Was ist das Leben und welchen Sinn hat es? Eine Frage, die sich Menschen und insbesondere die Philosophen unter ihnen bereits seit Jahrtausenden stellen. Arthur Schopenhauer hat sie – ähnlich Calderón – so beantwortet: Leben ist eine von Leid geprägte Vorstellung. Warum bindet der argentinische Autor Eugenio Cambaceres Schopenhauers Philosophie in seinen 1886 erschienen Roman Sin rumbo ein? Ich werde in der vorliegenden Arbeit darstellen, in wie weit die Auffassungen des deutschen Denkers in Sin rumbo vertreten sind und welche Funktion sie besonders in Bezug auf die Erzählsituation haben.
Inhaltsverzeichnis
1 Die Welt als Wille und Vorstellung – Arthur Schopenhauers Philosophie
2 Rezeption in Sin rumbo
2.1 Einleitendes
2.2 Pessimismus und Langeweile
2.3 Selbstmord
2.4 Über die Weiber – Frauenbild
2.5 Liebe – Sexualität
2.6 Religion
2.7 Determiniertheit
3 Erzählhaltung
4 Schlussbemerkung
5 Bibliographie
0 Einleitung
¿Qué es la vida?, un frenesí;
¿qué es la vida?, una ilusión,
una sombra, una ficción[1]
Was ist das Leben und welchen Sinn hat es? Eine Frage, die sich Menschen und insbesondere die Philosophen unter ihnen bereits seit Jahrtausenden stellen. Arthur Schopenhauer hat sie – ähnlich Calderón – so beantwortet: Leben ist eine von Leid geprägte Vorstellung. Warum bindet der argentinische Autor Eugenio Cambaceres Schopenhauers Philosophie in seinen 1886 erschienen Roman Sin rumbo ein? Ich werde in der vorliegenden Arbeit darstellen, in wie weit die Auffassungen des deutschen Denkers in Sin rumbo vertreten sind und welche Funktion sie besonders in Bezug auf die Erzählsituation haben. Methodisch werde ich dabei folgendermaßen vorgehen: Zuerst werde ich einen Überblick der Philosophie Arthur Schopenhauers geben und kurz den Inhalt von Eugenio Cambaceres` Roman zusammenfassen. Anschließend werde ich anhand von Motivketten die Rezeption von Schopenhauers Gedanken im Roman analysieren und zum Schluss die Funktion der Schopenhauerreferenz im Hinblick auf die Erzählsituation betrachten.
1 Die Welt als Wille und Vorstellung– Arthur Schopenhauers Philosophie
In seinem 1818 veröffentlichten Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung soll, so Schopenhauer, „ein einziger Gedanke“[2] mitgeteilt werden. Während der Philosoph diesen einen Gedanken nicht explizit nennt, formuliert ihn Malter folgendermaßen: „Die Welt ist die Selbsterkenntnis des Willens“.[3] Diesen Gedanken betrachtet Schopenhauer – wie er das in seiner Dissertation (1813) über den Satz vom zureichenden Grunde bereits getan hat – unter vier verschiedenen Aspekten, was sich auch in der formalen Aufteilung seines Werkes widerspiegelt: Transzendental-/Erkenntnisphilosophie (Erstes Buch), Metaphysik (Zweites Buch), Ästhetik (Drittes Buch) und Ethik (Viertes Buch).
Aufbauend auf Kants Transzendentalphilosophie, also einer Philosophie, „die zum Gegenstand nicht zuerst die Dinge hat, sondern das menschliche Bewusstsein von den Dingen“,[4] kommt Schopenhauer zu der Erkenntnis, dass „die Welt […] meine Vorstellung“(I, 31) ist. Das ist
eine Wahrheit, welche in Beziehung auf jedes lebende und erkennende Wesen gilt; wiewohl der Mensch allein sie in das reflektirte [sic!] abstrakte Bewußtsein [sic!] bringen kann: […]Es wird ihm dann deutlich und gewiß, dass er keine Sonne kennt und keine Erde; sondern immer nur ein Auge, das eine Sonne sieht, eine Hand, die eine Erde fühlt; dass die Welt, welche ihn umgiebt[sic!], nur als Vorstellung da ist.(ebda.)
Also macht der Mensch keine direkte Naturerfahrung, sondern nur mittels seiner Sinnesorgane, seines Körpers also. Ein Punkt, den der große Philosoph im Zweiten Buch wieder aufgreift, um dadurch den Zusammenhang von Vorstellung und Wille herzustellen. Zuerst betont Schopenhauer „das Zerfallen in Objekt und Subjekt […][das] diejenige Form [ist], unter welcher allein irgend eine Vorstellung welcher Art sie auch sei, abstrakt oder intuitiv, rein oder empirisch, nur überhaupt möglich und denkbar ist“(ebda.). Ohne Objekt gibt es für das Subjekt kein Bewusstsein, schließlich kann es nur von ihm verschiedenes Erkanntes erkennen. Umgekehrt kann ein Objekt ohne Subjekt nicht erkannt werden, beide bedingen sich also gegenseitig.
Im Willen glaubt Schopenhauer Kants „Ding an sich“(I, 175) gefunden zu haben. Der Wille ist der rast- und ziellose Trieb, der hinter allem, auch der Welt steht. An sich ist der Wille völlig frei und in sich eins, determiniert wird er erst in seiner Sichtbarkeit, also seiner Objektivation, wo er durch die verschiedenen (Lebens-) Formen als Vielheit erkannt wird. Laut dem Philosophen gibt es verschiedene Stufen der Objektivation des Willens, nämlich anorganische Natur, Pflanzen, Tiere und auf der höchsten Stufe der Mensch. Dabei sind nach Schopenhauers Erachten die „STUFEN DER OBJEKTIVATION DES WILLENS nichts Anderes als PLATONS IDEEN“ (I, 208). Damit verweist Schopenhauer auf Platons berühmtes Höhlengleichnis, wonach jede Erscheinung, jedes Wesen in der Natur eine Urform, nämlich die Idee hat, die wir bereits a priori in unserem Bewusstsein tragen. Das Zusammenspiel der Vorstellungs- und der Willensebene lässt sich am besten am Menschen, besser gesagt an seinem Körper, veranschaulichen:
Dem Subjekt des Erkennens, welches durch seine Identität mit dem Leibe als Individuum auftritt, ist dieser Leib auf zwei ganz verschiedene Weisen gegeben: einmal als Vorstellung in verständiger Anschauung, als Objekt unter Objekten, und den Gesetzen dieser unterworfen; sodann aber auch zugleich auf eine ganz andere Weise, nämlich als jenes Jedem unmittelbar Bekannte, welches das Wort WILLE bezeichnet (I, 151).
In der Welt als Vorstellung sieht der Mensch seinen Körper also als ein Objekt an, beim Hinunterschauen erkennt er seine Extremitäten, den Rumpf, etc. Schließlich ist er kein „geflügelter Engelskopf ohne Leib“(I, 150). Und jeder „wahre Akt seines Willens ist sofort und unausbleiblich auch eine Bewegung seines Leibes: er kann den Akt nicht wirklich wollen, ohne zugleich wahrzunehmen, dass er als Bewegung des Leibes erscheint“(I, 151). So ist beispielsweise die Bewegung der Beine beim Gehen gewollt. Schopenhauer fasst zusammen: „Die Aktion des Leibes ist nichts Anderes, als der objektivirte [sic!], d.h. in die Anschauung getretene Akt des Willens“ (ebda.). Natürlich veranschaulicht sich der Wille nicht nur im oder am menschlichen Körper, sondern in der gesamten belebten sowie unbelebten Natur:
„So sehen wir in der Natur überall Streit, Kampf und Wechsel des Sieges und werden eben darin weiterhin die dem Willen wesentliche Entzweiung mit sich selbst deutlicher erkennen“(I, 208). Das erinnert an Darwins Theorie vom Überlebenskampf bzw. dem Überleben des Stärkeren, die im folgenden Beispiel, das Schopenhauer zur Veranschaulichung anführt, noch deutlicher anklingt: „Die deutlichste Sichtbarkeit erreicht dieser allgemeine Kampf in der Thierwelt [sic!], welche die Pflanzenwelt zur ihrer Nahrung hat, und in welcher selbst wieder jedes Thier [sic!] die Beute und Nahrung eines anderen wird“(ebda.). Das Überleben ist also nur durch die Zerstörung anderer Existenzen gesichert,
so dass der Wille zum Leben durchgängig an sich selber zehrt und in verschiedenen Gestalten seine eigene Nahrung ist, bis zuletzt das Menschengeschlecht, weil es alle anderen überwältigt, die Natur für ein Fabrikat zu seinem Gebrauch ansieht und […] homo homini lupus wird (ebda.).
Der Überlebenskampf zieht sich durch alle Objektivationsstufen und nur durch ihn kann die nächste Stufe erklommen werden, denn auch Menschen bekämpfen einander, so dass der Mensch den Menschen Wolf wird. Schopenhauer kommt zu dem Schluss, dass „ALLES LEBEN LEIDEN ist“(I, 405).
Die Menschen streben zwar nach Glück, aber dieses Gefühl „ist eigentlich und wesentlich immer nur NEGATIV und durchaus nie positiv“(415). Denn Glück ist die Befriedigung eines Wunsches, eines Mangels, den man verspürt. „Mit der Befriedigung hört aber der Wunsch und folglich der Genuß [sic!] auf“(416), Glück ist nur von kurzer Dauer, gefolgt von erneutem Unglück und Leid. Außerdem schätzt man sein Glück erst nach eigenen oder fremden leidvollen Erfahrungen. Denn die Erinnerung an Leid lässt die Gegenwart genießen, fremdes Unglück erfreut, da man es nicht selbst durchleiden muss. Zum Beweis führt Schopenhauer an, dass in der Poesie zwar das Streben nach Glück thematisiert wird, allerdings kein dauerhaftes Glück geschildert werden kann (vgl. 417). Grundsätzlich geht Schopenhauer davon aus, dass „das Böse und Hinterlistige im Reiche der Thaten [sic!], nur durch kurze Unterbrechungen gestört, eigentlich die Herrschaft behaupten; hingegen das Treffliche jeder Art immer nur eine Ausnahme, ein Fall aus Millionen ist“ (I, 422). Für Schopenhauer ist die Welt böse und folglich in Opposition zu Leibniz nicht die best- sondern die schlechtmöglichste.
Dem Christentum ähnlich will Schopenhauer keine Leidens- sondern eine Erlösungsphilosophie anbieten. Das Leid ist nicht Zweck sondern nur Instrument (vgl. Theodizeefrage): Es soll zur Verneinung des Willens führen, denn Willensbejahung ist gleichbedeutend mit der Lebensbejahung. In dieser Negierung sieht Schopenhauer den einzigen Ausweg um den Leidens-, Lebens- und Willenskreislauf zu durchbrechen. Erreicht werden kann dies durch zwei Arten. Kurzfristig geschieht dies durch die Kontemplation von Kunstwerken, Natur… oder durch Musikhören,
indem die Erkenntniß [sic!] sich vom Dienste des Willens losreißt […], indem man nach einer sinnvollen Deutschen Redensart, sich gänzlich in diesen Gegenstand VERLIERT, d.h. eben sein Individuum, seinen Willen, vergisst und nur noch als reines Subjekt, als klarer Spiegel des Objekts bestehend bleibt (243f.).
Hier beschreibt Schopenhauer einen ästhetischen Ausweg durch die Kunst, die einen zeitweise den Willen und sein Dasein als Individuum vergessen lassen kann.
Endgültig kann der Willen nur durch Askese (vgl. Christentum, indisches Veda) negiert werden, das ist der ethische Weg. Denn demjenigen, der den Willen und das principium individuationis durchschaut hat, dem entsteht
eine Abscheu vor dem Wesen, dessen Ausdruck seine eigene Erscheinung ist, dem Willen um Leben, dem Kern und Wesen jener als jammervoll erkannten Welt. Er verleugnet daher eben dieses in ihm erscheinend und schon durch seinen Leib ausgedrückte Wesen, und sein Thun [sic!] straft jetzt seine Erscheinung Lügen, tritt in offenen Widerspruch mit derselben (489f.).
Körper und objektivierter Wille, besonders in Gestalt des Fortpflanzungstriebs, besteht zwar weiter, aber der Asket verweigert sich, gerade seinem Sexualtrieb. Selbstmord ist kein Ausweg, da er nichts „als die wirkliche Aufhebung seiner einzelnen Erscheinung [ist], […] ist dieser ein Phänomen starker Bejahung des Willens“(512). D.h. die Erscheinung, der Körper, wird ausgelöscht, aber der Wille besteht fort. Nur beim Tod durch Askese werden sowohl Körper als auch Wille negiert und können ins Nichts, ins Nirwana,[5] eintreten.
Arthur Schopenhauer hat mit seiner „Philosophie des Übergangs“[6] bereits wichtige Themen des späten 19. Jahrhunderts angesprochen. Gerade weil er die Triebsteuerung des menschlichen Handelns und Intellekts betont, das Unbewusste und Träume anspricht, wird er als Vorläufer Sigmund Freuds, Eduard von Hartmanns und Max Schelers angesehen.[7] Nicht zu vergessen sind seine empirischen und naturwissenschaftlichen Ansätze, immer wieder zitiert der Philosoph zur Veranschaulichung Beispiele aus der Tierwelt, der Chemie, etc. Man kann ihn als einen Wegbereiter der Moderne sehen.
2 Rezeption in Sin rumbo
Eugenio Cambaceres kannte sich mit der europäischen Literatur und Philosophie seiner Zeit bestens aus und bettete sie in seine Romane ein. In Sin rumbo[8] mischen sich typisch naturalistische Elemente wie Krankheit, Natur, Milieustudie… mit dekadenten, die klar an Huysmans A rebours[9] erinnern, das wiederum Schopenhauerreferenzen hat. Die Philosophie Schopenhauers mit ihrem negativen Lebens- und Naturkonzept fungiert als Bindeglied zwischen diesen beiden fast zeitgleich auftretenden literarischen Strömungen, an manchen Stellen werden die Gedanken des Meisters wortwörtlich übernommen. Nach einer kurzen Inhaltsangabe werde ich auf die einzelnen Motive näher eingehen. Zu diesen muss gesagt werden, dass sie alle zusammenhängen. Sie haben eine gemeinsame Grundlage, die negative Naturerfahrung[10] und Lebenseinstellung. Aus ihr resultieren Pessimismus und Langeweile, die Vaterliebe als reines Naturgesetz, etc.
2.1 Einleitendes
Sin rumbo, erschienen 1885, wird von den Kritikern einstimmig als Eugenio Cambaceres` bester Roman bezeichnet. Die Handlung ist recht einfach gestrickt, jedoch technisch brillant erzählt. Andrés, der Protagonist, wird folgendermaßen beschrieben:
alto, rubio, la frente fugitiva surcada por un profundo pliegue vertical en medio de las cejas, los ojos azules, dulces, pegajosos, de esos que es imposible mirar sin surfrir la atracción misteriosa y profunda de sus pupilas, la barba redonda y larga, poblada ya de pelo blanco, no obstante haber pasado apenas el promedio de la vida (82).
Als hochgewachsener, blonder Mann verkörpert er den Prototyp des europäischstämmigen criollos. Nach einem exzessiven, verschwenderischen Leben mit abgebrochenen Jura-, Medizin und Kunststudien, Reisen nach Russland und China und unzähligen Frauengeschichten (vgl. 84f) ist Andrés, der auf seiner Hacienda lebt, wo er trotz seines gesellschaftlichen Standes handfest mitanpackt, lebensüberdrüssig und gelangweilt, wie das Fazit des Erzählers zeigt:
[...]
[1] Calderón de la Barca, La vida es sueño, Barcelona: Plaza & Janés Editores, S.A. 1999, Jornada segunda, escena XIX, S. 162.
[2] Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, hrsg. von Ludger Lütkehaus, Zürich 1988, Band I, S.7. Im Folgenden abgekürzt als „Schopenhauer I“.
[3] Rudolf Malter, Der eine Gedanke. Hinführung zur Philosophie Arthur Schopenhauers, Darmstadt 1988, S.32.
[4] Wolfgang Korfmacher, Schopenhauer zur Einführung, Hamburg 1994, S.11.
[5] Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, hrsg. von Ludger Lütkehaus, Zürich 1988, Bd. II, S.591.
[6] Lore Hühn, „Arthur Schopenhauer“, in: Metzler Philosophenlexikon, hg. von Bernd Lutz, Stuttgart 2 1995, S. 807-813.
[7] Vgl. ebda, S. 807.
[8] Eugenio Cambaceres, Sin rumbo, Madrid: Catedra 22005.
[9] Joris-Karl Huysmans, Gegen den Strich, München: dtv 1995.
[10] Vgl. der ständige Überlebenskampf in der Natur veranschaulicht in der Episode um Kater Bernado S. 95f und der reißende Fluss in dem Andrés fast ertrinkt Kap. XXX.
- Citation du texte
- Anna Uhl (Auteur), 2007, Die Schopenhauerrezeption und ihre Funktion in Eugenio Cambaceres` "Sin rumbo", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/94120
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