Freie Universitāt Berlin
FB Philosophie und Sozialwissenschaften II/ Institut für Islamwissenschaft PS 29301 Einführung in die muslimischen Staats- und Herrschaftstheorien
Referent: Christofer Burger
Al-Fārābī war der zweite bekannte Philosoph des Islam nach al-Kindi. In der islamischen Philosophie wird er als “zweiter Lehrer” nach Aristoteles bezeichnet. Er war nicht nur ein Pionier bei der Naturalisierung der Griechischen Philosophie, seine Lehren müssen auch als erster Höhepunkt in der Entwicklung des islamischen Rationalismus betrachtet werden.
Biographie des AL-FĀRĀBĪ
Über das Leben des Al-Fārābī haben wir keine zuverlāssigen Quellen, spātere Autoren, vor allem Ihn Abi Uşaybi’a, bieten uns wenig hilfreiche und glaubwürdige Information.
Als gesichert gelten die folgenden Lebensdaten:
- Abu Naşr Muhammad b. Ţarhān Al-Fārābī wurde ca. 870 n.Chr. in Wasij im Bezirk Fārāb in Turkestan geboren. Sein Vater war ein türkischer Söldner im Dienste der abbassidischen Kalifen.
- Er verbrachte den größten Teil seines Lebens in Bagdad, wo er im Umfeld chrisüicher syrischer Gelehrter studierte und schließlich selbst ein hohes Ansehen als Universalgelehrter erlangte.
- Die letzten ca. 10 Jahre seines Lebens verbrachte er am Hof des hamdanidischen Emirs von Aleppo, Sayf al-Dawla. Hier starb er im Jahre 950.
Über seine nāheren Lebensumstānde ist widersprüchliches und unglaubwürdiges zu lesen, aber es besteht ein gewisser Konsens über die folgenden Aussagen:
Al-Fārābī war einfacher türkischer Herkunft, sein Vater diente wohl in der Leibwache der Kalifen. Seine wirtschaftliche Lage zwang ihn dazu, sich mit harter Arbeit, möglicherweise als Gārtner, seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Aber auch, nachdem er zu wissenschaftlichem Ansehen gekommen war, schlug er daraus keinen Profit, sondern führte ein Leben, das eher mit dem eines kynischen Philosophen zu vergleichen ist, als mit dem eines berühmten Intellektuellen. Al-Fārābī hatte in Bagdad einen Kreis von gebildeten Anhāngern und Schülern; ein eintrāgliches öffentliches Amt nahm er hier aber nicht an.
Selbst am Hofe des berühmten Māzens Sayf al-Dawla begnügte er sich mit einem bescheidenen Lohn, der ihm ein sorgenfreies, aber keineswegs opulentes Leben ermöglichte. Daß er dem Ruf nach Aleppo folgte, ist daher neben dessen Ruf als Hort der Künste und Wissenschaften wohl vor allem der Tatsache zuzuschreiben, daß Sayf al-Dawla in Aleppo den imamitischen Schiismus als offizielle Religion eingeführt hatte, dem Al-Fārābī vermutlich anhing.
Einflüsse, Traditionen und Quellen
Viele zentrale Doktrinen der Imāmiyya fügen sich nahtlos in die politische Philosophie Al-Fārābīs. Neben der Imāmiyya steht Al-Fārābī vor allem in der Tradition der alexandrinischen Schule des Neuplatonismus. Hier war das Erbe Platons und Plotins sowohl mit dem Christentum als auch (teilweise) mit der Lehre des Peripatos versöhnt worden. Diese Schule hatte sich außerdem nicht auf Plotins Metaphysik/Mystik und Ästhetik beschrānkt, sondern auch die Politik und praktische Philosophie nie aus den Augen verloren.
Als Lehrer Al-Fārābīs wird vor allem der syrische Christ Yuhannā ibn Haylān genannt, über die Entwicklung der neoplatonischen Philosophie nach der Schließung der Akademie von Alexandria im 7. Jh. bis Al-Fārābī ist praktisch nichts bekannt.
Die POLITISCHE Lage zu Lebzeiten AL-FĀRĀBĪS
Der Niedergang des abbassidischen Kalifats hatte bei der Geburt Al-Fārābīs schon begonnen. Separatistische Bewegungen in Persien, Transoxanien und Kurdistan stellten die Autoritāt des Kaufen in Frage, ebenso heterodoxe Strömungen wie die Mu‘taziliten und Schiiten.
Die Macht verlagerte sich auf „mobilere“ Ämter wie wazir und amir, die je nach politischer Konstellation verliehen wurden, wāhrend das lebenslange Kalifat immer weniger die realen Machtverhāltnisse widerspiegelte. So wurde 861 der Kalif Al-Mutawwakil von einem türkischen Offizier ermordet.
Im Jahre 873 starb der elfte Imām , kurz darauf verschwand sein Nachfolger. So entstand der imami- tische „Zwölfer“ Schiismus mit seiner Lehre vom verborgenen Imamat.
Zwischen 890 und 930 konsolidierte sich die innenpolitische Herrschaft der Kalifen etwas. Gleichzeitig vermischten sich aber religiöse mit sozialen und ethnischen Konflikten. Es herrschte eine paranoide Angst vor Andersglāubigen, was sich in massivem Druck auf Schiiten, Christen, Juden und Sufis auswirkte. Erst nach der Machtergreifüng nichtarabischer Völker, zunāchst der ismailitischen Buyiden 945 entwickelte sich ein Klima der religiösen Toleranz
Die Bedeutung der Politik in AL-FĀRĀBĪS Schriften
Seine Staatstheorie entwickelt Al-Fārābī vor allem in den drei Büchern "al-madina al-fādila", "al-siyāsāt al-madaniyya" und "tahşil al-sa‘āda". Sie aUe beschāftigen sich zunāchst ausführlich mit Metaphysik, Physik und Anthropologie, bevor sie nach unserem Verstāndnis politische Fragen erörtern. In keinem dieser Werke interessiert sich Al-Fārābī für die Kunst der Staatsführung, für institutioneUe oder organisatorische Fragen.
Politik ist für ihn vielmehr eine koUektive Ethik, die zentrale Disziplin der praktischen Philosophie. Sie begründet sich nicht auf soziologischen oder gar empirischen Erkenn missen, sondern wird aus der Metaphysik hergeleitet.
Grundzüge seiner Philosophie
Al-Fārābī glaubte an die letztendliche Einheit der Wahrheit, und daß diese sowohl in den offenbarten Quellen des Islam, als auch bei Platon und Aristoteles zu finden sei. Seine Philosophie stellt daher eine Synthese dieser drei Quellen dar.
In der Tradition des Neuplatonismus entwickelte Al-Fārābi eine metaphysische Hierarchie der Welt, an deren Spitze Gott, das Eine, der erste Grund steht. Es folgen die immateriellen Wesen, die materiellen aber perfekten Himmelskörper, der Mensch und dann der Rest der Welt.
Der Mensch ist als einziges Wesen weder in der Materie verhaftet noch von selbst perfekt. Er hat das Potential, die materielle Welt zu überwinden, darin liegt seine Bestimmung und sein Glück. Handlungen, die dazu führen sind gut und tugendhaft, die anderen böse und lasterhaft. Um zu erkennen, welche Handlungen gut sind, muß der Mensch also eine Vorstellung von der Natur des Universums haben.
Zur Erkenntnis Stehen dem Menschen grundsātzlich drei Organe zur Verfügung: Seine Sinne, seine Vorstellungskraft und seine Vernunft.
Der Philosoph, erfāhrt den Aufbau der Welt und damit auch Tugenden und Taster durch rationale Erkenntnis. Er kann sie einigen seiner Anhānger durch logische Beweisführung beibringen.
Denjenigen aber, die zu solch theoretischer Erkenntnis nicht imstande sind, muß die Wahrheit durch Beispiele und Bilder nahegebracht werden. Das ist die Aufgabe der Religion.
Sie gründet nicht auf rationaler Erkenntnis, sondern auf der Offenbarung. Analog zum Philosophen, dessen Verstand so hoch entwickelt ist, daß er sich mit dem Göttlichen vereinigt, gewinnt der Prophet seine Einsicht durch die Perfektion seiner Vorstellungskraft, die sozusagen intuitiv und bildhaft unter Umgehung des Verstandes erkennt. Die Visionen, in denen der Prophet die Offenbamng erhālt, sind für die Masse verstāndlich, aber nicht zu unterscheiden von den bloßen Halluzinationen eines Verrückten. Außerdem fehlt dem reinen Propheten die Fāhigkeit, seine Offenbarung richtig zu interpretieren und daraus Handlungsanweisungen zu entwickeln. Eine wahre Religion kann also nur von einem Prophet-Philosophen begründet werden.
Es kann durchaus mehrere wahre Religionen geben: Die letzte Wahrheit, die sie abbilden, ist zwar immer die selbe, aber die unterschiedlichen Völker der Erde benötigen unterschiedliche Metaphern, um sie zu verstehen.
Der perfekte Herrscher
Wenn dieser Prophet-Philosoph außerdem noch über die Qualitāten eines Herrschers verfügt, so kann er ein perfektes Gemeinwesen gründen; er ist „der wahre Imam“, der perfekte Herrscher über die Stadt, die Nation und die ganze Welt.
Nachdem die wahren Gesetze und die wahre Religion also einmal von diesem Prophet-Philosoph-Herrscher- Gesetzgeber geschaffen wurden, kann bei seinem Nachfolger auf das Prophetentum verzichtet werden. Um die Religion und die Gesetze weiterzuführen und richtig zu deuten, benötigt man aber einen Mann, der metaphyische Einsicht mit Herrscherqualitāten vereinigt, den Philosophenkönig Platons. Nur er versteht einerseits die Gesetze richtig und kann andererseits für ihre Durchsetzung sorgen. Sollte ein solcher Mann nicht zu finden sein, so kann auch ein Philosoph zusammen mit einem König oder ein Rat von mehreren besonders Qualifizierten herrschen. Wenn aber die Philosophie keinen Anteil an der Regierung hat, ist die Stadt verloren.
Die tugendhafte Stadt
Der Mensch als politisches Wesen kann seine Perfektion nur in der Gemeinschaft erreichen. Nur wenn alle Bürger einer Stadt tugendhaft handeln, d.h. so Zusammenarbeiten, daß jeder sein Potential voll entwickeln kann, führt das zur Glückseligkeit, dem Ziel des menschlichen Handelns.
Dazu ist es notwendig, daß alle Menschen in der Stadt sich dieses Zieles bewußt sind, daß das Gesetz gerecht ist, richtig verstanden und befolgt wird, und daß jeder die Position im Gemeinwesen einnimmt, die seinen Fāhigkeiten entspricht. Die tugendhafte Stadt benötigt also eine wahre Religion (samt Gesetz) und einen perfekten Herrscher.
Er lehrt die Tugenden, legt das Gesetz aus und āndert es wenn nötig und weist jedem seine Stellung im Gemeinwesen zu. Diese Stellungen bilden eine Strenge Hierarchie: Die Fāhigsten dienen nur dem Herrscher und befehlen allen anderen. Andere gehorchen ihnen und befehlen wieder anderen. Die Unverstāndigsten dienen schließlich nur und haben niemandem zu befehlen.
Andere Staatsformen
Neben der tugendhaften Stadt gibt es verschiedene Arten von „unwissenden“ Stādten, die über das Universum und das Glück des Menschen nichts wissen und deshalb andere Ziele verfolgen, Z.B. Ruhm, Reichtum oder Macht. Al-Fārābi unterscheidet hiervon die „bösen“ Stādte, die zwar die wahre Bestimmung des Menschen kennen, sie aber nicht verfolgen. Ihre Bürger haben zwar die Ansichten der tugendhaften Stadt, aber das Verhalten der unwissenden Stādte.
Ferner gibt es Stādte, die einst tugendhaft waren, die aber vom rechten Weg abgekommen sind; entweder durch Verfālschung der Tehre oder weil die Bürger ihr nicht mehr gehorchten.
Schließlich gibt es Stādte, deren Gründer fālschlicherweise glaubten, eine Offenbarung erhalten zu haben. Ihre Handlungen gleichen denen der tugendhaften Stadt, aber ihre Ansichten sind falsch-auch diese Stādte haben keine Aussicht auf Glückseligkeit.
Al-Fārābi āußert sich mit keinem Wort über die Einordnung real existierender Staaten und Religionen in dieses Schema.
Historische Bedeutung und Bewertung
Al-Fārābī vollbrachte eine bemerkenswert schlüssige Synthese der klassischen Philosophie mit dem Islam, der Vernunft mit der Religion. Einen Schwachpunkt stellt dabei der Versuch dar, die islamische Vorstellung von Pa- radies und Hölle mit der platonischen Seelenwanderung zu vereinigen. Al-Fārābis persönlicher Verdienst ist schwer zu beurteilen, da seine unmittelbaren Quellen unbekannt sind.
Innerhalb des islamischen Rationalismus ist die politische Lehre Al-Fārābis wohl die kompletteste und eigenstāndigste. Für die spātere Entwicklung der sunnitischen Staatstheorie blieb sie aber bedeutungslos, da ihr vorgeworfen wurde, die göttliche Offenbarung der menschlichen Vernunft unterzuordnen.
Literatur:
(1) Farabi, Abu-Nasr Muhammad Ibn-Muhammad al-; Broennle, Paul (Hrsg.): Die Staatsleitung, Leiden 1904 ("al-siyāsāt al-madaniyya", Dt. von F. Dieterici)
(2) Farabi, Abu-'n-Nasr Muhammad Ibn-Muhammad Ibn-Tarhan al-; Walzer, Richard (Hrsg.): al- Farabi on the perfect state 1985 Oxford ("al-madina al-fādila" arab/engl. mit Kommentar)
(3) Pines, S.: Some Problems of Islamic Philosophy, in: Islamic Culture 11 (1937)
(4) Sherwani, H.K.: al-Farabi’s Political Theories, in: Islamic Culture 12 (1938), S.288-308
(5) Rosenthal, E.: The Place of Politics in the Philosophy of al-Farabi, in: Islamic Culture 29 (1955)
(6) Najjar, Farzi: Al-Fārābī on Political Science, in: The Muslim World 48 (1958), S.94-103
(7) Najjar, Farzi: Al-Fārābī’s Political Philosophy and Shi’ism, in: Studia Islamica 14 (1961)
(8) Dunlop, D.M.: al-Farabi’s Aphorisms of the Statesman, in: Iraq 14 (1952), S.93-117
(9) Artikel „al-Farabi“, „Imāmiyya“, in: Encyclopedia of Islam