Erst im Jahr 2005 gedachte man wieder des 50. Jahrestages der endgültigen Unabhängigkeit Österreichs. Im Jahre 1955 ging die 10jährige Besatzungszeit der Befreier Österreichs zu Ende. Befreit werden musste Österreich von der Herrschaft des Nationalsozialismus, welcher sich seit Anfang der 1930er Jahre in Deutschland und Österreich ausbreitete und dem nach und nach europäische Länder zum Opfer fielen bis schließlich 1939 der zweite Weltkrieg die Folge einer Expansions- und Vernichtungspolitik war. Viel wurde und wird diskutiert über die Gründe, warum die Bevölkerung den politischen Führern folgte und diese Ideologie entweder nicht durchschaute oder gar mittrug. Zwei Szenarien sind denkbar: Entweder musste die Angst vor Sanktionierung derart groß gewesen sein, dass man sich nicht auffällig verhal-ten oder gar etwas am System kritisieren wollte. Oder, man erhoffte sich Vorteile durch das neue aufkommende Gesellschaftssystem, mit dem ja auch ein neues Wirtschaftssystem einherkam. Und die schlechte Wirtschaftslage gegen Ende der 1920er Jahre wird, neben den politischen Konsequenzen für Europa nach dem ersten Weltkrieg, als eine der Hauptursachen für die Entwicklungen der 1930er Jahre in Deutschland (und auch Österreich sowie anderen Ländern, die in unterschiedlich stark ausgeprägten Formen des Faschismus ihr Heil suchten) angesehen.
So gab es lt. Karner (2005, S. 193-195) in weiten Teilen des Landes einen massiven Anstieg der Arbeitslosenquote. Es kam regelrecht zu einer Verarmung von ganzen Bevölkerungstei-len. Man sprach gar von einer Bettlerplage. Zudem kam es auch zu einer Vergrößerung des Unterschiedes zwischen Arm und Reich. So war es nicht verwunderlich, dass die neue Politik des NS-Regimes verlockend für einen großen Teil der Bevölkerung war. Dies sollte sich mit Erkenntnissen der RC-Theorie, der Soziobiologie und der Systemtheorie decken: Das vorrangige Ziel ist das Überleben (der Gene, des Systems oder wie immer man das untersuchte Subjekt auch bezeichnen mag). Nach Abraham Maslow stehen zum Überleben notwendige Grundbedürfnisse (Essen, Kleidung, Wohnmöglichkeit, usw. – also in modernen Gesellschaft vor allem Geld, welches meist durch Arbeit verdient wird) an erster Stelle, erst wenn diese befriedigt sind, macht sich das Individuum Gedanken um soziale Kontakte, persönliche Entfaltung, Moral, usw.
Inhaltsverzeichnis
Teil 1 – Literatur als Soziologie?
1 Einleitung
2 Der Roman
3 Analyse ausgewählter Textpassagen
4 Schlussfolgerungen
Quellenverzeichnis
Teil 2 – Ein Analyseversuch mit Hilfe der Grounded Theory
1 Einleitung und Problemstellung
2 Über Buch und Autor
3 Offenes Kodieren
3.1 Die Methode
3.2 Anwendung am Buch
3.2.1 Benennen der Kategorien
3.2.2 Eigenschaften und Dimensionen der Phänomene
4 Axiales Kodieren
4.1 Die Methode
4.2 Anwendung am Buch
5 Interpretation der Ergebnisse
6 Schlussfolgerungen und Ausblick
Quellenverzeichnis
Anhang
Sinn des Lebens
„In Zukunft wird alles besser“
Leistungsgesellschaft
Lebensverhältnisse
Systemaufbau
Identifikationsfiguren
Naturgesetz
Kriegsbegeisterung
Erfahrungsdefizite
Kriegsführungsmethoden
Der Krieg ist der Vater aller Dinge.
Ich habe mit meinem Vater nichts mehr zu tun.
(Horvath, 1938)
Teil 1 – Literatur als Soziologie?
1 Einleitung
Erst im Jahr 2005 gedachte man wieder des 50. Jahrestages der endgültigen Unabhängigkeit Österreichs. Im Jahre 1955 ging die 10jährige Besatzungszeit der Befreier Österreichs zu Ende. Befreit werden musste Österreich von der Herrschaft des Nationalsozialismus, welcher sich seit Anfang der 1930er Jahre in Deutschland und Österreich ausbreitete und dem nach und nach europäische Länder zum Opfer fielen bis schließlich 1939 der zweite Weltkrieg die Folge einer Expansions- und Vernichtungspolitik war. Viel wurde und wird diskutiert über die Gründe, warum die Bevölkerung den politischen Führern folgte und diese Ideologie entweder nicht durchschaute oder gar mittrug. Zwei Szenarien sind denkbar: Entweder musste die Angst vor Sanktionierung derart groß gewesen sein, dass man sich nicht auffällig verhalten oder gar etwas am System kritisieren wollte. Oder, man erhoffte sich Vorteile durch das neue aufkommende Gesellschaftssystem, mit dem ja auch ein neues Wirtschaftssystem einherkam. Und die schlechte Wirtschaftslage gegen Ende der 1920er Jahre wird, neben den politischen Konsequenzen für Europa nach dem ersten Weltkrieg, als eine der Hauptursachen für die Entwicklungen der 1930er Jahre in Deutschland (und auch Österreich sowie anderen Ländern, die in unterschiedlich stark ausgeprägten Formen des Faschismus ihr Heil suchten) angesehen.
So gab es lt. Karner (2005, S. 193-195) in weiten Teilen des Landes einen massiven Anstieg der Arbeitslosenquote. Es kam regelrecht zu einer Verarmung von ganzen Bevölkerungsteilen. Man sprach gar von einer Bettlerplage. Zudem kam es auch zu einer Vergrößerung des Unterschiedes zwischen Arm und Reich. So war es nicht verwunderlich, dass die neue Politik des NS-Regimes verlockend für einen großen Teil der Bevölkerung war. Dies sollte sich mit Erkenntnissen der RC-Theorie, der Soziobiologie und der Systemtheorie decken: Das vorrangige Ziel ist das Überleben (der Gene, des Systems oder wie immer man das untersuchte Subjekt auch bezeichnen mag). Nach Abraham Maslow stehen zum Überleben notwendige Grundbedürfnisse (Essen, Kleidung, Wohnmöglichkeit, usw. – also in modernen Gesellschaft vor allem Geld, welches meist durch Arbeit verdient wird) an erster Stelle, erst wenn diese befriedigt sind, macht sich das Individuum Gedanken um soziale Kontakte, persönliche Entfaltung, Moral, usw.
Karner (2005, S. 173-175) nennt weitere Ursachen, die zum Aufstieg des Nationalsozialismus führten: Vorhandene deutschnationale Grundtendenzen etwa. Nationalismus wird in der wissenschaftlichen Fachliteratur bis ins 16. Jhdt. zurückverfolgt, ist also kein neues Phänomen. Zusammen mit der von Kuzmics/Mozetic (2003, S. 142-164) beschriebenen Untertanenmentalität in Deutschland, die nach Auffassung von manchen Wissenschaftlern wie auch einigen Literaten den Weg zum Faschismus ebnete, bildete dieser einen guten Nährboden für die NS-Bewegung. Weiters nennt Karner (2005, S. 174), dass durch das NS-Regime Klassen und Stände überwunden wurden und stattdessen nur mehr von einem Volk die Rede war. Dies sprach zweifellos die anwachsende Zahl an unterpriviligierten Menschen an. Hinzu kam die zielstrebige und konsequente Durchsetzungspolitik von oben herab und eine Mystifizierung der Führerpersönlichkeit Hitlers, was bewirkte, dass man geneigt war anzunehmen, dass die da oben schon wissen werden, was sie tun. Doch das sind alles zu abstrakte und verallgemeinerte Ursachenzuschreibungen. Was ging in einem Individuum zu jener Zeit wirklich vor? Zwar gibt es heute große Sammlungen von Zeitzeugenaussagen und –interviews (u. a. am Oral-History Archiv der Universität Graz), jedoch wurden solche Interviews lange nach jener Zeit gemacht und geben somit Erinnerungen wieder. Aus den 1930er oder 40er Jahren gibt es wohl kaum Dokumente von Personen, die deren Empfinden, Denken und Handeln während des NS abbilden und zu erklären helfen, wie sich diese Bewegung trotz der im Nachhinein unbezweifelten zahlreichen Verbrechen für einige Jahre durchsetzen konnte.
2 Der Roman
Literarische Zeitdokumente gibt es sehr wohl. Bücher und Texte von Regimegegnern ebenso wie von Fürsprechern. Wie Kuzmics/Mozetic (2003, S. 108) in ihrer Abhandlung darüber, ob und welche Literatur sich für soziologische Analysen eignet, darlegen, scheinen Beispiele aus literarischen Zeitdokumenten gerade dann angebracht, wenn es eben um diese Mikroebene geht, auf der sich die Handlungen von Menschen abspielen. Wenn Gefühle, Wertvorstellungen, Interaktionen, usw. im lebensweltlichen Kontext des Individuums geschildert werden, so kann man aus diesen Beispielen zusätzliche Erkenntnisse ziehen, bzw. schon vorhandenes Wissen besser einordnen oder aus neuen Perspektiven betrachten. So können dann soziodemografische, ökonomische und Daten z. B. aus empirischen soziologischen Studien mit solchen Beispielen aus der Literatur zusammengebracht werden um sodann zusätzliche Analysemöglichkeit zu begründen. Selbstverständlich darf man literarische Schilderungen nicht für bare Münze nehmen und ist angehalten, diese anhand von ev. weiteren literarischen Beispielen, vor allem aber auch historischen, soziologischen u. a. Quellen zu überprüfen. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll dies nun geschehen: Der Roman Ein Kind unserer Zeit von Horvath (1985) dient als literarische Quelle, mit deren Hilfe die psychischen Vorgänge und Verhaltensweisen eines Menschen nachgezeichnet werden sollen, der sich dem NS-Regime bereitwillig unterwarf. Dabei werden Vergleiche mit der Analyse des Buches Der Untertan, durchgeführt von Kuzmics/Mozetic (2003, S. 142-164), angestellt. Ergänzend werden, wo es notwendig erscheint, Beiträge aus der historischen Fachliteratur und Biografien hinzugezogen.
Der Roman erschien 1938, also kurz vor Beginn des zweiten Weltkriegs, und schildert in einer Art innerer Monolog, einer Nacherzählung aus der Ich-Perspektive mit fallweisem Einbau der direkten Rede, die Erlebnisse, Gedanken und Gefühle eines jungen Soldaten (Anfang 20) in einem Zeitraum im Deutschland der 1930er Jahre. Diese Erzähltechnik erinnert ein wenig an das Transskript eines narrativen Interviews, wie es auch mit Zeitzeugen gemacht wird. Als Vorteil des vorliegenden Romans ist allerdings anzuführen, dass die ‚Erinnerungen’ frischer und reflektierter sind, da sie in jener Zeit nach einer bewussten Auseinandersetzung des Autors mit den Entwicklungen seiner Zeit niedergeschrieben wurden und nicht erst Jahrzehnte nach den Ereignissen.
Aufgewachsen bei seinem Vater, welcher im ersten Weltkrieg kämpfte und mit dem es oft Streit gab aufgrund unterschiedlicher politischer Anschauungen, zieht der Akteur schließlich aus und verbringt einige Jahre arbeitslos in ärmlichen Verhältnissen, dass Essen von Wohlfahrtsorganisationen empfangend und zusehends die Hoffnung verlierend. Er verachtet zusehends jene, die es besser haben als er. Schließlich meldet er sich beim Militär, wird aufgenommen und geht den Weg durch die untersten Ränge. Im Heer fühlt er sich gut aufgehoben, genießt die Zugehörigkeit zur Gruppe und die finanzielle Sicherheit. In seinem Hauptmann sieht er eine Führerfigur, die ebenso wie die Führer des Staates weiß, was sie tut. Ihm vertraut man. Auf einem Rummelplatz lernt er ein Mädchen kennen, sieht es aber nicht wieder. Im weiteren Verlauf kämpft er als Freiwilliger im Ausland bei der Okkupation eines kleinen Landes. Dort begeht sein Hauptmann Selbstmord, was erste Zweifel im Akteur aufkommen lässt. Als er den Hauptmann noch vor dem sicheren Tod retten will, wird er am Arm angeschossen und kann somit verletzt die Heimreise antreten. Der Zustandes des Armes ist schlimm und verbessert sich nur langsam – für das Militär ist er nun nicht mehr zu gebrauchen. Er zieht wieder beim Vater ein und erfährt später auch, dass dieses Mädchen, welches er vor seinem Kampfeinsatz sah, inzwischen aufgrund einer Schwangerschaft gekündigt und wegen der nachfolgenden illegalen Abtreibung sogar eingesperrt wurde. Jetzt kommen ihm endgültig Zweifel am gesellschaftlichen System und dessen Wertvorstellung, die dem Einzelnen nicht viel Bedeutung beimessen. Schlussendlich bringt er sich ebenfalls um, da er die Sinnhaftigkeit des Systems vermisst.
Das Werk hat einerseits die Besetzung des Rheinlandes sowie die Unterstützung Francos in Spanien zum Hintergrund, und drückt andererseits Horvaths Kritik am NS-Regime aus. Es geht dem Autor bewusst um eine Aufklärung vor den Gefahren des Nationalsozialismus, wobei er auf gekonnte Weise die Stimmung gegen Ende der 1930er Jahre wiedergibt.[1] Horvath selbst war zu diesem Zeitpunkt erst 36 Jahre alt, war sich der Empfindungen jüngerer Generationen also bestimmt noch gewahr. Maria Arnold meint zum Realismusgehalt des Romans:
Mit großer Sparsamkeit des Ausdrucks gestaltete Ödön von Horvarth dieses Schicksal, lauschte es dem wirklichen Leben ab, das hinter jedem Wort pulsiert. Er lässt die Tragik dieses jungen Mannes aus dem Elend der Arbeitslosigkeit erstehen, die ihn auf Pfade drängt, wo das Böse gutgeheißen und Unrecht zum Recht erhoben wird. Hinter den schmucklosen Worten wird die Dumpfheit dieses Alltags spürbar, sein kleines Streben, das nur vom eigenen Wohlergehen geleitet wird, unberührt von den sozialen Kämpfen. (S. 264)
Stefan Zweig, der selbst erst nach den Schrecken des ersten Weltkrieges zum Kriegsgegner wurde, urteilte über den Roman wie folgt:
Seine ( Horvaths ) beiden Romane Jugend ohne Gott und Ein Kind unserer Zeit stellen das vielleicht realistischste Bild jener Generation dar, die in Deutschland während der verzweifelten Nachkriegsjahre ( erster Weltkrieg ) aufwuchs. Nirgends ist das leidenschaftliche Verlangen dieser Jugend, aus einer Atmosphäre, die von politischem Haß und sozialen Spannungen vergiftet war, zu entfliehen, überzeugender dargestellt. Und diese Romane, die den Stempel wahrer Dichtung tragen und Meisterwerke ihrer Art sind, stellen eines der wichtigsten deutschen Dokumente jenes Zeitalters dar. (S. 264)
3 Analyse ausgewählter Textpassagen
Analysiert werden Stellen, welche die damalige Aussichtslosigkeit vieler Menschen wiederspiegeln. Es soll veranschaulicht werden, wie sich durch das NS-System eine neue Sicherheit im Alltag auftat, die viele nicht mehr missen wollten. Vorraussetzung dafür war, sich den Führern unterzuordnen und nichts zu hinterfragen. Dies deckt sich mit dem Begriff der doppelten Kontingenz aus dem Bereich der Systemtheorie (Luhmann 2004, S. 315-323): Gibt es niemanden, der sich unterordnen will, so wird auch niemand herrschen können. Bereits Simmel sprach von der Dualität des Menschen, der sowohl nach Unabhängigkeit als auch nach einer Gruppenzugehörigkeit sprach. Und die Zugehörigkeit zu einer Gruppe impliziert auch stets eine Unterwerfung zumindest unter die Regeln der Gruppe. Diese Gruppenregeln wiederum können in Form einer Ideologie auftreten, wie sie dies zu Zeiten des Dritten Reiches taten. Soziologisch interessant ist nun, wie bereits in der Einleitung erwähnt, welche Gründe zur Unterwerfung unter eine solche Ideologie führten, bzw. warum man unreflektierender Teil des Systems bleibt. Roman wie Analyse beginnen mit einer Schilderung der Umstände welche dazu führten, dass der Akteur zum Militär ging:
Denn eigentlich bin ich viel älter, besonders innerlich. Und daran ist nur eines Schuld, nämlich die jahrelange Arbeitslosigkeit. Als ich die Schule verließ, wurde ich arbeitslos. ... Aber es war ja nichts zu machen. Alles umsonst! Nicht einmal zum Lehrling konnte ich’s bringen in irgendeiner Vorstadtdruckerei. Von der inneren Stadt ganz zu schweigen. ... Und ich wurde der Wohltätigkeit überwiesen, zuerst der staatlichen, dann der privaten – Da stand ich in einer langen Schlange und wartete auf einen Teller Suppe. ... Ich löffelte die Suppe. ... Die Sonne wurde länger und die Stürme wärmer – Ich löffelte die Suppe. ... Viele Ideen gehen durch meinen Kopf, kreuz und quer. Mit jedem Löffel Suppe werden sie ekelhafter. Plötzlich hör ich auf. ... Ich mag nicht mehr! ... Nein, ich mag sie nicht mehr, meine Suppe! Tag für Tag dasselbe Wasser! Mir wird’s schon übel, wenn ich’s nur seh, diese Bettelbrühe! ... Ich brauch einen neuen Rock, eine ganze Hose – eine andere Suppe! Abwechslung, Herrschaften! Abwechslung! Lieber stehlen als betteln! Und so dachten auch viele andere von unserer Schlange, ältere und jüngere – es waren nicht die schlechtesten. ... Ich bin doch auch ein anständiger Mensch und es war ja nur die Hoffnungslosigkeit meiner Lage, dass ich so schwankte wie das Schilf im Winde – sechs trübe Jahre lang. Die Ebene wurde immer schiefer und das Herz immer trauriger. Ja, ich war schon sehr verbittert. (S. 11-12)
Hier wird ausgesprochen, was auch durch zahlreich historische Quellen belegt ist, nämlich die triste Situation am Arbeitsmarkt zur damaligen Zeit. Die Folgen der Aussichtslosigkeit auf ein geregelten Lebens zeichnen sich ab. Hoffnungslosigkeit und Eintönigkeit im Alltag bringen selbst anständige Menschen dazu, kriminell zu werden. Das Leben war offensichtlich so unerträglich geworden, dass jede Art von Abwechslung willkommen gewesen wäre. In einer solchen Situation, in der sich offenbar viele Menschen befanden, ist wohl jeder willkommen, der eine Verbesserung verspricht und man wird kaum lange überlegen, vor welchem Hintergrund diese Hilfe angeboten werden kann. Die Hauptperson meldet sich schließlich beim Militär, welches in jener Zeit natürlich Soldaten benötigte. Wobei hier das Militär (obwohl es für die weitere Romanhandlung wichtig ist) wohl auch als Sinnbild für das allgemeine Mehr an Arbeitsplätzen gesehen werden kann. Auch die Industrie und das Baugewerbe wuchsen in den 1930er Jahren, die Infrastruktur wurde ausgebaut, usw. Die soziale und materielle Sicherheit, in welcher er sich ab diesem Zeitpunkt wiegt, kommt in folgendem Ausschnitt zum Ausdruck:
Aber heut bin ich wieder froh! Denn heute weiß ich’s, wo ich hingehör. Heut kenn ich keine Angst mehr, ob ich morgen fressen werde. Und wenn die Stiefel hin sind, werden sie geflickt, und wenn der Anzug hin ist, krieg ich einen neuen, und wenn der Winter kommt, werden wir Mäntel bekommen. ... Jetzt ist alles fest. Endlich in Ordnung. Adieu, ihr täglichen Sorgen! Jetzt ist immer einer neben dir. Rechts und links, Tag und Nacht. (S. 14)
Es geht also um ganz legitime Motive. Zugehörigkeit zu einer Gruppe die einem Sicherheit bietet, sowie die Gewissheit, die elementarsten materiellen Bedürfnisse befriedigen zu können.
Jetzt hat mein Dasein plötzlich wieder Sinn! Ich war ja schon ganz verzweifelt, was ich mit meinem jungen Leben beginnen sollte. Die Welt war so aussichtslos geworden und die Zukunft so tot. Ich hatte sie schon begraben. Aber jetzt hab ich sie wieder, meine Zukunft, und lasse sie nimmer los, auferstanden aus der Gruft! (S. 11)
Noch ist also weder etwas von nationalistischen Tendenzen zu erkennen noch von einem Untertanencharakter, wie ihn Diederich Heßling im Untertan schon im Verhalten gegenüber seinem Vater zeigt (Kuzmics/Mozetic 2003, S. 147). Der Akteur verhält sich ganz und gar nicht untertänig seinem Vater gegenüber. Immer wieder kam es zum Streit, da es ideologische Differenzen zwischen beiden gab. Der Vater hatte im ersten Weltkrieg gekämpft und war ein Gegner des Krieges, der Sohn allerdings hat diese Zeiten nicht miterlebt, verabscheute sie geradezu, und wollte ob der schlechten Lage seiner Zeit ein anderes System – etwas Abwechslung eben – Fortschritt. Durch die Verbesserung seiner eigenen Situation scheint sich ein Stolz auf sein Vaterland eingestellt zu haben, welches er zuvor hasste:
Ein starkes und mächtiges Reich , ein leuchtendes Vorbild für die ganze Welt! Und es soll auch einst die ganze Welt beherrschen, die ganze Welt! Ich liebe mein Vaterland, seit es seine Ehre wieder hat! Denn nun hab auch ich sie wieder, meine Ehre! Ich muß nicht mehr betteln, ich brauch nicht mehr zu stehlen. Heute ist alles anders. Und es wird noch ganz anders werden! ... Denn wir haben erkannt, dass das Höchste im Leben des Menschen das Vaterland ist. Es gibt nichts, was darüber steht an Wichtigkeit. ... Wenn es dem Vaterland gut geht, geht es jedem seiner Kinder gut. (S. 16)
Die Rede ist vom Vaterland, welches vom NS-Regime bewusst mit dem Image eines sozial gerechten Staates, der dem kleinen Mann hilft und Heimat der Volksgemeinschaft ist, versehen wurde (Echternkamp 2005, S. 34). Angehöriger der Volksgemeinschaft zu sein war statusbegründend. Arbeiter, Bauer oder Beamter war man von Beruf, aber Mitglied der deutschen Volksgemeinschaft zu sein, bedeutete Mitglied einer neuen Elite zu sein (Karner 2005, S. 271). Wie Heßling im Untertan Personen verehrt, wird hier das Vaterland verehrt. Offensichtlich ist man dem Vaterland dankbar für alles was es getan hat und zollt ihm dafür entsprechenden Respekt, bzw. ist bereit, es dafür zu unterstützen. Ein Untertanencharakter ist auch nicht aus der Beziehung zu seinem Hauptmann zu erkennen. Der Hauptmann ist die einzige Person, die der Akteur nicht hasst (Horvath 1985, S. 28).
Wir lieben auch unseren Hauptmann. Er ist ein feiner Mann, gerecht und streng, ein idealer Vater. Langsam schreitet er uns ab, jeden Tag, und schaut nach, ob alles stimmt. Nicht nur, ob die Knöpfe geputzt sind – nein, er schaut durch die Ausrüstung hindurch in unsere Seelen. Das fühlen wir alle. Er lächelt selten und lachen hat ihn noch keiner gesehen. Manchmal tut er uns fast leid, aber man kann ihm nichts vormachen. Wie er möchten wir gerne sein. Wir alle. (S. 14-15)
Der Hauptmann – eine der wenigen Autoritätspersonen für den Akteur im Roman – wird eher verehrt und bewundert als gefürchtet, eher als gutmütiger Vater und nicht als strenger Vorgesetzter gesehen. Es zeigt sich aber, dass solche verehrte Figuren (auf der Makroebene Hitler, auf der Mikroebene eben der Hauptmann), eine notwendige Notwendigkeit für den Aufbau und Erhalt eines Systems wie des NS-Regimes sind. Im Untertan hat Heßling eine ganz und gar andere Beziehung zu einer ähnlich bewunderten Person. Diese Person verkörpert für Heßling geradezu die ganze Ehre der Studentenverbindung. Heßling erachtet sich selbst als weniger wertvoll und unterwirft sich innerlich seinem Gegenüber (Kuzmics/Mozetic 2003; S. 153). Dieser Untertanencharakter in Bezug auf Personen des täglichen Lebens scheint in Ein Kind unserer Zeit nicht vorzukommen. Zu beachten sind aber die Milieuunterschiede, in denen die Handlungen der beiden Romane spielen: Heßling gehört einer studentischen Verbindung an und wird Akademiker zu Zeiten der Monarchie, der Akteur im Kind unserer Zeit kommt aus der ärmlichen unteren sozialen Schicht der Zwischenkriegszeit des 20. Jhdts. Er unterwirft sich, wenn er davon profitiert. Eine unterschiedliche Erziehung und Vermittlung von Werten und Normen ist anzunehmen. Zu erkennen ist eine Untertanenmentalität nur im Sinne einer Unterwerfung unter das Vaterland und dessen Führer.
Mit der Lieben kommt man in den Himmel, mit dem Haß werden wir weiterkommen - - Denn wir brauchen keine himmlische Ewigkeit mehr, seit wirs wissen, dass der einzelne nichts mehr zählt – er wird erst etwas in Reih und Glied. Für uns gibt’s nur eine Ewigkeit: das Leben unseres Volkes. Und nur eine himmlische Pflicht: für das Leben unseres Volkes zu sterben. Alles andere ist überlebt. (S. 23)
Viel wichtiger ist neben der Existenzsicherung das Gemeinschaftsgefühl, ob dies nun die Kameraden beim Militär oder die gesamte Volksgemeinschaft im Vaterland ist. Diese Untertänigkeit gegenüber der Führung und das Wohlfühlen in einer Gemeinschaft wird auch im Untertan beschrieben: Kuzmics/Mozetic (2003, S. 151) sprechen von der Herausbildung eines Korpsgeistes und der Loyalität gegenüber einer größeren Gruppe. Dies geschah natürlich vor allem innerhalb von studentischen Verbindungen. Die einfache Bevölkerung erreichte man zu Zeiten des NS-Regimes durch eine gewaltige Propagandamaschinerie. Die zunehmende Verbreitung von Massenmedien und die gleichzeitige Kontrolle derer durch die politischen Eliten ermöglichte es, zugleich Einfluss auf die gesamte Bevölkerung zu nehmen und sie auf die neue Ideologie einzuschwören (Echternkamp 2005, S. 94). Die Herausbildung eines nationalen Habitus versuchte man im modernen Dritten Reich u. a. durch die Institution Schule zu erreichen (Weimer/Jacobi 1992, S. 179-219): „Du bist nichts, Dein Volk ist alles!“, lautete damals das Motto in der Pädagogik zwischen 1933 und 1945. Ideelle Gesichtspunkte wie auch pragmatische Kalküle im Sinne einer Kriegsvorbereitung der Jugendlichen bestimmten die Schulpolitik. Rassenlehre im Biologieunterricht und die Heranzüchtung von dem Reich verpflichteten Bürgern waren die Schwerpunkte.
Das Vaterland ruft und nimmt auf das Privatleben seiner Kinder mit Recht keine Rücksicht. Es geht los. Endlich! – Einst, wenn die Zeit, in der wir leben, vorbei sein wird, wird es die Welt erst ermessen können, wie friedlich wir gewesen sind. Wir zwinkern uns zu. Denn wir lieben den Frieden, genau wie wir unser Vaterland lieben, nämlich über alles in der Welt. Und wir führen keine Kriege mehr, wir säubern ja nur. (S. 36)
[...]
[1] Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Ein_Kind_unserer_Zeit, Stand: 11. 1. 2006
- Arbeit zitieren
- Bakk. Bakk. Mag. Manfred Hammerl (Autor:in), 2006, Das Erstarken des Nationalsozialismus am Beispiel eines Kindes seiner Zeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/94629
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