Ziel der Arbeit ist es, im Rahmen eines systematischen Reviews eine eigenständige Zusammenfassung des Forschungsstands zum Thema Achtsamkeit und individuelles Stresserleben auf Grundlage der einschlägigen theoretischen und empirischen Forschungsliteratur zu verfassen. Im Zuge des systematischen Reviews werden Befunde aus 15 geeigneten Primärstudien, die dem deutsch- und englischsprachigen Raum entstammen, in die Ausarbeitung eingehen.
Unter zuvor festgelegten Schlüsselwörtern werden in Datenbanken Primärstudien recherchiert, tabellarisch und im Fließtext aufbereitet sowie anschließend diskutiert. Berücksichtigt werden nur Studien, welche Achtsamkeit im Zusammenhang von Stresserleben und Wohlbefinden bei gesunden Menschen fokussieren. Achtsamkeit als Maßnahme im klinischen Kontext bei spezifischen Krankheitsbildern wie Krebs oder Angststörungen wird innerhalb des systematischen Reviews nicht behandelt, denn der Fokus der Arbeit liegt auf der Darstellung der Effekte von Achtsamkeit als Methode zur Stressbewältigung bei gesunden Menschen.
Aufgrund des noch recht jungen wissenschaftlichen Forschungszweiges hinsichtlich des Effektes von Achtsamkeitspraxis widmet sich diese Arbeit dieser Thematik. Dieses systematische Review möchte dazu beitragen, der Frage nachzugehen, ob achtsamkeitsbasierte Interventionen alternative und ergänzende Ansätze zur Reduktion von individuellem Stresserleben bei gesunden Menschen sein können. Bestehende Limitationen der Datengewinnung und Interpretation der randomisierten kontrollierten Studien zu dieser komplexen Fragestellung werden aufgezeigt und kritisch reflektiert.
Inhaltsverzeichnis
1 EINLEITUNG UND PROBLEMSTELLUNG
1.1 Gegenstand der Arbeit
1.2 Problemstell
2 ZIELSETZUN
3 GEGENWÄRTIGER KENNTNISSTAN
3.1 Herausforderungen der heutigen Lebens- und Arbeitswe
3.1.1 Beschleunigungsprozesse der Lebenswelt
3.1.2 Herausforderungen der Arbeitswelt
3.1.3 Konsequenzen des Wandels
3.2 Konsequenzen des Wandels: Der Umgang mit Stress
3.2.1 Begriffserklärung Stress
3.2.2 Begriffserklärung individuelles Stresserleben
3.2.3 Begriffserklärung Stressbewältigung
3.3 Sichtweisen von Gesundheit und Krankh
3.3.1 Begriffserklärung Gesundheit
3.3.2 Begriffserklärung Krankheit
3.3.3 Das biomedizinische Krankheitsmodell
3.3.4 Das biopsychosoziale Krankheitsmodell
3.3.5 Das Konzept der Salutogenese
3.3.6 Die Stressmodelle
3.4 Achtsamke
3.4.1 Begriffserklärung Achtsamkeit
3.4.2 Historische Wurzeln von Achtsamkeit
3.4.3 Achtsamkeit im W esten
3.4.4 Prinzipien der Praxis von Achtsamkeit
3.5 Übungen und Programme der Achtsamkeitspraxi
3.5.1 Übungen zur Achtsamkeitspraxis
3.5.1.1 Atemtechniken
3.5.1.2 Meditation
3.5.1.3 Hatha-Yoga
3.5.1.4 Body-Scan
3.5.2 Programme
3.5.2.1 Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR)
3.5.2.2 Mindfulness-Based Cognitive Stress Therapy (MBCT)
3.5.2.3 Weitere achtsamkeitsbasierte Programme
3.6 Aktueller Forschungsstand
3.7 Zusammenfassung aus dem Kenntnissta
4 METHODI
4.1 Forschungsfr
4.2 Ein- und Ausschlusskriterien für Stud
4.3 Struktur der Suchstrategie
5 ERGEBNISS
5.1 Ergebnisse der Suche
5.1.1 Exkludierte Studien
5.1.2 Inkludierte Studien
5.1.3 Bewertung des Biasrisikos
5.1 Effekte der Intervention
5.1.1 Stress
5.1.2 Wohlbefinden
6 DISKUSSION
6.1 Interpretation der Ergebnis
6.2 Methodische Limitationen des systematischen Reviews
6.3 Schlussfolgerung und Ausblick
7 ZUSAMMENFASS
8 LITERATURVERZEICHNIS
9 ABKÜRZUNGS-, ABBILDUNGS-, TABELLENVERZEICHNIS
9.1 Abkürzungsverzeichnis
9.2 Abbildungsverzeichni
9.3 Tabellenverzeich
ANHA
Anhang 1: Cochrane Library Suchstrin
Anhang 2: PubMed Suchstrate
Anhang 3: CINHAL Suchstrategie
Anhang 4: ClinicalTrials.gov Suchstrategi
Anhang 5: Hogrefe Suchstrateg
Anhang 6: PsycINFO Suchstrateg
1 Einleitung und Problemstellung
1.1 Gegenstand der Arbeit
Achtsamkeit verspricht das Leben im Hier und Jetzt, die Bereitschaft, im Leben gegenwärtig zu sein (Williams & Penman, 2016, S.7). Besonders in Zeiten des stetigen und rasanten Wandels durch den technologischen Fortschritt mit Smartphones, Tablets sowie Laptops, durch soziale Vernetzung mittels Facebook und Instagram oder durch weltweite politische Veränderungen besteht eine große Reizüberflutung und eine immense Informationsflut für den Menschen[I] (Kabat-Zinn, 2013, S. 24). Diese Reizüberflutung und die ständige Bereitschaft für Anpassung bieten wenig Beständigkeit für den Menschen, woraus Angst und Stress resultieren können. Der wachsende Wunsch nach Beständigkeit, nach etwas Greifbarem, das dem Leben Halt verleiht, scheint eine logische Konsequenz zu sein (Williams & Penman, 2016, S.7). Bei all den genannten Anforderungen aus der Außenwelt bietet das Praktizieren von Achtsamkeit Entschleunigung, indem der Blick weg von äußeren Reizen hin zum Inneren und zum bloßen Sein gerichtet wird (Kabat- Zinn, 2013, S. 25-26).
Die Anzahl wissenschaftlicher Publikationen zum Thema Achtsamkeit ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Waren es 2001 noch unter 50 Treffer zum Stichwort mindfulness (englisch für Achtsamkeit) in der medizinischen Datenbank, so sind es 2019 bereits über 6000 (PubMed, 2019). Immer mehr Menschen googeln seit dem Jahr 2004 in Deutschland den Begriff Achtsamkeit, wie sich via Google Trends nachweisen lässt (Google Trends, 2019). Angefangen bei der buddhistischen Lehre vor etwa 2500 Jahren bahnte sich Achtsamkeit den Weg in die aus dem Buddhismus entstandene Yogalehre, in neumodische Praktiken zur Work-Life-Balance, in Ratgeber zur achtsamen Lebensführung und Trend-Magazinen wie „Flow“ und „Happinez“ sowie in Programme und Techniken zur Achtsamkeitspraxis (Gebauer & Brückner, 2018, S. 105). Gleichermaßen entstand ein neuer Markt im Bereich der Apps. Meditationen können unter Anleitung mit einer App täglich durchgeführt werden. In Deutschland ist die Meditations-App „7Mind“ führender Anbieter (Heschel, 2018, S. 17).
Auch deutsche Printmedien wie „Die Zeit“ oder die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ setzten sich im Kontext von Stress mit Achtsamkeit auseinander. Eine Publikation der „Zeit“ sprach gar von einem Achtsamkeitshype in der heutigen Gesellschaft und hinterfragte, ob die Achtsamkeitspraxis tatsächlich bei Stress, Schmerzen, anstrengenden Kollegen, Depressionen und Konzentrationsschwierigkeiten helfen kann: „Oder boomt die Technik nur deshalb, weil unsere Smartphones uns all unsere Aufmerksamkeit stehlen und wir in einer beschleunigten Welt keinen klaren Gedanken mehr fassen können?“ (Klein, 2019). Gegenstand dieser Arbeit ist die systematische Erfassung der Effekte von Achtsamkeitstraining als Form der Stressbewältigung hinsichtlich des individuellen Stresserlebens bei gesunden Menschen.
1.2 Problemstellung
Der Begriff Stress gewinnt in unserer Zeit zunehmend an Bedeutung. Aus dem technischen Fortschritt resultiert zwar der Eindruck eines Zeitgewinns, der aber aufgrund der Schnelllebigkeit und des Gefühls von Zeitdruck zunichte gemacht wird. Sprichwörter, wie „Zeit ist Geld“ oder „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen“ spiegeln diese gesellschaftlichen Einstellungen wider. Der Trend zur Beschleunigung mündet oftmals in eine Überforderung, sodass Stress zu den wichtigsten gesundheitlichen Risikofaktoren zählt, mit denen Menschen in der modernen westlichen Gesellschaft konfrontiert sind (Kaluza, 2012, S. 4). Stress ist per se nicht gesundheitsschädlich, sondern, wie der Vater der Stressforschung, Hans Selye (1982, S. 127) sogar meinte, „die Würze des Lebens“. Im Sinne einer kurzfristigen Aktivierung beziehungsweise einer Herausforderung hat Stress positive Aspekte und Facetten (Kaluza, 2018, S. 30). Stress kann Kraft sowie Energie verleihen und euphorisierend wirken. Als der Mensch noch als Jäger und Sammler lebte, war die Stressreaktion sogar überlebensnotwendig. Die Stressoren aus der Umwelt, die dem Menschen in der heutigen Gesellschaft begegnen, sind nicht unbedingt lebensbedrohlich, können aber zu erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen (Struhs-Wehr, 2017, S. 31-33). Dies trifft besonders dann zu, wenn Stress chronifiziert eine dauerhafte Widerstandbereitschaft des Individuums erfordert (Kaluza, 2018, S. 31).
Laut einer Umfrage der Techniker Krankenkasse aus dem Jahr 2016, bei der 1200 Menschen ab dem Alter von 18 Jahren befragt wurden, fühlten sich sechs von zehn Menschen gestresst. Sogar 23 Prozent der Befragten gaben an, sich häufig gestresst zu fühlen. Dauerhafter Stress hat Auswirkungen auf die Gesundheit, sowohl auf die physische als auch auf die psychische. Die Befragung legt ferner dar, dass der subjektiv wahrgenommene Stress bei 60 Prozent der Befragten innerhalb der vorherigen drei Jahre zugenommen hat (Techniker Krankenkasse, 2016, S. 6). Immer häufiger treten durch Stress induzierte psychische und physische Erkrankungen wie Herzinfarkt, Depressionen, Angststörungen, Burnout und viele mehr auf (Sauer, 2012, S. 12). Gemäß der Weltgesundheitsorganisation, kurz WHO, sind Depressionen als psychische Erkrankung der häufigste Auslöser für lange Krankheitszeiten und Fehltage im Betrieb und einer der elementaren Faktoren von psychischen Gesundheitsproblemen in Europa (Weltgesundheitsorganisation-Regionalbüro für Europa, 2019). Auch Krankenkassen gaben 2016 an, dass sie „seit 15 Jahren eine Zunahme stressbedingter Krankschreibungen“ verzeichneten (Techniker Krankenkasse, 2016, S. 2).
Der Gesundheitsreport der Deutschen Angestellten-Krankenkasse, kurz DAK, aus dem Jahr 2018, bei dem 5000 Beschäftigte befragt wurden, verzeichnete einen Anstieg von Arbeitsunfähigkeitstagen von 246,2 auf 249,9 Tage pro 100 Versichertenjahre der psychischen Erkrankungen im Beruf. Psychische Erkrankungen standen demnach mit 16,7 Prozent an zweiter Stelle der wichtigsten Krankheitsarten im Jahr 2017 nach den MuskelSkelett-Erkrankungen mit 21,8 Prozent (Marschall, et al., 2018, S. 7). Die Behandlung psychischer Erkrankungen zählt zu den kostenintensivsten Behandlungsarten. Depressionen, gefolgt von Reaktionen auf Belastungen sowie Anpassungsstörungen und weitere neurotische Störungen führen das Feld der psychischen Krankheiten an. Der Zuwachs von Arbeitsunfähigkeitstagen in Folge psychischer Erkrankungen war kein Sonderfall für das Jahr 2017, sondern eine Entwicklung, welcher sich die DAK seit dem Jahr 1997 wegen stetig ansteigender Krankheitstage widmet (Marschall, et al., 2018, S. 19-22).
Der psychologische Psychotherapeut und Coach Gert Kaluza (2018, S.6) warf die Frage auf, ob es sich um eine reale Zunahme psychischer Erkrankungen handle oder ob die vermehrte Diagnosestellung am Zuwachs von Arbeitsunfähigkeitstagen beteiligt sei. Er maß der Sensibilität von Ärzten sowie Patienten gegenüber psychischen Belastungen auch eine große Bedeutung zu. Nichtsdestotrotz kam er zu dem Schluss, dass es eine gesellschaftliche Herausforderung ist, die psychische Gesundheit zu verbessern. Vor dem Hintergrund des Anstiegs von Stress in der Gesellschaft geriet auch die Auseinandersetzung mit der Stressbewältigung in das öffentliche Interesse. Aus diesem Grund ist der Begriff Achtsamkeit in aller Munde. Folgt man den Schlagzeilen in der Presse oder in sozialen Medien, scheint das Praktizieren von Achtsamkeit ein Allheilmittel zu sein: gegen Stress, Burnout, Kopfschmerzen, Depressionen und vieles mehr. Achtsamkeitsbasierte Verfahren werden immer mehr im Kontext des Stressmanagements angewendet. Wie die zuvor erläuterte Umfrage der Techniker Krankenkasse aus dem Jahr 2016 zeigte, stieg zugleich der individuell wahrgenommene Stress dennoch an. Deshalb gilt zu prüfen, ob die Achtsamkeitspraxis Auswirkungen auf das individuelle Stressempfinden hat oder nur marginale Auswirkungen auftreten, die langfristig keine Veränderungen am individuellen Stressempfinden bewirken. Trotz der Auseinandersetzungen mit der Achtsamkeitspraxis ist das Feld der wissenschaftlichen Achtsamkeitsforschung noch recht jung, sodass zahlreiche Befunde noch ausstehen (Hölzel & Brähler, 2015, S.11). Eine aktuelle systematische Analyse des Themas Achtsamkeit und individuelles Stresserleben fehlt noch. Diese Forschungslücke gibt den Anlass, sich mit den Wirkungen beziehungsweise Wirkmechanismen von Achtsamkeit auseinanderzusetzen. Es kann festgehalten werden, dass die wissenschaftliche Achtsamkeitsforschung noch ein junges Feld ist, welches keine endgültigen Ergebnisse liefert, sondern vielmehr Raum zur Anschlussforschung bietet.
2 Zielsetzung
Durch die individuellen und gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen und Veränderungen stellt die Stressprävention/-bewältigung eine unverändert große Herausforderung für Krankenkassen, Arbeitgeber, Beschäftigte und alle Betroffenen dar. Beunruhigend ist außerdem die Tatsache, dass aufgrund der anhaltenden Veränderungen in der Gesellschaft und dem Verlust von sinn- und haltgebenden sozialen Strukturen das Belastungsniveau für den Menschen künftig noch mehr ansteigen wird (Kaluza, 2019; Rosa, 2016, S. 469). Ob Freizeit-, Leistungs-, Zeit- oder Beziehungsstress: Das Wort Stress hat sich den Weg in sämtliche Lebensbereiche gebahnt, und es scheint gerade so, als diktiere die Begriff- lichkeit das Leben der Menschen. Dauerhaft anhaltender und wiederkehrender Stress kann, wie eingangs ausgeführt, eine Ursache für psychische und physische Erkrankungen sein (Kaluza, 2012, S. 4).
Neben den Auswirkungen von Stress auf den Menschen hat Stress zudem ökonomische Folgen. Die Kosten für Unternehmen und die Volkswirtschaft, welche durch psychische Erkrankungen aufgrund von Stress entstehen, nehmen zu (psyGA-ein Angebot der Initiative Neue Qualität der Arbeit, 2019). Gemäß des repräsentativen Berichts „Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit“ der Bundesregierung beliefen sich nach Schätzungen die Produktionsausfallkosten in Folge psychischer Erkrankungen im Jahr 2013 auf 8,2 Milliarden Euro (Bundesministerium für Arbeit und Soziales-BMAS, 2014, S. 161). Im Jahr 2015 betrugen diese Kosten 9,5 Milliarden Euro (Bundesministerium für Arbeit und Soziales-BMAS, 2016, S. 42). Im Jahr 2017 lagen sie bei 12,2 Milliarden Euro, sodass ein Anstieg der Produktionsausfallkosten aufgrund psychischer Erkrankungen in diesem Zeitraum festgestellt wurde (Bundesministerium für Arbeit und Soziales-BMAS, 2018, S. 117). Die Kosten, die unmittelbar durch psychische Krankheiten angefallen waren, sind hierbei noch gar nicht miteinberechnet. Das Statistische Bundesamt verzeichnete zwischen den Jahren 2002 und 2012 einen Anstieg der direkten Krankheitskosten durch psychische Erkrankungen von 10,6 auf 14,5 Milliarden Euro (Statista, 2019). Unter den direkten Kosten werden alle Ausgaben verstanden, welche die Krankheitsbehandlung inklusive präventiver, rehabilitativer sowie pflegerischer Maßnahmen umfassen.
Da Gesundheit ein hohes Gut des Menschen ist und maßgebenden Einfluss auf verschiedene Lebensbereiche besitzt, stellt die Suche nach effektiven Stresspräventionsmaßnahmen eine Anforderung an das Gesundheitssystem und die wissenschaftliche Stressforschung dar.
Ziel der Arbeit ist es, im Rahmen eines systematischen Reviews eine eigenständige Zusammenfassung des Forschungsstands zum Thema Achtsamkeit und individuelles Stresserleben auf Grundlage der einschlägigen theoretischen und empirischen Forschungsliteratur zu verfassen. Im Zuge des systematischen Reviews werden Befunde aus 15 geeigneten Primärstudien, die dem deutsch- und englischsprachigen Raum entstammen, in die Ausarbeitung eingehen. Unter zuvor festgelegten Schlüsselwörtern werden in Datenbanken Primärstudien recherchiert, tabellarisch und im Fließtext aufbereitet sowie anschließend diskutiert. Berücksichtigt werden nur Studien, welche Achtsamkeit im Zusammenhang von Stresserleben und Wohlbefinden bei gesunden Menschen fokussieren. Achtsamkeit als Maßnahme im klinischen Kontext bei spezifischen Krankheitsbildern wie Krebs oder Angststörungen wird innerhalb des systematischen Reviews nicht behandelt, denn der Fokus der Arbeit liegt auf der Darstellung der Effekte von Achtsamkeit als Methode zur Stressbewältigung bei gesunden Menschen.
Aufgrund des noch recht jungen wissenschaftlichen Forschungszweiges hinsichtlich des Effektes von Achtsamkeitspraxis widmet sich diese Arbeit dieser Thematik. Dieses systematische Review möchte dazu beitragen, der Frage nachzugehen, ob achtsamkeitsba- sierte Interventionen alternative und ergänzende Ansätze zur Reduktion von individuellem Stresserleben bei gesunden Menschen sein können. Bestehende Limitationen der Datengewinnung und Interpretation der randomisierten kontrollierten Studien zu dieser komplexen Fragestellung werden aufgezeigt und kritisch reflektiert.
3 Gegenwärtiger Kenntnisstand
3.1 Herausforderungen der heutigen Lebens- und Arbeitswelt
3.1.1 Beschleunigungsprozesse der Lebenswelt
Der Terminus Lebenswelt wurde erstmals von Edmund Husserl geprägt (Lippuner, 2018, S. 21). Er versteht darunter das Resultat „der natürlichen Auseinandersetzung des Menschen mit seiner sozialen Welt“ (Husserl 1936; zitiert nach Kraus, 2006, S.120). Die Auseinandersetzung mit der Umwelt findet einerseits in verschiedenen sozialen und kulturellen Kontexten und andererseits unter variierenden Bedingungen statt, sodass sich die Lebenswelten der Menschen voneinander unterscheiden. Demnach ist die Lebenswelt kein objektives, sondern vielmehr ein subjektives Konstrukt, welches individuell verschieden ist (Kraus, 2006, S. 120). Die heutige Lebenswelt ist geprägt von diversen Beschleuni- gungs- und Wandelprozessen.
Zum Verständnis der Stressentstehung ist es unabdingbar, gesellschaftliche Veränderungen zu betrachten, denn der Wandel der Lebenswelten birgt andersartige Stressoren und Belastungen, die unser Leben entscheidend gestalten. Kaluza beschreibt, dass das Erweitern des Blickwinkels der eigenen Stressbelastungen hin zu gesellschaftlichen Transformationen und Ursachen hilft, das Verständnis um eigens erlebten Stress zu erweitern (Kaluza, 2012, S. 51).
Rafael Ball (2014, S.1) erläutert in seinem Buch „Die pausenlose Gesellschaft. Fluch und Segen der digitalen Permanenz“, dass den technischen Errungenschaften eine große Bedeutung hinsichtlich der Veränderungen in unserer Lebenswelt zukommen. Bereits Balls Buchtitel enthält den Hinweis, dass Beschleunigung, Flexibilisierung und Digitalisierung im 21. Jahrhundert einen besonderen Stellenwert besitzen. Der Soziologe Hartmut Rosa widmet sich in seinen Recherchen systematisch der Dynamik gesellschaftlicher Prozesse (Heschel, 2018, S. 6). Er unterscheidet zwischen drei Dimensionen der Beschleunigung: technische Beschleunigung, Beschleunigung des Lebenstempos und die Beschleunigung des sozialen Wandels (Rosa, 2016, S. 124).
Unter der technischen Beschleunigung werden rasante Entwicklungen im Transportwesen und in der Möglichkeit der Kommunikation verstanden (Rosa, 2016, S. 124). Seit der Entwicklung des ersten funktionstüchtigen Computers im Jahre 1941 bahnen sich die technologischen Errungenschaften im Sinne einer digitalen Revolution den Weg (Ball, 2014, S. 2).
Ball (2014, S. 2-29) bezeichnet diese Lebenswelt als „Zeitalter der digitalen Information und Kommunikation“ und gibt an, dass es fast keine Lebenssparte mehr gibt, welche nicht von Digitalisierungsprozessen durchdrungen ist. Das Internet scheint omnipräsent zu sein: Lesen funktioniert via E-Papers, Kommunizieren über soziale Netzwerke und Apps wie Facebook, Instagram oder WhatsApp, Einkaufen über Amazon oder Zalando, rund um die Uhr Fernsehen ohne Sendeschluss über Netflix - um nur einige Möglichkeiten zu nennen (Kabat-Zinn, 2013, S. 24). Die technische Beschleunigung ermöglicht, dass mit einem Mausklick eine Bestellung erfolgt, die bereits am selben Tag geliefert wird. Ball bezeichnet diesen Trend als „Fluch und Segen“ (Ball, 2014, S. 30-31).
Die zweite Dimension nach Rosa, die Beschleunigung des Lebenstempos, beschreibt das Streben des Menschen nach einem erfüllten und erlebnisreichen Leben. Genau genommen meint Rosa damit eine „Steigerung der Zahl an Handlungs- oder Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit“ (Rosa, 2016, S. 135). Damit kommt zum Ausdruck, dass ein erfülltes Leben für den Menschen dann existiert, wenn es sich auch um ein angefülltes Leben handelt. Die Steigerung an Aktivitäten geht einher mit dem Verkürzen von Pausenzeiten, dem gleichzeitigen Abhandeln von mehreren Dingen sowie dem beschleunigten Ausführen von Tätigkeiten (Rosa, 2016, S. 136). Die Autorin dieser Arbeit findet, dass diese Dimension in Verbindung mit der technischen Beschleunigung als sich gegenseitig potenzierende Dynamiken, die künftig wachsen werden, betrachtet werden können. Die digitale Revolution ermöglicht dem Menschen, immer mehr und schneller Handlungsepisoden auszuführen. Der Wunsch des Menschen nach der Steigerung der Erlebnisepisoden bedingt, dass die Transformation technischer Errungenschaften keinen Halt macht.
Die letzte Dimension, die Beschleunigung des sozialen Wandels, umfasst Transformationen des gesellschaftlichen Zusammenlebens (Rosa, 2016, S. 129). Lebensformen und Lebenslagen unterliegen einem Wandel, was von Sozialwissenschaftlern mit den Konstrukten „Pluralisierung“ und „Individualisierung“ beschrieben wird (Hettlage , 2000, S. 72). Auch die Bedeutung von Ländergrenzen nimmt ab, wodurch die Möglichkeit für Globalisierungsprozesse im Sinne von Migrationsprozessen eröffnet wird (Peukert, 2012, S. 24).
Die Pluralisierung der Lebensformen äußert sich in der Abweichung von der traditionellen bürgerlichen Familienform und der Bildung neuer Formen des Zusammenlebens: Patchwork-Familien, Pflege- und Adoptivfamilien, gleichgeschlechtliche Lebensformen, Wohngemeinschaften - hiermit sind nur einige Beispiele genannt. Die Pluralisierung der Familienform ist vorwiegend von vier Entwicklungen geprägt: dem Entstehen neuer Haushaltstypen, der Diversifikation der Haushaltstypen, der Feminisierung von Haushaltsvorständen und dem vielmaligen Wechsel zwischen verschiedenen Haushaltstypen. Der Umbruch der Konstrukte Haushalt und Familie geht zu Lasten der Eheschließungen, deren Anzahl zurückgeht (Peukert, 2012, S. 27-28). Dadurch wird die Familie als Institution und Haltgeber schwächer (Kaluza, 2012, S. 58-59).
Die Individualisierung von Lebensformen ist gekennzeichnet von der Tendenz des Menschen, als Handlungs- und Entscheidungsträger die Welt aktiv zu gestalten sowie zu lenken und sich ihr nicht passiv einzuordnen (Hettlage, 2000, S. 83). In Verbindung mit Individualisierungsprozessen wird besonders die Rolle der Frau in Deutschland seit den 1960er Jahren mit dem Zuwachs der Bedeutung der Berufskarriere als Konkurrenz zur Familie betont (Peukert, 2012, S. 31).
3.1.2 Herausforderungen der Arbeitswelt
Da sich das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen maßgeblich von der Arbeitswelt beeinflussen lässt, berufliche Tätigkeiten einen großen Teil der Lebenszeit in Anspruch nehmen und somit erheblichen Einfluss auf das individuelle Wohlergehen haben, werden Herausforderungen sowie Umbrüche der Arbeitswelt in diesem Kapitel gesondert betrachtet (Badura, 2018, S. 1). Generell ist Erwerbsarbeit sinn- sowie identitätsstiftend und verleiht soziale sowie monetäre Absicherung (Ohlbrecht, 2018, S. 117). Einerseits ist die Arbeitstätigkeit eine essenzielle positive Einflussgröße auf die psychische und physische Gesundheit des Menschen (Kaluza, 2012, S. 53). Andererseits stellen Umbruchentwicklungen der Arbeitswelt Risiken für das psychische und physische Wohlergehen dar. Die im Kapitel zuvor genannten Aspekte Digitalisierung, Flexibilisierung, Beschleunigung und Globalisierung sind auch grundlegende Kennzeichen der Veränderungen in der Arbeitswelt (Kaluza, 2018, S. 38).
Nach Strobel (2018, S. 37) werden in den Diskursen der Arbeitssoziologe im Wesentlichen vier Dimensionen grundlegender Wandelerscheinungen der Arbeitswelt benannt: Wandel in der Dimension des Handlungsspielraums, Wandel der Technik, Wandel in der zeitlichen Dimension des Arbeitslebens und Wandel in der örtlichen Dimension des Arbeitslebens. Diese Dimensionen haben alle eine Komponente gemeinsam: die Flexibilisierung. Diese macht sich in der räumlichen (beispielsweise Homeoffice), der zeitlichen (beispielsweise Ausbreitung der Gleitzeit) und der funktionalen Komponente (beispielsweise Selbstverwirklichung durch Arbeit), welche aufgrund der digitalen Dimension stark geprägt werden, bemerkbar (Eisenmann & Wienzek, 2018, S. 178). Durch Flexibilisierungsprozesse erhält der Mensch anhand zeitlicher sowie räumlicher Mobilität mehr Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheit. Die Kehrseite der Flexibilität ist der gestiegene Konkurrenzdruck durch zunehmend mehr befristete Arbeitsverhältnisse, sodass es heute nicht mehr gängig ist, in dem Unternehmen, in dem ursprünglich die Lehre gemacht wurde, bis zur Rente zu bleiben (Rosa, 2016, S. 347). Der Anstieg der Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten führt dazu, dass der Handlungsspielraum auch bei der Entscheidungsfindung nach dem schulischen Werdegang den Menschen vor eine große Wahl zur Selbstverwirklichung stellt.
Der Forschungszweig der Arbeits- und Industriesoziologie fasst die Neuerungen, die sich seit den 1970er Jahren vollziehen, unter der Begrifflichkeit „Entgrenzung“ der Arbeit zusammen (Sauer, 2012, S. 4). Die Entgrenzung wird als Überkategorie der Flexibilisierung der Arbeit betrachtet und resultiert in der vielfältigen Gestaltungsmöglichkeit was die Lokalität, die Zeitdimension und die Beschäftigungsform von Arbeit betrifft. Entgrenzung wird verstanden als: ... der Prozess der Erosion von institutionellen und motivationalen Grenzziehungen ... und wird sichtbar in der Auflösung der Grenzen zwischen globalisierten Märkten und den einzelnen Unternehmen, der Aufhebung der Trennung von Ar- beits- und Lebenswelt sowie der Verschmelzung zwischen dem Unternehmen als Institution und dem Arbeitnehmer als Individuum. (Sauer, 2012, S. 4-5)
Die Entgrenzung der (Arbeits-)Zeit hat Folgen, die auch der Soziologe Rosa (2016, S. 346) beschreibt: Werden zeitliche Grenzen aufgelöst, Dinge nicht mehr nacheinander erledigt und begrenzt, resultiert daraus eine Vergleichzeitigung. Nicht ohne Grund sind Recherchen zum Terminus „Multitasking“, dem Vergleichzeitigen verschiedener Aufgaben oder Aktivitäten, ein Gegentrend zu Suchanfragen nach Achtsamkeit (GOOGLE TRENDS). Dieses Vergleichzeitigungsphänomen äußert sich in der Beschleunigung von Produktionsprozessen mit dem Ziel der Produktionssteigerung zum Bestehen in den globalisierten Märkten, und es führt zur intensiveren, anspruchsvolleren und scheinbar nie enden wollenden Arbeit (Kaluza, 2018, S. 38). Die Entgrenzungs- und Vergleichzeitigungsentwicklungen in der Arbeitswelt haben Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen.
3.1.3 Konsequenzen des Wandels
In diesem Kapitel gilt es zu klären, was die Konsequenzen aus sozialen, wirtschaftlichen und digitalen Veränderungen für den Menschen sind. Die skizzierten Entwicklungen der Arbeits- und Lebenswelt wirken sich in vielfältiger Art und Weise auf das psychische und physische Wohlergehen des Menschen aus. Der Mensch ist mit neuartigen Anforderungen konfrontiert, mit denen es umzugehen gilt. Die Trennung zwischen Arbeits- und Privatwelt scheint sich Stück für Stück aufzulösen, was zu einem neuen Aushandeln bezüglich Regenerationsprozessen und der Work-Life-Balance führt (Ohlbrecht, 2018, S. 125). Die dargestellten Tendenzen von Beschleunigung der Lebenswelt, Entgrenzung von Arbeit und Vergleichzeitigung von Handlungen erhöhen gesundheitliche Risiken, welche immer größeren Teilen der Beschäftigten widerfahren. Die Arbeitswelt ist besonders durch Gefährdungen wie steigendem Leistungs- und Zeitdruck, dem Rückgang des Privatlebens und unsicheren Beschäftigungsformen gekennzeichnet (Sauer, 2012, S. 11). Mit dem Umbruch der Erwerbsarbeit von der Industriearbeit zur Dienstleistung als Hauptbeschäftigung haben sich auch die Arbeitsanforderungen gewandelt. Physikalische Belastungen der Industriearbeit sind im Gegensatz zu den beschriebenen neuartigen Gefährdungen der Arbeitswelt zurückgegangen (Kaluza, 2012, S. 52). Die Beschleunigung des digitalen Wandels erfordert eine immanente Lernbereitschaft des Menschen (Rosa, 2016, S. 176).
Wie zu Beginn der Ausarbeitung skizziert, hat individuell empfundener Stress innerhalb der vergangenen drei Jahre zugenommen (Techniker Krankenkasse, 2016, S. 6). Der Anstieg psychischer Erkrankungen lässt vermuten, dass durch den Beruf hervorgerufener Stress und mit ihm auch Erkrankungen, wie Depressionen zunehmen (Sauer, 2012, S. 12). Aus diesem Grund gewinnen individuelle Bewältigungsstrategien, Kompetenzen zur Regulierung von Anspannung und Entspannung sowie betriebliches Gesundheitsmanagement an Bedeutung.
Besonders in Zeiten des rasanten Wandels - bei dem Limitierungen des bis dato Machbaren gebrochen werden und sich durch gewonnene wissenschaftliche Erkenntnisse sowie durch den digitalen Fortschritt neuartige Möglichkeiten des Zusammenlebens ergeben - ist es grundlegend, das gesellschaftliche Zusammenleben anhand von Werten und Regeln neu auszuhandeln. Deswegen spielt die Sicherung durch politische und rechtliche Organe und das Streben nach Vertrauen, Gerechtigkeit und Gemeinschaftssinn im Privat- und Berufsleben eine große Rolle (Badura, 2018, S. 2). Damit kann der zunehmenden Tendenz von Unsicherheit und Instabilität als Risikofaktor für die Ausbildung eines soliden Selbstbildes und starker Beziehungen entgegengesteuert werden (Ducki, 2012, S. X). Es lässt sich festhalten, dass der Mensch vor dem Hintergrund des multidimensionalen Umbruchs angehalten ist, stetig Anpassungen vorzunehmen, um nicht . die Anschlussvoraussetzungen und -optionen für die Zukunft“ zu verlieren (Rosa, 2016, S. 190). Das immer neue Anpassen bietet kaum Halt für den Menschen, was zur Folge hat, dass Unsicherheit, Angst und gar Stress entstehen.
Der Mensch ist zwar dazu angehalten, Schritt mit den Entwicklungstrends zu halten, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben, gleichzeitig allerdings auch, und dies erscheint der Autorin wesentlich wichtiger, um sich mit der Frage zu beschäftigen, wie er die eigene Lebenszeit verbringen möchte, wie er leben will (Rosa, 2016, S. 481).
3.2 Konsequenzen des Wandels: Der Umgang mit Stress
3.2.1 Begriffserklärung Stress
Stress ist ein Begriff, der alltagssprachlich unpräzise und gar inflationär verwendet wird, da die Begrifflichkeit für Reaktionen, Herausforderungen und heikle Situationen angewendet wird (Myers, 2014, S. 525). Stress ist in den vergangenen Jahren von vielen Forschungszweigen, beispielsweise der Medizin, der Soziologie, der Biologie und der Psychologie, untersucht worden. Das ist auch der Grund, warum zahlreiche verschiedene Definitionsversuche und Bedeutungen existieren (Kaluza, 2018, S. 15). Die nachfolgenden Beispiele veranschaulichen einige der vielfältigen Begriffsbestimmungen. Ursprünglich entstammt das Wort dem lateinischen Begriff „stringere“ und kann im Deutschen übersetzt werden mit „zusammenziehen“ (Litzcke, Schuh & Pletke, 2013, S. 2). Laut Duden wird Stress einerseits als „erhöhte Beanspruchung, Belastung physischer oder psychischer Art“, andererseits als „(umgangssprachlich) Ärger“ definiert (Duden Redaktion, 2015, S. 1710).
Eine biologische Betrachtungsweise versteht unter Stress einen „psychophysischen Zustand, bei dem Abweichungen von der Homöostase vorliegen, die durch die verfügbaren, routinemäßigen Reaktionen nicht kompensiert werden können“ (Kaluza, 2018, S. 18).
Als „Zustand erhöhter Aktivität des Endokriniums u. Vegetativums mit diffuser Erregung des Sympathikus als Reaktion auf heftige, die Integrität des Organismus attackierende Reize“ erläutert die medizinische Perspektive den Stressbegriff (Roche Lexikon Medizin, 2019).
Es wird ersichtlich, dass die Begriffsbestimmungen darauf verweisen, dass die Stressforschung ein interdisziplinäres Feld darstellt. Eine umfassende Betrachtung aus Sichtweise der verschiedenen Disziplinen erfolgt an dieser Stelle nicht, sondern lediglich eine Annäherung an den Terminus. Erschwerend für das Festlegen auf eine alleinige Definition ist die Tatsache, dass nicht nur wissenschaftliche Forschungszweige Erklärungen von Stress vornehmen, sondern zahlreiche weitere gesonderte Bedeutungen von Individualpersonen vorhanden sind. Ein Geschäftsmann versteht unter Stress wahrscheinlich Zeit- und Termindruck, wohingegen ein Sportler muskuläre Spannung als Stress anerkennt. Laut Selye steckt in jeder dieser Vorstellungen über das Stressphänomen ein Stück Wahrheit: „Iron- ically, there is a grain of truth in every formulation of stress because all demands upon our adaptability do evoke the stress phenomenon” (Selye, 1993, S. 41). Der Biochemiker Hans Selye gilt als Vater der Stressforschung, der im Jahre 1936 die aus dem Englischen stammende Begrifflichkeit Stress als „nonspecific (that is, common) result of any demand upon the body” betitelte (Selye, 1993, S. 41). Nach seiner Auffassung kann Stress demnach als unspezifische Reaktion auf sämtliche Anforderungen an den Organismus betrachtet werden (Selye, tm-independent, 2019). Stress ist per se nicht zu umgehen, beziehungsweise gar nicht vermeidbar, denn er gehört zum Leben dazu. Er differenziert in diesem Kontext den Eustress, den positiven Stress, vom Distress, den er als negativen Stress erachtet (Selye, 1981, S. 171).
Die Einteilung in positiven und negativen Stress greift Myers in einer Definition von Stress auf. Nach ihm ist Stress ein „Prozess, durch den wir bestimmte Ereignisse (Stres- soren) wahrnehmen und darauf reagieren. Stressoren können als Bedrohung oder als Herausforderung bewertet werden“ (Myers, 2014, S. 525). Die externen und internen Herausforderungen beziehungsweise die Auslöser von Stress werden als Stressoren bezeichnet (Greiner, Langer & Schütz, 2012, S. 18). Wenn ein Stressor demnach kurzfristig im Sinne einer Herausforderung wirkt, vom Individuum zusätzlich als positiv eingeschätzt wird, dann hat Stress einen belebenden und aktivierenden Charakter. Bleibt der Stress über einen längeren Zeitraum vorhanden, sodass die Ressourcen des Individuums zur Stressbewältigung schwinden, so beinhaltet Stress eine negative Komponente.
Es wird deutlich, dass mit dem Bewerten des Stressors ein Prozess im Gehirn stattfindet. Stress ist auch eine psychophysiologische Reaktion: Das vegetative Nervensystem wird aktiviert. Die Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin werden vermehrt ausgeschüttet. Zudem werden Atmung und der Herzschlag schneller und stärker, da der Sympathikus aktiviert wird. Schließlich wird das Blut in die Skelettmuskulatur geleitet, sodass Fette und Zucker als Schutzmechanismus freigesetzt werden (Myers, 2014, S. 528-530).
Die individuelle Zuschreibung nimmt bei der Wahrnehmung von Stress einen großen Stellenwert ein, was im nächsten Unterpunkt expliziter ausgeführt werden soll.
3.2.2 Begriffserklärung individuelles Stresserleben
Die Wahrnehmung von Stress ist aufgrund der Individualität und der Einzigartigkeit von Persönlichkeiten bei jedem Menschen verschieden (Haurand & Weniger, 2015, S. 4). Was für den einen eine stressreiche Situation darstellt, ist für den anderen eine Option zur persönlichen Weiterentwicklung (Kaluza, 2012, S. 12). Diese individuellen Merkmale, die in das Stressentstehen einfließen, können als persönlicher Stressverstärker bezeichnet werden, sodass das Konstrukt Stress äußerst subjektiv ist. Zum Teil wird in der Literatur persönliches Stresserleben als Synonym für das individuelle Stresserleben verwendet (Litzcke et al., 2013, S. 8). Zur Visualisierung des Stressgeschehens dient die Abbildung 1, welche von Kaluza als Stresstrias bezeichnet wird.
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Abbildung 1: Die Entstehung der Stresstrias (Kaluza, 2018, S. 16).
Die Entstehung von Stress erfolgt nach Kaluza (2012, S. 7) auf drei Ebenen: den Stresso- ren, den persönlichen Stressverstärkern und der Stressreaktion. Stressoren sind aus der Umwelt auf den Menschen einwirkende Reize, die Auslöser für Stressreaktionen sein können. Beim Umgang mit Stressoren spielen persönliche Einstellungen und Erfahrungen eine bedeutende Rolle. Diese wiederum haben Auswirkungen auf die Ausprägung und den Grad der Stressreaktion. Stressreaktionen bilden die physischen und psychischen Aktionen des Menschen auf die Belastungssituationen (Kaluza, 2012, S. 7). Ob eine Stressreaktion zustande kommt hängt davon ab, inwieweit äußere Belastungsanforderungen durch persönliche Erfahrungen, im Sinne von Stressverstärkern, bewertet werden (Kaluza, 2012, S. 14).
Auch im Sinne des transaktionalen Stressmodells von Lazarus sind kognitive individuelle Bewertungen für die Entstehung und das Ausmaß der Stressreaktion ein maßgeblicher Einflussfaktor (Neises, 2001, S. 1088). Bei diesem Modell wird zwischen der primären und sekundären Bewertung unterschieden. Die primäre Bewertung liefert eine Einschätzung der Situation und die sekundäre Bewertung eine Einschätzung der eigenen Kompetenzen. Das Ergebnis der Bewertung entscheidet darüber, ob es zu einer Stressreaktion kommt oder nicht (Kaluza, 2018, S. 44).
Stressoren werden durch persönliche Einstellungen differenziert wahrgenommen, sodass Stressreaktionen auf Stressoren verschieden ausfallen (Litzcke et al., 2013, S. 2). Resümierend wird festgehalten, dass das Stresserleben individuell ist und von persönlichen Bewertungen abhängt, wodurch resultiert, dass „die Menschen offenbar über verschieden große Fässer, die - bildlich gesprochen - dann volllaufen, wenn sich Phasen des Dauerstresses häufen“, verfügen (Bernatzeder, 2018, S. 25).
3.2.3 Begriffserklärung Stressbewältigung
Vor dem Hintergrund, dass die Wahrnehmung von Stress individuell ist, erscheint es eine logische Konsequenz zu sein, dass in der Praxis zahlreiche verschiedene Bewältigungsstrategien für Stress existieren (Litzcke et al., 2013, S. 5). Eine Bewältigungsstrategie, welche als Musterlösung für jeden Stressor angewendet werden kann, gibt es nicht (S. 46). Gemäß einer Definition von Lazarus und Launier (1981, S. 244) wird Stressbewältigung als „die verhaltensorientierten als auch intrapsychischen Anstrengungen, mit umweltbedingten und internen Anforderungen sowie den zwischen ihnen bestehenden Konflikten fertig zu werden“ verstanden.
Kaluza (2018, S. 62-64) führt zur Stressbewältigung zwei grundlegende Möglichkeiten an: Sie kann ein aktives Auseinandersetzen oder ein passives Aushalten, welches auch die Form der Vermeidung oder der Toleranz annehmen kann, sein. Litzcke et al. (2013, S. 46-47) differenzieren, wie Kaluza auch, die Möglichkeiten weitergehend in langfristige und kurzfristige Maßnahmen der Bewältigung. Gemeinsam ist beiden Ansätzen auch, dass die Bewältigung auf der Ebene der Stressoren, der individuellen Stressverstärker, wie Kaluza diese Ebene bezeichnet, oder beim Menschen selbst, wie Litzcke et al. 2013 diesen Bereich bezeichnen, und der Stressreaktion ansetzt.
Andere Autoren verwenden für den Begriff Stressbewältigung die englische Begrifflich- keit „Coping“ und unterscheiden verschiedene Möglichkeiten des „Coping“ (Neises, 2001, S. 1088; Egger, 2015). Der Begriff „Coping“ stammt von dem Verb „to cope with“ ab und bedeutet „bewältigen“ oder „überwinden“ (Quernheim & Schreier, 2017, S. 95). Copingstrategien können beispielsweise in aktive und passive Maßnahmen oder in problembezogene und emotionsbezogene Mechanismen unterteilt werden.
Strategien des aktiven Coping umfassen Maßnahmen, die dem Anwender langfristig als instrumentelle Techniken zum Umgang mit stressreichen Situationen dienen wie positive Selbstbekräftigung oder das Zeitmanagement. Das passive Coping hat eher kurzfristigen Charakter und umfasst alle Möglichkeiten der Linderung wie Entspannung und Regeneration (Quernheim & Schreier, 2017, S. 95). Zum passiven Coping gehören zudem Maßnahmen wie Vermeiden oder Tolerieren, welche gar eine Verschlechterung der Situation und des Stressempfindens herbeiführen können (Litzcke et al., 2013, S.5). Eine andere Herangehensweise differenziert auf der Grundlage des transaktionalen Stressmodells von Lazarus das Coping in emotionsbezogenes und problembezogenes Coping. Das emotionsbezogene Coping umfasst die Minderung der Emotionen, welche durch Stress entstehen. Das problembezogene Coping zielt darauf ab, das Problem in der Interaktion mit der Umwelt direkt abzubauen (Greiner et al., 2012, S. 20).
Es wird ersichtlich, dass in der wissenschaftlichen Literatur verschiedene Betrachtungsweisen der Stressbewältigung beziehungsweise des Coping vorhanden sind, die eine unterschiedliche Unterteilung der Herangehensweise der Stressbewältigung vornehmen. Ein allgemeingültiges Klassifizierungssystem von Bewältigungsmechanismen existiert bis dato nicht (Kaluza, 2018, S. 63). Wichtig ist, dass der Mensch über vielfältige Methoden der Stressbehandlung verfügt, denn je mehr Kompetenzen er hat, desto flexibler kann er agieren (Litzcke et al., 2013, S. 5).
3.3 Sichtweisen von Gesundheit und Krankheit
3.3.1 Begriffserklärung Gesundheit
Der Begriff Gesundheit ist kein eindeutig definierbares Konstrukt. Der Begriff ist schwer zu beschreiben, woraus resultiert, dass Gesundheitsvorstellungen soziale Konstruktionen sind. Jede Begriffsbestimmung spiegelt besonders die zugrunde liegenden disziplinären Orientierungen wider (Faltermaier, 2009, S. 49). In der Gesundheitswissenschaft existieren verschiedene Perspektiven auf die Zustände Gesundheit und Krankheit (Jacob & Kopp, 2018, S. 147-148). Einige der grundlegenden Modelle werden in den nächsten Unterkapiteln dargestellt. Zunächst werden die Begriffe Gesundheit und Krankheit eingegrenzt. Einige Modelle beschreiben Gesundheit als Abwesenheit von oder als noch-nicht Krankheit. Aus diesem Grund wird zwischen positiven und negativen Gesundheitsdefinitionen unterschieden (Lippke & Renneberg, 2006, S. 7). Die erste positive Definition, die häufig in der Literatur zitiert wird und wohl die prominenteste ist, ist diejenige der WHO: „Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity“ (Weltgesundheitsorganisation-Regionalbüro für Europa, 2019b). Ins Deutsche übersetzt meint die Definition: Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.
Hier erfolgt der Perspektivwechsel weg von der krankheitsorientierten Sichtweise. Gesundheit wird als ein mehrdimensionales Konstrukt verstanden, welches psychische, physische und soziale Faktoren, die sich gegenseitig beeinflussen, umfasst (Lippke & Renneberg, 2006, S. 8). Die WHO-Definition ist allerdings auch vielfach in Kritik geraten. Zum einen wird bemängelt, dass vollständiges Wohlbefinden ein unerreichbarer, utopischer Zustand ist - auch wenn ein Mensch als gesund gilt. Gleichermaßen würde sich daraus eine hohe Anzahl von Krankheiten ergeben (Jacob & Kopp, 2018, S. 147). Die Definition der WHO beschreibt Gesundheit und Krankheit als zwei voneinander abgegrenzte Zustände, die keinen Raum für Stadien zwischen den beiden Kontinua zulässt (Roch & Hampel, 2018, S. 2).
Faltermeier (2009, S.50) nimmt eine Untergliederung der Gesundheit in einen Zustand und einen Prozess vor. Was unter der Gesundheit als Zustand verstanden wird, ist mit der Aufteilung in psychische, physische und soziale Komponenten bereits erläutert worden. Gesundheit als Prozess verdeutlich, dass Gesundheit als Zusammenspiel von Ressourcen und Anforderungen immer wieder neu reguliert und ausgehandelt werden muss. Gesundheit ist nicht statisch, sondern findet dynamisch in Interaktion zwischen dem Menschen und der Umgebung statt (Faltermaier, 2009, S. 51). Gesundheit hat eine individuelle und eine gesellschaftliche Komponente, denn sie betrifft den Menschen als Einzelnen und die „Gesellschaft als Ganzes“ (Roch & Hampel, 2018, S. 1). Zudem erfolgt eine Einschätzung des Gesundheitszustandes nach subjektiven und objektiven Parametern. Die subjektive Einschätzung erfolgt aufgrund der eigenen Empfindung, wohingegen die objektive Bestimmung anhand von externen Fachleuten wie Medizinern erfolgt (Lippke & Renneberg, 2006, S. 8). Eine Definition, die nach Auffassung der Autorin benannte Aspekte treffender und umfassender als die der WHO vereint, ist die nachfolgende Begriffsauffassung des Gesundheits- und Medizinsoziologen Hurrelmann: „Gesundheit lässt sich als ein Gleichgewichtszustand der Risiko- und Schutzfaktoren von Körper, Psyche, sozialer Umwelt und ökologischer Lebenswelt verstehen“ (Hurrelmann, 2012, S. 173). Hurrelmann (2012, S.173) führt weiter aus, dass Gesundheit immer wieder neu reguliert werden muss, sodass das Gleichgewicht aufrecht erhalten bleibt. Schramme (2017, S.9) zeichnet ein Bild von Gesundheit, welches für diese Ausarbeitung sehr sinnvoll erscheint. Diese Sichtweise ist in Abbildung 2 dargestellt. Er skizziert in Anlehnung an die Definition der WHO ein Pfeil-Schemata, welches nach beiden Seiten offen ist. Auf der einen Seite steht die Krankheit und auf der anderen Seite die positive Gesundheit. Zwischen beiden Kontinua ist Raum für weitere Stadien. Er führt die Begrifflichkeiten negative und positive Gesundheit ein, die aufzeigen, dass es viele verschiedene Gesundheitsmomente gibt. Folglich existieren immer gesunde und kranke Anteile im Menschen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Positive und negative Gesundheit (Schramme, 2017, S. 9).
Die Debatte um die Definition des Gesundheitsbegriffes wird aufgrund der verschiedenen Blickwinkel der Forschungszweige in Zukunft nicht auf einen Konsens zu bringen sein, sondern immer vor dem Hintergrund der jeweiligen Wissenschaft erfolgen (Faltermaier, 2009, S. 49).
3.3.2 Begriffserklärung Krankheit
In Bezug auf den Krankheitsbegriff herrscht in der Wissenschaft seit über vierzig Jahren Uneinigkeit, sodass an dieser Stelle nicht der Anspruch besteht, eine klare Definition des Begriffes darzulegen (Lenz, 2018, S. 6). Juristen, Mediziner, Sozialwissenschaftler und Philosophen führen Debatten darüber, was unter dem Begriff zu verstehen ist (Lenz, 2018, S. 104). Vielmehr werden einige Sichtweisen aus der Forschung zum Terminus Krankheit aufgezeigt.
Gemäß der Definition der WHO zu Gesundheit wäre Krankheit im Umkehrschluss die Abwesenheit von Gesundheit. Es wird aber schnell deutlich, dass dies keine umfassende Darstellung des Krankheitsbegriffes sein kann. Schramme (2017, S. 8) führt dazu aus, dass Wörterbucheinträge zum Teil diese einfache und unvollständige Methode der Begriffsbestimmung verwenden, da unter Gesundheit „Abwesenheit von Krankheit“ und dann bei Krankheit „Abwesenheit von Gesundheit“ nachzulesen ist.
Es gestaltet sich als durchaus diffizil, die Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit zu ziehen und festzulegen, wann Krankheit beginnt und Gesundheit aufhört. Erschwerend für eine strikte Trennung kommt hinzu, dass es verschiedene Krankheitsstadien gibt, wie akut, chronisch oder latent krank, die verschiedene Aussagen über den Grad einer Erkrankung zulassen (Kiesel , 2012, S. 147). Deshalb sind in der Medizin und Psychologie für die genaue Bestimmung von Krankheiten Klassifikationssysteme in Form von diagnostischen Manualen eingeführt worden, welche Symptome für Krankheitsbilder benennen. Auf diese Weise ist es möglich, mit Hintergrundwissen über den Klienten ein Krankheitsbild zu zeichnen (Kreddig & Karimi, 2013, S. 231). Daraus resultiert, dass sich viele Krankheitsbilder exakt bestimmen lassen. Die Gefahr bei der Zuschreibung mittels diagnostischer Verfahren liegt darin, den Menschen zu sehr in ein vorgefertigtes Raster zu pressen, ihm ein Krankheitsbild aufzuerlegen, sodass der Mensch als Individuum verloren gehen kann (Teischel, 2014, S. 9).
Das medizinische Lexikon Roche beschreibt Krankheit als „subjektives u./oder objektives Bestehen körperlicher u./oder geistig-seelischer Störungen bzw. Veränderungen“ (Roche Lexikon Medizin, 2019). Es wird deutlich, dass Krankheit - wie auch der Begriff Gesundheit - mehrdimensional ist, und in subjektives sowie objektives Empfinden aufgeteilt werden kann. Die Medizin und besonders die Psychologie gehen davon aus, dass der Körper eng mit der Psyche verbunden ist. Deswegen sind auch bei psychosomatischen Krankheiten Psyche und Körper beteiligt und stehen in einem Wechselspiel zueinander (Kreddig & Karimi, 2013, S. 234). Für das Verständnis vielerlei Erkrankungen ist die Betrachtung des Menschen in der Interaktion mit seiner Umwelt von Nöten.
Krankheit ist die Störung und die Abweichung der Homöostase im Lebewesen. Krankheit im medizinischen Kontext wird deshalb verstanden als „Abweichung von der Norm messbarer (biologischer) somatischer Variablen“ (Engel, 1977, S. 66; zitiert nach Faltermaier, 2009, S. 40). Mit dieser Definition klingt eine biomedizinische Sichtweise an, welche im nachfolgenden Abschnitt veranschaulicht wird. Zentrale wissenschaftliche Theorien beschäftigen sich mit der Frage nach Bedingungen von Gesundheit und Krankheit. Die frühen Modelle, wie das biomedizinische, biopsychosoziale und das Vulnerabilitäts-Stress-Modell, die nachfolgend erläutert werden, nehmen zunächst die Faktoren in den Blick, die Krankheiten bedingen. Im Anschluss daran wird ein Modell erklärt, das danach fragt, wie Gesundheit entstehen kann (Roch & Hampel, 2018, S. 1-4).
3.3.3 Das biomedizinische Krankheitsmodell
Das biomedizinische Krankheitsmodell, das im 19. Jahrhundert mit der naturwissenschaftlichen Wende durch die Entwicklung der Bakteriologie entstanden ist, wird von Faltermeier (2009, S. 52) als Paradigma bezeichnet, „weil es grundlegend und prägend für alle wissenschaftlichen Theorien und Konzepte über Gesundheit und Krankheit ist“ und bis heute in der medizinischen Versorgung als essentiell betrachtet wird (Bruns, 2013, S. 22). Aus diesem Grund scheint es sinnvoll, mit einer Darlegung dieses Modells zu beginnen. Das biomedizinische Krankheitsmodell ist, wie der Name schon zeigt, pa- thophysiologisch beziehungsweise krankheitsbezogen. Die Genese von Erkrankungen ist in einer Funktionsstörung des Organismus begründet (Roch & Hampel, 2018, S. 2). Zentrales Merkmal der biomedizinischen Perspektive ist die starke Fokussierung der krankmachenden Veränderungen im Körper. Dabei werden die Aspekte, die zur Gesunderhaltung und Gesundheitsförderung beitragen, nicht berücksichtigt (Bruns, 2013, S. 22). Gesundheit und Krankheit sind nicht prozesshaft, sondern zwei voneinander abgetrennte Zustände (Lippke & Renneberg, 2006, S. 9). Die krankmachenden Faktoren werden anhand von Diagnosen aufgedeckt (Roch & Hampel, 2018, S. 2). Für die Erkrankungen können biochemische, organische, anatomische, neurologische oder andere Auslöser und Ursachen festgestellt werden (Faltermaier, 2009, S. 54). Die Konsequenz ist, dass das biomedizinische Modell für sämtliche Krankheiten die Ätiologie bestimmen kann (Roch & Hampel, 2018, S. 2). Die Krankheitsursachen sind in Infektionen, Unfällen, endogenen oder exogenen Einflüssen sowie im Erbgut begründet (Jacob & Kopp, 2018, S. 149). Die Kritik am biomedizinischen Modell drängt sich dann auf, wenn mit diesem Modell versucht wird, die Ursächlichkeit für psychosomatische sowie chronisch-degenerative Erkrankungen nachzuvollziehen, denn das Konzept sieht eine strikte Trennung der Psyche und des Körpers vor (Roch & Hampel, 2018, S. 2-3). Gleichermaßen werden soziale Komponenten außen vorgelassen und der Mensch individualistisch ohne Einbettung in sein Umfeld betrachtet. Es kann festgehalten werden, dass das Modell durch den rein biomedizinischen Blickwinkel nicht alle Krankheitsursachen erfassen kann (Faltermaier, 2009, S. 56). Vor diesem Hintergrund ist das biopsychosoziale Krankheitsmodell entwickelt worden.
3.3.4 Das biopsychosoziale Krankheitsmodell
Das biopsychosoziale Krankheitsmodell kann als Weiterentwicklung der biomedizinischen Perspektive angesehen werden, denn neben der rein biomedizinischen Fokussierung auf körperliche Störfaktoren werden nun auch soziale und psychische Wirkfaktoren miteinbezogen (Faltermaier, 2009, S. 58). Das Modell ist von Georg Engel entwickelt worden und fußt auf der Systemtheorie Luhmanns, die besagt, „dass die Natur eine hierarchische Anordnung von dynamischen Systemen ist, wobei die komplexeren, größeren Einheiten über den weniger komplexen, kleineren Einheiten aufgebaut sind“ (Berberich, 2016, S. 2215-2216). Dabei stehen die verschiedenen Ebenen im Zusammenhang miteinander und beeinflussen sich gegenseitig. Eine Veränderung auf einer Ebene bewirkt also auch eine Veränderung auf einer anderen Ebene (Egger, 2015, S. 5). Übertragen auf den menschlichen Organismus bedeutet dies, dass es nicht nur wichtig ist, eine Störung zu lokalisieren, sondern auch herauszufiltern, welchen Defizit der Organismus davon trägt und ob weitere Schädigungen auf anderen Ebenen vorliegen (Berberich, 2016, S. 2216). Egger (2015, S. 3) charakterisiert dieses Modell sogar als die signifikanteste Theorie für die Wechselwirkung zwischen Körper und Geist. Das Modell ist seit den 1970er Jahren vermehrt in den Fokus wissenschaftlicher Betrachtungen geraten (Lippke & Renneberg, 2006, S. 9). Die strikte Trennung von Gesundheit und Krankheit wird aufgehoben, sodass ein Kontinuum zwischen beiden Stadien entsteht und in einem dynamischen Prozess stattfinden kann (Roch & Hampel, 2018, S. 3). Im Gegensatz zum biomedizinischen Krankheitsmodell, bei welchem dem Patienten durch externe Ursächlichkeiten eine Krankheit widerfährt und diesem eine passive Rolle zugeordnet wird, kann das Individuum im biopsychosozialen Modell eine aktive Rolle einnehmen. Der Mensch hat die Möglichkeit, durch die Einflussnahme auf soziale sowie psychische Gegebenheiten, Risiken zu mini- mieren (Roch & Hampel, 2018, S. 3). Das biopsychosoziale gehört wie das biomedizinische Modell den Krankheitsmodellen an, denn beide Ansätze legen den Schwerpunkt auf krankheitsverursachende Umstände. Eine Wende in der Forschung erfolgt mit der Denkweise der Salutogenese, die vielmehr gesunderhaltende Dimensionen erforscht (Faltermaier, 2009, S. 53). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das biopsychosoziale Modell mit den Ergänzungen um die drei Dimensionen der psychologischen, sozialen und biologischen Faktoren einen wesentlichen Beitrag für die psychosomatische Medizin geleistet hat. Allerdings ist die medizinische Forschung noch stark biomedizinisch geprägt, wodurch das biopsychosoziale Krankheitsmodell an Bedeutung verliert und nicht als Wende der beiden Richtungen zu betrachten gilt (Egger, 2015, S. 3). Im Raum des wissenschaftlichen Diskurses steht ferner die Frage, ob das biopsychosoziale Modell überhaupt als Theorie betrachtet werden kann, da es nicht weiter konkretisiert wurde (Faltermaier, 2009, S. 58).
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1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird das generische Maskulinum verwendet, das explizit jedes Geschlecht miteinbezieht.
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