Betrachtet man die heutige Welt, insbesondere ihr Leid, verursacht durch Kriege, Armut und Verfolgung, so beschleicht einen schnell ein Gefühl, dem Jean Paul bereits vor 200 Jahren einen Namen gab: Der Weltschmerz. Die „tiefe Traurigkeit über die Unzulänglichkeit der Welt.“ , schrieben die Gebrüder Grimm dazu in ihrem Deutschen Wörterbuch. Mit diesem Gefühl einher geht dann oft die Frage: Warum lernt der Mensch nicht aus der Geschichte und aus seinen Fehlern? In dieser Theseneinlassung möchte ich mich daher der Frage stellen, ob der Mensch als Schüler tatsächlich versagt hat.
Betrachtet man die heutige Welt, insbesondere ihr Leid, verursacht durch Kriege, Armut und Verfolgung, so beschleicht einen schnell ein Gefühl, dem Jean Paul bereits vor 200 Jahren einen Namen gab: Der Weltschmerz. Die „tiefe Traurigkeit über die Unzulänglichkeit der Welt.“1, schrieben die Gebrüder Grimm dazu in ihrem Deutschen Wörterbuch. Mit diesem Gefühl einher geht dann oft die Frage: Warum lernt der Mensch nicht aus der Geschichte und aus seinen Fehlern? In dieser Theseneinlassung möchte ich mich daher der Frage stellen, ob der Mensch als Schüler tatsächlich versagt hat. 55 v. Chr. veröffentlichte Cicero sein grundlegendes Werk zur Rhetorik „De Oratore“ - Über den Redner. Neben zahlreichen weiteren Aspekten, die eine gelungene Rede und einen begabten Redner ausmachen, beschäftigte sich Cicero auch mit der Bedeutung der Geschichte. Auch wenn im Volksmund heute vorrangig der vermeintlich lehrende Charakter der Geschichte in Erinnerung geblieben ist, so schrieb Cicero ihr doch weitaus mehr Attribute zu:
„Die Geschichte aber, die Zeugin der Zeiten, das Licht der Wahrheit, das Leben der Erinnerung, die Lehrmeisterin des Lebens, die Verkünderin alter Zeiten, durch welche andere Stimme als durch die des Redners wird sie der Unsterblichkeit geweiht?“2
Laut Cicero ist die Geschichte somit ungleich mehr als eine bloße Lehrmeisterin. Was aber ist Geschichte wirklich? Schlägt man im Duden nach, so findet man verschiedene Antworten auf diese scheinbar schlichte Frage: So sei Geschichte zum einen ein „politischer, kultureller und gesellschaftlicher Werdegang, Entwicklungsprozess eines bestimmten geografischen, kulturellen o. ä. Bereichs.“3, und darüber hinaus eine „wissenschaftliche Darstellung einer historischen Entwicklung“4. Geschichte könne aber auch eine „mündliche oder schriftliche, in einen logischen Handlungsablauf gebrachte Schilderung eines tatsächlichen oder erdachten Geschehens, Ereignisses“5, schlicht, eine „Erzählung“ sein.
Cicero hatte also schon vor mehr als 2000 Jahren verstanden, was Geschichtslehrer ihren Schülern heute noch vermitteln müssen. Geschichte ist vielschichtig, mehrdimensional und, davon ist man heute überzeugt, vor allem ist sie subjektiv. Das, was jedes Individuum für sich selbst als Geschichte begreift ist vielmehr das individuelle Geschichtsbewusstsein, das man in verschiedene Dimensionen einteilen kann. Folgt man Hans-Jürgen Pandels Einteilung, so formt sich ein jedes Geschichtsbewusstsein durch ein individuelles Verständnis von Zeit, Wirklichkeit, Historizität, Identität, Politik und Moral.6 All diese Wahrnehmungen unterliegen einem individuellen Blickwinkel, einer subjektiven Perspektive. Ein einziges Ereignis wird somit zwangsläufig von jedem Individuum verschiedenartig empfunden, verarbeitet, erinnert und verschiedenartig reproduziert.
Die Reproduktion ist ein elementarer Bestandteil der Geschichte, deren Wichtigkeit auch Cicero seiner Zeit erkannte, als er schrieb, die Geschichte würde durch die Stimme „des Redners (...) der Unsterblichkeit geweiht.“ Alles, was wir als Geschichte begreifen, wurde von Individuen erinnert und reproduziert. Von Siegern und Besiegten, von Herrschern und Beherrschten, von Beobachtern und Teilhabern. Geschichte ist also keinesfalls ein statisches, übernatürliches Wesen, sondern viel mehr ein Flickenteppich aus abertausenden, subjektiven Wahrnehmungen, reproduziert aus subjektiven Beweggründen. Als ein anschauliches, und leider top aktuelles, Beispiel könnte der heutige Antisemitismus dienen. Man stelle sich eine Geschichtsstunde zum Thema des Holocaust vor, in der ein arabischer Schüler im Laufe des Unterrichtsgesprächs „Tod des Juden“ ausruft. Aufgrund des Völkermords an den Juden unter den Nationalsozialisten stellt der Antisemitismus im deutschen Bewusstsein einen der schlimmsten moralischen Verstöße dar. Und auch wenn die Verurteilung einer jeden Form der Diskriminierung als selbstverständlich gelten und durch die Lehrkraft auch so behandelt werden sollte, steht man vor einem Problem: Der Antisemitismus den der aus Palästina stammende Jugendliche vertritt, ist zwar im Kern kein anderer als jener, den man auf der ganzen Welt finden würde; er ist jedoch aus einem grundsätzlich unterschiedlichen Bewusstsein entstanden. Die Erfahrungen, die dieser Junge im Gazastreifen mit einem scheinbar übermächtigen Gegner, mit Israel, gemacht hat, sind vollkommen andere als die, die ein deutscher Junge möglicherweise mit einem Juden gemacht hat. Eine Entschuldigung ist dies ganz gewiss nicht, aber möglicherweise kann man ein gewisses Verständnis für die individuelle Wahrnehmung des Schülers aufbringen.
Ein weiterer Aspekt von Geschichte ist auch das individuelle Geschichtsbild, das ein elementarer Bestandteil eines jedes Weltbildes ist und sich in folgender Frage zusammenfassen lässt: Wozu das alles? Für die Beantwortung dieser Frage liefert die Geschichtswissenschaft unterschiedlichste theoretische Ansätze: Das teleologische Bild beispielsweise basiert auf der Vorstellung, dass die Geschichte zwangsläufig auf einen bestimmten Zweck zusteuert, sei es das „jüngste Gericht“ oder auch die im marxistischen Weltbild zwangsläufig resultierende „klassenlose Gesellschaft“. Diesem bestimmten Zweck, auf den alles zusteuert, kann entweder die Vorstellung des Kulturoptimismus zugrunde liegen, der Vorstellung also, dass die Welt sich stetig und zwangsläufig fortschreitend verbessere, oder der gegenteiligen Überzeugung, dem Kulturpessimismus, unterliegen; der Vorstellung, dass die Welt sich stets zum Schlechteren entwickeln würde. Auch die Vorstellung, dass Geschichte vorherbestimmt sei, alles also Schicksal sei, oder aber die Vorstellung, dass es eine übernatürliche, göttliche Instanz gebe, die in Geschehnisse aus bestimmten Gründen eingreife, die sogenannte Heilsgeschichte, sind weit verbreitet. In beiden dieser Geschichtsbilder wird der Einzelne eher als Unmündiger wahrgenommen, der kaum eingreifen kann und sich somit Entwicklungen fügen muss. Dem gegenüber steht das Geschichtsbild des freien Willens, das davon ausgeht, dass der Einzelne durch seine Taten den Verlauf der Geschichte verändern kann - Beispiele sind in diesem Geschichtsbild meist herausragende Persönlichkeiten, die durch ihr Wirken tiefgreifende Veränderungen auslösten. Da diese Persönlichkeiten jedoch meist keinen festgelegten Mustern folgen, sondern stets individuelle Beweggründe haben, ist es in diesem Geschichtsbild ausgesprochen schwer Prognosen für einen möglichen Verlauf zukünftiger Ereignisse zu erstellen. Ein, von Cicero angesprochenes Lernen aus der Geschichte, gestaltet sich im Geschichtsbild des freien Willens als ausgesprochen schwierig. Dem gegenüber steht das zyklische Geschichtsbild, das davon ausgeht, dass sich Prozesse in Kulturen zwangsläufig und stets wiederholen, gleich den Entwicklungsstadien des Menschen von Geburt, über Kindheit, Adoleszenz, Blütezeit, Greisenzeit und schließlich, zwangsläufig, den Tod. Ich denke, dass wir stets von einem zyklischen Geschichtsbild ausgehen, wenn wir, zumeist zynisch, davon sprechen, dass der Mensch als Schüler versagt, da die Geschichte, insbesondere ihre tragischen Ereignisse, sich stets wiederholt.
Aber wiederholt Geschichte sich tatsächlich? Mark Twain sagte einst: "Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich." Die großen Motive mögen sich zwar ähneln, aber die Geschehnisse sind nie dieselben. In einer Welt, die in unserer Wahrnehmung immer komplexer und unübersichtlicher wird, ist der Wunsch nach einer Spielanleitung nachvollziehbar und die Geschichte kann dabei als eine Chance verstanden werden. Wenn wir uns also fragen, ob wir aus Geschichte lernen können, dann sollte die Antwort lauten: Ein Blick in die Vergangenheit kann vor allem den Blick für die Gegenwart schärfen. Wenn man Prozesse der Vergangenheit betrachtet, können dadurch eventuell unterschiedliche Prognosen für eine mögliche Zukunft erstellt werden, indem man Phänomene vergleicht und Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeitet. Doch wie es schon in Fragment 91 der Fragmente der Vorsokratiker heißt: „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.“7 Geschichtliche Ereignisse anhand bereits Geschehenem prophezeien zu wollen, ist somit meiner Meinung nach illusorisch und eine solche Prophezeiung gliche aufgrund der schier unzählbaren zu berücksichtigen Faktoren der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen.
Es liegt demnach in der Natur der Sache, dass der Schüler versagt. Doch vielleicht sollte ein Urteil, im Angesicht einer solch offenkundigen Aussichtslosigkeit des Vorhabens, weniger harsch ausfallen und der Überzeugung Thomas Edison folgen - der schrieb nämlich über das Scheitern: „Ich bin nicht gescheitert - ich habe 10.000 Wege entdeckt, die nicht funktioniert haben.“8
[...]
1 http://woerterbuchnetz.de/cgi- bin/WBNetz/call_wbgui_py_from_form?sigle=DWB&mode=Volltextsuche&firsthit=0&textpattern=&lemmapat tern=weltschmerz&patternlist=L:weltschmerz&lemid=GW17031&hitlist=51348531 (abgerufen am 10.09.2018)
2 http://www.gottwein.de/Lat/CicDeOrat/de_orat02de.php (abgerufen am 10.09.2018)
3 https://www.duden.de/rechtschreibung/Geschichte
4 Ebd.
5 Ebd.
6 Vgl. Hans-Jürgen Pandel, Dimensionen des Geschichtsbewußtseins. Ein Versuch, seine Struktur für Empirie und Pragmatik diskutierbar zu machen , in: Geschichtsdidaktik. 12, Nr. 2, 1987, S. 130-142.
7 http://www.zeno.org/Philosophie/M/Heraklit+aus+Ephesus/Fragmente/Aus:+Über+die+Natur (abgerufen am 10.09.2018)
8 http://zitate.net/thomas-alva-edison-zitate (abgerufen am 10.09.2018)
- Citation du texte
- Kristina von Kölln (Auteur), 2018, "Historia magistra vitae" (Cicero). Wäre die Geschichte aber tatsächlich die Lehrmeisterin des Lebens, so hätten sich die Menschen bislang als schlechte Schüler erwiesen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/948617
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