen Wort "fenster" hat. Hier schließt sich der Rahmen, wenn die erste Zeile der ersten Strophe zitiert wird; das lyrische Subjekt sitzt nun nicht mehr nur hinter dem Fenster, sondern befindet sich auch (Zweiteilung oder Imagination?) beim Meer, auf Seiten des Chaos, dort wo die Sünde, wo die Katastrophe ist, und - allein.
Da sich der Sinn dieses Gedichtes nicht sofort erschließen läßt, scheint es angeraten, die Struktur des Textes noch eingehender zu untersuchen. Dazu kann eine Topik-Analyse dienen, die die Schlüsselwörter des Textes sichtbar macht, sowie das Erstellen von Isotopieketten dieser Schlüsselbegriffe.
Das mit Abstand häufigste Wort dieses Gedichtes ist "fenster". Es kommt einschließlich der Überschrift siebenmal vor - und erhärtet damit die Vermutung, daßdie Frage "was ist das fenster ..." im Mittelpunkt des Gedichtes steht. Neben der Frage und der endlichen Feststellung "das ist das fenster ..." zeigt die Isotopie des weiteren: "doch es blieb nacht durchs fenster", "zerschnitten vom fenster", "finster das fenster". In der zweiten Zeile wird aber auch vom Glas gesprochen: "dunkel und still wie / glas zu leben ohne den donner / von untergängen - wie gottlos -". Aufgrund dieser Angaben auf das Wesen sowie den Sinn bzw. die Bedeutung des Fensters zu schließen, ist kaum möglich. Vielleicht können da noch ein paar allgemeine Überlegungen helfen: mit Fenster assoziiert man gemeinhin eine (verglaste) Öffnung, einen durchsehbaren Durchbruch in einer Mauer, die Innen und Außen trennt, durch die man von innen Informationen über das Außen einholen kann. Diese letztere Funktion scheint "das fenster" hier nur eingeschränkt zu erfüllen: möglicherweise ist das Glas selbst dunkel, andererseits ist es draußen "nacht", "finster": aber dennoch sieht (und hört!) das sich vor dem Fenster befindende lyrische Subjekt etwas: "rah wie hölzern / ein flügel in seinem licht / sich rührt", "ein bild kaum zu ertragen", "ein marsrotes kap in dieser beleuchtung". Jedenfalls hat das lyrische Subjekt die Information von einer Katastrophe erhalten (wohl eher durch andere Medien als durch das Fenster): "der wald stürzte ins meer / doch es blieb nacht durchs fenster ist nicht / zu sehen".
Mit sechsmal kommt auch der Begriff "wörter" sehr häufig vor. Dadurch kommt diesem Bereich im Text weit mehr als eine nur untergeordnete Bedeutung zu. Es wird gefragt: "- wessen schwarz dieser wörter -", wird festgestellt: "rah - die wörter fliegen in der luft die wörter / stehen der hektik der ratten bei / leerer speicher wo sie rasselnd huschen die / wörter verjagt vom meer das wortlos tobt -". Und - vielleicht als Antwort -: "am fenster die / nacht ist der schatten früherer wörter -". Ganz offensichtlich ist die Nähe jenes Meeres nicht der Platz für Wörter, Rede bzw. Schrift; also möglicherweise ein Bereich, der unmenschlich ist oder sich der Verwortung entzieht.
Auch das Meer spielt mit fünf Erwähnungen eine wichtige Rolle. Darüber erfahren wir, daßes nächtlich und ummauert, daßes unbewacht ist, daßes "greulich / kocht von gewürm und schaum". Es ist "süchtig nach sünde" und tobt wortlos. Hier wird eine Naturgewalt beschrieben, die der Mensch kultivieren und eingrenzen will, die sich aber nicht wirklich einfrieden läßt, die nicht wirklich kontrollierbar ist.
In diesem Zusammenhang wird auch etwas über die Mauer (vier Nennungen) gesagt, die das Meer umgibt: es ist eine "ziegelmauer", sie ist rußgeschwärzt und rosarot. Ein merkwürdiger Gegensatz: die Farbe des Todes und der Hölle, aber auch des Urbeginns gegen die Farbe von Krieg, Sex, Liebe! In der Mittelstrophe ist dann noch die Rede von einem "marsrote(s)n kap" hier kann man wohl an eine psychoanalytische Deutung denken, zumal auch der Begriff "sünde" (vier Vorkommen) in diesem Text eine zentrale Stellung einnimmt. Neben dem Licht und den Rottönen bestimmt vor allem die Dunkelheit, "nacht", "schwarz", der "schatten" das Bild und damit die Atmosphäre des Gedichts.
6. Vier Deutungsebenen
Es gibt viele Kriterien für die Qualität eines Textes; als eines ist wohl die Vielschichtigkeit, die Mehrdeutigkeit desselben anzusehen. "das fenster" von Wolfgang Hilbig gibt dem Leser so manches Rätsel auf, nichts vermeidet das Gedicht vehementer als den Eindruck von Klarheit, von Eindeutigkeit. Um den vielen im Text angesprochenen potentiellen Bedeutungsinhalten gerecht zu werden, sollen nun im folgenden die verschiedenen Ebenen der Gesamtaussage des Gedichts näher untersucht und auf ihre Tragfähigkeit hin abgeklopft werden.
6.1. "das meer kocht und dampft in der kohle in sachsen"
- Die Weltkatastrophensicht
"der wald stürzte ins meer" - diese Zeile steht am Anfang und am Ende des Gedichts, eine Weltkatastrophe bildet hier gewissermaßen den Rahmen der Handlung. Aufschlußdarüber, auf welches Ereignis Hilbig damit referiert, kann vielleicht sein Gedicht "das meer in sachsen" (Hilbig 1979, S. 79), das in demselben Gedichtband veröffentlicht wurde, geben. In den Zeilen 3-8 heißt es da:
"furchtbare unglücke
katastrophen im tertiär preßten
das meer in die kohle in sachsen wüst und gottgewollt
trat erdeüber die ufer zerdrückte das meer
und seine lagunen mit mammutbäumen das meer
kocht und dampft in der kohle in sachsen"
Zwar ist hier die Rede davon, daß"erdeüber die ufer" getreten sei, die dann das Meer mit seinen Mammutbäumen (!) zerdrückt hätte. Vorher müßte demnach das Meer den Wald überspült haben, bevor die Erde das Meer hätte "zerdrücken" können - eine deutliche Analogie der Referenz ist erkennbar. Schon früh machte Hilbig Bekanntschaft mit Braunkohle und Tagebauen; die Landschaft um Meuselwitz, die Nachbarn und natürlich seine eigene Familie waren entscheidend vom Kohleabbau geprägt. Nicht zuletzt in seiner Tätigkeit als Heizer sah Hilbig das Wasser in der sächsischen Braunkohle kochen und dampfen. Da liegt die Um-deutung der unterirdischen Kohleflöze als "meer in sachsen" nicht so fern. So erschließt sich auch das Gedicht "das fenster" aus einer neuen Sicht. Der nächtliche Blick über den Rand eines Braunkohletagebaues kann in der Tat den Eindruck eines schwarzen Meeres erzeugen, das in der Phantasie (die das Kesselhaus nur zu gut kennt) zu brodeln und zu kochen beginnt. Aber nicht nur die Farbe des Meeres läßt sich mit dieser Annahme erklären. So kann der Rand eines Tagebaues durchaus als Mauer erfahren werden, "rußgeschwärzt(en), rosarot(en)" können die Erd- und Gesteinsschichten, die über dem Kohleflöz lagern, im Schnitt aussehen. Und letztlich wird sogar das Loch in der Erdoberfläche selbst, das den Blick auf die schwarze, nasse Kohle freigibt, zum "fenster" ins Tertiär, das den Blick in einen urzeitlichen Urwald, auf eine vergangene Katastrophe freigibt. In diese Assoziation lassen sich auch das Inventar der Industrielandschaft einordnen. Wenn die Kohleschichten das Meer der "unterirdischen energie" ("das meer in sachsen", Zeile 12) verkörpern, wird der Abbaubetrieb zum Hafen, wird die einzig stehengebliebene Landzunge zum Kap.
Woher nur kommt das starke Sich-Hingezogenfühlen des lyrischen Subjektes zu diesem schwarzen "meer" ? Die Naturgewalten, die vor Jahrmillionen für die Bildung von Kohle verantwortlich waren, scheren sich nicht an menschlichen Gesetzen, an menschlicher Ethik und Moral. Sie haben ihre eigenen Regeln, ihren Eigensinn. Möglich, daßdie Vorstellung von Selbstverwirklichung, vom Ganz-Sie-Selber-Sein diese starken Sympathien auslöst. Möglich auch, daßwir in dem lyrischen Subjekt hier den Autor wiederfinden, dem die Regeln der staatlichen Organe wie auch die des Literaturbetriebes ziemlich egal sind, für den menschliche Gesetze dazu da sind, gebrochen zu werden. Im Gedicht finden wir jedenfalls eine ausgeprägte Lust , "zu sündigen", sich mit der Kohle, mit der Urgewalt zu solidarisieren. Ist das der "schatten / einer sinnlosen unruhe" des lyrischen Subjekts, der "langsam /über die ziegelmauer" treibt?
Aber es gibt Dinge, die sich nicht so einfach in diese Sichtweise integrieren lassen, und die im folgenden behandelt werden sollen.
6.2. "eine restlos zerbrochene sprache" - Die Sprachkritik
"wessen schwarz dieser wörter" und "nacht ist der schatten früherer wörter" heißt es im Text - das ist nur schwer mit der Braunkohle vereinbar. Unter der eigentlichen Handlungsebene scheint hier noch eine tiefere Ebene, ein "Flöz der Sprachkritik" zu liegen. Frühere Wörter werden für die Dunkelheit verantwortlich gemacht, mit Ratten verglichen, die die Katastrophe ahnen und vor ihr fliehen, von ihr verjagt werden. Im Bereich des Meeres ist für Wörter kein Platz - bezieht sich das auf die sündige Urgewalt, die sich, unmenschlich, dem Bann der Sprache entzieht? Oder ist es die menschliche Sünde, die sprachlos ist?
Seit der Antike ist die Sprache das Medium, mit dem der Mensch die Welt beschreiben, sie fassen kann. Die Sprache war das Medium der Aufklärung, des "enlightenment": der intellektuellen Erleuchtung. In der Erhellung des menschlichen Lebens suchen die Wissenschaften ihre Berechtigung - und hier ist "die / nacht ... der Schatten früherer wörter" ! Das Medium der Erleuchtung hat Finsternis produziert - deutlicher kann Sprachkritik kaum sein. Hat das verwissenschaftlichte, "verkopfte" Leben der Menschen zur Entfremdung mit der Natur, mit dem gesunden Menschenverstand geführt? Oder fühlt der Autor die Last der Dichtung vergangener Zeiten als niederdrückendes Joch, unter dem sich nicht Licht und Luft genug für heutige Betätigung findet? Die Frage nach den Ursachen wird in diesem Gedicht nicht beantwortet.
Klar ist jedoch: das lyrische Subjekt fühlt sich mit Macht hingezogen zu dieser Nächtlichkeit. Der Text ist gleichsam eine "Hymne an die Nacht" - wie bei Novalis besteht die Erfüllung der Sehnsüchte in der Vereinigung mit der Finsternis. Aber nicht die Hochzeit ist hier das Ziel, sondern eine neue Weltkatastrophe - "finisterre". Es ist die Vereinigung mit dem Chaos, mit den Elementen: "und hier ist die sucht zu sündigen ich sündige - aber endlich allein-". Um so stärker aber das lyrische Subjekt zu diesem sündigen Toben der Urgewalten hingezogen wird, in um so stärkerem Maße fliehen auch die Wörter. Je stärker der Trieb, der Zug hin zur Katastrophe, desto mehr werden "anreden abgeschlagen", umso weniger Macht haben die Wörter. Wenn aber die dunklen Triebe sich der Verbalisierung entziehen, wenn die Wörter wie die Ratten vor dem sinkenden Schiff fliehen und die Triebe isolieren, ergeben sich Indizien für einen psychoanalytischen Ansatz.
6.3. Psychoanalytische Sicht
Unter dem Aspekt der Psychoanalyse kann das "nächtliche ummauerte meer" auch als Sammelbecken verdrängter, dunkler Triebe angesehen werden. So könnte der "schatten / einer sinnlosen unruhe", der langsam über die Ziegelmauer hinwegtreibt, für Verdrängung dessen stehen, was, als sinnlos abgetan, nicht in das rationale Weltbild paßt, was von der Gesellschaft tabuisiert wird. So bekommt auch das Wort "sünde" einen neuen - der klar auf das Sexualleben bezogenen umgangssprachlichen Bedeutung entsprechenden - Sinn. Da das Bewußtsein aber nur mit sprachlichen Zeichen operieren kann, wird den dunklen Sexualtrieben der Eingang ins Bewußte verwehrt. Um so mehr nun der Speicher der "früheren wörter" anschwillt, umso mehr bleibt ungesagt, und auch der `Meeresspiegel` steigt an. Die in diesem Meer des Unbewußten wortlos brodelnden Triebe kochen schäumend auf, wenn neue Verdrängungen dazukommen. Das menschliche Bewußtsein hat dieses "ES" sorgsam eingemauert (man vergleiche dazu die anarchischen Farben der Mauer!), damit dieses als sinnlos eingestufte Chaos nicht in den schön gehegten Forst der bewußten Ordnung eindringe. Aber gerade wegen der hermetischen Isolation kann das nicht gut gehen: "der wald stürzte ins meer".
Unter diesem Gesichtspunkt ist die Identifikation des lyrischen Subjekts als Bekenntnis zum Triebleben, zum Unbewußten zu werten. Aber mehr noch: es ist eine stetige Steigerung zu beobachten, vom einfachen Sich-Hingezogen-Fühlen zum machtvollen Trieb immer tiefer hinein in die Sünde - bis hin zum orgastischen "finisterre", dem Höhepunkt des Gedichts. Obwohl etwas weit hergeholt, können auch die Ingredienzen des Traumbildes der Mittelstrophe in die Freud`sche Sicht auf das Gedicht integriert werden. Dem Speicher - als schalenartiges Aufnahmegefäß- könnte dann die Bedeutung eines Vagina-Symbols zufallen, und das normalerweise spitz zulaufende Kap - zumal noch "marsrot" ! - würde die Funktion des Phallussymbols erhalten. So läßt sich am Text belegen, daßauch ein `Flöz der Psychoanalyse` unterhalb der Oberflächenbedeutung liegen kann, wenngleich dieser Text der einzige aus dem Gedichtband ist, bei dem sich eine derartige Sicht begründen läßt.
6.4. "ich werde aus der tür gehen und denken: adieu -"Die Außenseiter-Position
Wenn das lyrische Subjekt zu Beginn des Gedichts als vor dem Fenster befindlich gedacht werden darf, so neigt es sich in der Mittelstrophe heraus: "seht mich vorgebeugt weit / in die nacht". In der vierten Strophe dann befindet es sich bereits hinter der Mauer: "was sind anreden abgeschlagen von der rußgeschwärzten / rosaroten ziegelmauer die mich trennt von diesem volk getreten / an sein ufer". Man sieht das lyrische Subjekt zum Schlußin einer Außenseiter-Position, in der es sich offensichtlich wohl fühlt: "ich sündige - / aber endlich allein - ohne mein volk - / das ist das fenster". Fruchtbringend ist hier die Vorstellung des Tagebaues: das Ich nähert sich dem Rand, der "mauer", steht auf einer Landzunge, fühlt sich dort hineingezogen, geht hinunter, sieht sich abgeschlagen von der Welt, von seinem Volk. Wie aber dann "zerschnitten vom fenster"?
Möglich wird eine Erklärung, wenn man unter der eben geschilderten Oberfläche des Tagebauerlebnisses die letzten beiden Zeilen des Gedichts wörtlich nimmt: "mein volk - das ist das fenster". Solange der Einzelne hinter dem Fenster, also hinter seinem Volk steht, ist das Glas "dunkel und still". Sobald er sich aber hinauslehnt, hinter die Mauer gelangen möchte, zerbricht das Glas, und spitze Splitter zerschneiden den Nonkonformisten. Das Volk duldet keinen Individualismus.
Zwar hat sich Hilbig nie unverschlüsselt zu politischen Problemen geäußert, aber unterschwellig klingt das hier mit. Diese Deutung würde einen notorischen Individualisten als Ausreisewilligen zeigen, als der sich Hilbig acht Jahre später ja auch entlarvte. Die Probleme, die mit diesem Heraustreten aus dem Volk verbunden sind, spürte er aber spätestens zwei Jahre nach Niederschrift dieses Gedichts, als er seine Veröffentlichung im Westen mit Haft büßen mußte.
7. Versuch einer Interpretation
Das vorstehende Kapitel hat gezeigt, daßes für alle vier Deutungsebenen ausreichend Belege gibt, daßaber auch bei jeder einzelnen offene Stellen verbleiben, die nur mit Hilfe einer anderen Sichtweise einen Sinn bekommen. Demnach müssen auch alle beschriebenen Deutungen in eine ganzheitliche Interpretation einfließen.
Sicherlich war die nächtliche Situation am Rand eines Tagebaues für den Text anlaßgebend. Die lange vergangene Weltkatastrophe, die man der Kohle heute nicht mehr ansieht - "der wald stürzte ins meer / doch es blieb nacht durchs fenster ist nicht / zu sehen" - wird nun wieder lebendig, zeigt die uralte Gesteinsschicht als greulich kochende Masse. Diese wird nun als Metapher begriffen für die eigene unergründliche Tiefe, die der Klärung durch Wörter genausowenig zugänglich ist wie die urzeitliche Katastrophe. Sich zu diesem aller zivilisatorischen Ordnung spottenden Chaos hingezogen fühlen, heißt sich an der Gesellschaft versündigen; diese Einsicht hält das lyrische Subjekt allerdings keineswegs ab, nein: endlich kann es seine Individualität ausleben, dem schöpferischen Chaos in der eigenen Brust Raum zum Atmen geben.
Und daßdas Chaos letztendlich stärker ist als alle menschliche Ordnung, zeigt die an Anfang und Ende gestellte Weltkatastrophe. - "Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebete auf dem Wasser" (Altes Testament, 1. Buch Mose, Kap. 1 Vers 2) heißt es in der Bibel. Wolfgang Hilbig sagt uns: dieses Chaos kommt wieder, es wird Anfang und Ende, Alpha und Omega sein. In dem bereits zitierten Gedicht "das meer in sachsen" (im selben Jahr wie "das fenster" geschrieben!) lautet das Credo:
"ich weißdas meer kommt wieder nach sachsen
es verschlingt die arche
stürzt den ararat."
Und: "was ist das fenster ..." ? Der Text gibt darauf keine eindeutige Antwort: für jede der Deutungsebenen hat dieses Fenster eine andere Bedeutung. Einmal ist es der Tagebau, der den Blick auf die schwarze Masse freigibt, ein andermal das Volk, das den Sich-Hinauslehnenden zerschneidet; es könnte die Psychoanalyse selbst als Fenster zum unbewußt Brodelnden sein, ja letztlich sogar das Blatt Papier, auf dem der Dichter dem Leser mit seinen eigenen Wörtern seine eigene visionäre Welt-Sicht aufzeigt.
8. Die literarischer Qualität
Diese Verflechtung von mehreren sich überlagernden Deutungsebenen macht das Gedicht zu einem bedeutungs- und beziehungsreichen Text. Zur inhaltlichen Meisterschaft gesellt sich noch die der formalen Gestaltung des Rahmens sowie der unerhört stringente, zwingende Aufbau zum Höhepunkt hin. Doch damit nicht genug: der Leser wird durch Laut und Bild so tief in das Geschehen hineingezogen, daßer wähnt, im Kino zu sein, wenn der Krähenruf "rah" ihn jäh aufschreckt. "rah wie hölzern / ein flügel in seinem licht / sich rührt" - hier hört, sieht und fühlt der Leser mit. Hier hat ein Dichter etwas zu sagen, und das mit überragender Gestaltungskraft. All diese Aspekte stellen den Text - und seinen Autor - in die vordere Reihe zeitgenössischen Lyrikschaffens.
Anhang:
Bibliographie
-Hilbig, Wolfgang: abwesenheit. gedichte. Frankfurt am Main 1979
-Zimmermann, Harro: Wolfgang Hilbig. in: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. 47. Nachlieferung. 1994
-Wolfgang Hilbig. Materialien zu Leben und Werk, hg. v. Wittstock, Uwe. Frankfurt am Main 1994
- Citation du texte
- Markus Catenhusen (Auteur), 2000, Wolfgang Hilbig - Das Fenster. Analyse und Versuch einer Interpretation., Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95222
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