Kann sich ein Entschlagungsberechtigter in Abwesenheit der Verfahrensbeteiligten seiner Aussage entschlagen?
Verwertung von früheren Aussagen entschlagungsberechtigter Personen?
Die „3 Fragen“
• welche Umstände müssen für die Gültigkeit einer Entschlagungserklärung erfüllt sein,
• wann darf eine Verlesung von Aussagen entschlagungsberechtigter Personen erfolgen, und
• wie kann gegebenenfalls ein Verstoß gegen diese grundlegenden Elemente des Strafverfahrens korrigiert werden?,
sowie die
• Urteilsnichtigkeit gem § 281 Abs 1 Z 5a StPO
werden anhand der Besprechung des OGH-Urteils 13 Os 131/05x im Rahmen dieser Arbeit behandelt und beantwortet.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Problemstellung
1. Sachverhalt
2. Die „3 Fragen“
III. Entschlagungsrechte & Verlesung
1. Allgemeines
2. Eventuelle Kollision mit Art 6 Abs 1 iVm Abs 3 lit d MRK?
3. Die kontradiktorische Einvernahme
4. Die StPO „neu“ - per 1.1.2008
5. Über die Verlesung
IV. Zugang zum OGH
1. Beweisanträge
2. Tatsachen- & Aufklärungsrüge gem § 281 Abs 1 Z 5a____
a) Allgemeines
b) Anwendungsbereiche
c) Formalismus?
V. Zusammenfassung, Z 5a & „drei Antworten“
1. Allgemeines
2. Die „3 Antworten“
3. Zum Abschluss
VI. Literaturverzeichnis
Anhang
1. Folien des Vortrages
2. Handout des Vortrages
I. Einleitung
In den letzten Jahren, spätestens jedoch seit „9/11“1, ist der „öffentliche Ruf“ nach mehr Möglichkeiten zur Terrorismusvorbeugung und - bekämpfung, sicherlich zusätzlich geschürt durch diverse Interessensgruppen, immer wieder laut geworden. Genauso wachsen bei jedem neuen „spektakulärsten Kriminalfall der letzten Jahre“2 die Vorwürfe, „die Behörden, der Staat,… hätten doch wissen, sehen, dahinterkommen müssen…“, und Maßnahmen wie zB die „Online-Überwachung beim Wiener Terror-Prozess3 “ werden am Arbeitsplatz, in Bildungseinrichtungen und Gremien diskutiert. Hier kollidieren das kollektive Sicherheitsbedürfnis und die staatliche Gewährleistung von Grundrechten, was auch in der juristischen Fachwelt schon zu teilweise sehr emotionalen Debatten geführt hat.4
Die vorliegende Arbeit soll am Beispiel der Entscheidung „13 Os 131/05x“ skizzieren, wie der Oberste Gerichtshof seine ihm durch Art 92 B- VG übertragene Aufgabe als höchste Instanz in Strafsachen und die gleichzeitige Garantie der Wahrung von Grund- und Menschenrechten, hier wiederum anhand der Entschlagungsrechte der StPO, sowie der Tatsachen- und Aufklärungsrüge im Rechtsmittelverfahren, wahrnimmt.
Da sowohl das Urteil selbst, wie auch der Großteil der Literatur noch in die Zeit vor Inkrafttreten der neuen Strafprozessordnung5 am 1.1.2008 fallen, wird weiters versucht werden, die Besprechung der Problembereiche zwar nach StPO-alt durchzuführen, um eine bessere Verständlichkeit des Kontextes zu gewährleisten, gleichzeitig jedoch eine Brücke zur neuen StPO in der nun geltenden Fassung zu schlagen.
II. Problemstellung
1. Sachverhalt
Der Beschuldigte wurde vom Schöffengericht aufgrund der Aussage seiner 14-jährigen Stieftochter, zum mutmaßlichen Tatzeitpunkt war sie zwischen 10 und 11 Jahre alt, der Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB und der Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 StGB, für schuldig erkannt. Auf Antrag des Verteidigers wurde in der HV das Mädchen, welches schon anlässlich ihrer kontradiktorischen Einvernahme im Vorverfahren erklärt hatte, von ihrem Entschlagungsrecht gem § 152 Abs 1 Z 2a StPO-alt Gebrauch machen zu wollen, zu einer nochmaligen Aussagebereitschaft befragt. Dies geschah durch die Vorsitzende während einer Unterbrechung, nur unter Zuziehung der Kindesmutter. Den ausgeschlossenen Parteien wurde später mitgeteilt, dass sie nicht auf Ihr Entschlagungsrecht verzichte, und der nun angefochtene Schuldspruch stützte sich entscheidend auf die in weiterer Folge verlesenen Angaben der kontradiktorischen Befragung. Der Beschwerdeführer berief sich auf eine Erklärung der Kindesmutter, nach welcher ihre Tochter im Gespräch mit der Vorsitzenden zwar nicht über das eigentliche Tatgeschehen, jedoch von einem Zwang zur Ablegung der belastenden Aussage6 berichten wollte, was jedoch nie in die HV eingebracht und von der Richterin später auch dementiert wurde, und rügte das Urteil uA gem § 281 Abs 1 Z 4 und 5a StPO.
Nach Befragung und übereinstimmenden Angaben der Zeugin und ihrer Mutter, kassierte der OGH das Urteil, da das Nichteinbringen der Erklärung über die Zwangslage durch die Vorsitzende den Verteidiger „maßgeblich an der Ausübung seines Rechtes zu sachgerechter Antragstellung“7 gehindert hätte, und das Nicht-Aufklären selbiger eine Verletzung des Grundsatzes der amtswegigen Erforschung der materiellen Wahrheit8 darstellen würde.
2. Die „3 Fragen“
Es stellen sich folgende 3 Fragen, welche versucht werden, im Rahmen dieser Arbeit zu beantworten:
- welche Umstände müssen für die Gültigkeit einer Entschlagungserklärung erfüllt sein,
- wann darf eine Verlesung von Aussagen entschlagungsberechtigter Personen erfolgen, und
- wie kann gegebenenfalls ein Verstoß gegen diese grundlegenden Elemente des Strafverfahrens korrigiert werden?
III. Entschlagungsrechte & Verlesung
1. Allgemeines
Die Mündlichkeit und Unmittelbarkeit sind fundamentale Grundsätze des österreichischen Strafverfahrens.9 Sie finden ihren Ausdruck in Art 90 Abs 1 B-VG, sowie den §§ 252 und 258 StPO, wonach sich ein Urteil maßgeblich nur auf jene Erkenntnisse stützen darf, welche in die Hauptverhandlung Eingang fanden, um so ein „faires Verfahren“ iSd MRK zu garantieren. Gem § 150 StPO-alt ist ein Zeuge grundsätzlich zur Aussage verpflichtet, was im Extremfall sogar mittels Zwangsgewalt und Beugemitteln durchgesetzt werden kann.
Anhand von Überlegungen zur Gewährleistung des Opfer- oder Zeugenschutzes kann die Unmittelbarkeit einer Vernehmung jedoch eingeschränkt werden; eine Entwicklung, die erst schrittweise, hauptsächlich innerhalb der letzten 15 - 20 Jahre, ihre Ausprägung fand.10 Demnach kann unter bestimmten Umständen (§ 152 f StPO-alt) auf das persönliche Beweismittel der Zeugenaussage zugunsten eines mittelbaren Urkundenbeweises verzichtet werden.
2. Eventuelle Kollision mit Art 6 Abs 1 iVm Abs 3 lit d MRK?
Die Stattgebung der Individualbeschwerde gegen Österreich durch den EGMR im Jahre 198611 bewies schon früh den Regelungsbedarf im Falle einer Aussageverweigerung oder -befreiung zugunsten einer Verlesungsbeschränkung. Das faire Verfahren iSd Abs 1 findet seine weitere Ausprägung im Abs 3 lit d des Art 6 MRK. Die darin beschriebenen Verfahrensgarantien sollen für Waffengleichheit im Zeugen- und Sachverständigenbeweis sorgen, was bedeutet, dass demnach jeder Angeklagte das Recht hat, die „Ladung und Befragung von Entlastungszeugen zu bewirken“, genauso wie „Fragen an Zeugen und Sachverständige zu stellen oder stellen zu lassen“.12
Entschlägt sich jedoch ein dazu berechtigter Zeuge seiner Aussage, ist er umgehend aus seiner Zeugenstellung zu entlassen, und seine Pflicht zur Zeugnisablegung nicht mehr verbindlich; wobei in der Hauptverhandlung unter bestimmt bezeichneten Umständen13 auf schriftliche oder visuelle Aufzeichnungen früherer Vernehmungen zurückgegriffen werden kann. Das unmittelbare Fragerecht des Angeklagten scheint sohin zunächst einer -aus grundrechtlicher Sicht- inakzeptablen Einschränkung unterworfen.
3. Die kontradiktorische Einvernahme
Grundsätzlich werden Zeugen, welche nicht in den Personenkreis der nach § 152 StPO-alt bestehenden absoluten Zeugnisbefreiung fallen, unter Ausschluss der Parteien vernommen (§ 162 StPO-alt). Ist zu befürchten, der Zeuge könne in der HV nicht ein wiederholtes Mal befragt werden, sei es nun aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen (§ 162a Abs 1 StPO- alt), sowie wenn besondere Rücksicht auf den seelischen bzw gesundheitlichen Zustand oder das geringe Alter des Zeugen geboten ist (Abs 2), kann, ebenso wie im Interesse besonders schutzwürdiger (mutmaßlicher) Opfer14, nämlich Unmündige, oder solche, an denen (mutmaßlich) ein Sexualdelikt begangen wurde (Abs 3, welcher auf § 152 Abs 1 Z 2a & 3 StPO-alt verweist), eine gerichtliche Vernehmung -unter Umständen infolge von räumlicher Trennung oder speziellen Sachverständigen schonender-, unter Hinzuziehung aller Verfahrensparteien veranlasst werden; -eine kontradiktorische Vernehmung gem § 162a StPO-alt, schon um die Möglichkeit der Fragestellung iSd Verteidigerrechte des Art 6 Abs 3 lit d MRK15 zu gewährleisten und „die Prüfung der Glaubwürdigkeit des Zeugen zu fördern“.16
4. Die StPO „neu“ - per 1.1.2008
§ 165 StPO idgF übernimmt grundsätzlich die Bestimmungen des § 162a StPO-alt, dehnt sie jedoch auf die kontradiktorische Vernehmung des Beschuldigten aus, wobei § 97 Abs 2 StPO-neu eine Erleichterung der Protokollierung bringt.17 Einer weitere Neuerung erfolgte in der Systematik der Zeugnisverweigerungsrechte (§§ 156-159 StPO-neu): es kommt nun zu einer Differenzierung zwischen Aussagebefreiungs- (Verweigerung der gesamten Aussage, nicht thematisch eingeschränkt) und Aussageverweigerungsrechten (gilt nur für die Beantwortung einzelner Fragen und unterliegt einer thematischen Einschränkung).18
5. Über die Verlesung
Als, wie oben schon erwähnt, für Zeugenaussagen eigentlich den Prinzipien der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit widersprechend, stellt sich nun die Frage, was tun, wenn ein Zeuge die Aussage verweigert?
Wenn die Verfahrensparteien ausreichend Möglichkeit hatten, „sich an einer gerichtlichen“ -also kontradiktorischen- „Vernehmung zu beteiligen“ (§ 162a StPO-alt, § 247 StPO), entsteht gem § 252 Abs 1 Z 2a nicht nur ein Entschlagungsrecht für den Zeugen, sondern das Gericht erhält dadurch, wie auch bei der Aussageverweigerung aufgrund des „höchstpersönlichen
Lebensbereiches“19, die Möglichkeit, Protokolle der Vernehmung zu verlesen, sowie eventuell vorhandene Videoaufzeichnungen vorzuführen.
Eine erneute Einvernahme gegen seinen Willen kommt für den Zeugen nicht in Betracht20, weshalb die Protokollverlesung bzw Wiedergabe der Videoaufzeichnung in der HV in der Regel entscheidende Bedeutung für die gerichtliche Wahrheitsfindung erlangt.
IV. Zugang zum OGH
1. Beweisanträge
Im vorliegenden Fall war das minderjährige Opfer nach § 152 Abs 1 Z 2a StPO-alt nach der erfolgten kontradiktorischen Einvernahme berechtigt, jede weitere Aussage zu verweigern. Wird eine Entschlagungserklärung während der Einvernahme abgegeben, sollte ihre Gültigkeit speziell kein Problem darstellen, wenngleich auch das Gesetz keinerlei Formvorschriften dafür vorsieht.21 Vielmehr müsse doch, wenn diese Entschlagungserklärung unmissverständlich ist, die Verteidigung anhand eines Beweisantrages „dartun, weshalb erwartet werden könne, dass sich der Zeuge gleichwohl zur Aussage bereit finden werde“22. Das bedeutet, der Verteidiger hat schlüssig nachzuweisen, dass der Zeuge entgegen seiner zuvor unmissverständlich abgegebenen Erklärung seine Meinung geändert habe, und nun doch aussagen wolle, um erst dann den Antrag auf neuerliche Einvernahme ebenjenes Zeugen stellen zu können.
Beweisanträge sah das „alte“ Vorverfahren nur dem Beschuldigten vor, jedoch steht nach der StPO idgF neben dem Beschuldigten mit § 55 Abs 1 auch dem Privatbeteiligten das Recht zu, Anträge zu stellen (§ 67 Abs 6 iVm § 55 StPO-neu). § 55 wurde im StPO-Reform-Gesetz also ein wesentlicher Grundstein zum Ausbau der Rechte der Verfahrensparteien.23
[...]
1 9/11 ist das in den Vereinigten Staaten verwendete Datumskürzel für die Terroranschläge des 11. September 2001, als zwei von vier durch Selbstmordattentäter der Al-Kaida entführte Flugzeuge zum Einsturz des World Trade Centers in New York City führten.
2 1974 „Jack Unterweger“, 1997 „Franz Fuchs“, 2003/2006 „Saliera-Diebstahl“, 2006 „Natascha Kampusch“, 2007 „BaWAG-Krimi“, 2008 „Akte Fritzl“, um nur einige zu nennen.
3 Mohamed M. und Mona S. waren im Zusammenhang mit geplanten Terroranschlägen und Drohvideos angeklagt, wobei Ergebnisse einer umstrittenen Überwachung über das Internet als Beweise zugelassen wurden.
4 Mir zuletzt bekannt anlässlich des 5. StrafverteidigerInnentages am 23./24. März 2007.
5 BGBl. I Nr. 19/2004.
6 Siehe 13Os139/05y zur Art des Zwanges.
7 13 Os 131/05x; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 480; RIS-Justiz RS0114036.
8 § 3 StPO alt und neu.
9 Vgl zB Platzgummer, Grundzüge[8]21f; Bachner-Foregger, StPO[17]§ 1.
10 Siehe dazu Schwaighofer, Anmerkungen zu einigen Zeugen- und Opferschutzbestimmungen der StPO und ihre Umsetzung durch die Rechtssprechung, in Moos uA (Hrsg) Festschrift für Udo Jesionek zum 65. Geburtstag (2002) 499.
11 http://cmiskp.echr.coe.int: Unterpertinger v. Austria, 9120/80.
12 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention[3]§ 24 Rz 112; siehe auch Hinterhofer, Zeugenschutz und Zeugnisverweigerungsrechte im österreichischen Strafprozess (2004) 31.
13 Siehe unten, Punkt 5.
14 Fabrizy, StPO[9]§ 152 Rz 12f; ebenso Hinterhofer, Zeugenschutz und Zeugnisverweigerungsrechte im österreichischen Strafprozess (2004) 306: „Die Entschlagungsrechte nach Z 2a & 3 dienen dem Schutz mutmaßlicher Opfer vor psychischen Belastungen“.
15 Vgl Unterpertinger v. Austria 9120/80; Kostovski v. TheNetherlands 11454/85; Windisch v. Austria 12489/86; VanMechelen v. TheNetherlands 21363/93.
16 Kirchbacher, WK-StPO § 162a Rz 3ff.
17 Vgl EBRV StPRefG.
18 Hinterhofer, Strafprozessreform - Die zentralen Neuerungen auf einen Blick, Skriptum zum gleichnamigen Seminar der Salzburger Rechtsanwaltskammer (2008) 46.
19 Schmoller, Beweise, die hypothetisch nicht existieren, Beweisverwertungsverbote im geltenden und künftigen Strafprozess, JRP 2002, 251 (259).
20 Vgl ständige Judikatur RIS-Justiz RS0097663 und RS0118084.
21 Vgl ständige Judikatur RIS-Justiz RS0111315.
22 Vgl ständige Judikatur RIS-Justiz RS0117928.
23 Ratz, Welche Veränderung des Rechtsmittelverfahrens gegen Urteile erfordert das Strafprozessreformgesetz?, in Moos uA (Hrsg), Strafprozessrecht im Wandel, Festschrift Miklau, 2006, 411 (412).
- Quote paper
- Sabine Adamek (Author), 2008, Entschlagungsrechte im österreichischen Strafprozess - zugleich Besprechung von OGH 13 Os 131/05x, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/94331
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