Ziel dieser Arbeit ist es, die Bedeutung von Zeitwahrnehmung für die Beratungsarbeit von Menschen mit psychischen Erkrankungen darzulegen. Dazu stellt sich folgende Forschungsfrage: Welche Erkenntnisse aus der Biologie, Soziologie, Psychiatrie, Psychologie und Philosophie über die Zeitwahrnehmung führen zu einem Erkenntnis- und Anwendungsgewinn für die Soziale Arbeit, speziell die Beratung.
Mittels Literaturanalysen wird deutlich, dass die Chronobiologie, Soziologie, Psychiatrie und Psychologie sowie die Philosophie unterschiedliche Sichtweisen auf die Zeitwahrnehmung haben, insbesondere bei psychischen Erkrankungen. Gemeinsamkeiten ergeben sich bei der Bedeutung der Zeitwahrnehmung, wie der Funktion der Rhythmik und Synchronisierung oder dem Konzept von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Die moderne Entwicklung verändert die Zeitwahrnehmung und führt zu psychischen Erkrankungen. Psychosen, Persönlichkeitsstörungen und Depressionen haben eigene Zeitmuster, die anhand der Disziplinen erklärbar werden und einen eigenen Umgang mit der Bewältigung fordern. Die Beratung von Menschen mit psychischen Erkrankungen setzt professionelle Haltung, Fachwissen und Methodik voraus. Zeitsensitive Beratung zeigt sich auf Seiten der Beratenden in einer besonderen Zeit-Haltung, die zeitethische betrachtet die Sichtweisen auf die Lebensgestaltung, den gesellschaftlichen Kontext, die persönliche Entwicklung und den bewussten Umgang mit der Zeitwahrnehmung erweitert. Zudem fördert Zeit-Bildung, Reflexion und andere Zeit-Haltungsaspekte eine zeitsensitive Haltung. Daneben ist Zeit-Fachwissen über die Zeitwahrnehmung bei psychischen Erkrankungen bedeutend, um Resynchronisation und Zeitigung zu erlangen. Dies geschieht auch durch spezifische Bewältigungsstrategien sowie die zeitachtsame Gestaltung der Beratungssituation.
Unterschiedliche Zeit-Instrumente bieten hier vielfältige Methoden, um mit der veränderten Zeitwahrnehmung umzugehen und diese zu beeinflussen. So vervollständigt die Zeit-Diagnose den Hilfebedarf in der Beratung. Des Weiteren unterstützt zeitsensitive Psychoedukation das Verständnis über die Erkrankung. Durch die Arbeit mit Zeitraumkonzepten, systemischen Zeitfragen und einer Gruppenübung können bei Depressionen, Psychosen und Persönlichkeitsstilen Perspektiven erweitert und Handlungsräume erschlossen werden.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Chronobiologie
2.1 Körperzeit
2.1.1 Funktionen
2.1.2 Rhythmen und die innere Uhr
2.1.3 Chronotypen
2.1.4 Zeitgeber
2.2 Rhythmusstörungen
2.2.1 Faktor Stress
2.2.2 Faktor Schlaf
2.3 Kritik
3 Soziologische Zeitbetrachtung
3.1 Soziale Zeit
3.1.1 Zeiträume
3.1.2 Eigenzeit
3.1.3 Synchronisation
3.1.4 Zeittypen
3.2 Negative Zeitauswirkungen
3.2.1 Gesellschaft und Individuum
3.2.2 Beschleunigung
3.2.3 Desynchronisierung
3.2.4 Pathologie der Zeit
3.3 Kritik
4 Psychologie und Psychiatrie des Zeitgefühls
4.1 Innere Zeit
4.1.1 Wahrnehmung von Dauer
4.1.2 Zeiträume
4.2 Zeitpathologie
4.2.1 Zeittypen
4.2.2 Psychosen
4.2.3 Depressionen
4.3 Kritik
5 Philosophisches Zeitbewusstsein
5.1 Zeitanalyse
5.2 Zeitstörungen
5.2.1 Zeittypen
5.2.2 Entkopplungen
5.2.3 Zeitigungsstörung
5.3 Kritik
6 Interdisziplinäre Zeitessenzen
6.1 Zeitwahrnehmung
6.2 Funktionen
6.3 Zeitraumkonzepte
6.4 Moderne Entwicklungen
6.5 Krankhafte Zeitwahrnehmung
6.6 Zeithilfen
6.7 Kritik
7 Sozialpsychiatrische Beratungsgrundlagen
7.1 Haltung
7.2 Fachwissen
7.3 Methoden
7.4 Kritik
8 Zeitsynthese im Beratungskontext
8.1 Zeit-Haltungen
8.1.1 Zeit-Ethik
8.1.2 Zeit-Bildung
8.1.3 Zeit-Reflexion
8.1.4 Zeit-Haltungsaspekte
8.2 Zeit-Fachwissen
8.2.1 Zeitwahrnehmung bei psychischen Erkrankungen
8.2.2 Bewältigungsstrategien
8.2.3 Zeit-Rahmen
8.3 Zeit-Methoden
8.3.1 Erhebung zeitdiagnostischer Daten
8.3.2 Psychoedukation
8.3.3 Arbeit mit Zeitraumkonzepten
8.3.4 Systemische Zeit-Fragen
8.3.5 Gruppenübung
9 Fazit
Anhang
Poster
Technische Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm
Masterarbeit an der Fakultät Sozialwissenschaften
Zeitsensitive Soziale Arbeit
Eine interdisziplinäre Betrachtung der Zeitwahrnehmung und deren Bedeutung für die professionelle Beratungspraxis von Menschen mit psychischer Erkrankung
Gegenstand / Fragestellung bzw. Hypothesen / Zielsetzung:
Zeitwahrnehmung ist ein weiterer Gegenstand in der Beratungsarbeit von Menschen mit psychischer Erkrankung
Kenntnisse aus der Biologie, Psychologie, Psychiatrie, Soziologie und Philosophie über die Zeitwahrnehmung sind in der Beratung wichtig
Vorgehensweise:
Literaturanalyse, systematische und praktische Textverstehen
Ergebnisse / Schlussfolgerungen:
Zeitwahrnehmung und ihre Funktionen, Zeitraumkonzepte, moderne Entwicklung, Zeiterkrankungen und Zeithilfen sind in die Haltung integrierbar, ergänzen das Fachwissen und erweitern die Methodik in der Beratung von Menschen mit psychischen Erkrankungen
Schlüsselbegriffe:
Zeitwahrnehmung, Beratung, psychische Erkrankungen, Soziale Arbeit, Interdisziplinarität
Verfasser/in: Sonja Faußner
Abgabedatum: 21.10.2020
Abstract
Ziel dieser Arbeit ist es, die Bedeutung von Zeitwahrnehmung für die Beratungsarbeit von Menschen mit psychischen Erkrankungen darzulegen. Dazu stellt sich folgende Forschungsfrage: Welche Erkenntnisse aus der Biologie, Soziologie, Psychiatrie, Psychologie und Philosophie über die Zeitwahrnehmung führen zu einem Erkenntnis- und Anwendungsgewinn für die Soziale Arbeit, speziell die Beratung? Mittels Literaturanalysen wird deutlich, dass die Chronobiologie, Soziologie, Psychiatrie und Psychologie sowie die Philosophie unterschiedliche Sichtweisen auf die Zeitwahrnehmung haben, insbesondere bei psychischen Erkrankungen. Gemeinsamkeiten ergeben sich bei der Bedeutung der Zeitwahrnehmung, wie der Funktion der Rhythmik und Synchronisierung oder dem Konzept von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die moderne Entwicklung verändert die Zeitwahrnehmung und führt zu psychischen Erkrankungen. Psychosen, Persönlichkeitsstörungen und Depressionen haben eigene Zeitmuster, die anhand der Disziplinen erklärbar werden und einen eigenen Umgang mit der Bewältigung fordern. Die Beratung von Menschen mit psychischen Erkrankungen setzt professionelle Haltung, Fachwissen und Methodik voraus. Zeitsensitive Beratung zeigt sich auf Seiten der Beratenden in einer besonderen Zeit-Haltung, die zeitethische betrachtet die Sichtweisen auf die Lebensgestaltung, den gesellschaftlichen Kontext, die persönliche Entwicklung und den bewussten Umgang mit der Zeitwahrnehmung erweitert. Zudem fördert Zeit-Bildung, Reflexion und andere Zeit-Haltungsaspekte eine zeitsensitive Haltung. Daneben ist Zeit-Fachwissen über die Zeitwahrnehmung bei psychischen Erkrankungen bedeutend, um Resynchronisation und Zeitigung zu erlangen. Dies geschieht auch durch spezifische Bewältigungsstrategien sowie die zeitachtsame Gestaltung der Beratungssituation. Unterschiedliche Zeit-Instrumente bieten hier vielfältige Methoden, um mit der veränderten Zeitwahrnehmung umzugehen und diese zu beeinflussen. So vervollständigt die Zeit-Diagnose den Hilfebedarf in der Beratung. Des Weiteren unterstützt zeitsensitive Psychoedukation das Verständnis über die Erkrankung. Durch die Arbeit mit Zeitraumkonzepten, systemischen Zeitfragen und einer Gruppenübung können bei Depressionen, Psychosen und Persönlichkeitsstilen Perspektiven erweitert und Handlungsräume erschlossen werden.
Vorwort
Wird sich an den Zauberberg vom Mann herangewagt, kann es passieren, dass sich die Welt für Neues öffnet. Dass die Philosophie die Zeit zu einem Thema macht, über das sich nie vorher Gedanken gemacht wurde. Doch ist das Bewusstsein darüber nun gut oder schlecht, schlicht egal oder wegweisend? Auf jeden Fall schöpft es tief und öffnet so einige Türen. Von den Überlegungen „was ist“ hin zu der konkreten Frage „was ist Zeit?“ Eine Antwort darauf kann es freilich nicht geben, das würde der Komplexität und auch der Immanenz nicht gerecht werden. Jedenfalls, ich habe versucht es etwas greifbarer zu machen und auch für die berufliche Tätigkeit zu nutzen. Nach einem Gelingen kann da nicht gefragt werden, sondern nur nach dem Weg und dem ewigen Lernen und den tausenden von Fragen, das Wundern und Staunen, dass sich in der Sozialen Arbeit wie in der Philosophie so oft zeigt und keine Antworten verlangt. Mir ist die Zeit, seit ich mich diesem Thema auf intellektueller Ebene näherte, sehr lange vorgekommen. Wie es so schön heißt „Gut Ding will Weile haben“. Ist die Zeit kein Thema, ist die Zeit kein Thema. Und ist sie es dann doch, begleiten einen viele interessante Geschichten, viele Fragezeichen im Spiegel und in anderen Gesichtern, noch schnelleres Lesen und verzweifelter Austausch. Da bedanke ich mich bei allen Weggefährtinnen und Weggefährten, in der Entwicklung und im Werden dieser Arbeit. Und wäre die Zeit ein Ding, würde ich es gerne haben und aus dem Fenster werfen.
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Was ist der circadiane Rhythmus?
Abbildung 2: 2 Phasen Modell
Abbildung 3: Ordnungsschema zum menschlichen Zeitbewusstsein - eigene Darstellung, angelehnt an Morgenroth
Abbildung 4: Reflexive Zeitstruktur - eigene Darstellung, angelehnt an Hick
Abbildung 5: Stagnierende-Zeitstruktur - eigene Darstellung, angelehnt an Hick
Abbildung 6: Generative Zeitstruktur - eigene Darstellung, angelehnt an Hick
Abbildung 7: Verwirklichende Zeitstruktur - eigene Darstellung, angelehnt an Hick
Abbildung 8: Kreative Zeitstruktur - eigene Darstellung, angelehnt an Hick
Abbildung 9: Zeitdiagnose - eigene Darstellung, angelehnt an Küfner, Coenen et al
1 Einleitung
"Wir würden gern die Zeit festhalten, aber können es nicht. Die Zeit ist die herrschende Dimension, sie dominiert über den Raum und über seine Ressourcen. Man kann am gleichen Ort zu verschiedenen Zeiten sein und dessen Veränderung erleben, aber man kann zur gleichen Zeit nicht physisch an verschiedenen Orten sein, um gleichzeitige Veränderungen objektiv zu begreifen."1
Vorstellung
Hinter jeder Herangehensweise und Methodik der Sozialen Arbeit und hinter jedem fachlichen Wissen über Beratung steckt eine tiefere Struktur, die so selbstverständlich ist, dass sie unbeachtet bleibt – die Zeit. Doch welche Rolle spielt innerhalb der Zeit das Zeitgefühl? Und was bedeutet es für die Soziale Arbeit und die Beratung?
Soziale Arbeit ist eine Disziplin, die sich mit umgebenden Landschaften, hier besonders den Nachbardisziplinen Soziologie und Psychiatrie / Psychologie als auch Biologie, auskennt und für sich heranzieht. Gerade in der Beratungsarbeit ist die Soziale Arbeit ein Hauptakteur, der die psychosozialen Lebenslagen der Klientel berücksichtigt und Ressourcen in der sozialen Umwelt aufdeckt. Wenn die Soziale Arbeit auf ihre Bezugswissenschaften zugeht, bedeutet das, sie ergänzt die Soziologie um Handlungstheorien, die zur Bearbeitung und Vermeidung sozialer Probleme geeignet sind. Zudem erweitert sie die Interventionen der Psychologie vom individuellen auf sozialen und gesellschaftlichen Kontext.2 Großmaß zufolge berücksichtigt die Soziale Arbeit theoretische Konzepte, empirisches Wissen und Reflexionsformen unterschiedlicher Disziplinen und bezieht diese aufeinander. Des Weiteren findet eine eigenständige Denkleistung statt, um diese Erkenntnisse in einen Kontext zu setzen und zu interpretieren, um sie für die soziale Praxis nutzbar zu machen. In der Beratungsarbeit bedeutet dies, von praktischer Erfahrung über die Reflexion in die Recherche zu kommen und diese Erkenntnisse wieder aufeinander zu beziehen. Reflexionsvermögen und Perspektivenbrechungen zulassen, also Distanz zu nehmen und einen neuen Blick auf etwas werfen, sind Grundvoraussetzungen für interdisziplinäres Arbeiten. Die Grundkompetenzen sind also auswählen, einordnen, aktualisieren und interpretieren.3 Damit begründet sich die philosophische Komponente in dieser Arbeit.
Bisher unberücksichtigt bei der Auseinandersetzung mit den Bezugswissenschaften für die Soziale Arbeit ist jedoch die Zeitproblematik. Um der Klientel und ihren Bedürfnissen gerecht zu werden, berücksichtigt die Soziale Arbeit bereits viele Faktoren wie Arbeit, Auswirkungen mit der Erkrankung, Teilhabe am Leben, Gesundheit etc. Dieses Raster behandelt dabei noch nicht, inwiefern strukturelles Zeiterleben beispielsweise das des Individuums beeinflusst und auch krank macht. Des Weiteren wird auf Zusammenhänge mit der Modernisierung wenig eingegangen, obwohl sich daraus eine weitere Aufgabe für die Soziale Arbeit ergibt. Zudem wird in der Beratung noch kaum darauf geachtet, die Beratungseinheiten so zu gestalten, dass sie dem natürlichen Biorhythmus der Klientel entsprechen. In der Beratung selbst ist es noch nicht gängig, auf das Zeiterleben bestimmter psychischer Erkrankungen zu achten und diesen spezifisch zu begegnen.
Fragestellung
Es stellt sich die Frage, wie sich die Zeitwahrnehmung der Helfenden und der Klientel in der Beratung äußert. Wie wird Zeitwahrnehmung definiert? Welche Einflüsse auf die Zeitwahrnehmung gibt es, welche Eigenheiten zeigen sich bei psychischen Erkrankungen? Wie sieht der Blick von gesellschaftlicher Zeit auf die Zeitwahrnehmung des Individuums aus, welche Faktoren beeinflussen die Zeitwahrnehmung innerhalb einer Gesellschaft, welche Probleme ergeben sich?
Die Soziale Arbeit kann bei der Beantwortung dieser Fragen einen wertvollen Beitrag leisten. In der Beratungsarbeit von Menschen mit psychischen Erkrankungen besteht um die Komponente der Zeitwahrnehmung Ergänzungsbedarf. Dieser soll in der Arbeit geklärt, thematisiert und erweitert werden. Konkret soll auf die Frage Antwort gefunden werden, inwiefern Erkenntnisse über die Zeitwahrnehmung aus der Biologie, der Soziologie, der Psychologie und Psychiatrie als auch der Philosophie in die Soziale Arbeit, speziell in die Beratung von Menschen mit psychischen Erkrankungen, eingebettet werden können. Dies soll letztendlich zu einem weiteren Modul in der Beratung führen, der alle anderen durchwirkt. Eine zeitsensitive Beratungsarbeit soll entstehen.
Forschungsstand
Mit dem Thema Zeitwahrnehmung befasst sich vor allem die Chronobiologie ausgiebig. Wissenschaftliche Erkenntnisse über die Zeit liegen speziell für die Soziale Arbeit noch nicht vor. Die Psychologin Ulrike Borst hat sich in ihrem Buch „Zeit essen Seele auf“ mit einigen Folgen veränderter Zeitstrukturen und verändertem Zeiterleben für Individuen, Paare, Familien und Organisationen beschäftigt sowie Konsequenzen für Therapie und Beratung erörtert. Eine konkrete Auseinandersetzung mit dem Zeiterleben oder auch Eigenzeit, Lebenszeit genannt, hat speziell für die Beratungsarbeit mit Menschen mit psychischen Erkrankungen noch nicht stattgefunden. Meist ist der Blick darauf eher gesellschaftlicher oder therapeutischer Natur.
Methodik
Diese Herangehensweise soll Grundlage für diese Arbeit sein, weswegen die genannten Fachrichtungen anhand einer Literaturauswertung dahingehend erforscht, gesammelt und bearbeitet werden. Die Hermeneutik, also das systematische und praktische Textverstehen, bietet sich hier als Auswertungsmethode an. Aus dem Verständnis der einzelnen Disziplinen soll ein Verständnis für das Gesamte entstehen. Dies wird in den Zeitessenzen dargelegt.
Die Klärung der Fragestellung sowie eine Überprüfung der Quellen auf ihre Qualität und eine kritische Auseinandersetzung mit ihren Erklärungen steht am Beginn. Die Texte werden mit Vorkenntnissen analysiert und verstanden, wodurch die Thematik an Tiefe gewinnen soll. Der hermeneutische Zirkel soll demnach den Zusammenhang des menschlichen - hier - Zeitbewusstseins mit dem Leben, der Umwelt und den menschlichen Handlungen darlegen. Dies soll vor allem im Kapitel über die Beratung deutlich werden.4
Aufbau
Zunächst werden in Kapitel 2 bis 5 die jeweiligen Definitionen, Funktionsweisen und Zeitwahrnehmungsherausforderungen beschrieben sowie kritisiert. Dabei veranschaulicht die Chronobiologie in Kapitel 2 die körperliche Zeit anhand ihres Zwecks und der Bedeutung von physischen inneren Uhren und Rhythmen. Ergänzend werden Chronotypen und Zeitgeber vorgestellt. Im Anschluss daran werden die Folgen von Stress und Schlaf auf das biologische Gleichgewicht erläutert. In Kapitel 3 setzt sich die Soziologie mit der sozialen Zeit auseinander, die sich in Zeiträume, Eigenzeit, Synchronisation und Zeittypen unterteilt. Ferner werden Auswirkungen diskutiert, die Veränderungen zwischen der Gesellschaft und dem Individuum auf zeitlicher Ebene mit sich bringen. Dabei wird insbesondere auf die Beschleunigung, Desynchronisierung und pathologisches Zeitempfinden eingegangen. Kapitel 4 setzt sich mit der psychologischen Sicht auf die innere Zeit, im Besonderen mit der Wahrnehmung von Dauer und Zeiträumen, auseinander, bevor die Psychiatrie einen Blick auf pathologische Zeitmuster bei Persönlichkeitsstilen, Depressionen und Psychosen wirft. Schließlich schließt das Kapitel 5 mit der philosophischen Betrachtung des Zeitbewusstseins die interdisziplinäre Betrachtung ab. Dort wird Zeit schließlich anhand einer Zeitanalyse veranschaulicht. Darauffolgend werden Zeittypen und die Phänomene der Entkopplung sowie Zeitigungsstörungen aufgezeigt.
In dem Kapitel 6 werden relevante Erkenntnisse aus den vorherigen Kapiteln zusammengefasst und in Beschreibung, Funktion, Zeitraumkonzepte als auch moderne Entwicklungen neu gegliedert. Des Weiteren werden die Resultate in krankhafte Zeitwahrnehmung und Zeithilfen unterteilt sowie erneut kritisiert.
Es folgt eine kurze Beschreibung von Beratungsbegrifflichkeiten, hier Haltung, Fachwissen und Methodenwissen in Kapitel 7. Im Kapitel 8 findet die Zeitsynthese im Beratungskontext statt. Hier werden die Essenzen aus Kapitel 6 auf die vormals genannten Grundlagen in Kapitel 7 zusammengeführt und übertragen. Die Arbeit schließt mit dem Fazit.
2 Chronobiologie
Die Chronobiologie erforscht zeitliche Gegebenheiten ablaufender Lebensvorgänge.5 Um diese zu beschreiben, wird folgend, unter Berücksichtigung der grundlegenden biologischen Vorgänge sowie Rhythmen des Körpers und Chronotypen als auch Zeitgebern, auf die zeitlichen Abläufe im Körper eingegangen. Daraufhin wird dargestellt, wie sich die biologische Desynchronisierung auf den Menschen auswirkt, dabei wird auf den Faktor Stress und die Störung des inneren Rhythmus fokussiert. Im Anschluss findet eine kritische Würdigung der Chronobiologie statt.
2.1 Körperzeit
Dass Menschen über eine eigene, körperliche Zeit verfügen, ist die Grundvoraussetzung für soziales Leben.
"Wahrscheinlich vermittelte das zeitliche Raster synchronisierter Verhaltenszyklen auf diese Weise eine Strategie des Überlebens und diente als biologisch vorgegebene Zeitstruktur der Koordination sozial lebender Hominiden, lange bevor ein früher Vorläufer des heutigen Menschen erstmals ein kognitives Konzept von Zeit zu bilden verstand." (Meier-Koll 1995, S. 39)6
Somit ist Körperzeit eine basale Komponente im menschlichen Leben, welche folgend in seiner Grundidee beschrieben wird, bevor auf die innere Uhr und Rhythmen eingegangen wird.
2.1.1 Funktionen
Die Zeit des Menschen ist im Verhältnis zur Zeit des Lebens (Evolutionsbiologie), der Geschichte der Erde und der kosmischen Zeit nur begrenzt begreifbar.7 Um sie zu fassen, wird nach dem Zweck der Menschenzeit gefragt.
Diese hat Bogacki zufolge vier Funktionen:
1. Chronologische Eigenschaften der Organismen sind eine Voraussetzung für Leben. Timing ist alles, der Zeitpunkt und die Zeitspanne für z. B. Nahrungsaufnahme
2. Zeiteffekte, beispielsweise auf genetischer Ebene, beeinflussen die Entwicklung der Menschheit
3. Gegenseitige Rückkopplungen mit dem biokosmischen System
4. Integration der zeitlichen Gestalt des Biokosmos in den Kreis des physikalischen Chronokosmos8
Im Sinne der Selbstorganisation und Entwicklung des Menschen sind somit die kleinsten Zeiteinheiten im Körper bis zur Einstellung auf das Universum von grundlegender Natur.
Biologisch betrachtet durchwirkt die Zeit den Körper auf molekularer, zellularer, geweblicher, organischer und organismischer Ebene. Die biologischen Uhren im Körper geben den Takt über Stimmungen, Gesundheit, Fähigkeit, Lust, Träume, Aktivität etc. vor.9 Die umfassenden Auswirkungen auf den gesamten Organismus beeinflussen also einen Großteil der menschlichen Emotionen und Verhaltensweisen. Wie sich biologische Zeitwahrnehmung in Takten organisiert, wird nun erläutert.
2.1.2 Rhythmen und die innere Uhr
"Bildlich kann die Welt der Natur als Sammlung von Uhrenläden betrachtet werden und Individuen selbst entsprechen einzelner Läden. Somit hat jedes Ding oder Wesen eine eigene Zeit bzw. Zeitmechanik. Es ist ein feingestelltes System aus ineinander greifenden inneren Uhren mit unterschiedlichen Rhythmen."10
Innere Uhren überwachen die zeitliche Harmonie des Körpers und die der Umwelt. Der Mensch ist ein komplexes Wesen mit vielschichtigen innewohnenden zeitlichen Mechanismen. Er stellt seine innere Rhythmik auf oszillierend wiederkehrende Ereignisse ein. Diese ist angeboren und ermöglicht dem Menschen eine effiziente Anpassung im Hinblick auf Verhalten, Metabolismen und seine gesamte Entwicklung.11 Somit ist er in der Lage, an die Umwelt angepasst zu leben.
Die körperlichen Voraussetzungen dazu sind auf endokriner Basis im Gehirn, dem suprachiasmatischen Kern (SCN) zu finden. Der suprachiasmatische Kern sitzt 2-3 cm schräg hinter der Nasenwurzel und ist ein Bündel aus Nervenzellen. Er ist der "Dirigent" der inneren Uhren. Seine Funktion ist nach Zulley und Knab
1. die Abstimmung der Inneren Uhren aufeinander,
2. die Synchronisation mit der Umwelt,
3. die Verhinderung von äußeren Störungen und
4. die Vorbereitungen auf kommende Ereignisse.12
Zum anderen wirkt die innere Uhr auf molekularer Ebene, indem Gene, hier auch Clockgene genannt, Verhaltenszyklen erzeugen und steuern. Der Mechanismus funktioniert wie folgt:
Gene enthalten die Information für die Herstellung von Proteinen. Diese Informationen werden auf sogenannte Boten-RNA kopiert - eine Art Blaupause der Erbinformation.13 Laut Mitterauer verkörpern gepaarte, leicht unterschiedliche Clock-Proteine Objekte der "Umwelt", die das Clockgen aktivieren. Dieses wiederum strebt die Produktion des Clockgen-Proteins an und realisiert dieses. Das entstandene Protein stellt dann die Aktivierung des Clock-Proteins ab, was einem negativen Feedback-Mechanismus gleichkommt. Die von den Clockgenen erzeugten Proteine aktivieren wiederum andere clockgenkontrollierte Gene zur Erzeugung weiterer Feedback-Zyklen.14 Diese umfassen meist 24 Stunden. Der 24-Stunden-Rhythmus hat die Aufgabe, die in dem Körper ablaufenden rhythmischen Prozesse zu koordinieren und eine zeitliche Einpassung an die sich ständig ändernde Umwelt zu gewährleisten.15
Nicht nur auf molekularer und endokriner Ebene, sondern auch in größeren Kontexten sind Rhythmen beobachtbar, die unterschiedliche Zeiträume abdecken.
Rhythmen, die länger als 24 Stunden dauern, nennt man infradian. Dies betrifft beispielsweise das Immunsystem. Oft werden hier sieben Tage bei Krankheiten genannt. Zirkalunare Rhythmen sind noch länger, als Beispiel ist hier die Gewebsveränderung zu nennen. Ultradiane Rhythmen, auch Menschenuhren genannt, weisen eine häufigere Frequenz auf. Allgemeine Aktivitäten wie Essen und Trinken, aber auch Blasendruck oder Konzentrations- und Leistungsfähigkeit fallen darunter. Den kürzesten ultradianen Rhythmus haben Nervenzellen. Zirkadiane Rhythmen, auch unimodale Muster genannt, treten einmal pro Tag mit einem Maximum und einem Minimum auf. Dies sind z. B. Wachen und Schlafen, Körpertemperatur, Leistungsfähigkeit und Hormonproduktion.16 Diese unterschiedlichen Rhythmen beeinflussen auf jeweils sowohl regelmäßige als auch individuelle Art und Weise den Menschen und das menschliche Zusammenleben. Besonders der zirkadiane Rhythmus hat sich dabei als Taktgeber herausgebildet und wird nun genauer erläutert.
Der Mensch hat ein breites Spektrum an biologischen Rhythmen wie den Schlaf-Wach-Rhythmus und den Rhythmus der Körpertemperatur.17 Der zirkadiane Rhythmus schwingt auch ohne äußere Reize mit einer Periodenlänge von 24 Stunden. Diese innere Uhr ist selbsterregt, laufen also relativ konstant weiter. "Circadin", also lateinisch circa, beschreibt die vorkommende Phasenverschiebung um eine Stunde, also auf 25 Stunden.18 Das bedeutet, die Taktung des zirkadianen Rhythmus kann zwischen 24 und 25 Stunden variieren.
Zu jeder Tageszeit gibt es unterschiedliche Phasen, die für körperliche Eigenschaften sinnbildlich sind:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Was ist der circadiane Rhythmus?19
Wie zu sehen ist, ruht der Körper nachts und senkt dementsprechend seine Temperatur, in der Wachphase organisieren sich weitere Abläufe bis hin zur Produktion vom schlaffördernden Melatonin. Hier wird die Schwingung in Phasen deutlich.
Weitere interessante Symptome sind zu beobachten:
- 1 Uhr: Lymphozytenanzahl ist am höchsten,
- 7 Uhr: allergische Symptome sind am stärksten,
- 8 Uhr: Kalorien werden am besten verbrannt, großes Risiko für Herzinfarkt / Schlaganfall,
- 21 Uhr: Schmerzschwelle ist wie vormittags am niedrigsten.20 Reaktionen auf Arzneimittel verändern sich über den Tag. Abends wirken Schmerzmittel beispielsweise stärker.21
Nachts bestimmen der zirkadianen und der homöostatische Prozess die Schlafregulation:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: 2 Phasen Modell22
Der homöostatische Prozess (Schlafdruck) baut sich während der Wachphase kontinuierlich auf, um nach Erreichen eines bestimmten Niveaus während des Schlafs abgebaut zu werden. Im Gegensatz dazu schwingt der zirkadiane Prozess mit einer Periodik von ungefähr 24 Stunden, unabhängig davon, ob man schläft oder wach ist. Die Gleichmäßigkeit der beiden Prozesse bestimmt die Schlafqualität. Unterschiedliche Taktungen beschreiben zudem zweierlei Chronotypen, die anschließend beschrieben werden.
2.1.3 Chronotypen
Je nachdem in welchem Tempo die innere Uhr tickt, gibt es Morgen- und Abendmenschen. Als Eule betitelt man Menschen, deren innere Uhr länger als 24 Stunden läuft. Sie schlafen morgens länger. Liegt der Tageszyklus bei 24 Stunden, bezeichnet dies die Lerchen, die früh aufwachen, da ihr innerer Chronometer beschleunigt läuft.23 Um auch für die Schlafforschung, die eng mit der Chronobiologie verzahnt ist, den Chronotyp zu bestimmen, wird auf Fragebogen zurückgegriffen (siehe Anhang). Welcher Chronotyp vorliegt, ist genetisch veranlagt und nur durch bestimmte Zeitgeber modulierbar.
2.1.4 Zeitgeber
Rhythmen schwingen innerhalb des Körpers und legen eine bestimmte Zeitwahrnehmung fest. Ferner gibt es Faktoren, die diese Schwingungen beeinflussen können. Der Körper ist in der Lage, seine innere Uhr auf diese äußeren Reize abzustimmen und zu synchronisieren. Dadurch bedient er sich zum einen innerer Zeitgeber. Bogacki zufolge stellt die erblich bedingte Anlage einen wiederkehrenden Bereich bereit, indem exogene Reize bearbeitet und geeicht werden. Dieser beinhaltet die Fähigkeit der Rhythmen, sich auf ein bestimmtes Zeitgeberintervall einzustellen. Die Dauer der Rhythmen kann durch äußere Zeitgeber innerhalb bestimmter Bereiche variieren.24 Ein weiterer Zeitgeber ist die Zirbeldrüse. Das Pineal ist ein photoeuroendokrines Organ, das äußere Lichtprogramme mit Melatonin in ein Hormonsignal übersetzt, welches bei Dunkelheit hoch ist und durch Licht gehemmt wird. Es stellt eine Umschaltstation für Lichtreize dar und produziert Melatonin, welches unter Lichteinwirkung während des Tages wieder absinkt.25
[...]
1 Wolfgang Haber, 1995, S. 40.
2 Wolf Rainer Wendt, S. 12.
3 Großmaß, 2017, S. 162–166.
4 Kuckartz, 2018, S. 17–20.
5 Bogacki, 1998, S. 47.
6 Bogacki, 1998, S. 144.
7 Wolfgang Haber, 1995, S. 33–34.
8 Bogacki, 1998.
9 Bogacki, 1998, S. 142.
10 Bogacki, 1998, S. 142.
11 Bogacki, 1998, S. 143–144.
12 Zulley & Knab, 2000, S. 100–101.
13 Zulley & Knab, 2000, S. 99.
14 Mitterauer, 2009, S. 39–40.
15 Bogacki, 1998, S. 150.
16 Zulley & Knab, 2000, S. 22–24.
17 Wolfgang Engelmann, 1995, S. 44–45.
18 Bogacki, 1998, S. 146.
19 Was ist der circadiane Rhythmus?
20 Bogacki, 1998, S. 160–161.
21 Zulley & Knab, 2000, S. 21.
22 Jenni, 2016.
23 Klein, 2006, S. 37–38.
24 Bogacki, 1998, S. 149–150.
25 Bogacki, 1998, S. 156.
- Arbeit zitieren
- Sonja Faußner (Autor:in), 2020, Zeitsensitive Soziale Arbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/949830
-
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen.