Zum Begriff der ,,Unendlichen Melodie"
1. Der Begriff der ,,Unendlichen Melodie" zieht sich wie wenige andere durch die Literatur über Wagner. Seien es musikalische Analysen oder psychologische Deutungen der Musikdramen, mag es um die musikgeschichtliche Einordnung oder die belletristische Darstellung der Person des Meisters gehen: Ohne die vieles bedeutende, vieldeutige ,,Unendliche Melodie" kommt scheinbar keine Wagner-Exegese aus.
Dabei ist fast kein krasserer Gegensatz denkbar als der zwischen der häufigen Benutzung des Terminus in der Sekundärliteratur und seinem Auftreten in Richard Wagners Schriften, wo er sich nämlich nur einmal findet, in dem Aufsatz ,,Zukunftsmusik" von 1860. Und auch dort erschließt sich die Bedeutung von ,,unendlicher Melodie" nicht sofort. Zum Verständnis müssen wir sowohl den besonderen Charakter der Schrift berücksichtigen, als auch den Gedankengang, der zu unserem Begriff führt, wenigstens in Umrissen erkennen.
2. Wagner faßt zehn Jahre nach Abfassung von ,,Oper und Drama" die dort entwickelte Theorie und angedeutete Konzeption seines Musikdramas für die französischeöffentlichkeit zusammen und schickt den Aufsatz unter dem Titel ,,Zukunftsmusik" einer Übertragung einiger seiner Libretti ins Französische voraus.
So ist der Umfang, aber auch der Habitus von ,,Zukunftsmusik" ein anderer als der von ,,Oper und Drama". Zwischen den beiden Schriften liegt die Komposition von Rheingold, Walküre und Tristan, schon aus dieser Tatsache erklärt sich zu einem guten Teil die Ablösung der normativen Ausdrucksweise durch eine mehr deskriptive Haltung. Wagner führt eingangs aus, daß er die 1850er Schrift in einem ihm ,,durchaus abnormen Zustande" abgefaßt hatte, was er ,,an der großen Abneigung [...] vor einer Wiederdurchlesung meiner theoretischen Schriften" (S. 45)1 erkennt. In ,,Zukunftsmusik" (ebd.) will er nicht ,,abermals das Labyrinth theoretischer Spekulation in rein abstrakter Form durchwandern"; die neuerliche Darstellung seiner Überlegungen zeigt entsprechend ein stark gerafftes Bild, das außerdem auf größere Anschaulichkeit zielt (beispielsweise will er mit einer Darstellung des II. Teiles von ,,Oper und Drama" weder die Leser noch sich belasten, da ihm der ganze ,,mühselige Ausflug in das Gebiet der spekulativen Theorie" zwar notwendig erschien, aber doch das Gefühl des ,,Krampfes" hinterließ). Immer wieder - auch im Zusammenhang mit der ,,unendlichen Melodie" gegen Ende der Schrift - will Wagner die ,,metaphorischer Form" benutzen.
Im Interesse an raffender Übersichtlichkeit der Gedankengänge, im Bemühen um anschauliche Sprache, in der Suche nach unmittelbar verständlichen Begriffen scheint mir der Ausdruck von der ,,unendlichen Melodie" entstanden zu sein - um den Preis eindeutiger terminologischer Genauigkeit.
3. 1. Die uns interessierende Passage hebt mit einer Definition an: "Setzen wir zuerst fest , daßdie einzige Form der Musik die Melodie ist, daß ohne Melodie die Musik gar nicht denkbar ist, und Musik und Melodie durchaus untrennbar sind." (S. 88)
Von diesen drei Aussagen ist die erste nicht nur die schärfste, sondern für eine Interpretation des Wagnerschen Formbegriff die aufschlußreichste; die kursive Schreibweise unterstreicht zusätzlich den apodiktischen Charakter, der nichts anderes besagt, als daß alle musikalische Kraft nur in der Melodie gebündelt und geformt einen gültigen Status erreichen kann.
In dieser ganz grundsätzlichen und kategorialen Bedeutung will Wagner den Begriff der ,,Melodie" verstanden wissen, und nicht in der engen der ,,schönen Opernmelodie".
3. 2. Ihren Ursprung findet jede Melodie in der reinen ,,Tanzform", doch während die gängige italienische Opernarie nicht über diesen Stand hinauskommt, entwickeln Haydn und vor allem Beethoven eine spezifische instrumentale Kompositionspraxis, in der kleinste Bausteine von Tönen ,,zu immer neuen Gliederungen, bald in konsequenter Reihung stromartig anwachsend, bald wie im Wirbel sich zerteilend" (S. 90) zusammengefügt werden. Was wir etwa als eine aus motivisch-thematischer Arbeit gewonnene Komposition ansprechen, drückt Wagner, konsequent seinen melodischen Formbegriff anwendend, so aus: ,,Der ganze neue Erfolg dieses Verfahrens war somit die Ausdehnung der Melodie durch reichste Entwickelung aller in ihr liegenden Motive zu einem großen andauernden Musikstücke, welches nichts anderes als eine einzige, genau zusammenhängende Melodie war." (ebd.)
Für unsere Belange ist festzuhalten, daß die Melodie durch das symphonische Prinzip eine größere ,,Ausdehnung" bei gleichzeitig wachsender Kohärenz erfährt.
3. 3. Die Mittel dieser Art der Tonbehandlung sind auf die Opernlibretti bisher nicht anwendbar gewesen, weil deren Worte in ihrer logisch-konsequenten Abfolge keinen Spielraum für ,,Trennung, Wiederholung, neue Anreihung usw." (S. 80) bieten. Aber auch auf der Seite der ,,absoluten" Musik besteht ein Defizit, nämlich das der Legitimierung für das ,,so unerschöpfliche Ausdrucksvermögen der symphonischen Musik". Die Lösung aus beiden Dilemmata bringt die szenisch-dramatische Aktion, die für die Musik die Frage nach dem ,,Warum?" beantwortet, vom Dichter aber - der sich Möglichkeiten der symphonischen Musik bewußt ist - ganz frei und ungebunden geschaffen werden kann. So erhält der Dichter die Rolle des Führers, der dem Musiker versichert: ,,Hand in Hand mit mir, kannst du nie den Zusammenhang mit dem jedem Menschen Allerbegreiflichsten finden; denn durch mich stehst du jederzeit auf dem Boden der dramatischen Aktion, und diese Aktion im Moment der szenischen Darstellung ist das unmittelbar Verständlichste aller Gedichte. Spanne deine Melodie kühn aus, daß sie wie ein ununterbrochener Strom sich durch das ganze Werk ergießt." Dabei soll der Musiker ausdrücken, was dem Dichter auszusprechen verwehrt ist: ,,In Wahrheit ist die Größe des Dichters am meisten danach zu ermessen, was er verschweigt, um uns das Unaussprechliche selbst schweigend uns sagen zu lassen; der Musiker ist es nun, der dieses Verschwiegene zum hellen Ertönen bringt, und die untrügliche Form seines laut erklingenden Schweigens ist die unendliche Melodie." (S. 92f.)
Durch die Rückbindung an das dramatische Gedicht ist also der als Form definierten Melodie der Inhalt als Legitimationsgrund substantiell beigegeben. Die emphatische Überhöhung, die Wagner dieser Melodie durch das Epitheton ,,unendlich" zuteil werden läßt, rückt den Begriff in die Nähe einer zeitlosen und unangreifbaren ästhetischen Kategorie, in der gleichsam alles musikalische Streben der Geschichte ihr Ziel gefunden hat.
3. 4. Umso weniger darf aus den Augen verloren werden, daß Wagner an diese Passage, die durch den weihevollen sprachlichen Gestus hervorgehoben ist, unmittelbar Hinweise auf ihre Aus- führbarkeit in der Praxis anschließt.
Diese Hinweise sind in zwei Bereiche zu teilen, zunächst eher allgemeine Bemerkungen zur Rolle des Orchesters und zum Charakter der Melodie, gefolgt von noch konkreteren Forderungen. Für unser gegenwärtiges Interesse soll außerdem nur referiert werden, was explizit mit der ,,unendlichen Melodie" zusammenhängt.
3. 4. 1. ,,Notwendig wird der Symphoniker nicht ohne sein eigentümlichstes Werkzeug diese Melodie gestalten können; dieses Werkzeug ist das Orchester." (S.93) Dessen Rolle wird - in groben Zügen, entsprechend dem Charakter des Aufsatzes - dahingehend bestimmt, daß es den ,,bestimmten Ausdruck der Melodie einzig ermöglicht, andererseits die Melodie selbst im nötigen ununterbrochenen Flusse erhält" (ebd.).
Wir halten das Diktum vom ,,ununterbrochenen Flusse" fest.
Im Folgenden will der Autor auch ,,das Charakteristische der von mir gemeinten, großen, das ganze dramatische Tonstück umfassenden Melodie [...] bezeichnen" und greift dazu ,,von neuem zur Metapher", und zwar der bekannten Metapher von der ,,großen Waldesmelodie" (S. 94).
Von ihr wollen wir auf unserer imaginären Merktafel nur folgendes verzeichnen: ,,Diese Me- lodie wird ewig in ihm nachklingen, aber nachträllern kann er sie nicht" (S. 95)
3. 4. 2. In einem zweiten Schritt nennt Wagner einige der ,,unendlich viele[n] technische[n]Details" der Ausführung, deren vollständige Darstellung versagt bleibt a) der Intention der Schrift wegen (sonst ,,müßte ich geradewegs in meinen unfruchtbaren ehemaligen Versuch zurückfallen"), b) weil man sich dem Punkt nähert, ,,wo schließlich nur das Kunstwerk selbst noch vollen Aufschluß geben kann." (S. 95f.)
Konkret fordert er eine Aufgabe der Teilung der Musik in Rezitativ und Arie und ein Ende der verbreiteten Praxis, ,,eine ergreifend schöne, edle Phrase plötzlich in die stabile Kadenz mit den üblichen zwei Läufern und dem forcierten Schlußtone" (S.98) ausgehen zu lassen.
Wir wollen hier festhalten, daß der pathetischen Proklamation von der ,,unendlichen Melodie" zwar Ausführungen über ihre praktische Realisierbarkeit direkt folgen, mit Zunahme der Kon- kretheit ihrer Forderungen aber der ,,hohe" sprachliche Ton verlassen wird und mit ihm auch das Bedeutungsfeld ,,ewig, ununterbrochen, unendlich". Auf diese Weise erhält der Absatz mit dem vieldeutigen Terminus auch rückwirkend einen überhöhten Charakter.
4. Die einzelnen Konnotationen unseres Begriffes - von den kompositionstechnischen über die transzendenten bis zu den geschichtsphilosophischen - sind ausführlich und klar gegliedert im HMT2 verzeichnet. Wie konnte der Terminus zu so unterschiedlichen Bedeutungszusammenhängen gelangen?
4. 1. Zum einen ist natürlich das Adjektiv ,,unendlich" selbst in Richtung ,,ohne Unterbrechung und Zäsur" ebenso interpretierbar wie in Richtung ,,der Mode enthoben, zeitlos" und kann insofern für eine Darstellung von Wagners Kompositionspraktiken genauso herhalten wie für eine Darstellung seiner geschichtsphilosophischen Vorstellungen usw.
Und auch das Substantiv ,,Melodie" kann - trotzdem Wagner es als grundsätzliche Kategorie der Form verstanden wissen will - weiterhin als ein abgesonderter Teil der musikalischen Gestalt neben Harmonik und Rhythmus betrachtet werden. Diether de la Motte schreibt in diesem Sinne zum Beispiel: ,,[...] die unendliche Melodie Wagners ist anonym gewordene Melodik. Dagegen ist die Harmonik das Gebiet seiner produktiven Phantasie."3
4. 2. Schließlich soll die Vermutung ausgesprochen werden, daß dieser verschränkte Begriff nicht nur bewußt gewählt, sondern in seiner verschränkenden Kraft vielleicht sogar kaum ersetzbar ist.
4. 2. 1. Wie oben ausgeführt ist für Wagner die Melodie gleichsam ein Synonym für musikalische Form. Soll diese nicht leer sein und nur ,,hohle" Trällerliedchen hervorbringen, muß sie an einen Inhalt (und zwar einen ,,rein-menschlichen") rückgebunden sein. Um diese Unteilbarkeit der Kategorien geht es Wagner in erster Linie, doch die Erläuterung ihrer Verquickung stellt für ihn ein großes Problem dar: ,,In meinen theoretischen Arbeiten hatte ich versucht, mit der Form zugleich den Inhalt zu bestimmen; da dies, eben in der Theorie, nur in abstrakter, nicht konkreter Darstellung geschehen konnte, setzte ich mich hierbei notwendig einer großen Unverständlichkeit oder doch Mißverständlichkeit aus. Ich möchte deshalb, wie ich oben erklärte, ein solches Verfahren, auch in dieser Mitteilung an Sie, um keinen Preis gern wieder einschlagen. Dennoch erkenne ich das Mißliche, von einer Form zu sprechen, ohne ihren Inhalt in irgendeiner Weise zu bezeichnen." (78f.)
4. 2. 2. Wenn wir einen weiteren Zusammenhang betrachten als die oben referierte, um die Proklamation der ,,Unendlichen Melodie" gruppierte Passage, dann erfahren wir, daß Wagner zunächst vom Inhalt seiner Musikdramen, also von den Dichtungen, ausgehen will, um später zur Beschreibung der Form zu gelangen: ,,Lassen Sie mich Ihnen daher ein weniges über diese Dichtungen sagen; hoffentlich macht mir dies möglich, Ihnen alsdann nur noch von der musikalischen Form zu sprechen, auf die es hier so sehr ankommt und über die sich so viele irrige Vorstellungen verbreitet haben." (ebd.) Auf diese angekündigten Ausführungen folgt dann tatsächlich die vorne (unter Punkt 3) dargestellte Beschreibung der Melodie als Formbegriff, die ja wieder umgekehrt auf den Inhalt als ihre dramatische Daseinsberechtigung zurückgreifen muß.
Und an genau diesem Punkt des Sich-im-Kreis-Drehens um Form und Inhalt und der Ein- sicht, daß beider Verschränktheit mit logischen Begriffen und Worten nur ganz unzureichend darstellbar ist, tritt das Diktum von der ,,Unendlichen Melodie", das in seiner schillernden Mehrdeutigkeit und seinem Verweis ins Transzendente zugleich eine Art Kapitulation der Theoriesprache vor der unfaßbaren, ewigen Kunst darstellt.
4. 2. 3. Sehr bezeichnend ist in dem Zusammenhang Form-Inhalt die dem Diktum unmittelbar folgende Wendung ins Poietisch-technische, in das Handwerk, das ja nicht mehr, aber auch nicht weniger leistet, als den zunächst amorphen Inhalt in Form zu bannen und das insofern seinen gewichtigen Anteil an der ,,Unendlichen Melodie" hat.
5. Die vielfältige und unterschiedliche Verwendung unseres Begriffes in der Wagner-Literatur scheint also fast unvermeidlich gewesen zu sein. Ein Verzicht auf den Terminus oder eine genaue Bestimmung seines jeweils gemeinten Bedeutungsgehaltes können für die Analyse des Werkes sicher Mißverständnisse und Fehlinterpretationen vermeiden. Doch muß uns bewußt bleiben, daß Wagner für die Erklärung seiner Werke das Wort von der ,,Unendlichen Melodie" offensichtlich für geeignet hielt. Und tatsächlich drückt es ja Wesentliches von seinem geschichtsphilosophischen Selbstverständnis wie gleichzeitig von seinem Konzept des Musikdramas und dessen praktischer Gestaltung aus.
[...]
1 Alle Zitate aus: Richard Wagner. Zukunftsmusik. In: ders., Dichtungen und Schriften, Jubiläumsausgabe in zehn Bänden, hg. von Dieter Borchmeyer, Bd. 8, Frankfurt/M. 1983.
2 siehe Artikel ,,Unendliche Melodie" von Fritz Reckow in: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, hg. von H. H. Eggebrecht, Wiesbaden 1971ff.
3 Diether de la Motte, Harmonielehre, Kassel usw.3 1980, S. 212
- Citation du texte
- Gerald Fink (Auteur), 1997, Zu Wagners Begriff der "unendlichen Melodie", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/94938
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