INHALTSVERZEICHNIS
1. Einführung in die Problematik
1.1. Ursprung und historische Begriffsverwendung
1.2. Begriffsverwendung seit der Neuzeit
1.3. Forschungsstand und Diskussionsstränge
2. Nationenbildung
2.1. Kulturelle und historische Voraussetzungen nach Anderson
2.2. Nationen und Nationalismus nach Gellner
2.3. Entstehung oder Erfindung?
3. Deutschland: Eine Nation mit doppelter Geschichte
3.1. Historischer Kontext bis 1945
3.2. Entwicklung in der Bundesrepublik bis 1990
3.3. Die "sozialistische Nation" in der DDR
3.4. Perspektiven nach der Wiedervereinigung
LITERATURVERZEICHNIS
1. Einführung in die Problematik
Die vorliegende Hausarbeit ist aus dem Referat "Grundbegriffe der Politikwissenschaft:
Nation" entstanden. Im Mittelpunkt der Arbeit stehen die Theo-rien zur Nationenbildung von Ernest Gellner ("Nationalismus und Moderne") und Benedict Anderson ("Die Erfindung der Nation"); ein zweiter Schwerpunkt liegt auf der Betrachtung Deutschlands als Nation. Als Einführung in beide Themen-komplexe soll der Versuch einer Begriffsklärung sowie ein Überblick der Dis-kussionsstränge zum Thema dienen.
Obwohl in den unterschiedlichsten Zusammenhängen - von der Bezeich-nung der Bundeswehr als "Schule der Nation" über das "National getränk" oder die "Fußball nation" bis zur "Lage der Nation" - im allgemeinen Sprachgebrauch ebenso häufig wie selbstverständlich verwendet, fällt bei der Recherche politik- wissenschaftlicher Grundlagenwerke auf, daß eine genaue Definition des Be-griffs "Nation" problematisch ist; die enge Verwandtschaft mit anderen Grund-begriffen wie z.B. Staat und Volk behindert eine klare Abgrenzung. Da der Be-griff in Deutschland offenbar ebenso negativ wie in anderen Ländern (z.B. USA, Frankreich) positiv besetzt ist, wird zudem eine neutrale Definition erschwert. In einigen Handbüchern der Politikwissenschaft, so z.B. bei Holtmann1 und Noh-len2 wird "Nation" in einem Artikel mit "Nationalstaat" und "Nationalismus" zusammengefaßt; eine nachvollziehbare, wenn nicht gar unumgängliche Ver-knüpfung.3
1.1. Ursprung und historische Begriffsverwendung
Der Begriff "Nation" wurde aus dem Französischen übernommen und leitet sich ab von lat. "nasci" (geboren werden) und "natio" (Stamm). In der Antike bezeichnet er sowohl einen Volksstamm als auch eine Gruppe innerhalb eines Volkes, etwa die Angehörigen einer gesellschaftlichen Klasse, in jedem Fall aber eine Anzahl von Menschen, die sich durch gemeinsame Merkmale wie Herkunft oder Gebräuche auszeichnen. Im Mittelalter wird "Nation" dann zur Bezeichnung für einen lokalen Zweckverband bzw. für die Untergruppe einer schwer überschaubaren größeren Gruppe; so werden z.B. die Studenten in "nationes" eingeteilt.4
1.2. Begriffsverwendung seit der Neuzeit
Nach heutigem Verständnis steht "Nation" für eine soziale Großgruppe, die sich über die Gemeinsamkeit von Abstammung, Wohngebiet, Sprache, Religion, Welt- und Gesellschaftsvorstellungen, Rechts- und Staatsordnung, Kultur und Geschichte sowie Art der Kommunikation definiert. Dabei müssen nicht alle der genannten Merkmale vorhanden sein; entscheidend ist vielmehr das Bewußtsein der Angehörigen einer Nation, sich von denen anderer Nationen durch spezifische Merkmale abzugrenzen. Im Deutschen unterscheidet man ferner zwischen Staatsnation und Kulturnation.5 Eine generalisierende Definition ist nicht möglich, da Nationen im Verlauf geschichtlicher Prozesse entstehen, von denen niemals zwei genau gleich ablaufen.
1.3. Forschungsstand und Diskussionsstränge
Bei der Auseinandersetzung mit sämtlichen bisherigen Forschungsergebnissen zum Thema ist zu bedenken, daß diese nur die jeweiligen Interpretationsmuster der Zeit wiedergeben können, in der sie enststanden sind, die politische und soziale Wirklichkeit jedoch in einem ständigen Wandel begriffen ist. Da es also keine allgemeingültige Definition und Analyse des Begriffes "Nation" geben kann, konzentriert sich die Forschung auf Entstehungszusammenhänge und Funktionen von Nationen; dabei haben sich die folgenden wesentlichen Diskussionsstränge herausgebildet:6
Die "Sozialgeschichtliche Debatte" beschäftigt sich vorrangig mit der Nationenbildung im 19. Jahrhundert sowie mit der Weiterentwicklung der entstandenen Nationen, wobei die unterschiedlichen Voraussetzungen und Entwicklungen dieser Prozesse in verschiedenen Gesellschaften analysiert und verglichen werden.
Als "Deutsche Debatte" wird eine aus der vergleichenden sozialgeschichtlichen Forschung hervorgegangene, besonders heftig geführte Diskussion bezeichnet; im Vordergrund steht das politische Gewicht scheinbar ob-jektiver Merkmale der Nation. Die Diskussion ist besonders stark geprägt von geschichtlichen Erfahrungen - v.a. mit dem Nationalsozialismus - und hat oftmals eine moralische Qualität, welche die analytische Schärfe der Debatte beeinträchtigt.
" Postkoloniale Entwicklungen" sind Gegenstand eines weiteren Diskussionsstranges. Dabei wird untersucht, auf welche Weise sich frühere Kolonien von der Fremdherrschaft entweder befreit haben oder in die Unabhängigkeit entlassen wurden, und wie diese der Herausforderung gegenübertraten, plötzlich "Nationalstaaten" zu sein. Faktoren wie künstlich angelegte Grenzverläufe, religiöse und Stammesrivalitäten, die häufig zu gewaltsamen Auseinandersetzungen um die Gestalt der neuen Nationen führen, werden dabei ebenso in die Untersuchung einbezogen wie die Auswirkungen der volkswirtschaftlichen Unterentwicklung der meisten ehemaligen Kolonien.
"Sozialistische Nationen" dagegen haben eine andere Besonderheit: Sie müssen sich einem potentiellen oder vorhandenen nationalen Zusammengehörigkeitsgefühl widersetzen zugunsten der "Klassenzugehörigkeit", die ihre Existenz legitimieren soll. Im "real existierenden" Sozialismus haben kulturelle und geschichtliche Überlieferungen einzelner Nationen keine politische Bedeutung mehr - allerdings entwickeln Nationalitätenkonflikte gerade in einigen ehemaligen sozialistischen Gesellschaften (Sowjetunion, Jugoslawien) eine besonders hohe Brisanz. Diese Thematik ist Gegenstand des vierten Diskussionsstranges.
2. Nationenbildung
Die häufig zitierte Definition von Karl W. Deutsch,
"Eine Nation ist ein Volk im Besitz eines Staates"7
legt den Eindruck nahe, daß der Bildung einer Nation die Gründung eines Staates vorausgehen müsse, i.e. daß die Nation sich vor allem über den bereits existierenden Staat definiere; bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß diese Definition nicht ausreicht. Ergiebiger ist die im Deutschen vorgenommene Unterscheidung von "Staatsnation" und "Kulturnation":
Eine Kulturnation hat (noch) keinen eigenen Staat und definiert sich über eine gemeinsame Sprache und Kultur, Beispiel hierfür ist die deutsche Nation, v.a. im 19. Jahrhundert vor der Gründung eines deutschen Nationalstaates. Dagegen entsteht eine Staatsnation innerhalb eines vorhandenen Staates durch den Willen der Individuen (volonté générale), auch unter Vernachlässigung ethnischer Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen, wie etwa in den Vereinigten Staaten. Dieses freiwillige Bekenntnis zur Staatsnation kann im Prinzip jedoch auch nur auf bestimmten Gemeinsamkeiten bestehen.8 Peter Alter definiert die Nation als eine
"soziale Gruppe [...], die sich aufgrund vielfältiger historisch gewachsener Beziehungen sprachlicher, kultureller, religiöser oder politischer Art ihrer Zusammengehörigkeit und besonderer Interessen bewußt geworden ist. Sie stellt die Forderung nach politischer Selbstbestimmung oder hat diese [...] bereits verwirklicht."9
Geht die Nation also nicht direkt aus dem Staat hervor, wie von Deutsch nahegelegt, und in welchem Verhältnis steht sie zum Nationalismus? Ist dieser als übersteigertes Nationalgefühl innerhalb bestehender Nationalstaaten10 oder vielmehr Ursache bzw. Wegbereiter für deren Entstehung zu verstehen? Das Verhältnis von Nation und Nationalismus im Zusammenhang mit der Bildung von Nationen soll hier auf der Grundlage der Argumentationen von Benedict Anderson und Ernest Gellner untersucht werden.
2.1. Kulturelle und historische Voraussetzungen nach Anderson
Benedict Anderson geht 1996 in "Die Erfindung der Nation"11 aus von der vorindustriellen Gesellschaft, in der es einen Gelehrtenstand gab, der über eine "heilige" Schriftsprache verfügte, die nicht identisch war mit der Alltagssprache der restlichen Bevölkerung des jeweiligen Gebietes (im deutschen Raum bspw. ist diese im Mittelalter das Lateinische), und somit als einzige Gruppe Zugang zur "Wahrheit" hatte. Schriftgelehrte waren Teil der Macht; somit konnte Anderson zufolge ihrerseits kein Interesse daran bestehen, eine kulturelle Homogenität der übrigen Bevölkerung zu fördern, die sich vertikal in lokale und Produktionseinheiten gliederte und scheinbar "gottgegeben" einem Herrscher untergeordnet war.
Die Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert und die dadurch erleichterte Herstellung und Verbreitung Büchern habe jedoch grundlegende Veränderungen in Gang gesetzt; immer mehr Werke wurden in den unterschiedlichen Landessprachen geschrieben und standen einem vergleichsweise größeren Leserkreis zur Verfügung. Dazu, so Anderson, kamen geographische und naturwissenschaftliche Entdeckungen, die zu einem Wandel des Weltbildes führten.12 Der Mensch an der Schwelle zur Neuzeit habe seinen Ursprung und den der Welt nicht länger als identisch begriffen und durch Entfernung (Entdeckung und Besiedlung Amerikas!) die Parallelität verschiedener Kulturen erkannt.13 Dementsprechend bezeichnet Anderson die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten 1776 als Ergebnis des ersten Nationalismus; an-dere Autoren sehen dessen Ursprünge in Europa, vor allem in Frankreich.
Buchdruck und Zeitungswesen ermöglichten es nach Anderson außerdem, daß historische Erfahrungen (wie eben jene Unabhängigkeitserklärung der USA, oder die Französische Revolution 1789 und ihre Auswirkungen für die Entwicklung in Europa) zu Modellen werden konnten, an denen sich später andere Gesellschaften orientierten, was wiederum die "Richtigkeit" dieser Modelle zu bestätigen schien - wobei regelmäßig bestimmte Details "übersehen" oder unterschlagen wurden.14 Auf die Einführung der Landessprachen als Staatssprachen und die wachsende Wertschätzung des Nationalgedankens in Europa folgte dann nach Andersons Darstellung ein "offizieller Nationalismus" der Monarchien.15 Dieser habe aber lediglich das Auseinandertreten von Dynastien und eben enststandenen Nationen verdecken wollen.16
Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Untergang der europäischen Kaiserreiche sowie der Entwicklung des Nationalstaates zur legitimen Norm17 habe die Nation schließlich nicht mehr als etwas Neues erfahren werden können, argumentiert Anderson, weshalb sich ihr Bewußtsein änderte. Die "Art der Erinnerung" an die Geschichte der betreffenden Nation wird demzufolge den neuen Gegebenheiten angepaßt. So werden bspw. frühere Auseinandersetzungen innerhalb einer Nation "vergessen" oder mythologisiert: "Alle tiefgreifenden Bewußtseinsänderungen führen Kraft ihrer Eigenart zu charakteristischen Amnesien."18
Anderson spricht auch vom "bekräftigenden Element alter Brudermorde."19 Die Identität einer Nation entspringe wie die eines Individuums vor allem der Vorstellung und nicht der Erinnerung. Nach Andersons Auslegung gibt es also einen Nationalismus vor und nach der Entstehung einer Nation; letzterer macht mehr oder weniger zufällige Entwicklungen nachträglich zum "Schicksal."
2.2. Nationen und Nationalismus nach Gellner
Wie Anderson weist auch Ernest Gellner 1991 in "Nationalismus und Moderne"20 auf die durch den Buchdruck ermöglichte, wachsende Bedeutung der Landessprachen als einen Auslöser für den sozialen Wandel hin, der letzendlich die Entstehung von Nationen begünstigte. Hat die entstandene Hochkultur erst einmal die gesamte Gesellschaft durchdrungen, so definiert sich diese über die Kultur, die es nun zu erhalten gilt - dies ist nach Gellner Grundlage für den Nationalismus.21
"Die alte Stabilität der sozialen Rollenstruktur ist mit stetigem Wachstum und beständiger Innovation einfach inkompatibel"22,
stellt Gellner fest. Soziale Mobilität wird also zum Kennzeichen der von kognitivem und ökonomischem Wachstum abhängigen Industriegesellschaft, in der ein Egalitarismus der Erwartungen und Hoffnungen herrscht. Um die Fortdauer des Wachstums zu gewährleisten, ist eine den beruflichen Wandel jedes Einzelnen ermöglichende, verallgemeinerte Ausbildung erforderlich; nach Gellner kann nur ein staatlich organisiertes Erziehungssystem diesem Anspruch gerecht werden. Demzufolge sieht Gellner im Erziehungsmonopol des Staates die Wurzel für den Nationalismus, welcher sich lediglich gerne als "Erwachen einer uralten, latenten, schlafenden Kraft"23 darstelle, während er in Wirklichkeit erst in Folge der neuen sozialen Organisation entstanden sei. Erst über den Nationalismus ließe sich demzufolge die Nation definieren.24
Gellner spricht von einer "grundlegenden Täuschung und Selbsttäuschung des Nationalismus"25, der auf einer anonymen Gesellschaft austauschbarer Individuen basiere (zusammengehalten durch gemeinsame Sprache und staatlich geregelte Ausbildung), sich aber gleichzeitig auf eine gemeinsame Volkskultur berufe, die es in dieser Form nie gegeben habe.26
2.3. Entstehung oder Erfindung?
Bei Gellner sind Nationen "Artefakte menschlicher Überzeugungen, Loyalitäten und Solidaritätsbeziehungen"27 ; Anderson spricht von einer "vorgestellten politischen Gemeinschaft - vorgestellt als begrenzt und souverän"28 und kritisiert, Gellner assoziiere die "Erfindung der Nation" zu sehr mit der Herstellung von etwas Falschem. Zwar seien alle sozialen Gemeinschaften, die über ein Dorf hinausgingen, vorgestellt oder "kreiert", deswegen aber nicht "falsch". Tatsächlich lassen sich m.E. beide Begriffe auf die Thematik anwenden.
Zum einen gibt es zunächst relativ "zufällige", i.e. nicht auf bestimmte Ideologien rückführbare Entwicklungen (wie die aus der Erfindung des Buchdrucks resultierenden Möglichkeiten, oder die Entdeckung und Besiedlung der Neuen Welt), die einen gesellschaftlichen Wandel und die Entstehung von Nationen begünstigten. Auf der anderen Seite können Nationen nur überleben, indem sie sich ständig neu definieren, quasi das Bild, das sie von sich haben, immer wieder neu erschaffen. Die dabei typische, rückwirkende Mythologisierung der Entstehungszusammenhänge kommt durchaus einer Erfindung gleich. Beides geschieht im Verlauf jeweils einzigartiger und nicht abgeschlossener geschichtlicher Prozesse, die Nation oder den Nationalismus als Idealtyp kann es deshalb nicht geben.
3. Deutschland: Eine Nation mit doppelter Geschichte
Die Frage nach Entstehungszusammenhängen, Entwicklung, Funktion und Bedeutung einer Nation soll hier am Beispiel Deutschlands - vor dem Hintergrund seiner wechselvollen Geschichte und unter dem Aspekt der möglichen zukünftigen Entwicklung - kurz erörtert werden: Wie entstand und entwickelte sich die deutsche Nation, blieb sie während der Teilung Deutschlands "in den Köpfen" bestehen, welche Perspektiven gibt es seit 1990?29
3.1. Historischer Kontext bis 1945
Nach den Erfahrungen der napoleonischen Eroberung Mitteleuropas hatte es seit Anfang des 19. Jahrhunderts in "Deutschland" (das sich in zahlreiche Klein- und Mittelstaaten sowie die Großmächte Preußen und Österreich gliederte, die sich 1815 zum "Deutschen Bund" zusammenschlossen) Bestrebungen zur Gründung eines Nationalstaates gegeben. Die gleichzeitige Applikation der Kriterien "Sprache" und "Territorium" zur Zuordnung in die Gruppe der "Deutschen" erwies sich dabei als schwierig; es gab sowohl deutschsprachige Bevölkerungsgruppen, die zu anderen Staaten gehörten (z.B. im Elsaß), als auch nicht deutschsprachige Gruppen auf "deutschem" Territorium (etwa die Tschechen).30 Die Auseinandersetzung um eine "kleindeutsche" oder "großdeutsche Lösung" trug ebenfalls zu einer Verzögerung des Prozesses bei.
Nach dem Auseinanderbrechen des Deutschen Bundes 1866 und dem Krieg gegen Frankreich vollendete Bismarck 1871 die Gründung des "Deutschen Reiches". Dieses befand sich zur selben Zeit in der Hochphase seiner Industrialisierung; bald strebte man im Zeitalter des Imperialismus den Aufstieg zur wirtschaftlichen Weltmacht an, und damit machtpolitische gegenüber rein formaler Souveränität.
Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges 1918 wurde das Ende des Kaiserreiches besiegelt; der seit der Reichsgründung gewachsene Nationalstaat Deutschland überlebte jedoch. An eine kurze Phase der Demokratie in der Weimarer Republik schloß sich der Mißbrauch des Nationalstaates für das spätimperialistisches Eroberungsprogramm der Nationalsozialisten an, das schließlich zum Ende der Großmacht "Deutsches Reich" führte. Der Alliierte Kontrollrat sah 1945 jedoch keine Zerstückelung des Landes vor und gab zunächst einen gesamtdeutschen Rahmen.
3.2. Entwicklung in der Bundesrepublik bis 1990
In der Bundesrepublik fand nach ihrer Gründung 1949 zunächst der Versuch einer "Bewältigung" der Vergangenheit durch Abwendung von der Nation statt, "in deren Namen von Deutschen die [...] Greuel [...] begangen worden waren, mit denen sie jetzt konfrontiert wurden."31 Es setzte eine Entwicklung "fort von der Nation, hin zur Heimat und hin zu Europa"32 ein; die Adenauerregierung war von Anfang an bestrebt, die BRD, die in Westeuropa der einzige Staat ohne nationalstaatliche Basis war, in einem westeuropäischen Bundesstaat aufgehen zu lassen. Gleichwohl wurde in der Präambel des Grundgesetzes vom 23. Mai 1949 die Zielsetzung der nationalen und staatlichen Einheit resp. der Wiedervereinigung verankert. Mit dem Mauerbau 1961 setzte dann aber eine allgemeine Resignation in der Deutschen Frage ein.
Die Neue Ostpolitik der Regierung Brandt ab 1969 ging von "zwei deutschen Staaten einer Nation" aus; der Grundlagenvertrag mit der DDR vom 21. Dez. 1972 bedeutete zwar die faktische Anerkennung der Teilung Deutschlands - andererseits konnte aber nur so eine mögliche Verhandlungsbasis für einen späteren Zeitpunkt geschaffen werden. Nach einigen Jahren der Geschichtsmüdigkeit und dem Heranwachsen einer nach dem Krieg geborenen Generation, die größtenteils keine emotionale Verbindung zum "anderen deutschen Staat" hatte, setzte Anfang der 80er Jahre eine Welle der Rückbesinnung (vor allem auf Preußen!) ein. Verschiedene Strömungen vom Rechtsradikalismus bis zum Linken Nationalismus beschäftigten sich weiterhin mit der Deutschen Frage; der Status Quo wurde jedoch mehrheitlich anerkannt.
3.3. Die "sozialistische Nation" in der DDR
Fernziel der DDR seit ihrer Gründung war die Verwirklichung der Vision eines sozialistischen Gesamtdeutschland. Man betrieb eine selektive Pflege des deutschen Kulturerbes und der Geschichte33 in der Absicht, so die Existenz der DDR zu legitimieren. "Die sozialistische Nation in der DDR ist deutscher Nationalität"34 lautete die offizielle Definition Mitte der 70er Jahre; als "sozialistische Nation" sollten sich die Deutschen in der DDR entsprechend der marxistischen Ideologie über ihre "Klassenzugehörigkeit" definieren.
Insgesamt fuhr die DDR in der Deutschen Frage einen Zickzackkurs; so begann sie in den letzten Jahren ihres Bestehens, die gesamte deutsche Geschichte35 zu vereinnahmen (hatte sich der Marxismus-Leninismus als nicht ausreichend zur Legitimation der DDR erwiesen?) und ließ bis zuletzt vom Plan der Vereinigung beider deutscher Staaten im Zuge einer "sozialistischen Umgestaltung der Bundesrepublik" offiziell nicht ab.
3.4. Perspektiven nach der Wiedervereinigung
Durch die Vereinigung von BRD und DDR 1990 fanden sich "alte" und "neue Länder" jeweils in einer mehr oder weniger veränderten Ausgangslage wieder:
Die Menschen in Ostdeutschland sahen sich quasi über Nacht konfrontiert mit dem Zusammenbruch eines Systems, das trotz aller Mängel eine bald vermißte Sicherheit geboten zu haben schien36, und wurden in die postmoderne Gesellschaft der Bundesrepublik katapultiert, über die sie sich bisher praktisch nur durch das Fernsehen hatten informieren können; dementsprechend war das Bild des "Westens" bestimmt von den Verlockungen potentieller Konsummöglichkeiten.37 Der im Westen bereits vollzogene Wertewandel hin von Pflicht- und Akzeptanz- zur Selbstentfaltungswerten38 konnte durch die selektierte Information im Osten vor der Vereinigung nicht nachvollzogen werden. Dennoch wurden praktisch seit dem Stichtag der Vereinigung die Normen Gesamtdeutschlands ausschließlich von der alten Bundesrepublik geliefert.
Linke Intellektuelle im Westen mußten dagegen erleben, wie ihr "Traum vom Ende des Nationalstaats [Deutschland]"39 zerbrach; die Zweistaatlichkeit war als zentraler Identifikationswert verloren gegangen. Geblieben ist ein ge-wisser "Nationalmasochismus"40 der extremen Linken, die weiter an all diejenigen (das sogenannte "Restvolk") die sich als Deutsche (noch) nicht (oder nicht mehr) selbst hassen, Schuldzuweisungen vornimmt - und eben durch diese Verteufelung der Nation (anstatt sich mit ihr auseinanderzusetzen) einmal mehr Wasser auf den Mühlen rechtsradikaler Strömungen wird.
Wenn aber die Erfahrungen der Geschichte grundlegend für die nationale Identitätsbildung ist, wie kann oder soll diese dann stattfinden in einem Volk, dessen historischer Kontext sich über viereinhalb Jahrzehnte auseinander entwickelt hat? Werner Weidenfeld konstatiert 1993: "Die doppelte Geschichte der Deutschen kann [...] nicht getrennt be- wältigt werden, wenn man gemeinsam zur inneren Einheit finden will."41
Bisher konnten sich die "alten Länder" auf die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der anschließenden "Erfolgsstory" der BRD beschrän-ken. Die "neuen Länder" sehen sich dagegen konfrontiert mit einer anders erfolgten Verarbeitung des Nationalsozialismus, dem praktisch unverarbeiteten Stalinismus, sowie fehlenden demokratischen und marktwirtschaftlichen Erfahrungen und einem später begonnenen Wertewandel. Das ehemalige kleinbürgerliche Mängelsystem steht neben der freizeitorientierten Gesellschaft und wird erst im Laufe der Zeit den "westeuropäischen Lebenszuschnitt mit den Vorsilben plural-, multi-, post-"42 akzeptieren können. Gleichzeitig muß und wird sich aber auch die bisherige westdeutsche Gesellschaft weiterentwickeln. Ein "Zusammenwachsen" wird deshalb die gemeinsame und gegenseitige geschichtliche Aufarbeitung erfordern, von und auf beiden Seiten: Jeweils der "eigenen" und der "anderen" Geschichte, unter besonderer Berücksichtigung vorhandener Überschneidungen. Unter dem Aspekt der fortschreitenden Vereinigung Europas stellt sich abschließend die Frage nach Sinn und Dauer einer möglichen Festigung der "Deutschen Nation", deren Funktion und Bedeutung als potentieller Identifikationswert sich (gemäß der Natur einer Nation als Gegenstand historischer und politischer Prozesse) schon sehr bald wieder verändern könnte, wie in der These von Klaus Eder angedeutet:
"Das Nationale kann in der entstehenden komplexen europäischen Gesellschaft nur mehr als ein Regionales überleben. [...] Die deutsche Einigung kann in diesem Kontext nur ein kurzes historisches Zwischenspiel, ein nachholendes Homogenisieren einer nationalen Kultur sein."43
LITERATURVERZEICHNIS
Alter, Peter: Nationalismus, Frankfurt am Main 1985.
Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzeptes, Frankfurt am Main ²1996.
Eder, Klaus: Identität und multikulturelle Gesellschaft: Ein neuer deutscher Sonderweg in der Modernisierung Europas? In: Weidenfeld, Werner (Hg.): Deutschland. Eine Nation - doppelte Geschichte. Materialien zum deutschen Selbstverständnis, Köln 1993, S. 381-391.
Faulenbach, Bernd: Probleme des Umgangs mit der Vergangenheit im vereinten Deutschland: Zur Gegenwartsbedeutung der jüngsten Geschichte, in: Weidenfeld, Werner (Hg.): Deutschland. Eine Nation - doppelte Geschichte. Materialien zum deutschen Selbstverständnis, Köln 1993, S. 175-190.
Gellner, Ernest: Nationalismus und Moderne, Berlin 1991.
Görlitz, Axel und Rainer Prätorius (Hg.): Handbuch Politikwissenschaft. Grundlagen - Forschungsstand - Perspektiven, Reinbek 1987.
Greiffenhagen, Martin und Silvia Greiffenhagen: Eine Nation: Zwei politische Kulturen, in: Weidenfeld, Werner (Hg.): Deutschland. Eine Nation - doppelte Geschichte. Materialien zum deutschen Selbstverständnis, Köln 1993, S. 29-45.
Hillgruber, Andreas: Die Last der Nation. Fünf Beiträge über Deutschland und die Deutschen, Düsseldorf 1984.
Holtmann, Everhard u.a. (Hg.): Politik-Lexikon, München 1994.
Klages, Helmut und Thomas Gensi>Nohlen, Dieter und Rainer-Olaf Schultze (Hg.): Lexikon der Politik. Bd. 1: Politische Theorien, München 1995.
Schmidt, Manfred G.: Wörterbuch zur Politik, Stuttgart 1995.
Weidenfeld, Werner: Deutschland nach der Vereinigung: Vom Modernisierungs-schock zur inneren Einheit, in: Ders. (Hg.): Deutschland. Eine Nation - doppelte Geschichte. Materialien zum deutschen Selbstverständnis, Köln 1993, S. 13-26.
Zitelmann, Rainer: Wiedervereinigung und deutscher Selbsthaß: Probleme mit dem eigenen Volk, in: Weidenfeld, Werner (Hg.): Deutschland. Eine Nation - doppelte Geschichte. Materialien zum deutschen Selbstverständnis, Köln 1993, S. 235-248.
[...]
1 Holtmann, Everhard u.a. (Hg.): Politik-Lexikon, München 1994, S. 384ff.
2 Nohlen, Dieter und Rainer-Olaf Schultze (Hg.): Lexikon der Politik, Bd. 1: Politische Theorien, München 1995, S. 354ff.
3 Vgl. Kap. 2 dieser Arbeit
4 Holtmann 1994, S. 384.
5 Siehe Kap. 2 dieser Arbeit.
6 Nach Görlitz, Axel und Rainer Prätorius (Hg.): Handbuch Politikwissenschaft. Grundlagen - Forschungsstand - Perspektiven, Reinbek 1987, S. 313ff.
7 Zit. nach Görlitz/Prätorius 1987, S. 315.
8 Vgl. Alter, Peter: Nationalismus, Frankfurt am Main 1985, S. 22.
9 Ebd., S. 23.
10 Vgl. Alter 1985, S. 17: "Die Frage des tatsächlichen Besitzes staatlicher Macht spielt für die Definition von Nation eine eher untergeordnete Rolle, nicht jedoch [...] für den Nationalismus als Ideologie."
11 Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzeptes, Frankfurt am Main ²1996.
12 Der Originaltitel von Andersons "Erfindung der Nation" lautet "Imagined Communities"
13 Ebd., S. 42ff.
14 Anderson 1996, S. 85ff.
15 Ebd., S. 90ff.
16 Ebd., S. 114.
17 Völkerbund = League of Nations
18 Ebd., S. 205.
19 Anderson 1996, S. 203.
20 Gellner, Ernest: Nationalismus und Moderne, Berlin 1991.
21 Ebd., S. 33.
22 Gellner 1991, S. 41.
23 Ebd., S. 76.
24 Ebd., S. 87: "Es ist der Nationalismus, der die Nationen hervorbringt, und nicht umgekehrt."
25 Ebd., S. 89.
26 Vgl. dazu Ebd., S. 91-95.
27 Ebd., S. 16.
28 Anderson 1996, S. 15 (Hervorhebung durch den Autor).
29 Im Rahmen einer Proseminararbeit kann dazu nur ein sehr komprimierter Abriß erfolgen, der der Komplexität der Thematik naturgemäß nicht annähernd gerecht wird. Auf ein konkretes Länderbeispiel, das sich zudem durch besondere Aktualität auszeichnet, sollte dennoch nicht ganz verzichtet werden.
30 Abschnitte 3.1. bis 3.3. nach Hillgruber, Andreas: Die Last der Nation. Fünf Beiträge über Deutschland und die Deutschen, Düsseldorf 1984.
31 Hillgruber 1984, S. 17.
32 Ebd.
33 Bsp.: Bauernkriege, Thomas Müntzer als politischer Revolutionär
34 Zitiert nach Hillgruber 1984, S. 26.
35 Einschl. Luther, usw.
36 Weidenfeld, Werner: Deutschland nach der Vereinigung: Vom Modernisierungsschock zur
inneren Einheit, in: Ders. (Hg.): Deutschland. Eine Nation - doppelte Geschichte. Materialien zum deutschen Selbstverständnis, Köln 1993, S. 13ff.
37 Greiffenhagen, Martin und Silvia Greiffenhagen: Eine Nation: Zwei politische Kulturen, in: Weidenfeld 1993, S. 30ff.
38 Siehe dazu Klages, Helmut und Thomas Gensi>
39 Zitelmann, Rainer: Wiedervereinigung und deutscher Selbsthaß: Probleme mit dem eigenen Volk, in: Weidenfeld 1993, S. 238.
40 Ebd., S. 243.
41 Weidenfeld 1993, S. 15.
42 Greiffenhagen/Greiffenhagen in: Weidenfeld 1993, S. 43.
43 Eder, Klaus: Identität und multikulturelle Gesellschaft: Ein neuer deutscher Sonderweg in der Modernisierung Europas? In: Weidenfeld 1993, S. 390.
- Quote paper
- Heike Biermann (Author), 1998, Theorien zur Nationenbildung von Ernest Gellner und Benedict Anderson. Deutschland als Nation mit doppelter Geschichte, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95109
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