Inhalt
I. Einleitung
II. Das autobiographische Ich im Spiegel der Blendung
a) Das Ich zwischen Traum, Buch und Wirklichkeit
b) Das Ich zwischen Kind und Mann
c) Der autobiographische Eigenkommentar zur Blendung
III. Ergebnis
Literaturverzeichnis
Die Siglen bezeichnen im einzelnen:
GZ - Die gerettete Zunge
FO - Die Fackel im Ohr
AS - Das Augenspiel
B - Die Blendung
Gehe nicht nach aussen, kehre in dich selbst ein,
im inneren Menschen wohnt die Wahrheit
Augustinus, De vera religione
I. Einleitung
Elias Canettis Autobiographie besteht aus drei Bänden: Der erste Band, erschienen 1977, trägt den Titel Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. Sie umfaßt die autobiographisch erinnerte Kindheit und Jugend der Jahre 1905 - 1921. 1980 folgte Die Fackel im Ohr.
Lebensgeschichte 1921 - 1931 und 1985 der abschließende Band Das Augenspiel.
Lebensgeschichte 1931 - 1937. Alle drei Bände bestehen aus jeweils fünf Teilen, wobei jeder Teil den übergeordneten Rahmen für eine Reihe von Kapiteln bildet. Während im ersten Band die Titelwahl das autobiographische Geschehen noch ausschließlich nach Orten und erzählten Zeiträumen einteilt, etwa Rustschuk 1905 - 1911, so werden im zweiten Band thematische Ordnungsaspekte an erste Stelle gesetzt, etwa Die Schule des Hörens. Wien 1926 - 1928 und im letzten Band fehlen die Verweise auf Zeit und Ort ganz.
Der Autobiograph Canetti erinnert sich an sein Leben aus „epischer Distanz"1, viele der Szenen sind gestaltet wie in einem Roman, die erinnerten Personen sprechen häufig in direkter Rede, werden wortgetreu und lebendig wiedergegeben, so dass der Leser mit in die Szenen hineinversetzt wird.
Die Anlage der Autobiographie auf drei Bände bewirkt für den Leser eine dynamische Gliederung: Die Lebensgeschichte wird unterbrochen und wiederaufgenommen.. Auf inhaltlicher Ebene werden Zäsuren erkennbar, in Wende- und Höhepunkten dynamisiert sich Elias Canettis Lebensgeschichte.
Den Auftakt bildet Die gerettete Zunge, die Erzählung reicht vom bulgarischen Rustschuk, dem Ort der frühesten, traumhaften Erinnerung an die Bedrohung der Zunge bis nach Zürich, dem verworfenen Paradies. Im ersten Band wird der Konflikt zwischen dem Kind Elias Canetti, dem frühen autobiographischen Ich, und seiner Mutter zugrunde gelegt.
Mit dem Umzug in das von Inflation und Ohnmacht gekennzeichnete Frankfurt setzt der zweite Band ein; Canetti empfindet einen „brutalen Wechsel", einen „gewaltsamen Riß" (FO 9) zwischen dem schweizerischen Paradies seiner besten Jugendjahre und der Ankunft in der krisengeschüttelten Realität der deutschen Nachkriegsrepublik. Der zweite Band entfaltet das Konfliktpotential des erinnerten Ich in seinen wesentlichen Bildungsstationen und Erfahrungen; auf die Epoche des Sturm und Zwang folgen die Schule des Hörens und der Aufenthalt in Berlin, in dessen Gedränge der Namen Elias Canetti sich behauptet. Der letzte Teil - Die Frucht des Feuers - erzählt von der produktiven Umwandlung dieser Erfahrungen, der zermürbenden, kathartischen Niederschrift des Romans Die Blendung.
Mit den Auswirkungen des Romans auf den Autor beginnt der dritte Band der Autobiographie: „Kant fängt Feuer, so hießdamals der Roman, hatte mich verwüstet zurückgelassen." (AS 9)
Der dritte Band, der den kürzesten Zeitraum von noch sechs Jahren umfaßt, führt die Entwicklung zum Schriftsteller weiter, erzählt von der Bekanntschaft Canettis mit Robert Musil und Hermann Broch und schildert die Umstände der Veröffentlichung der Blendung. Der letzte Band beschließt die Lebensgeschichte mit dem Tod der Mutter Elias Canettis, Hera Canetti, der das Buch auch gewidmet ist.
1935 erscheint Die Blendung, Canettis erster und einziger Roman. 1937 endet die Lebensgeschichte, Canettis Spätwerk. Durch die Entscheidung, seine Lebensgeschichte nicht weiterzuführen, hat der Autor eine auffällige zeitliche Nähe von Roman und Autobiographie begründet und fast scheint es, als erübrige das Romanwerk, mit dem Canetti zum Dichter geworden ist, den weiteren autobiographischen Selbstentwurf.
Ein erster Blick auf Die Blendung bestätigt auch eine formalstrukturelle Verwandtschaft über die Gattungsgrenzen von Roman und Autobiographie hinaus. Canettis Frühwerk gliedert sich ebenfalls in drei Teile, die betitelt sind mit Ein Kopf ohne Welt, Kopflose Welt und Welt im Kopf.
Verschiedentlich ist auf die Verwandtschaft zwischen den romanhaft und autobiographisch verhandelten Themen in Canettis Poetik aufmerksam gemacht worden.
Die vorliegende Arbeit möchte der „Verankerung"2 solcher Themen in den erinnernden Aufzeichnungen des Schriftstellers nachspüren, versucht also Ähnlichkeiten zum Roman aufzuzeigen, welche die Lektüre der ersten beiden autobiographischen Bände als eine „Archäologie der Blendung"3 zulassen. Es stellt sich die Frage nach der identifikatorischen Nähe zwischen der Romanfigur Peter Kien und dem autobiographischen Selbstentwurf Canettis. Um die Verwandtschaft der beiden beweisen oder widerlegen zu können, soll also die Ich-Konstitution in der Autobiographie schrittweise rekonstruiert und mit der Figur des Peter Kien verglichen werden.
II. Das autobiographische Ich im Spiegel der Blendung
a) Das Ich zwischen Traum, Buch und Wirklichkeit
Der erste Band der dreiteiligen Autobiographie Die gerettete Zunge steht ganz unter den Vorzeichen des Spracherwerbs, der Lektüreerinnerung und einer mehrsprachigen, beständigen, weit angelegten Leseaufgabe Canettis von Kindesbeinen an. Die erste Begegnung mit der Schrift findet in Rustschuk statt. Hier weckt die väterliche Zeitungslektüre im kleinen Elias „eine unstillbare Sehnsucht nach Buchstaben" (GZ 38). Das anschließende Kapitel Der Mordanschlag schildert, wie das Mädchen Laurica dem fünfjährigen Jungen ihre Schulhefte und die darin geschriebenen Buchstaben vorenthält, von denen er stärker fasziniert ist als von allem, was er je gesehen hat. Seine unerhörte Bettelei um die Hefte bewirkt nichts, seinen Neid beantwortet Laurica mit der Quälerei eines schrecklichen Spiels, lockt ihn mit den Heften und entzieht ihm die begehrten Objekte solange immer wieder, bis das Kind beschließt, Laurica zu töten. Der Junge hat sich bereits mit der Axt bewaffnet, als der Großvater hinzutritt und Schlimmeres verhindern kann. Der anschließend zusammenkommende Familienrat befindet, so erinnert sich der autobiographische Erzähler, daßwegen dieses Mordversuchs „etwas sehr Schlechtes und Gefährliches in mir sein mußte." (GZ 42)
Noch vor der ersten Lektion im Lesen und Schreiben sind also die Buchstaben, aus denen sich später das literarische Universum des angehenden Schriftstellers zusammensetzt, dem Kinde zum Gegenstand größtmöglicher Faszination und Sehnsucht geworden. Sein Wunsch nach ihnen ist beängstigend grenzenlos und dabei so handlungsbestimmend, dass zur Stillung des Verlangens auch der Tod der Spielgefährtin in Kauf genommen wird.
Die ersten Bücher des Autobiographen werden dann die englischen Kinderausgaben klassischer Märchen und Abenteuerromane, welche der geliebte Vater dem gerade eingeschulten Sohn zum Geschenk macht. Eine tägliche Lektüre in den großformatigen und reich illustrierten Ausgaben beginnt, doch der Siebenjährige mag und beachtet die Bilder auf den Seiten gar nicht, die Lektüre ist hingegen so einprägsam, dass der Erzähler konstatiert: „Es wäre leicht zu zeigen, daßfast alles, woraus ich später bestand, in diesen Büchern enthalten war." (GZ 53) Diese Eindrücklichkeit veranschaulicht der Autobiograph anhand der bösen Träume, die er zu jener Zeit hatte und er wundert sich nachträglich: „Ich frage mich, wie es möglich war, Dantes Hölle für Kinder zu bearbeiten." (GZ 52) Der Erzähler thematisiert also die Ungewöhnlichkeit der kindlichen Lektüre; die naheliegende Frage nach der Kindgerechtheit derselben beantwortet er durch die Erwähnung des Traums und gibt auch die unmittelbare Sorge der Mutter wieder, solch ein Buch sei zu früh für ihn.
Die mütterlichen Bedenken lösen im kindlichen Ich jedoch unmittelbar die Furcht aus, der Vater werde jetzt keine Bücher mehr bringen und es lernt, seine „ [...] Träume zu verheimlichen." (GZ 53) Nun in die sehnsüchtig erwartete Phase des Bücher- und Buchstabenerwerbs gekommen, keimt im autobiographischen Ich gleich die Angst vor dem Verlust auf, die eigentliche Quelle einer eifersüchtigen Sorge um seine Bücher. In den Augen des Kindes geht die Bedrohung von der Mutter aus, anders als gegen das Mädchen Laurica kann sich der Protagonist gegen die erwachsene Frau aber nicht zum Kampf und zur gewaltsamen Durchsetzung der Wünsche rüsten, sondern mußdie unheimlichen Auswirkungen seiner Lektüre vor der Mutter verbergen.
Der Leser erinnert sich: Das Kind mußte schon einmal seinen Traum behüten. Im ersten Kapitel erinnert sich der Autobiograph an den bösen Traum, in dem die Zunge des Kindes mit einem Messer bedroht wird. Aus Angst schweigt das autobiographische Ich darüber. Der aufbewahrte Traum ist dem Ich noch unzugänglich, erst zehn Jahre später wird er von der Mutter mitgeteilt, die das Unbewußte für ihren Sohn in das Geschehen der Karlsbader Pension übersetzen wird (GZ 9).
So wird die Mutter zur aufklärenden, analysierenden Herrin des kindlichen Traumes.
In beiden Fällen bewahren, beschützen und verteidigen also die unaussprechlich gewordenen Träume des Protagonisten das, was überhaupt erst erzählt werden kann und wovon im Werk die Rede ist: Die Zunge symbolisiert das Sprachvermögen und die frühe Lektüre beinhaltet bereits alles, was das erzählte und erzählende Bewußtsein ausmachen wird, seine „geistige Substanz [...] das eigentliche, das verborgene Leben meines Geistes." (GZ 111) So wird der bewahrte Traum zum Symbol dafür, daßdem Autobiographen seine Erinnerung erzählerisch gelingen kann und gleichzeitig zum Kern seiner auktorialen Wirklichkeit. Der Autor, der nicht diskursenthoben außerhalb seines Werkes steht, sondern sich in ihm entwirft 4, entscheidet nämlich über Auswahl und Präsentation des Stoffes, er setzt die Traumsymbolik an eine exponierte Stelle, an den Beginn seiner Autobiographie und begründet damit eine „temporal strukturierte und dynamisierte, eben lebensgeschichtliche Wirklichkeit."5
Für den Text bedeutet dies die Mitlesbarkeit der Träume: „Der Traum ist die einzige Möglichkeit, das eigene Unbewußte in einer auslegbaren Sprache vor sich zu haben und zu lesen."6
Der Autobiograph Canetti wehrt sich freilich gegen eine analysierende Auslegung der frühkindlichen Träume und Ängste:
„Ich bin der Sache nie nachgegangen, vielleicht hatte ich eine Scheu davor, das Kostbarste, was ich an Erinnerung in mir trage, durch eine methodisch und nach strengen Prinzipien geführte Untersuchung zu zerstören." (GZ 18)
Der Traum aber gewinnt die Qualität einer Urszene, er ist „geboren aus einer Erfahrung der Gewalt und der Aggression gegen die menschliche Fähigkeit der Sprache."7
So ist Die gerettete Zunge die Geschichte einer buchstäblich traumatisierten Ich-Identität, die ihren Kern einem zerstörerischen Zugriff entziehen mußte, während sie zugleich ihre erinnerte, subjektive Wirklichkeit eben dieser Übersetzung verdankt und sich in ihr entwirft. In der Blendung findet sich derselbe Traum wieder. Im Roman erinnert sich Georges Kien daran, dass sein Bruder Peter die Masern hatte und für einige Zeit nicht sehen und vor allem nicht lesen konnte. Peter Kien schreit vor Verzweiflung über seine Blindheit und Georges packt die Angst vor der fremden Stimme: „Er dachte, dann kommt die Stimme und schneidet ihm die Zunge mit einem Taschenmesser ab." (B 455) Canetti hat seinen autobiographisch bezeugten Traum und auch die äußeren Umstände direkt in den Roman übertragen. Diese Kongruenz zeigt sich, wenn sich der Autobiograph an die selbst erlebte Kinderkrankheit erinnert: „Der Gedanke an Blindheit hatte mich verfolgt, seit ich in früher Kindheit an den Masern erkrankte und dabei während einiger Tage das Augenlicht verlor." (FO 111) Im Roman ist die Blindheit das Symbol der größtmöglichen Bedrohung des Büchermenschen Kien; er „schwor sich zu, sobald ihn Blindheit bedrohte, freiwillig zu sterben." (B 21) Blindheit bedeutet vor allem Verlust der Lektüre, wie Kiens Hinweis auf Eratostenes klar macht, vor dessen schwachen Augen die Buchstaben unleserlich werden, so dass er beschließt, sich zu Tode zu hungern.
Verlust der Sprache und der Bücher sind Motive, die in der Autobiographie Canettis ebenso wie in seinem Roman von zentraler Wichtigkeit sind. Analog zum autobiographischen Ich wird auch die Romanfigur Peter Kien von der Sorge um seine Bücher umgetrieben.
Der bibliomane Sinologe Peter Kien ist wahrhaft des Buches bedürftig. Verlässt er einmal sein Zuhause, die aus 25 000 Bänden bestehende Bibliothek, so trägt er auf der Straße immer eine Tasche mit einigen ausgesuchten Werken mit sich herum. Die Tasche stützt ihn im alltäglichen Leben, sie schützt ihn auch vor einem allzu nachgiebigen Umgang mit seiner einzigen Leidenschaft, vor einem übereilten Büchererwerb. Wie ein Masochist spaziert Peter Kien jeden Morgen von einer verschlossenen Buchhandlung zur nächsten und vergegenwärtigt sich dabei den Wert der mitgeführten Werke im Kontrast zu den „feilen und öffentlichen Büchern" (B 9). Die Bücher machen das eigentliche Wesen Kiens aus, er lebt zwischen ihnen, von ihnen und für sie. Seine Bibliothek ist seine Herkunft und seine Bestimmung; sie ist auch seine „Geliebte" (B 93), die er mit vermauerten Fenstern und mehrfach gesicherten Schlössern eifersüchtig gegen die Umwelt abriegelt.
Canettis Figur Peter Kien treibt die Sorge um seinen Bücherbestand. Das Kapitel Die Mobilmachung (B 88) schildert die Bemühungen des Sinologen, seine Bibliothek vor Therese zu schützen. In seiner Ansprache an die Bücher benennt er die Gefahr einer feindlichen Macht - gemeint ist die Ehefrau -, der er die Vornahme unerlaubter Bücherschiebungen unterstellt. Um weiteren Einflüssen und Verlusten in den Reihen seines Bücherheeres vorzubeugen, verfällt Kien nun auf die Idee, alle Bände umzudrehen, um Therese irrezuführen. Kiens Handlung ist die eifersüchtige Verteidigung seiner geliebten Bücher vor der Wegnahme durch die Frau. Sie spiegelt die autobiographisch erinnerten Geschehnisse des Canettischen Haushalts, in dem Elias die Bücher eben auch willkürlich vorenthalten wurden. In ihren Launen ist die Mutter unberechenbar und krankhaft mißtrauisch, willkürlich entzieht sie Elias manchmal seinen Liebeshort, die Bücher, die er immer und immer wiederliest.
Die Bibliothek wird in der Blendung zur Materialisierung einer Obsession, deren Ideal es ist, die Bücher in den Kopf zu nehmen8. Aufnehmen, Einverleiben, Verinnerlichen kennzeichnen also die Beziehung des Lesers Kien zu seinem Buch in Canettis Roman. Es ist ein absoluter Anspruch, den das Buch an den Leser stellt, jener wird wahrhaft von diesem beherrscht. Eine Wirklichkeit ohne Buch scheint mit einemmal undenkbar.
Die Beziehung zwischen Elias Canetti zu seinen Büchern nimmt sich ganz ähnlich aus.
Auch für das autobiographische Bewußtsein werden Lesenkönnen und Lesenmüssen zur existentiellen Eigenschaft, Literatur funktioniert nicht mehr als Methode der Vermittlung zwischen Ich und Welt, sondern wird zum egoistischen Selbstzweck und das Buch somit zum Liebesobjekt. Wie die manische Lektüre Peter Kiens, des besessensten aller Leser, der alles Gedruckte oder Geschriebene wie unter Zwang lesen muß, der sich den Buchstaben noch hingibt, wenn sie ihn schon aus den Büchern heraus zu geißeln begonnen haben (B 508), so hypnotisierend und narkotisierend erscheinen auch die Leseerfahrungen Canettis.
In seiner Jugendgeschichte erzählt er von seiner frühen, breit angelegten, andauernden Lektüre. Das Ich bildet sich durch eine obsessive Lektüre und füllt sich in faszinierend einmaligen Leseakten mit literarischer Wirklichkeit. Sein Lesen gewinnt unnatürliche Dimensionen durch die ununterbrochene, zwanghafte Wiederholung:
„Ich las die englischen Bücher, die ich von Manchester mitgebracht hatte, und es war mein Stolz, sie immer wieder zu lesen. Ich wußte genau, wie oft ich jedes gelesen hatte, einige darunter mehr als vierzigmal, und da ich diese schon auswendig kannte, galt das Wiederlesen nur noch einer Steigerung des Rekords." (GZ 103)
Die Autobiographie reflektiert die einzige Sorge des erinnerten Ich, die dem Bücherbestand der Welt gilt. „Was geschah, wenn ich alles gelesen hätte?" - in die vordergründig absurde Komik der Frage kleidet sich ein unmäßig ernstgemeinter Anspruch auf ein Leben mit der Literatur. Canettis eigene Leseerfahrungen, von denen seine Autobiographie erzählt, finden ihre Wiederkehr somit im unermüdlichen und mühseligen Lesen des Romanpaares Peter und Therese Kien, denn auch sie ist eine extreme Leserin. An ihrer Figur wird das Phänomen aber endlich zum Ausdruck einer Beschränktheit: "Ich lese jede Seite ein dutzendmal, sonst hat man nichts davon." (B 45)
Eine Poetik, die eine solche Transpersonalität ermöglicht, setzt die Verwandlungsfähigkeit des Menschen voraus. Das macht der Autor in der Autobiographie deutlich:
„Ich war von blindem Vertrauen zur Mutter erfüllt; die Figuren, über die sie mich befragte, über die sie dann zu mir sprach, sind so sehr zu meiner Welt geworden, daßich sie nicht mehr auseinander nehmen kann. Alle späteren Einflüsse kann ich in jeder Einzelheit verfolgen.
Diese aber bilden eine Einheit von unzerteilbarer Dichte. Seit dieser Zeit, also seit meinem zehnten Lebensjahr, ist es eine Art Glaubenssatz von mir, daßich aus diesen vielen Personen bestehe, deren ich mir keineswegs bewußt bin. Ich denke, sie bestimmen, was mich an Menschen denen ich begegne, anzieht oder abstößt. Sie waren das Brot und das Salz der frühen Jahre. Sie sind das eigentliche, das verborgene Leben meines Geistes." (GZ 111 f.) Über Kien, der ursprünglich Kant heißen sollte, teilt Canetti keine expliziten biographischen Angaben mit, als sein ungefähres Alter von vierzig Jahren. Peter Kien erinnert sich aber an seine Jugendgeschichte, die an die des Autors gemahnt, etwa wenn er seine Entwicklung reflektiert und sie mit einem konfuzianischen Ausspruch vergleicht:
„Mit fünfzehn stand mein Wille aufs Lernen, mit dreißig stand ich fest, mit vierzig hatte ich keine Zweifel mehr [...] Als er fünfzehn war, verschlang er heimlich, gegen den Willen seiner Mutter, bei Tag in der Schule, bei Nacht unter der Decke, eine winzige Taschenlampe als karge Beleuchtung, Buch um Buch. Wenn sein jüngerer Bruder Georg, von der Mutter als Wächterin aufgestellt, nachts zufällig erwachte, unterließer es nie, die Decke probeweise wegzureißen. Von der Behendigkeit, mit der er Lampe und Buch unterm Leib versteckte, hing das Leseschicksal der folgenden Nächte ab." (B 46)
In der Autobiographie befindet sich das erinnerte Ich in einer identischen Situation. Das Kapitel Tag- und Nachtlektüren (GZ 190) schildert die heimliche nächtliche Lektüre des Jungen Elias. Alle Details der Canettischen Erinnerung - Bettdecke, Taschenlampe, Bewachung durch die Brüder - stimmen mit der Erinnerung Peter Kiens überein. Die identifikatorische Schnittstelle zwischen Elias Canetti und seiner Figur ist also im erinnerten Bewußtsein der beiden angelegt, in ihrer unreifen kindlichen physischen wie psychischen Konstitution.
Canettis eigene Leseerfahrungen, die er über seine Figur Kien an seine Leser weitergibt, tragen in der Autobiographie zersetzende, identitätsgefährdende Momente. Dies wird dem erinnerten Ich erstmals im Streit mit der Mutter vor Augen geführt. Sie sieht die Wahrheit in der schonungslosen Kriegswirklichkeit der Menschen und ihrem wirtschaftlichen Unglück und zwingt ihren Sohn in diese Wirklichkeit hinein. Der Autobiograph beruft sich auf seine Vorstellungskraft:
„Warum willst du, daßich´s sehe? Ich kann´s mir doch vorstellen"
„Wie aus einem Buch nicht wahr! Du denkst, es genügt, daßman etwas liest, um zu wissen wie es ist. Es genügt aber nicht. Die Wirklichkeit ist etwas für sich. Die Wirklichkeit ist alles. Wer sich vor der Wirklichkeit drückt, verdient es nicht zu leben." (GZ 326)
Wirklichkeit und Kunst stehen sich in diesen Worten feindselig, in unversöhnlicher Dialektik gegenüber.
In der Blendung ist die Kunstfigur Peter Kien gegenüber einer objektiven Wirklichkeit mit Blindheit geschlagen, jeden äußeren Einfluss blendet er genial aus und erliegt vollkommen seiner subjektiven sinnlichen Wahrnehmung. Auf Immanuel Kants Frage „Was ist der Mensch?" müßte Kien in großer Selbstverständlichkeit antworten: „Ein Buch!" Allein von der Gültigkeit jener Ideen überzeugt, die er in den Büchern findet, lässt ihn Elias Canetti wie einen Don Quichotte des modernen Zeitalters durch die Stadt irren und stellt ihm in der grotesken Figur Fischerles eine Art Sancho Pansa zur Seite9. In wahnhafter Verblendung ignoriert Kien seine materielle, körperliche Wirklichkeit für andere und merkt beispielsweise nicht, wenn an ihn die Rede gerichtet wird (B 14f). Die Phänome, die er wahrnimmt, führt er in neuplatonischer Manier schellstmöglich auf ihren Ursprung zurück und entlarvt sie so als eigentliche Ideen, die ihr Wesen erst seiner Vernunft verdanken:
„Blumen sind schutzbedürftig, man mußsie schützen, [...] einziger natürlicher Verbündeter des Buches ist die Blume. Er nahm die Rosen aus Fischerles Hand, entsann sich ihres Wohlgeruchs, den er aus persischen Liebesgedichten kannte, und näherte sie seinen Augen, richtig, sie rochen." (B 269)
In der Autobiographie setzt nun eine Bewegung zu einer immer selbständigeren Lektüre ein; auch durch die Schule motiviert, erlangt Elias Kenntnisse der römischen und griechischen Geschichte und Philosophien. Da die depressive Mutter ihre Zeit in Sanatorien verbringen muss, besucht er weiter das Gymnasium in Zürich und wohnt in der Pension Villa Yalta. Der pubertierende Junge lebt hier ausschließlich mit Mädchen und deren vier Erzieherinnen zusammen, über diese guten Jungfern der Villa Yalta heißt es: „Es fiel einem nie ein, daßsie Väter gehabt haben, es war so, als wären sie ohne Vater auf die Welt gekommen." (GZ 228) Canetti, der in jenen Jahren die gesamte Weite der abendländischen Literatur durchstreift, schreibt sich hier eine selektive Wahrnehmung der ihn umgebenden Realität zu, die auf einen persönlichen Grundkonflikt, den frühen Tod des Vaters, verweist.
Der Wissensdurst des Jungen wird immer größer, wissenschaftliche Lektüre als gezielte, selbsttätige Aneignung von Neuem bestimmt seine Zeit, für die Mädchen zeigt Elias kein Interesse und fürchtet gar, daßseine Schulkameraden ihn „für so viel Weiblichkeit verachten" könnten (GZ 223). In Streitigkeiten mit der Brasilianerin Trudi Gladosch verteidigt Elias die Notwendigkeit des Wissens gegen das Gefühl. In langen Briefen an die Mutter schildert er seine neuen Erkenntnisse aus den Bereichen der Botanik, Architektur und Philosophie. Doch die Mutter schickt ihm höhnische Antwortbriefe zurück, in denen sie sich über seine, ihr völlig fremden Interessen lustig macht. Eifersüchtig auf das unabhängige Leben des Sohnes zweifelt die Mutter an der Wahrhaftigkeit seines Charakters. In dieser Zeit arbeitet Elias an seinem ersten dramatischen Stück, Junius Brutus, das er der Mutter widmet. In der vergegenwärtigenden Rückschau auf seine junge, nichtsahnende Autorschaft erkennt der Autobiograph schon im Frühwerk die Auseinandersetzung mit der persönlichen Lebensgeschichte: mit dem Fluch des eigenen Großvaters nämlich, den dieser über den nach England davongehenden Sohn ausgesprochen hatte.
Neben dem Motiv der Bildung an fremden und eigenen Texten, wird der letzte Teil der Geretteten Zunge aber auch von der zunehmenden Beschreibung wirklicher Menschen bestimmt, vom Bewußtsein, dass der Protagonist für diese entwickelt. Vor allem die vielfältigen und lebendigen Lehrerporträts, in denen die lebensweltliche Umgebung ausgeführt wird, verschieben den Focus der Erinnerung auf die bewußte Wahrnehmung der Mitmenschen und stellen im Zusammenhang aller drei Bände eine Vorwegnahme auf Die Fackel im Ohr dar, in der sich das autobiographische Ich primär in der Begegnung und Abgrenzung mit anderen Menschen weiterentwirft.
Die gerettete Zunge erzählt von dem Kind, das im spielerischen Zeichenerwerb die Wahrnehmung der Welt erfährt: „als ein Lesen des Selbst und ein Lesen des anderen, das ihm begegnet"10. Zwei Textstellen reflektieren die solchermaßen dialektisch strukturierte Erfahrung des Autobiographen:
„Der Kontrast zwischen Buch und Mensch, zwischen dem, was mit Vorwissen gemacht wird, und dem, was von Natur gegeben ist [...] hatte mich zu quälen begonnen." (GZ 299) „Man meint, sich für die Welt zu öffnen und zahlt dafür mit Blindheit in der Nähe. [...] Alle Linien der Erfahrung sind einem vorgeschrieben, ohne daßman´s weiß, was ohne Buchstaben noch nicht zu fassen wäre, bleibt ungesehen, und der wölfische Appetit, der sich Wißbegier nennt, merkt nicht, was einem entgeht." (GZ 302)
Am Ende des ersten Bandes schlagen die beglückenden Erfahrungen des autobiographischen Ichs dann um. Der unfreiwillige Weggang aus der Schweiz steht nun kurz bevor, er markiert zugleich einen scharfen Wendepunkt im Leben Canettis. Er inszeniert den Streit zwischen der Mutter und sich in einem langen Dialog, der von den mütterlichen Vorwürfen getragen wird.
Sie hält ihm die eigens geschürte, weibische Leidenschaft zur Vielleserei vor -„Du bist so weich und rührselig wie deine alten Jungfern" (GZ 322) - und greift seine unreflektierte, posenhafte Bewunderung der Kunst sowie die hochmütige Verachtung der Arbeit und des Geldes an.
Plötzlich zerstört also die Mutter die hermetische Welt ihres Sohnes, sie verdächtigt ihn des Verrats und der Illoyalität gegenüber ihren eigenen „Strategien der Bewunderung"11.
Von dem Umzug nach Frankfurt verspricht sich die Mutter, dass er ein heilsamer Schock für Elias sein möge: „Sie hatte die Vorstellung, daßich da in eine härtere Schule kommen würde, unter Männer, die im Krieg gewesen waren und das Schlimmste kannten." (GZ 330) Der Widerspruch des Autobiographen, die vom Protagonisten vorgetragene Absicht, alles lernen und damit etwas tun zu wollen, nimmt sich gegen die kränkenden Worte der Mutter gering aus, fällt kaum ins Gewicht. Der Erzählerkommentar bestätigt die Gültigkeit ihrer Entscheidung: „Sie sagte Dinge, an denen kaum zu rütteln war." (GZ 329) Auch das ambivalente Verhalten der Mutter wird reflektiert:
„Es ging ums Leben [...], jedes ihrer Worte traf mich wie eine Peitsche, ich spürte, daßsie mir unrecht tat, und spürte, wie sehr sie recht hatte." (GZ 327)
„Ich war den Buchstaben und den Worten verfallen und wenn das Hochmut war, so hatte sie mich dazu erzogen." (GZ 328)
Das kritische Selbstbewußtsein des autobiographischen Ichs wird allmählich größer, es erkennt langsam, wie wirklichkeitsblind seine Lesewut eigentlich ist, weißaber auch, dass es wegen der Mutter keine Alternative zu dieser Entwicklung geben konnte.
Später nehmen die Auseinandersetzungen noch an Schärfe zu, Canetti erzählt von seinem grenzenlosen Wissensdurst, von „der monströsen Natur eines Geschöpfs, das aus nichts als Aufgenommenem und der Absicht auf noch Aufzunehmendes bestand." (FO 108) Die Mutter wirft ihm sein Verhalten weiter vor:
„Das Grundübel ist deine Verblendung. Von Michael Kohlhaas hast du vielleicht auch etwas gelernt. Nur bist du kein interessanter Fall, denn er hat immerhin etwas tun müssen. Was tust du?" (FO 110)
Vor diesem autobiographischen Hintergrund wird der Romanheld Peter Kien zu einem vollendeten Leser, einer einmalig konsequent ausgeführten Figur, ausgestattet mit dem ungewöhnlichen Erfahrungswissen seines Autors. Dies zeigt sich etwa, wenn der Sinologe überlegt, was für ein Buch er seiner Haushälterin Therese zum Geschenk machen soll. Intuitiv bedenkt er die Gefährlichkeit jedes Romans im voraus:
„Den Genuß, den sie vielleicht bieten, überzahlt man sehr: sie zersetzen den besten Charakter. Man lernt sich in allerlei Menschen einfühlen. Am vielen Hin und Her gewinnt man Geschmack. Man löst sich in die Figuren auf, die einem gefallen. Jeder Standpunkt wird begreiflich. Willig überläßt man sich fremden Zielen und verliert für länger die eigenen aus dem Auge. Romane sind Keile, die ein schreibender Schauspieler in die geschlossene Person seiner Leser treibt. Je besser er Keil und Widerstand berechnet, umso gespaltener läßt er die Person zurück. Romane müßten von Staats wegen verboten sein." (B 41f).
b) Das Ich zwischen Kind und Mann
Auf dem Spaziergang (B 7), mit dem Die Blendung beginnt, trifft Kien den kleinen Jungen Franz: Es ist eine Begegnung mit sich selbst, nicht nur wohnen der Erwachsene und das Kind im selben Haus, beide sind sie auch in Eile, da um acht Uhr ihr Arbeitstag beginnt, Kien mußin seine Bibliothek, Franz in die Schule. Der kleine Franz liest immerzu und möchte Chinesisch lernen, später auch eine Bibliothek haben.
Ihre Begegnung ist ein gelingender Dialog, die Rede zwischen Kind und Mann erfolgt im verständigen Gleichlaut, und als solcher stellt die Passage eine absolute Ausnahme im Roman dar, in dem die Figuren ansonsten ständig aneinander vorbeireden, sich hinter ihren akustischen Masken voreinander verbergen. Durch die Partikularisierung der figürlichen Weltsicht hat Canetti im Roman die Möglichkeit sinnhafter Kommunikation systematisch ausgeschlossen12. Allein der Dialog zwischen Franz und Peter ist sinnvoll, sie sind eine Person, die durch den Autor zwar in ihrer Körperlichkeit voneinander geschieden vor dem Leser stehen, aber zugleich durch ihre psychische Identität, ihr kontinuierliches Bewußtseins - das Kind ist die Erinnerung des Mannes und dieser wiederum das Wunschbild des Kindes - gekennzeichnet sind.
Canetti entwirft in seinen Erinnerungen die Unfreiwilligkeit dieser Entwicklung, die Folgerichtigkeit, mit der sein eigenes Verhalten eine Reaktion auf die Ansprüche der Mutter ist, die ihre Bewunderung für Literatur leidenschaftlich, ja gnadenlos an Elias weitergibt13. Nach dem Tod des Vaters bringt seine Mutter, eine intelligente, hochkultivierte Frau, die das Theater verehrt, neue Bücher in das Leben ihres Sohnes. Sie lesen gemeinsam Schiller und Shakespeare und besprechen deren dramatische Figuren. Erst kurz zuvor hatte die Mutter dem Achtjährigen das Deutsche gelehrt, die geheime Zaubersprache der Eltern; diese „hatten ihre Liebe unaufhörlich durch deutsche Gespräche genährt." (GZ 34)
Diese fremden Gespräche hat Elias eifersüchtig belauscht, das Kind bettelte vergeblich um deutsche Worte und übte die wenigen gewonnenen Worte zornig ein „ohne die Eltern das je merken zu lassen." (ebd.)
Es ist der „heftigste Wunsch" (GZ 35) des Ich, an der elterlichen Sprachgemeinschaft teilzuhaben, zu verstehen und sich verstanden zu fühlen. Dass die Eltern seinem natürlichen Bedürfnis nicht gerecht werden, reflektiert der Erzähler an anderer Stelle: „Wenn ich mich als Kind in Neid um diese fremden Worte verzehrte, merkte ich, wie überflüssig ich war." (AS 213) Die mißlingende Teilhabe an der (Sprach-)Welt der Eltern löst eine frühe Abwendung und Flucht des Kindes in eigene Realitäten aus: Der Autobiograph erzählt von stundenlangen Gesprächen mit imaginierten Tapetenmenschen, die er allein auf seinem Zimmer in Manchester führt (GZ 51).
Auch Peter Kien neigt zu Monologen, die er in seiner Bibliothek mit den Möbeln führt. So redet er lange beschwörend auf sein Bett ein, das er ins Nebenzimmer befördern will, wofür seine Kräfte jedoch nicht ausreichen (B 90). Das gekränkt vereinzelte und isolierte Bewußtsein versucht in solchen Bildern Kommunikation aufrechtzuerhalten, den Dialog nicht enden zu lassen und in einem Sprechakt eine Beziehung zwischen sich und Umwelt herzustellen. Die satirisch überzeichnete Fiktion des ohnmächtigen Sinologen korrespondiert durchaus mit der autobiographisch nachgestalteteten Lebenswelt seines Autors, der sein tragisches Erfahrungswissen vom stummen Dialog mit toten Gegenständen an seine Romanfigur weitergibt.
In der Autobiographie wird das Kind Elias erst dann zu einem gleichwertigen Gesprächspartner, nachdem es Deutsch gelernt hat. Die Einpflanzung des Deutschen „unter Hohn und Qualen" (GZ 90), die dem autobiographischen Ich widerfährt, erfolgt unter den Vorzeichen des väterlichen Todes; dieser drückt sich für die Mutter „am empfindlichsten darin aus, daßihr Liebesgespräch auf deutsch mit ihm verstummt war." (ebd.) Diese wahre mütterliche Motivation für den bedrückenden und erniedrigenden Deutschunterrichts, durch den sie ihren Sohn mit den eigenen Bedürfnissen überfordert und überformt, wird im Kapitel Die letzte Version des dritten Bandes noch einmal wiedergegeben:
„In den Nächten nach dem Tod des Vaters, als ich sie davon abhalten mußte, sich etwas anzutun, war ihr Schuldgefühl so groß, daßsie nicht mehr leben wollte. Sie nahm uns nach Wien, um der Stätte näher zu sein, von der die ersten Gespräche mit dem Vater sich genährt hatten. Auf dem Weg nach Wien machte sie halt in Lausanne und vergewaltigte mich zu der Sprache, die ich früher nicht verstehen durfte." (AS 214)
Der Autobiograph erzählt von sich als dem ohnmächtigen Opfer eines inzestuösen sprachlichen Missbrauchs, der Schrecken dieser auktorialen Erfahrung lässt sich aus den bösesten Bilder der Blendung herauslesen:
Im Kapitel Der Gute Vater (welches Canetti bei den Lesungen seines Manuskripts übrigens bevorzugt vortrug; vgl. AS 180) ist ausführlich von den Familienverhältnissen des Hausbesorgers Pfaff die Rede. Der frühere Polizist Benedikt Pfaff erfreut sich im Roman einer tobsüchtigen Männlichkeit; er ist ein roher Muskelprotz, der seine Körperkraft, seine Faustgewalt in unmässigen Mahlzeiten befeuern muss.
Die Gier, die Benedikt Pfaff auszeichnet, findet sich in der Autobiographie in der erinnernden Nachzeichnung von Veza Calderones Stiefvater wieder, von dem es heißt:
„Er aßso viel, daßman für seine Gesundheit fürchtete und hielt sich nicht an die üblichen Mahlzeiten. Schon zum Frühstück verlangte er Braten und Wein [...] Seinem reißenden Hunger, der auf diese einzige Materie ging, war kaum beizukommen." (FO 127) Des Hausbesorger Pfaffs zweite Leidenschaft nach dem Essen besteht in wilden Prügelorgien. Nach dem Tod seiner Frau vergreift er sich jahrelang an der Tochter Anna, die ihm unter dem neu verliehenen Namen Poli nun zugleich als Kind und Weib dienen muss. Brutal nimmt er ihr jegliches Recht auf ein eigenes Leben, richtet sie auf seine eigenen Bedürfnisse hin ab und zerstört ihre Persönlichkeit, bis sie an völliger Isolation und Lieblosigkeit schließlich zugrunde geht.
Das gewaltsame Eindringen eines Menschen in einen anderen, das Schrecknis eines nicht gewollten Aufbrechens der leiblichen und seelischen Intaktheit des Individuums sowie die Vergewaltigung in der Familie sind Motive, die also auch im Roman - in großer Schärfe - vorhanden sind. Die Unreflektiertheit des Pfaffschen Treibens, seine Selbstsucht, die jegliche emphatische Annäherung an einen anderen Menschen unmöglich macht, gemahnen dabei an die Zuschreibungen, die Hera Canettis mütterliche Erziehungsversuche in der Autobiographie erfahren. So zwingt sie ihren Sohn zu einer übermenschlichen Leistung, fordert ihm immer neue deutsche Sätze ab und erweist sich als mitleidlos und grausam, wenn sie dem kleinen, auf sie angewiesenen Jungen androht, ohne ihn nach Wien zu gehen. Die erlittenen Qualen, von denen Die Gerettete Zunge erzählt, finden sich wieder im Verhältnis zwischen Pfaff und seiner Tochter; der Hausbesorger leitet den kindlichen Missbrauch mit einer immergleichen, beschwörenden Litanei ein, in den die Tochter einstimmen muss:
„Wenn die Tochter nicht brav ist, bekommt sie ... Schläge.
Der Vater weiß, warum er sie ...schlägt.
Er tut der Tochter...gar nicht weh.
Dafür lernt sie, was sich beim...Vater gehört". (B 405)
Canettis Autobiographie erzählt von der wesentlichen Funktion der Bücher für das Mutter- Kind-Verhältnis. Sie veranlassen das erinnerte Ich einerseits zu Hass und Eifersucht, tragen aber andererseits wesentlich zur - freilich ungleichen - Liebe zwischen Mutter und Sohn bei. Das zeigt sich schon in der frühen Anerkennung, welche die Mutter dem kleinen Elias zollt, als er die gemeinsame Sprache erlernt. Der Deutschunterricht gelingt erst dann, als ihm das Lehrbuch bewilligt wird und er darin buchstabieren lernt. Ihren Schüler zuvor einen Idioten schimpfend, bestätigt die Lehrerin ihm nun die mit dem Spracherwerb neu gewonnene Identität und Liebenswürdigkeit: „Du bist doch mein Sohn." (GZ 89)
Im weiteren Zusammenleben versucht nun der Sohn, sich der mütterlichen Treue und Aufmerksamkeit durch eigene Buchgeschenke zu versichern. Dazu spart er sein geringes, eigentlich der Schulmahlzeit zugedachtes Taschengeld zusammen, bis er davon ein Buch für die Mutter kaufen kann. Der Verzicht auf das Essen fällt Elias leicht, die Erinnerung schreibt dem eigenen Verhalten durchaus masochistische Züge zu:
„(...) ich stand gern daneben, wenn einer seinen Krapfen verzehrte, und stellte mir dabei mit einer Art von Lustgefühl, ich kann es nicht anders sagen, die Überraschung der Mutter vor, wenn wir ihr das Buch überreichten." (GZ 195)
Der eingeschobene Erzählerkommentar übernimmt hier die Funktion, den autobiographischen Pakt zu stärken, indem das Ausgesagte als eine Preisgabe gekennzeichnet wird und der Autor damit der Leserschaft seinen Anspruch auf Wahrhaftigkeit erklärt.
Die Mutter, die den Sohn durch die fortgesetzte Lektüreaufforderung auf eigensüchtige Weise zum geeigneten Gesprächspartner erzieht und so „ihre Schuld durch eine übermenschliche Bemühung um die geistige Entwicklung ihrer Söhne büßte" (FO 44) freut sich über diese kleinen Akte der Entsagung und hält sie für willkommene Anzeichen einer Charakterstärke, die sie auch sich selbst abverlangt. In ihrem Schuldgefühl für den väterlichen Tod opfert sie alles den Kindern, die wohlhabende, genußfreudige Frau versagt sich jede Hilfe im Haushalt, kocht nur bescheiden. Sie verheimlicht ihre Leiden nicht, der Erzähler erinnert sich an ihre frühen Aussagen, „daßsie uns ihr Leben geopfert habe" (FO 100) und treibt das autobiographische Ich gleichermaßen in eine Büßerhaltung.
Canettis Rolle als Sohn, sein Verhältnis zur Mutter, bleibt dauerhaft vom frühen Tod des Vaters geprägt. Die Mutter hat den Mann verloren, der Sohn seinen Vater, dessen Tod dem Sohn zur Genese wird:
„(...) wurde ich unter der Einwirkung der Mutter zur deutschen Sprache wiedergeboren und unter dem Krampf dieser Geburt entstand die Leidenschaft, die mich mit beidem verband, mit dieser Sprache und mit der Mutter. Ohne diese beiden, die im Grunde ein und dasselbe waren, wäre der weitere Verlauf meines Lebens sinnlos und unbegreiflich." (GZ 94)
Das Bild der Wiedergeburt macht die scharfe Unterscheidung eines Vorher und Nachher möglich: Die nur sieben Jahre währende Kindheit ist schlagartig beendet und das wehrlose Kind wird in die Rolle des eigenen Vaters gedrängt. So steht ein kritisches und stark kontrastbildendes Ereignis - nämliche Wiedergeburt - im Zentrum der autobiographisch dargestellten Veränderung14.
Wie fragwürdig die eigene Existenz geworden ist, wird in Äußerungen der Mutter erinnert, die sich auf ihre Gespräche mit dem deutschen Kurarzt bezieht: „Du bist mein Sohn von Strindberg. Zu seinem Sohn habe ich dich gemacht" und der Erzähler fragt sich ergebnislos „Was war jetzt mein Vater ?" (AS 214)
Die enge Liebesbeziehung - „und was war es für eine Liebe!" (GZ 90) - zwischen Mutter und Sohn wird als eine tiefe und ohnmächtige Abhängigkeit erinnert, die sich am leidenschaftlichsten in einer beidseitigen Eifersucht ausdrückt15. Die Vorstellung einer neuen Ehe der jungen Mutter ist dem Kind unerträglich, das Wort heiraten wird zum Zeichenträger einer tödlichen Bedrohlichkeit: „Dieses letzte Wort war wie ein Stich für mich und ich stießden Dolch tiefer und tiefer in mich hinein." (GZ 168)
In rasender Eifersucht droht der Sohn, sich das Leben zu nehmen. „Es war eine furchtbare Drohung, sie war ernst gemeint, ich weißmit absoluter Sicherheit, daßich es getan hätte." (GZ 167) Mit der Eifersucht auf die Mutter hängt auch der Hass auf ihre Verehrer zusammen. Besonders aufschlussreich ist die Erinnerung an den Leiter eines Sanatoriums im Kapitel Krankheit der Mutter. Der Herr Dozent (GZ 147). Dieser bringt, wenn er die Mutter besucht dem Jungen immer Bücher mit. Die Bücher, so wird erinnert, besitzen eine verführerische Gewalt auch für die Mutter: „Der Einbruch der fremden Bücher in das Leben der Mutter machte mir viel mehr Angst als der Herr Dozent persönlich." (GZ 154)
Die Bücher werden so zu wahren Manipulationsinstrumenten männlicher Verführungskraft, ihrer unehelichen Strindberg-Lektüre verschuldet die Mutter bereits die fatale Untreue gegen den Vater. Der Junge aber lehnt sich erfolgreich gegen die verlockende Bestechung auf, die ihm zugedachten Buchgeschenke wirft er immer weg und die verweigernde Konsequenz seines Tuns „ich habe auch später das Buch mit diesem Titel nie gelesen" wird als Ausdruck früher Willensstärke erzählerisch bestätigt (GZ 149).
Der tiefe Hass wächst zu Mordphantasien, in denen das Kind den Dozenten vom Balkon stürzen lässt, im Text wird die erinnerte Imagination als reales Geschehen wiedererzählt: „Immerhin war er inzwischen abgestürzt [...]." (GZ 151)
In der Blendung führt Canetti das Motiv der Verführung durch das Buch zu Ende. Die Heirat von Peter Kien und Therese Krumbholz entwickelt sich aus einem Buchversprechen des Sinologen an die Haushälterin. Kien bietet Therese ein Buch, die nimmt an und er verwandelt seine ihn jetzt ärgernde Freigiebigkeit durch die Auswahl in eine späte Schadenfreude: Das fleckigste und abgegriffenste Buch seiner Sammlung schenkt er ihr, die Hosen des Herrn von Bredow. Therese aber gewinnt sein Herz durch die zärtliche Behandlung des Buches. Sie ummäntelt den geschundenem Einband, legt ein Papier herum, „wie einem Kind ein Kleid" und bettet ihr „Pflegekind" auf einem Samtkissen (B 42).
„Sie hatte Erbarmen, nicht mit Menschen, da war es keine Kunst, sondern mit Büchern. Sie ließdie Schwachen und Bedrückten zu sich kommen. Des letzten, verlassenen, verlorenen Wesens auf Gottes Erdboden nahm sie sich an." (B 45)
Durch ihr Verhalten wächst Therese in Kiens Augen zu heiliger Größe und er beschließt, sie zu heiraten. Ist das Buch nun das Kind der heiligen Jungfrau und somit das göttliche Versprechen menschlicher Erlösbarkeit oder aber meint es die Versuchung des Menschen, schuldhaftes Erkennen und Verlust des paradiesischen Urzustandes, wie es Kiens Flammentod nahelegt? Die Symbolik des Kindes ist verwirrend, der Autor verweigert Leser und auch seinem Protagonisten Kien die Einsicht. Ein Ausspruch Thereses gibt diesem nach der Hochzeit Rätsel auf: „Kinder kommen zuletzt. Wenn man wüßte, was sie wirklich gemeint hat. Sphinx." (B 53) Kien wünscht sich seinen Bruder herbei, der Psychiater und Frauenarzt wüßte sicher Rat. Auf dem Rückweg vom Standesamt begegnet das frisch vermählte Paar dem kleinen Franz auf der Stiege des gemeinsam bewohnten Hauses Ehrlichstraße 24. Der Junge erinnert Kien an dessen Versprechen, ihm seine Bibliothek zu zeigen:
„Sie haben mir´s doch erlaubt. Ich hab´s ihr gesagt"
„Wer ist sie?" (B 55)
Kien selbst ist gemeint, er erwidert mit der Gegenfrage und bestätigt so die Fragwürdigkeit einer eigenen, festen Persönlichkeit. Ist er nun das Kind oder der Mann? Kien erweist sich so, wie alle anderen Figuren des Romans, als gedoppelte Figur. „Sie spielen ihre Rolle in einem - oberflächlichen - Geschehen und sind sich gleichzeitig ihrer Konstitution als rein ästethischer Objekte bewußt."16
Vor der Haustür angelangt, hat Peter Kien dann seine Hausschlüssel vergessen. Therese benützt ihre und der Gemahl schämt sich. „Er benahm sich wie ein kleiner Junge." (B 57) Auch hier verschwimmt die Unterscheidbarkeit zwischen Kind und Mann.
Endlich in den eigenen vier Wänden angelangt, sieht sich der frisch Vermählte nach einem geeigneten Vollzugsort für die junge Ehe um. Der Diwan gerät in seinen Blick, unabwendbar, das unentbehrliche Möbelstück als Aufforderung zum Geschlechtsakt wie zur psychoanalytischen Behandlung:
„Sein Blick war an den Regalen entlanggeglitten, der Diwan glitt mit. Die Muschel lag drauf, riesengroßund blau" (B 58). Zuerst interessiert also der Rock Thereses, denn diesen meint die Muschel stellvertretend; der Rock, die Schale des Weibes mußzerbrochen werden, um den Blick auf das weibliche Geschlecht freizugeben. „Es ist begreiflich, wenn eine Frau sich um ihr letztes wehrt. Sobald es geschehen ist, wird sie ihn bewundern, weil er ein Mann ist." (ebd.) Der Rock ist aber gerade eben - im Treppenhaus - schon vom kleinen Franz zerbrochen worden (B 55). Muss also der kleine, nicht geschlechtsreife Bub schon die von der Frau verlangte Männlichkeit vertreten?
Kien blickt genauer hin:
„Der Diwan, der eigentliche, lebendige Diwan ist leer und trägt weder Muschel noch Lasten. Und wenn er nun künstlich Lasten trüge? Wenn er ganz bedeckt wäre von Büchern, daßman ihn fast nicht sieht?" (ebd.)
Kien belädt den Diwan mit Büchern. Er, der Ehemann sollte sich ja eigentlich mit seiner Frau darauf vereinigen. Die Bücher sind so die letzte Schranke, die letzte Möglichkeit, sich zu entziehen. Statt des Mannes landen also die Bücher beim Analytiker. So will Kien sich also treu bleiben, sein wahres, kindisches Wesen und auch seine Bücherherrschaft verteidigen. Therese verwendet auf die Bücher aber keinen unnützen Gedanken, sie fegt sie einfach vom Diwan und erwartet den Gemahl, der sich auf einen Schlag in der Doppelrolle von Liebhaber und Patienten wiederfindet. Das erträgt er nicht:
„Kien stürzt in langen Sätzen aus dem Zimmer, sperrt sich ins Klosett, dem einzigen bücherfreien Raum der Wohnung ein, zieht sich an diesem Ort mechanisch die Hosen herunter, setzt sich aufs Brett und weint wie ein kleines Kind." (B 60)
An dieser Stelle reduziert der Autor also seine Figur zu einem kleinen Kind. Das ist beachtlich, handelt es sich bei Peter Kien doch um einen ausgewachsenen Wissenschaftler, einen ausgezeichneten, bewunderten Vertreter seiner Zunft, der Sinologie, dem in seiner wissenschaftlichen Pedanterie und Akribie nichts ferner liegt als ein kindisches Benehmen. Sein Sturz aus den aufgeklärten, himmelhohen Sphären der geistigen Existenz auf den Urgrund geschlechtlicher Tatsachen hat eine riesige Fallhöhe, die groteske Unreife der Figur macht auch seinen Spruch „Herr seines Schicksals ist der Mensch allein" zur Satire (B 57). In der Blendung setzt Canetti mit dem Guckkloch des Hausbesorgers, das den Blick alleine nur auf die Beinkleider der Menschen zuläßt,.einen scharfen Focus auf die Motivik des Rockes und der Hosen und spielt sie so als Bild des Geschlechtergegensatzes aus.
Auch in seiner Autobiographie verwendet Canetti dasselbe Motiv in auffälliger Häufigkeit. In der Fackel im Ohr werden die phänotypischen Beschreibungen, vor allem die Sprache der Menschen, die dem Ich begegnen, weit ausgeführt. Hier begegnet der Student Canetti auf seiner Zimmersuche seiner späteren Wirtin, Frau Weinreb. Um die Wohnung rankt sich ein kleiner Skandal, hat doch eine Mitbewohnerin namens Ružena erst kürzlich einen jungen Mann aus guter Familie verführt. Canetti besichtigt die Wohnung in Erwartung einer „Lasterhöhle" und äußert den naheliegenden Gedanken, „daßLeute sich melden würden, die gar nicht das Zimmer, sondern Ruzena besichtigen wollten." (FO 168) Er selber verfolgt offensichtlich dasselbe voyeuristisches Interesse: Zunächst hofft er noch, dass Ruzena, von deren Verführungskünsten er schon viel gehört hat, ihm die Tür öffnen möge. Für seine Neugier, so schreibt Canetti, hätte er wohl eine Ohrfeige verdient und ihm ist es dann ganz recht, dass Ruzena gerade nicht zu Hause ist. Das Sexualtabu der Mutter wirkt im schlechten Gewissen des autobiographischen Ich immer noch, er schämt sich für seine Schaulust und sehnt eine Strafe herbei. Als er der sagenumwobenen Person endlich begegnet, nimmt er als erstes ihre „geradezu ungeheure Hinterseite" wahr, sie trägt einen „Faltenrock, der bis zum Boden reicht" (FO 169). Canetti ist von ihrem weiblichen Reiz mächtig angezogen:
„Ich fühlte sehr wohl ihre Schönheit, und wäre sie so gewesen, wie ihre Arme, nackt, ich hätte, so nah bei ihr, den Kopf verloren, jeder andere auch, aber ich blieb regungslos und sagte nichts." (ebd.)
So ist das Kleidungsstück der Frau eine unüberwindliche, schützende Verhüllung, die Canetti vor einem Skandal wohl bewahrt. Auch der Rock seiner Wirtin, Frau Weinreb, fällt Canetti besonders ins Auge: „Ihre Füße sah ich nicht, unter dem langen Rock, der bis zum Boden reichte, blieben sie verborgen." (FO 203).
Ein weiterer Umzug steht an, Canetti besichtigt das Zimmer, in dem er Die Blendung verfassen wird, und wieder ist die Wirtin durch ihren Rock gekennzeichnet: „Die Hausfrau [...] mochte 60 Jahre alt sein, ihr Rock reichte bis zum Boden." (FO 219)
Auch das Fräulein Mina, eine der vier Erzieherinnen in der Villa Yalta, wird von Canetti unter den Vorzeichen des Rockes erinnert:
„Sie sprach langsam und deutlich, so wie sie auch ging, sie war immer dunkel gekleidet, und ihre Schritte unterm Rock, der bis zum Boden reichte, bemerkte man nur, wenn sie die Treppe in den zweiten Stock hinaufstieg [...]." (GZ 225)
Die Autobiographie verankert also das Motiv des bis zum Boden reichenden Rocks, der den Mann abwehren kann und an dem die Romanfigur Peter Kien verzweifelt. Die erste Erwähnung des Rockes in der Lebensgeschichte zeugt bereits von der ganz intimen Erfahrung Canettis. So erzählt er dem Leser im Kapitel Geburt des Bruders (GZ 22):
„Vier Jahre lang blieb ich das einzige Kind, und während dieser ganzen Zeit trug ich Röckchen wie ein Mädchen. Ich wünschte mir, wie ein Junge in Hosen zu gehen, und wurde immer auf später vetröstet." (GZ 23)
Canetti legt hier in beiläufiger Art und ohne weitere persönliche Auskünfte in der Autobiographie ein Grundmotiv für den Geschlechterkampf an, für eine zähe Auseinandersetzung zwischen Macht und Ohnmacht, Erhöhung und Erniedrigung, Sieg und Niederlage17, welche er die Figuren der Blendung - allen voran Peter und Therese Kien - mit gewaltiger Erbitterung ausführen lässt.
Canettis Figurenwahl beweist also seine variationsreich gehandhabte Technik literarischer Verarbeitung der eigenen psychologischen Grundkonflikte, die die Romanfiguren konsequent weiterspielen müssen. Mit der Figur des Bruders Georges Kien schafft Canetti zugleich einen Repräsentanten seines psychoanalytischen Wissens18.
Es ist das Problem einer frühen Unsicherheit über die eigene geschlechtliche Identität, das Elias Canetti auch in der Autobiographie verfolgt, das er verzeichnet, ohne es aber direkt zu benennen oder zu erklären.
Die Familiengeschichte der Kiens und der Canettis enthüllt ihre große verwandtschaftliche Nähe vor allem auch in der Unbefriedigung, die die weiblichen Familienmitglieder zu ertragen haben. Therese werden vom Autor insofern deutlich mütterliche Züge zugeschrieben, als sie sich beklagt, ihr Leben aufgegeben zu haben für Peter Kien, der seinen Mann nicht wert ist, der vielmehr asexuell ist wie ein Greis oder ein kleines Kind, das Therese nicht genügen kann. Die Sechsundfünfzigjährige wähnt sich im Besitz des verführerischen Eindrucks einer eben Dreißigjährigen, sie ist mithin also so alt wie Canettis Mutter, die der Familie zuliebe auf „ihr eigentliches Leben" verzichtet hat (AS 214).
„Sie war zweiunddreißig damals und lebte allein, und das erschien mir so natürlich wie mein eigenes Leben. Wohl sagte sie manchmal, [...] sie opfere ihr Leben für uns auf, und wenn wir es nicht verdienten, würde sie uns weggeben in die starke Hand eines Mannes, der uns Mores lehren würde. Aber ich begriff nicht, ich konnte nicht begreifen, daßsie an ihr einsames Leben als Frau dabei dachte." (GZ 203)
Therese hadert ebenso mit ihrem Schicksal, sie denkt von Kien, dass dieser ja gar kein Mann sei und sieht sich frühzeitig nach geeignetem Ersatz um, träumt von einer erfüllten Ehe mit dem Herrn Grob aus dem Möbelgeschäft (B 74ff./296ff.) und vereint sich schließlich mit dem Gewaltmenschen Pfaff, der sie nachts im Bett berät. (B 307f.)
Im Spiegel der Autobiographie wird das kindische, unmännliche Benehmen des Romanhelden aber zum Ausdruck der Verantwortungslosigkeit eines unreifen Bewußtseins, dessen Entwicklung von der Verantwortung seiner Bezugspersonen - der Familie, Mutter und Vater - abhängt. Man erkennt im Roman die autobiographisch bezeugte, inzestuöse Liebesbeziehung des Autors zu seiner Mutter und Peter Kien wird zur kunstvollen Äußerung der problematischen Ich-Identität des erinnerten Autorbewußtseins.
Elias Canetti hat seiner Figur also die eigenen Erfahrungen eingeschrieben, die quälend empfundene Unmöglichkeit einer Kindheit, die unzeitig nach der reifen männlichen Identität verlangt, um die Mutter für sich zu gewinnen und ihre Liebe nicht zu verlieren.
Die Blendung kann dann als eine kunstvolle Reflexion des Autors über die Unschuld einer einseitigen Abhängigkeit - des Kindes von der Mutter wie der Figur vom Autor - betrachtet werden. Die Unschuldsvermutung ist also bei Peter Kien, in den Verdacht gerät Elias Canetti selbst, denn die Romanfiguren bieten dem Leser eine „nachgespielte Psychoanalyse, die eben zugleich als dargestellte und als implizit verarbeitete dargestellt wird"19.
c) Der autobiographische Eigenkommentar zur Blendung
Canettis Selbstaussagen über die Produktionszeit des Romans zielen ebenfalls in diese Richtung, unterstreichen sie doch die enge, lebensgeschichtlich verbürgte Verwandtschaft zwischen Autor und Romanheld. Das sie verbindende Werk
„ist kein bloßes Spiel [...] es ist eine Wirklichkeit, für die man einzustehen hat und wenn es auch eine Angst sehr großen Ausmaßes ist, die einen zwingt, solche Dinge niederzuschreiben, so bleibt immer noch zu bedenken, ob man nicht durch sie eben das mit herbeiführt, was man so sehr fürchtet." (AS 9)
Die besondere Tiefe der auktorialen Inschrift in die Blendung reflektiert Canetti auch in den autobiographisch erzählten Befürchtungen seiner späteren Ehefrau Veza, die überzeugt ist, dass Canetti „eine gefährliche Grenze überschritten hatte. Der Hang zur Isolation, die Bewunderung für alle, die ganz und gar anders waren, der Wunsch, sämtliche Brücken zu einer niederträchtigen Menschheit abzubrechen - alles das machte ihr sehr zu schaffen." (AS 19) Die Entstehung der Blendung fällt so in eine persönlich erlebte Krisenzeit Canettis, der in den „poetischen Mikrokosmen"20 seines Romans autobiographisches Erleben verdichtet hat.
Canetti erklärt, dass seine Romanfigur einen Zweck erfüllen und er ihm dazu Bestandteile der eigenen Identität ausleihen mußte. Er fühlt sich schuldig für den Untergang, in dem er die Figur enden läßt und schreibt dem fiktiven Bücherbrand eine als wirklich erlebte Zerstörung „alles Alten" zu (AS 12). Solche Äußerungen des Autobiographen belegen den hohen Grad der Identifikation zwischen Autor und Figur; Peter Kien trägt die negativ aufgeladenen Erfahrungen seines Urhebers Canetti. Die Niederschrift der Blendung ist so eine Gratwanderung des Autors; Canetti wirft seine Dämonen beiseite, kettet sein böses Ich an die Buchstaben seines Werks, läßt es darin zu Asche verbrennen. Das Unternehmen ist brandgefährlich, die Schizophrenie des gewaltigen Entäußerungsversuchs ist eine wirkliche Bedrohung für den Autor, der sich tief in seinem Buch verstrickt. Mit Peter Kien hat Canetti einen Romanhelden geschaffen, mit dem er das eigene Dasein in eine kritische Distanz rücken kann. Die besondere Qualität der Blendung ist eben auch, dass der Romanautor keinerlei Empathie für seine Figur entwickelt und er ihm den Dialog verweigert.
„[...] ich hatte mich so sehr damit abgequält, mein Mitleis für ihn zu unterdrücken, es mir, auch im leisesten nicht, merken zu lassen, daßes vom Standpunkt des Schreibenden eher als eine Erlösung erschien, sein Leben zu beenden" (AS 9)
Romantheorethisch gesehen ist das ein wirklich ungewöhnliches Vorkomnis: Kann doch die Einfühlung eines Autors in seinen Helden eine allgemeine Ergänzungsbedürftigkeit des Menschen bedeuten und der Einzelfall eine Abrundung der eigenen Psyche21. Der Autor der Blendung erweist sich aber als reiner und kalter Schöpfer. Auf einen dialogischen Ansatz hin befragt, antwortet die Blendung mit einer klaren Absage an die Möglichkeit einer ästethischen Liebe und führt gerade ihr Gegenteil, die Koevolution von Autor und Figur unter negativen Vorzeichen ins Feld22.
Von der krass reduktionistischen Behandlung, die Canetti seiner Figur Kien zumutet, darf also auf ein auktoriales Bewußtsein geschlossen werden, das sich über das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit noch unsicher ist, weil es selbst teilweise noch im totalitären System eines fremden Bewußtseins - dem der Mutter - gefangen ist.
Der Autor steckt daher fast unkenntlich zwischen den Zeilen des Buches und zwischen den Figuren. Er versagt ihnen jedes Eigenleben, das zeigt die skeletthafte Leblosigkeit Peter Kiens23, jener peinigenden Wahnvorstellung seines Autors, und sein Ende - das Verbrennen auf dem Scheiterhaufen der Bücher - verrät deutlich, wie sehr ihm Canetti letzlich jegliches Mitleid und Mitgefühl entzogen hat.
Als mörderischer Vater von Kien und Fischerle reflektiert Canetti auf der erzählerischen Ebene des Romantextes seine gestalterische Leistung dabei mit:
„Seit diesem Tag führten die beiden einen Kampf auf Leben und Tod gegeneinander, von dem der eine nichts ahnte. Der andere, der sich als Schauspieler schwächer fühlte, nahm die Regie in die Hand und hoffte, seinen Nachteil auf diese Weise auszugleichen." (B 238)
An anderer Stelle tritt der Autor gleichsam auf einer Ebene mit den Figuren auf, schleicht sich in den Text ein; er wird zum Liftführer, ein bezeichnender Beruf, kann eine solche Person doch nach Belieben und auf Knopfdruck in auktoriale Sphären entschweben oder sich in das Gewirr des Figurenspiels hinabsenken. Der Liftführer ist seit sechsundzwanzig Jahren am Platz, so alt ist der Verfasser der Blendung gerade, er sorge für Ordnung heißt es, habe selbst drei Kinder, und der Leser kann ergänzen: die Kinder heißen Peter, Therese und Fischerle, es sind die Kinder des Autors, die dieser in der Halle des Theresianums um sich versammelt hat (B 320).
Im letzten Teil der Autobiographie reflektiert Canetti die abgründig bösen Qualitäten seines Romans, der im Untergang endet und bedenkt dabei auch das Verhältnis von Autor und Leser mit:
„Die Vorwürfe, die mir auch heute noch von wütenden Lesern gemacht werden, berühren mich nicht wirklich, auch wenn es Menschen sind, die ich für ihre Unschuld liebe und die ich darum selbst vor der Lektüre gewarnt habe. [...] Ich spüre dann, wie sie das Böse, von dem dieses Buch erfüllt ist, in mir suchen. Ich weißauch, daßsie es nicht finden, denn es ist nicht jenes Böse, das ich jetzt in mir habe, sondern ein anderes. Ich kann ihnen in ihrer Ratlosigkeit nicht helfen, denn wie sollte ich ihnen erklären, daßSonne mir damals dieses Böse abgenommen hat, indem er es vor meinen Augen aus allen Fugen und Ritzen des Buches herausgeholt hat und in einer rettenden Distanz von mir wieder zusammenfügte." (AS 198) Die langen Gespräche des Autobiographen mit Dr. Sonne (der unter dem Pseudonym Abraham ben Yitzchak mit nur elf Gedichten zum Begründer der neuhebräischen Dichtung wurde24 ) kreisen um die Figuren des Romans. Canettis hochgeschätzter Gesprächspartner gestand den Figuren des jungen Romanautors den Anspruch auf volle Wahrheit zu. Der ästethische Gesichtspunkt war aber schließlich von nachrangiger Bedeutung, wie der Autobiograph erklärt: „Denn unvergleichlich wichtiger waren die Zusammenhänge tieferer Art, die er vor mir enthüllte. Ich erwähne davon nichts." (AS 197)
Der Autobiograph, ein erklärter Gegner der „psychoanalytischen Verseuchung" (AS 138) offenbart in solchen Passagen eine ambivalente Haltung zu der damals noch jungen Wissenschaft. Vordergründig lehnt er die Psychoanalyse freilich ab, duldet sie auch bei anderen nicht. Bestes Beispiel ist Hermann Broch25. Dessen psychoanalytische Gesprächstermine finden regelmäßig im Anschluss an die Caféhausplaudereien mit Canetti statt, die dieser als frei und offen in Erinnerung hat (AS 36).
„Ich war sehr betroffen und schämte mich für ihn und wagte kaum, mir vorzustellen, daßer sich da auf eine Couch legen müsse und daßer ihr Dinge sagen würde, die sonst kein Mensch zu hören bekam, die er vielleicht nicht einmal aufschrieb." (AS 37)
Canetti selbst hat freilich alles aufgeschrieben, sein Manuskript der Blendung liegt dem Intimus Sonne vor und der liest im Buch die geheimen Seiten des Verfassers, holt das Böse heraus und setzt es in rettender Distanz wieder zusammen. Dr. Sonne trägt also unverkennbar die Züge eines Analytikers, der die Blendung gelesen hat und Canettis Unbewußtes erkennen und dem Autor offenbaren kann. Canetti verwehrt den Lesern seiner Autobiographie die Kenntnisnahme seiner persönlichsten Erfahrungen, darin ist eine „Berührungsangst"26 zu sehen, die er durch sein autoritatives Dichterbild verbirgt.
Für den Roman bedeutet diese Verweigerung aber geradezu, ihn als ein „enthüllendes Phantasma"27 lesen zu können, in dem Elias Canetti seine persönliche, individuelle, intime Wahrheit zuläßt. Canetti erweist Dr. Sonne hier einen späten Dank für die persönliche Auseinandersetzung mit Autor und Werk. Er formuliert aber auch gleich seine Einwände gegen diejenigen, die sich posthum nur noch mit dem Werk beschäftigen, die Literaturwissenschaftler und Psychoanalytiker unter seinen Lesern, denen seine autorhafte Empfindlichkeit Aufforderung zum genauen Hinschauen ist:
„Später, wenn er, der durch seine Empfindlichkeit sich erhalten und sein Werk vollbracht hat, tot ist und der Name häßlich und aufgedunsen wie ein stinkender Fisch auf allen Märkten herumliegt, können die Schnüffler kommen und alles besser wissen und nachträglich Vorschriften für ein ordentliches Benehmen erfinden und Empfindlichkeit als überdimensionierte Eitelkeit anprangern - das Werk ist da, sie können es nicht mehr vereiteln und sie selbst mitsamt ihrer Unverschämtheit werden dahinschmelzen und spurlos versickern." (AS 162)
An seinen späten Interpreten lässt Canetti kein gutes Haar, er will die Angriffe der unverschämten Schnüffler nicht ernst nehmen. Die unschuldigen Leser warnt Canetti vor dem Buch, die aufgeklärten Interpreten dagegen beschimpft er und aberkennt ihre Leistung, die sich an seinem unvergleichlichen Werk messen will und daran scheitern muss. Alles hat Canetti wohl bedacht, fein nuanciert er sein Mitgefühl für eine unkritische Leserschaft, deutlich gräbt er den späteren Kritikern das Wasser ab. Der Autobiograph verkündet seinen Anspruch auf die überlegene Größe und Gültigkeit seines Werks und postuliert zugleich sein gebieterisches, autoritatives Dichtungsverständnis28. Indem er mögliche Angriffspunkte benennt, verrät er eine gelungene auktoriale Distanzierung von seinem Roman. Canetti gibt auch zu, daßer Hilfe bei diesem Verarbeitungsprozess bekommen habe, gibt aber keinen Hinweis darauf, diese gesucht zu haben. Daßes dennoch geschah, die Hilfe in Form von Dr. Sonne sich einstellte, nimmt Canetti als natürlich an und impliziert so den Unterschied zwischen sich und Hermann Broch, dessen eifrigen Bemühungen um psychoanalytische Hilfe und Aufklärung er sich schämte.
Canetti unterstellt der Psychoanalyse nämlich reduktionistische, entindividualisierende Motive, vor denen die menschliche Vielfalt zur sterilen Langeweile verkommt.
„Die erstaunlichsten Dinge spielten sich ab in dieser Welt, aber es war immer der gleiche, öde Hintergrund, vor den man sie stellte, von diesem sprach man und hielt sie für erklärt und sie waren nicht mehr erstaunlich." (AS 138)
Diesen Angriff kann man auch als Reaktion auf die eigens erfahrene Überformung durch die Mutter verstehen, die dem autobiographischen Ich in ebenderselben Weise seine Individualität genommen hat.
Canettis Kritik an einer psychoanalytischen Verseuchung reiht den Schriftsteller ein unter eine beträchtliche Anzahl von Autorenkollegen der Wiener Moderne, die ihr Unbehagen an der Freudschen Wissenschaft zum Teil offen vortrugen. Canettis langjähriges Idol Karl Kraus, dessen satirische Fähigkeiten der Autobiograph stark bewunderte, faßt seine Antipathie in drastische Worte: „Nervenärzte, die uns das Genie verpathologisieren, soll man mit dessen gesammelten Werken die Schädeldecke einschlagen."29
Canetti formuliert eben diese bedrohliche Größe der Psychoanalyse, die von ihr dadurch ausging, daßjeder Autor durch sie, und zwar unfreiwillig und sogar öffentlich, mit seinen Werken zum quasi neurotischen Fall und Untersuchungsobjekt werden konnte30.
Dies hat Canetti für Die Blendung mitbedacht, denkt man an Peter Kien, der den Diwan mit Büchern belädt. In diesem Bild liegt die Literatur gleichsam auf der Couch der Psychoanalyse und wird der neuen Wissenschaft zum Analysanden.
In der Autobiographie fällt auf, daßCanetti seinem psychoanalytischen Wissen für sein Werk auch wesentliches zu verdanken hat. Im Kapitel Die Rechtfertigung (FO 136) erzählt er von der Auseinandersetzung mit Sigmund Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse. Das autobiographische Ich äußert zunächst die Einsicht in die Notwendigkeit einer bewußten, kritischen Lesehaltung und grenzt sich in seiner Entwicklung von der gefährlich blinden Lektüre früherer Jahre ab. Diese Einsicht vertieft sich nun in nämlicher Freud-Lektüre: „So erlernte ich während der zehn Vormittage im Sellrain die Wachsamkeit des Lesens. In diese Zeit vom 1. bis 10. August 1925 setze ich den eigentlichen Beginn meines unabhängigen geistigen Lebens. Die Abgrenzung gegen Freud stand am Anfang der Arbeit an dem Buch, das ich erst 35 Jahre später, im Jahre 1960 der Öffentlichkeit übergab." (FO 143f.) Diese Aussagen implizieren die eigentliche Bedeutung des primären Gegners Sigmund Freud, an dessen Thesen sich der spätere Romanautor Canetti im Widerspruch übte. Zu einer expliziten Wertschätzung ringt sich Canetti aber nicht durch und wie sehr er die Freudschen Erklärungsmuster verworfen hat, zeigt sich auch darin, dass dessen Buch erst im autobiographischen Spätwerk überhaupt Erwähnung findet, es dagegen in der Literaturliste zu Masse und Macht ungenannt bleibt, wo Canetti die Bücher verzeichnet hat, „die für die Gedankenbildung des Autors entscheidend waren, ohne die ihm bestimmte Erkenntnisse versagt geblieben wären."31 Nach den versöhnlichen Worten des Autobiographen hätte Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse also den ersten Platz verdient gehabt. Die Schuldigkeit einer expliziten Danksagung an Sigmund Freud drückt das starke Konkurrenzverhältnis zwischen dem Dichter Canetti und dem Wiener Psychologen aus.
Der väterliche Tod ist ein einschneidendes Ereignis im Leben des Autobiographen, er prägt nachhaltig die Beziehung des autobiographischen Ich zu seiner Mutter.
Canettis Lebensgeschichte endet mit ihrem Tod. Unter diesem Aspekt erscheint die Autobiographie auch als ein Versuch, der Toten zu gedenken und sich ihres Erbes würdig zu erweisen. Was die Toten schließlich mit den Lebenden verbindet ist ihr Testament, als schriftliches oder mündliches Zeugnis des letzten Willens.
In die Familiengeschichte der Blendung übersetzt, bedeutet ein Erbe primär die Erfüllung der langgehegten Wünsche; also das Möbelgeschäft, das Therese gerne hätte oder aber die erweiterten Bibliothek, von der der vaterlose Geselle Kien träumen darf.
Das Testament durchzieht als Motiv auch Canettis Autobiographie wie eine Linie, an der sich das autobiographische Selbstbewußtsein immer wieder aufrichtet. Es geht ihm freilich nicht um die materielle Seite des väterlichen Erbes, - für Geld hat Canetti bloßwahre Verachtung übrig - dafür spiegelt sich sowohl in seiner wie auch in der mütterliche Erinnerung an den Vater die Suche nach seinem Vermächtnis, nach seinen letzten Worten. Das Testament, die Verkündung des letzten Willens eines Verstorbenen, ist sowohl in der Autobiographie als auch im Roman von großer Wichtigkeit. Für das autobiographische Ich und dessen Mutter kündet das väterliche Testament von einer optimistischen Zukunft des Jungen. Den letzten Wunsch des Vaters faßt Canetti in folgende Worte: „Du brauchst nicht ein Kaufmann zu werden wie ich und die Onkel. Du wirst studieren und was dir am besten gefällt, wirst du werden." (GZ 55)
Die Berufung auf diese Worte ermöglicht es Elias, das verdeutlicht die Autobiographie, sich gegen die verhaßte Nützlichkeit des Gelderwerbs zu behaupten und seinen eigenen Weg zur Schriftstellerei zu gehen, sich seinen größten Wunsch zu erfüllen. Auch seiner Mutter überträgt sich das Gedenken an ihren Mann in die frohe Erwartung, der Sohn möge Dichter und Arzt werden. „Dein Vater hätte gern gehabt, daßdu ein Arzt wirst. [...] Er hat mir´s oft gesagt. Das hätte ihm die größte Freude gemacht." (GZ 152) So schließt sich die Lücke des väterlichen Todes für die Überlebenden, indem sie zur Projektionsfläche für die tiefsten, persönlichen Wünsche wird. So verstanden bedeutet das Testament für die Überlebenden einen Zugewinn persönlicher Freiheit. Die Erben der Verstorbenen sind ihrerseits dazu verpflichtet, der Verstorbenen ehrenvoll zu gedenken. Der Schriftsteller erbringt seinen Beitrag, das ist Canettis Überzeugung, indem er die Toten in seiner Dichtung aufnimmt und sie so lebendig erhält. Seine Autobiographie leistet dieses für die Mutter Hera Canetti, mit deren Tod Canetti seine Lebensgeschichte beschließt und wo es heißt: „ [...] und obwohl sie begraben ist, liegt sie da, wo sie krank immer war und in Worten holt er sie und sie kann ihn nicht verlassen." (AS 304)
Auf außertextueller Ebene erweitert sich der große, verwirrte Streit zwischen Therese und Peter Kien über ihr Testament somit zu einer Suche nach den letzten Worten ihrer Vaterfigur, des Romanautors Canetti, der wie sie lange mit der Suche nach der Wahrheit des väterlichen Testaments beschäftigt war. Wer sein Testament nicht erkennt, so lautet die autobiographische Botschaft an die Romanfiguren, der geht stets fehl und irre. Canetti enthält seinen Figuren das auktoriale Testament freilich vor und beweist so die tragische Konsequenz einer unbestimmten, fragwürdigen Herkunft. Das verfälschte Testament ist das unleserlich gewordene Vermächtnis des Autors an seine Figuren: Es gibt nichts Eindeutiges mehr zu lesen, das ist Canettis Botschaft an seine Figuren und an die Leser der Blendung.
III. Ergebnis
Der Autor Canetti hat zu guter Letzt seine wahre Bestimmung gefunden. Die Schmerzlichkeit seiner Suche, die deutlich empfundene Verantwortung, sich durch ein gültiges Werk zu rechtfertigen, haben aber tiefe Spuren hinterlassen. So ist Die Blendung das Zeugnis einer auktorialen Souveränität, die Canetti im prozesshaften Ringen erlangt hat. Durch zahlreiche Verwandlungen hindurch hat Canetti sich seiner Sprachherrschaft versichern müssen. Peter Kien muss im Roman aber untergehen, da er sich nicht verwandeln kann, sich immer gleichbleiben muss. Die Blendung erzählt also davon, wie unvorstellbar schlimm es ohne die menschliche Fähigkeit zur Veränderung und Entwicklung auch kommen kann, sie dient dem Autor als Gefäss seiner persönlichen Befürchtungen und Traumata. Canetti entledigt sich seiner Dämonen in Form der Romanfiguren und gewinnt zugleich die Sicherheit einer dichterischen Identität. Im Spiegel der Autobiographie werden Peter Kien und die übrigen irren Figuren des Romans zu düstersten Projektionen der Canettischen Verwandlungsfähigkeit. Peter Kiens törichter Lesewahn bezeichnet so eine Verlängerung der Canettischen Lektüreerfahrungen; Kiens lieb- und lebloser Eheschluss mit der Frau/Mutter Therese, der wegen seiner Asexualität hart bestraft wird, liest sich so als bitterernste Antwort des Autors auf sein kindlich ohnmächtiges Verhältnis zur Mutter.
Der junge Romanautor Elias Canetti kann seinen Figuren noch keine Hoffnung mitgeben, er hat sie selbst noch nicht, sondern erarbeitet sie sich erst an ihnen. Er bringt die autobiographisch bezeugte Wahrheit seines Lebens als düster-tödliche Ahnungen tief in seinen ersten Roman mit ein, ventiliert seinen bedrohlichen Erfahrungsschatz in die Figuren des Romans und gewinnt so sein eigentliches Leben als Dichter.
Die Autobiographie Canettis, sein vielbeachtetes, umfassendes Spätwerk, wird - im Kontext der Blendung - zum erfolgreichen Zeugnis der Gültigkeit menschlicher Freiheitssuche und zum Plädoyer für die Vielfalt und Individualität des menschlichen Wesens. Die drei Bände scheinen gewissermaßen ein nachgereichter, versöhnlicher Komplementärentwurf zur Blendung zu sein: Während Canetti im autopoietischen System des Romans die wahnsinnige Isolation eines hypertrophen Ich entwirft, das die Bücher an Stelle der Wirklichkeit setzt, so kündet die Autobiographie von der letzlich befreienden Ich-Individuation des Autors. In beiden Fällen, im Roman wie in der Autobiographie, bestimmt aber die Sprache des Menschen über Ich-Vernichtung oder Ich-Werdung, sie wird zum wahrhaften Medium des menschlichen Wesens.
So beweist Canettis auch, dass „in Wahrheit nicht die Sprache im Menschen steckt, sondern der Mensch in der Sprache [steht] und aus ihr redet."32 Canettis Anspruch auf die Gültigkeit seiner Erinnerungen und seines fiktiven Entwurfs ist zugleich seine Forderung nach echter, unverfälschter Subjektivität, nach einem Ich, das seiner einsamen Wahrheit gewahr geworden ist und desto unbedingter nach Beziehung verlangt33.
Die Blendung ist - im Licht der Autobiographie - Canettis Reifeprüfung, hier hat der Autor seine eigene Wahrheit, seine subjektive und geistige Substanz erlangt.
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Canetti, Elias:
(1) Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. Frankfurt/M. 1979 (1 München, Wien 1977)
(2) Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921 - 1931. Frankfurt/M. 1982 (1 München, Wien 1980)
(3) Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931 - 1937. Frankfurt/M. 1988 (1 München, Wien 1985)
(4) Die Blendung. Frankfurt/M. 1988 (1 Wien 1935)
Anz, Thomas: Psychoanalyse in der literarischen Moderne. In: Karl Richter, Jörg Schönert, Michael Titzmann [Hrsg.]: Die Literatur und die Wissenschaften 1770-1930. Stuttgart 1997; S. 377- 413
Bauer, Barbara: Kindheit zwischen Opfern und Tätern. In: literaturkritik.de Nr. 6/1999; S. 65-105
Bauer, Matthias: Romantheorie. Stuttgart 1997 (Sammlung Metzler)
Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt/Main 1981
Bollacher, Martin:
(a) [...] das Weitertragen des Gelesenen. In: Gerhard Neumann [Hrsg.]: Canetti als Leser. Freiburg 1996; S. 33-49
(b) „ich verneige mich vor der Erinnerung" In: Hüter der Verwandlung. Beiträge zum Werk von Elias Canetti. Frankfurt/Main 1988; S. 245-259
Buber, Martin: Ich und Du. In: Ders: Dialogisches Leben. Gesammelte Philosophische und Pädagogische Schriften. Zürich 1947; S.13-128
Eigler, Friederike: Das autobiographische Werk von Elias Canetti. Tübingen 1988 (Stauffenberg-Colloquium; Bd.7)
Fauser, Markus: Eremiten in der Bibliothek. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte. Bd.88/1994; S.184-209
Finck, Almut: Subjektbegriff und Autorschaft: Zur Theorie und Geschichte der Autobiographie. In: Miltos Pechlivanos, Stefan Rieger, Wolfgang Struck, Michael Weitz [Hrsg.]: Einführung in die Literaturwissenschaft. Stuttgart, Weimar 1995; S. 283-294
Knoll, Heike: Das System Canetti. Zur Rekonstruktion eines Wirklichkeitsentwurfs. Stuttgart 1993
Kraus, Karl: Die Fackel. Wien 1899-1936. Nachdruck: München 1968-1976
Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. In: Günter Niggl [Hrsg.]: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer Literarischen Gattung. Darmstadt 1998; S. 214-257
Magris:, Claudio Der Schriftsteller, der sich versteckt. In: Modern Austrian Literature 16.3/4, 1983; S. 177-195
Neumann, Gerhard: Lektüre und Lebenswelt. In: Ders. [Hrsg.]: Canetti als Leser. Freiburg 1996; S. 33-57
Paulsen, Wolfgang: Das Ich im Spiegel der Sprache: autobiographisches Schreiben in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Tübingen 1991
Scheichl, Sigurd Paul: Hörenlernen. Zur teleologischen Struktur der autobiographischen Bücher Canettis. In: Friedbert Aspetsberger, Gerald Stieg (Hrsg.): Elias Canetti: Blendung als Lebensform. Königsstein/Ts. 1985; S. 73-79
Sontag, Susan: Geist als Leidenschaft. In: Hüter der Verwandlung. Beiträge zum Werk von Elias Canetti. Frankfurt/Main 1988; S. 91-110
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Straub, Jürgen: Geschichten erzählen, Geschichte bilden. Grundzüge einer narrativen Psychologie historischer Sinnbildung. In: Ders. [Hrsg]: Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Erinnerung, Geschichte, Identität I. Frankfurt 1998; S. 81-169
[...]
1 Wolfgang Paulsen: Das Ich im Spiegel der Sprache, S. 165
2 Sigurd Paul-Scheichl: Hörenlernen. Zur teleologischen Struktur der autobiographischen Bücher Canettis, S. 87
3 Gerald Stieg: Elias Canetti und Karl Kraus. Ein Versuch, S. 200
4 Vgl. Almut Finck: Subjektbegriff und Autorschaft: Zur Theorie und Geschichte der Autobiographie, S. 286
5 Jürgen Straub: Zeit, Erzählung, Interpretation, S. 51
6 Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 351
7 Gerhard Neumann: Lektüre und Lebenswelt, S. 51
8 Susan Sontag: Geist als Leidenschaft, S. 95
9 Für Elias Canetti stellt Cervantes Don Quijote „das Wunschbuch schlechthin" dar; vgl. Markus Fauser: Eremiten in der Bibliothek, S. 204
10 Gerhard Neumann: Lektüre und Lebenswelt, S. 49
11 Vgl. Susan Sontag: Geist als Leidenschaft, S. 100
12 Vgl. Heike Knoll: Das System Canetti, S. 26
13 Vgl. Susan Sontag: Geist als Leidenschaft, S. 100
14 Vgl. Jürgen Straub: Geschichten erzählen, Geschichte bilden. Grundzüge einer narrativen Psychologie historischer Sinnbildung, S. 113
15 Vgl. Martin Bollacher: „ich verneige mich vor der Erinnerung", S.254
16 Markus Fauser: Eremiten in der Bibliothek, S. 196
17 Vgl. Martin Bollacher: „ich verneige mich vor der Erinnerung", S. 256
18 Vgl. Thomas Anz: Psychoanalyse in der literarischen Moderne
19 Vgl. Markus Fauser: Eremiten in der Bibliothek, S. 192
20 Vgl. Barbara Bauer: Kindheit zwischen Opfern und Tätern, S. 103
21 Vgl. Matthias Bauer: Romantheorie, S. 129
22 ebd., S.130
23 Vgl. Markus Fauser: Eremiten in der Bibliothek, S. 197
24 Kindlers Neues Literatur Lexikon (1988): Die Blendung, S. 574
25 Brochs eben erschienene Autobiographie Psychisches Selbstporträt (Suhrkamp, Frankfurt am Main 1999) gibt explizit Auskunft über die psychoanalytischen Selbsterkenntnisse des Autors
26 Claudio Magris: Der Schriftsteller, der sich versteckt, S. 192
27 Vgl. Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 252
28 Vgl. Martin Bollacher: „...das Weitertragen des Gelesenen", S. 41
29 K. Kraus: Die Fackel Nr. 256 (5. Juni 1908), S. 21
30 Vgl. Thomas Anz: Psychoanalyse in der literarischen Moderne
31 Elias Canetti: Masse und Macht, S. 574
32 Vgl. Martin Buber: Ich und Du, S. 49
33 Vgl. ebd, S. 73
- Citar trabajo
- Tim Heptner (Autor), 1999, Elias Canettis autobiographisches Ich im Spiegel seines Romans "Die Blendung", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/94746
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