Der Gemeinsame Unterricht, der Gegenstand dieser Arbeit sein soll, ist der bislang erfolgreichste und am meisten verbreitete Versuch des Schulsystems allen Schülern gleiche Lerngrundlagen und Möglichkeiten mitzugeben.
Ob die Art und Weise, wie der Gemeinsame Unterricht in NRW durchgeführt wird und gesetzlich festgelegt ist, für echte Chancengleichheit sorgt, soll im Rahmen dieser Arbeit erörtert werden.
Dabei soll zunächst der Personenkreis eingegrenzt und ein kurzer historischer Überblick über die sonderpädagogische Förderung in der BRD gegeben werden. Weiterhin wird der Bereich der schulischen Integration beschrieben, wobei die Form des Gemeinsamen Unterrichts im Mittelpunkt stehen soll.
Im darauf folgenden Kapitel wird der Gemeinsame Unterricht, vor allem wie er in Nordrhein- Westfalen stattfindet, dargestellt. Diese Eingrenzung ist notwendig, da der Bildungsföderalismus große Unterschiede in der Praxis der integrativen Beschulung der BRD mit sich bringt. Um die Thematik nicht nur theoretisch, mit Hilfe von Literatur, zu beleuchten, wurden Interviews geführt, die in Kapitel 4 dargestellt und hinsichtlich ausgewählter Themenbereiche ausgewertet werden.
INHALTSVERZEICHNIS
0 EINLEITUNG
Motivation und Zielsetzung
Methodik
1 DIE ENTWICKLUNG DER SONDERPÄDAGOGISCHEN FÖRDERUNG IN DEN SCHULEN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND- EIN HISTORISCHER ÜBERBLICK
1.1 Entwicklung bis 1945
1.2 Phase des Aufbaus
1.3 Phase des Ausbaus
1.4 Phase des Umbaus
2 SCHULISCHE INTEGRATION- SONDERPÄDAGOGISCHE FÖRDERUNG IN ALLGEMEINEN SCHULEN
2.1 Begriffsbestimmung
2.2 Organisationsformen der Sonderpädagogischen Förderung in den allgemeinen Schulen Nordrhein- Westfalens
2.3 Gemeinsamer Unterricht
3 DER GEMEINSAME UNTERRICHT IN NORDRHEIN- WESTFALEN
3.1 Schulversuche zum Gemeinsamen Unterricht in NRW
3.2 Positionen der Landesregierung auf dem Weg zu einer gesetzlichen Regelung sonderpädagogischer Förderung in Nordrhein- Westfalen
3.3 Das Gesetz zur Weiterentwicklung der sonderpädagogischen Förderung in Schulen
3.4 Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs und zur Festlegung des Förderortes
3.5 Gegenwärtiger Stand der schulpolitischen Entwicklungen
4 DER GEMEINSAME UNTERRICHT IN DER PRAXIS AM BEISPIEL EINER WUPPERTALER UND ZWEI KÖLNER SCHULEN
4.1 Vorstellung der Peter- Petersen Schule (Köln), der Ernst- Moritz- Arndt Schule (Köln) und der Gemeinschaftsgrundschule Rudolfstraße (Wuppertal)
4.2 Wichtige Aussagen und Ergebnisse der Interviews
4.2.1 Aussagen bezüglich besonderer Organisationsformen des jeweiligen Gemeinsamen Unterrichts
4.2.2 Darstellung der Verteilung der Förderschwerpunkte an o. g. Schulen
4.2.3 Aussagen bezüglich der Aufnahme von Schülern mit Förderschwerpunkt
5 DISKUSSION
LITERATURVERZEICHNIS
ANHANG
1. Interviewleitfaden
2. Interview- Transkripte
2 a) Interview- Transkript I
2 b) Interview- Transkript II
2 c) Interview- Transkript III
3. Schulkonzepte
3 a) Schulkonzept der Ernst- Moritz- Arndt Grundschule
3 b) Schulkonzept Gemeinschaftsgrundschule Rudolfstraße, Wuppertal
0 EINLEITUNG
Motivation und Zielsetzung
Zu Beginn der vorliegenden Staatsexamensarbeit soll kurz aufgezeigt werden, womit sie sich befasst und welches Ziel die Verfasserin bei der Auseinandersetzung mit dem Thema vor Augen hatte. Vor allem soll kurz beschrieben werden, welche persönliche Motivation bei der Autorin vorliegt, sich mit dem Thema des Gemeinsamen Unterrichts und der Integration von Schülern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in Nordrhein- Westfalen zu beschäftigen.
Wahrscheinlich wirkt im Zusammenhang einer Staatsexamensarbeit die Formulierung der persönlichen Motivation eher unangebracht.
Ich wähle dies hier aber sehr bewusst, weil mein Interesse an gemeinsamen , integrativen (Unterrichts-)Situationen nicht ausschließlich durch mein wissenschaftlich geprägtes Studium geweckt wurde, sondern vor allem durch Erlebnisse bei einem Begegnungsseminar, welches sich durch die Kombination von Freizeit- und Workshop- Anteilen auszeichnete.
So trafen bei dem oben erwähnten Begegnungsseminar behinderte und nicht behinderte junge Erwachsene (zwischen 16 und 30 Jahren) aus verschiedensten Ländern Europas für zwei Wochen aufeinander. Sie verbrachten zum einen Freizeit miteinander, wie abendliche Kneipengänge oder Zoo- bzw. Freibadbesuche. Zum anderen arbeiteten sie in Workshops zu gemeinsamen Themen miteinander.
Die Arbeit in diesen Workshops zeichnete sich dadurch aus, dass sie sich nach den Wünschen der Teilnehmer richteten und sowohl ein kreativer (und präsentierbarer) Umgang mit den Themen möglich war, als auch ein eher wissenschaftlich, diskursiver Umgang, beispielsweise in Diskussionsrunden, stattfinden konnte.
Als durchführende bzw. moderierende Studentin verschiedener Workshops konnte ich den jeweilig laufenden Prozess stetig beobachten, der sich mir durch die Wahrnehmung, dass die Zusammenarbeit in den heterogenen Gruppen ‚j a tatsächlich funktionierte!’ besonders einprägte. Diese Wahrnehmung des ‚ das funktioniert ja tatsächlich!’ ist für meine weitere pädagogische Einstellung deshalb wichtig, weil sie die Grundlage bildet für meine zukünftige Beschäftigung mit dem Umgang von Heterogenität in der Schule. Oft herrscht die Meinung vor, dass Lernen oder Arbeiten in heterogenen (Lern-) Gruppen besonders schwierig und mühsam sei und außerdem zu insgesamt schlechteren Lernleistungen bzw. Lernergebnissen führe. Schließlich- so wird argumentiert- bestünden heterogene Gruppen meist aus stärkeren und schwächeren Gliedern (Schülern), die beim Erlernen des gleichen (Lehr-) Stoffs (in der Schule vorgegeben durch Richtlinien) nicht gleich schnell, gleich gut etc. erfasst sein könnten.
Meiner Ansicht nach stellen Klafki und Stöcker aber ganz richtig fest, dass es kaum eine Lerngruppe gibt, die ganz homogen ist, selbst wenn eine Gruppenzuordnung zu gleichen oder ähnlichen Lernmöglichkeiten stattfindet (1996, 176 ff). Dabei ist an solch einer Gruppenzuordnung nicht nur die rigorose Trennung von Kindern/ Schülern verschiedener Sozialschichten und daraus folgernder unterschiedlicher schulischer Behandlung (vgl. Klafki/ Stöcker 1996, 177) zu kritisieren, sondern auch die Annahme, dass Schüler in homogenen Lerngruppen besser bzw. erfolgreicher lernen als in heterogenen Gruppen. Klafki/ Stöcker fassen zu dieser Annahme die Ergebnisse anglo- amerikanischer, empirischer Forschung zusammen:
(1) Es fehlt in homogen zusammengesetzten Leistungsgruppen für die Leistungsschwächeren die Anregung durch die Leistungsstärkeren. (…)
(2) Eine Zuweisung zu homogenen Gruppen führt häufig dazu, daß auch die Lehrer bestimmte Zuschreibungen im Hinblick auf die Schüler vornehmen. (…)
(3) Eine Zuweisung zu homogenen Gruppen, die sich im Laufe der Zeit gewöhnlich verfestigen, hat offenbar Auswirkungen auf die Selbsteinschätzung der Schüler (…) (Klafki/ Stöcker 1996, 179f).
Die Forschungen zeigen somit, dass in jedem Fall leistungsschwächere Schüler in homogenen Lerngruppen Nachteile erfahren. Während eine leistungssteigernde Wirkung auf leistungsstärkere Schüler noch umstritten ist (vgl. ebd., 179).
Auf der Grundlage dessen was ich in der Praxis erlebt habe und was (nicht nur) die oben erwähnten Autoren beschreiben, bin ich in meinem pädagogischen Selbstverständnis zu der Ansicht gekommen, dass eine (Schul-) Lernsituation niemals so beschaffen sein darf, dass eine Ausgrenzung bestimmter Schülergruppen begünstigt wird. Schließlich bildet das Schulsystem und die Stellung, die man in diesem eingenommen bzw. zugewiesen bekommen hat, die Grundlage dafür, wie sich Menschen in allen weiteren Lebensbereichen wie Beruf, Freizeit, Alter etc. verhalten. Jede pädagogische Institution sollte demnach größtmögliche demokratische Strukturen aufweisen bzw. diese umfassend praktizieren, um Schüler auf die große Demokratie, in der sie sowohl Rechte einfordern können, als auch aktiv partizipieren sollen, vorzubereiten.
Natürlich gehe ich nicht davon aus, dass ein Schulsystem, welches idealerweise die ‚Schule für Alle’ praktizieren würde, sofort alle Probleme, wie schlechte Lernleistungen oder mangelnde Lernmotivation von Schülern etc. lösen würde.
In dem Zusammenhang schließt auch Anne Ratzki in einer Bilanz aus internationalen Schulerfahrungen, dass Heterogenität zwar eine notwendige, aber nicht „hinreichende Bedingung für eine hohe Leistungsfähigkeit der gesamten Schülerschaft“ (2005, 12) ist. Sie nennt vielmehr vier Bedingungen, die gegeben sein müssten, damit die Chancen von Heterogenität sowohl im Interesse der Schüler, als auch der Lehrer genutzt werden können:
- Eine Ausbildung und Befähigung der Lehrkräfte zum professionellen Umgang mit heterogenen Schülergruppen: (…)
- Allgemeiner- und nicht nur punktueller- Verzicht auf alle Selektionsinstrumente: das ist eine Forderung an die Politik.
- Investitionen in die Förderung (…).
- Sehr behutsamer und vertrauensvoller Umgang mit Evaluationsverfahren, Standards, Prüfungen und Tests (Ratzki 2005, 12).
Daran wird deutlich, dass die Thematik der Heterogenität, deren Chancen und Risiken, eng verknüpft ist mit politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen. Dieser Bereich soll hier zunächst nur erwähnt bleiben.
Mit der oben bereits genannten demokratischen Schulstruktur, in denen Schüler die gleichen Chancen haben, kann ein Schulsystem geschaffen werden, das niemanden separiert, abstempelt oder nur verpflegt.
Der Gemeinsame Unterricht, der Gegenstand dieser Arbeit sein soll, ist der bislang erfolgreichste und am meisten verbreitete Versuch des Schulsystems allen Schülern gleiche Lerngrundlagen und Möglichkeiten mitzugeben.
Ob die Art und Weise, wie der Gemeinsame Unterricht in NRW durchgeführt wird und gesetzlich festgelegt ist, für echte Chancengleichheit sorgt, soll im Rahmen dieser Arbeit erörtert werden.
Dabei soll zunächst der Personenkreis eingegrenzt und ein kurzer historischer Überblick über die sonderpädagogische Förderung in der BRD gegeben werden.
Weiterhin wird der Bereich der schulischen Integration beschrieben, wobei die Form des Gemeinsamen Unterrichts im Mittelpunkt stehen soll.
Im darauf folgenden Kapitel wird der Gemeinsame Unterricht, vor allem wie er in Nordrhein- Westfalen stattfindet, dargestellt. Diese Eingrenzung ist notwendig, da der Bildungsföderalismus große Unterschiede in der Praxis der integrativen Beschulung der BRD mit sich bringt (vgl. Lochte 2003, 20).
Um die Thematik nicht nur theoretisch, mit Hilfe von Literatur, zu beleuchten, wurden Interviews geführt, die in Kapitel 4 dargestellt und hinsichtlich ausgewählter Themenbereiche ausgewertet werden.
Welche Methodik diesen Interviews zugrunde liegt oder ob die Literaturarbeit Besonderheiten aufweist, soll im Folgenden erläutert werden.
Methodik
Die vorliegende Arbeit gibt in Kapitel 1 zunächst einen auf die Entwicklung des Sonderschulwesens und der Sonderpädagogik der BRD beschränkten historischen Überblick, der die Basis für das Verständnis der im Weiteren erarbeiteten aktuellen Entwicklung schaffen soll. Dieses Kapitel beschränkt sich bewusst auf wenige Übersichtswerke.
Die Kapitel 2 und 3 der Arbeit basieren hingegen auf möglichst aktuellen Texten, Aufsätzen und weiteren Dokumenten. Die Aktualität der analysierten Dokumente soll hierbei besonders im Vordergrund stehen, da das Thema der Arbeit impliziert, die neuesten Entwicklungen und Probleme darzustellen. Ziel ist es, hier eine Verknüpfung zu erreichen zwischen dem Thema der Arbeit und den verschiedensten Entwicklungen hinsichtlich neuer Schul- bzw. Bildungsgesetze, hauptsächlich angestoßen durch die Ergebnisse der PISA- Studie. Aktuelle politische, didaktisch- methodische oder pädagogisch- philosophische Diskussionen betonen die Brisanz der momentanen Entwicklung und sollen hinsichtlich ihrer Bedeutung für das Thema der Arbeit untersucht werden.
Die aktuellen Entwicklungen, die in der Arbeit durch die Analyse von Dokumenten nachvollzogen werden, sollen im Kapitel 4 durch drei Interviews bekräftigt oder zur Diskussion gestellt werden. In diesen Interviews äußern sich zwei Sonderschullehrer sowie eine stellvertretende Schulleiterin drei verschiedener Schulen mit Gemeinsamem Unterricht.
Die Aufnahmen der Interviews (bei der Verfasserin einzusehen) sind wörtlich transkribiert worden (vgl. Mayring 1999, 70ff), wobei jedoch zum besseren Verständnis schrift- sprachliche Veränderungen vorgenommen wurden, auf die durch die vorangestellte Legende verwiesen wird (siehe Anhang 2 a)- c)).
Die Aktualität des Themas erfordert eine genaue Betrachtung der momentanen schulischen Praxis. Dieser Praxisbezug ist nur in Form von Interviews mit Lehrenden vor Ort möglich gewesen.
Hinsichtlich einer gezielten Datenerhebung wurden problemzentrierte Interviews (vgl. Mayring 1999, 50) geführt, die sich offen und halbstrukturiert und demnach subjektbezogen gestalteten. Das heißt, dass den Interviewpartnern im Vorhinein ein grober Leitfaden (siehe Anhang 1) für das Interview bereitgestellt wurde, der jedoch nicht die einzige Basis des Gesprächs bot. Die Interviews zeichneten sich dadurch aus, dass Ad- hoc Fragen bezogen auf den Themenkomplex der Arbeit die Gespräche bestimmten und diese in die notwendige Richtung lenkten.
Kritisch zu betrachten ist allerdings die Auswahl und besonders die Anzahl der Interviews als Informationsquellen: Von insgesamt ca. 20 kontaktierten Schulen mit Gemeinsamen Unterricht in Köln und Wuppertal, haben letztlich nur drei auf die Anfrage reagiert und Gesprächsbereitschaft gezeigt. Daher muss hier ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass der durch die Interviews ermöglichte Blick in die Praxis nur beispielhaft sein kann und keinen allgemeingültigen Charakter hat.
Die Arbeit schließt mit einer Diskussion der erhaltenen Informationen bezüglich der Aufgabenstellung, ob man den aktuellen Stand des Gemeinsamen Unterrichts im Hinblick auf die Integration des Förderschwerpunktes geistige Entwicklung in NRW als ein System der Chancengleichheit betrachten kann.
1 DIE ENTWICKLUNG DER SONDERPÄDAGOGISCHEN FÖRDERUNG IN DEN SCHULEN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND- EIN HISTORISCHER ÜBERBLICK
Bevor in den folgenden Punkten die Entwicklung der sonderpädagogischen Förderung dargestellt wird, soll zunächst der Personenkreis der Menschen mit geistiger Behinderung eingegrenzt und definiert werden, da im Rahmen der Erörterung der schulischen Integration vor allem Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung dargestellt werden. Diese Definition bildet die Grundlage der Arbeit und soll dazu dienen, die schulische Integration des genannten Personenkreises sinnvoll zu begründen und aufzuzeigen, warum diese notwendig ist.
Das Menschen- und Behinderungsbild, welches hier zugrunde liegt, weicht von den medizinischen Definitionen der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) oder der „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF) ab. Hier hat zwar ein Wandel von den defizitorientierten Merkmalen ‚Impairment’, ‚Disability’ und ‚Handicap’ zu den Begriffen ‚Impairment’, ‚Activity’ und ‚Participation’ stattgefunden, dennoch greifen diese Begriffe nicht die pädagogische Definition von Behinderung, die sich in dieser Arbeit an Feuser orientiert. Dieser beschreibt, dass Behinderung nie als Eigenschaft eines Menschen gesehen werden kann, sondern immer im Zusammenhang mit seinen Lebensumständen und seiner Teilhabe an allen gesellschaftlichen Prozessen zu sehen ist:
’Behinderung’ verstehen wir als Ausdruck jener gesellschaftlichen, ökonomischen und sozialen Prozesse, die auf einen Menschen hin zur Wirkung kommen, der durch psycho- soziale und/ oder biologisch- organische Beeinträchtigungen gesellschaftlichen Minimalvorstellungen und Erwartungen hinsichtlich seiner individuellen Entwicklung, Leistungsfähigkeit und Verwertbarkeit in Produktions- und Konsumtionsprozessen nicht entspricht. Sie definiert folglich einen sozialen Prozess und ist in diesem selbst wiederum eine wesentliche Variable […]. Sie ist Ausdruck der Selbst- und Aneignungstätigkeit des Systems und seiner Kompetenz in bezug auf seine Welt- Mensch- Beziehung; mithin von ihm hervorgebracht, aber nicht aus ihm selbst geworden (Feuser 2000, 1).
Wird demnach einem Menschen mit Behinderung der Zugang zu allgemeinen Schulen verwehrt, erfährt dieser nach Feuser eine „Be- Hinderung“ (Feuser 1996, 2) .
Die vorliegende Arbeit basiert also nicht auf der defizitorientierten medizinischen Perspektive, sondern auf einer an der Phänomenologie orientierten Sichtweise. Darunter ist „allgemein die Lehre von den Erscheinungen der Dinge und Menschen, d.h. von dem Sinn, der aus ihnen herausgelassen werden kann“ (Speck 2005, 45) zu verstehen. Diese Grundlage macht es in der zwischenmenschlichen Begegnung mit Behinderten möglich ein tieferes Verstehen aufbringen zu können, indem dem anderen Menschen, der zunächst einmal ein „Fremder“ (ebd., 45) ist, unter Zurückstellung des eigenen geschlossenen Wissens begegnet wird. Dieses Vorgehen verlangt, dass ich „die Andersheit des Kindes primär setze, d.h. besonders beachte und achte“ (ebd., 45):
Mein Wissen, das primär vom eigenen Subjekt bestimmt ist, kann ihn nicht entschlüsseln. Wenn ich es trotzdem versuche wird der Andere zu meinem Objekt. Der „objektive“ Beobachter ist verleitet, das Kind mit einer geistigen Behinderung aus seiner Sicht zu beurteilen, so dass dessen Eigenheit nicht hinreichend zur Geltung kommt. Das Kind wird zu einem Abbild der eigenen Vorstellung des Beobachtenden (Speck 2005, 45).
Damit ist verbunden, dass der eigene Zugang zum Anderen immer nur ein „Annäherungsversuch“ (ebd., 45) sein kann und eine Anerkennung der Andersheit im Vorhinein erfordert, daraus folgt für die Pädagogik, dass die „ menschliche Haltung des Pädagogen gegenüber dem Anderen“ (ebd., 45) Priorität hat. Hiermit verbunden ist auch die Tatsache, dass geistige Behinderung nicht als „ fixierter Zustand“ (ebd., 69) gesehen werden darf, sondern immer als ein dynamisches Wechselwirkungsgeflecht mit der Umwelt betrachtet werden muss, welches kontinuierliche Veränderungen und Entwicklungen erfährt:
Die gesellschaftliche Realität einschließlich der Erziehung steht unter dem wechselwirkenden Einfluss der Realität geistiger Behinderung. Sie steht deshalb unter dem verbindenden humanen Anspruch, ihre Normen- und Handlungssysteme nicht am geistig behinderten Menschen vorbei zu konstituieren (Speck 2005, 70).
Speck fasst die bisher genannten Bedingungsfaktoren einer geistigen Behinderung in seinem „Interaktionalen Modell der Genese und des Prozesses geistiger Behinderung“ (2005, 70) wie folgt zusammen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Interaktionales Modell der Genese und des Prozesses geistiger Behinderung (Speck 2005, 70)
Der Ansatz der Phänomenologie, die Definitionen von Speck und Feuser und auch der von der ICF angegebene Bereich der ‚Participation’ zeigen, dass das System Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, wie es die KMK formuliert, ausschließlich in einer Sonder- bzw. Förderschule zu unterrichten, diesen Schülern nicht in jeder Hinsicht gerecht werden kann. Die Fokussierung der Behinderung, die durch dieses System erfolgt, steht im Gegensatz zu dem Recht der Menschen mit Behinderung auf ein uneingeschränktes Leben in der Gemeinschaft, wie es jedem Menschen offen stehen sollte. So dass meiner Ansicht nach der Fokussierung der Behinderung nur entgegen gewirkt werden kann, wenn Schüler mit geistiger Behinderung bzw. dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in erster Linie als Schüler gelten, die ein Recht auf uneingeschränkte Teilhabe an der Gemeinschaft haben, der am besten durch die Möglichkeit der schulischen Integration aller Schüler entsprochen werden kann.
Der folgende historische Überblick dient der gegenwärtigen Standortbestimmung und soll zeigen, welchen Einschränkungen Menschen mit Behinderung unterlegen sind und in wie weit sich in der Aufhebung dieser Einschränkungen Fortschritte erkennen lassen. Vor allem aber soll ersichtlich werden, dass die Veränderungen in den Gesetzgebungen für die Beschulung und gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung immer noch mancher Erweiterung bedürfen, wozu in den Punkten 3 und 4, aber vor allem in der Schlussdiskussion der vorliegenden Arbeit Raum sein wird. Der Blick auf diese Entwicklung soll auch vergegenwärtigen in wie fern frühere Sichtweisen und Einstellungen gegenüber Menschen mit geistiger Behinderung heutige Maßnahmen zur Förderung dieses Personenkreises prägen.
1.1 Entwicklung bis 1945
In diesem Kapitel geht es um die geschichtliche Aufarbeitung der sonderpädagogischen Förderung und die Entwicklung dessen von Beginn des 19. Jahrhunderts an, weil zu dieser Zeit die ersten Anstaltsgründungen beschrieben werden und man somit von einem Beginn der Geistigbehindertenpädagogik sprechen kann. Weiter zurückliegende Dokumente, Schriften etc. über den Umgang mit Menschen mit geistiger Behinderung, so genannten „Schwachsinnige[n] Menschen“ (Fornefeld 2002, 29), werden hier nicht beschrieben, da sie über den für diese Arbeit gewählten Rahmen hinausgehen würden.
Wie bereits erwähnt, zeichnet sich das 19. Jahrhundert dadurch aus, dass Menschen mit geistiger Behinderung zum ersten Mal kontinuierlich und systematisch „pädagogische Aufmerksamkeit“ (ebd., 31) geschenkt wurde. Auslöser war das aufklärerische Gedankengut der Industrialisierung, welches für derartige Veränderungen die Basis schaffte. Zunächst engagierte „man sich für die Befreiung bzw. Behandlung von Sklaven, Gefangenen, Kranken, Blinden und Tauben“ (Mühl 1991, zit. nach: Fornefeld 2002, 31), dann setzte sich immer mehr die Ansicht durch, dass auch das Recht auf Bildung nunmehr nicht länger nur privilegierten Bevölkerungsschichten vorbehalten sein sollte. Fornefeld beschreibt, dass nun alle Kinder durch Erziehung zu „Sittlichkeit und bürgerlicher Nützlichkeit gebracht werden“ sollten (2002, 31), was erst nachdem man die Menschen mit Behinderung aus gefängnisähnlichen Unterbringungen heraus holte, in auf private Initiative hin (vgl. ebd., 31) neu errichteten Anstalten geschehen konnte. Parallel wurden erste Klassifizierungsversuche gestartet, wie beispielsweise durch den Arzt John Langdon H. Down (1826- 1896), über den Speck berichtet:
Darin unternimmt er den Versuch, die ihm bekannten Gruppen von Schwachsinnigen bestimmten Rassen zuzuordnen, und beschreibt dabei erstmals den von ihm so genannten ‚mongolischen Typ der Idiotie’. Beachtlich ist hierbei, dass er nicht nur Symptomatologie und eine spekuläre Ätiologie darstellt, sondern auch konkrete Möglichkeiten der Behandlung- ‚systematic training’“ (Speck 1999, zit. nach: Fornefeld 2002, 32).
Fornefeld beschreibt, dass Menschen mit Behinderung im 19. Jahrhundert aus drei Arten von Gründen im 19. Jahrhundert Aufmerksamkeit geschenkt wurde: „aus medizinischem, pädagogisch- sozialem oder religiös- karitativem Interesse“ (2002, 32), was erklärt, warum die ersten Anstalten von Ärzten, Pädagogen und Theologen gegründet wurden. Doch erst Pestalozzi unternahm in unserem Sinne pädagogische Erziehungsversuche und Maßnahmen, während, wie Fornefeld aufzeigt, die Anstalten noch ein sehr klassisches Bild von ‚Heilung und Pflege’ aufwiesen:
Bei der Gründung der ersten Heil- und Pflegeanstalten war die Hoffnung auf medizinische Heilung bestimmend. Man versuchte, den Gesundheitszustand der Zöglinge durch Hygiene und diätische Ernährung zu verbessern. Bäder, Waschungen, Schwimmen und Gymnastik sollten den Körper stärken. Die Ärzte suchten nach Behandlungsmethoden, die aber nur begrenzt wirkungsvoll waren (2002, 32).
Neben Pestalozzi machte auch Jean- Marc- Gaspard Itard (1774- 1838) erste Erziehungsversuche mit einem verwilderten, fünfjährigen Jungen, ‚Victor’, der als „psychiatrisch unheilbarer Idiot diagnostiziert“ (Fornefeld 2002, 33) wurde und legte damit den Grundstein für die „physiologische Erziehung“, die später Edouard Séguin (1812- 1880) zu einem Konzept der Sinnes- und Funktionsschulung weiterentwickelte. Des Weiteren blieb diese heilpädagogische Arbeit nicht nur eine praktische, die also der „Entwicklung und Erprobung von konkreten Behandlungs- und Erziehungsmethoden“ (Fornefeld 2002, 34) diente, sondern sie erlebte auch eine erste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der erwähnten neuen Form der Pädagogik durch beispielsweise Pädagogen wie Jan Daniel Georgens (1823- 1886) und Heinrich Marianus Deinhardt (1821- 1880). Man tauschte sich bald auf Tagungen und Treffen über die Pädagogik aus, die gleichzeitig, so von Möckel charakterisiert, eine „Kritik der bestehenden Pädagogik“ (Möckel 1997, zit. nach Fornefeld 2002, 35) implizierte und einen „ernstzunehmenden Reformversuch“ (ebd., zit. nach Fornefeld 2002, 35) darstellte.
Es wurden auf der Basis der bisher entstandenen Anstalten weitere gegründet und das „komplexe Phänomen(…) des ‚Schwachsinns’“ (Fornefeld 2002, 35) durch eine Zusammenarbeit von Medizinern, Pädagogen und Theologen erforscht, um so der erforderlichen „mehrdimensionale[n] Vorgehensweise“ (ebd., 35), die man für notwendig hielt, gerecht zu werden. Dem seit 1860 erfolgten Rückzug der Ärzte aus der Arbeit der Anstalten, der in der Anerkennung der Wirksamkeit der pädagogischen Arbeit durch Erziehung und Betreuung begründet lag, schloss sich jedoch kein staatliches Interesse an die Belange der Menschen mit geistiger Behinderung- „schwachsinniger Menschen“- (ebd., 36) an. Von den, wie Mühl beschreibt, erfolgten 27 Anstaltsgründungen sind lediglich 4 durch Regierungen oder Behörden erfolgt und von den ab 1870 bis um 1900 gegründeten 52 Anstalten nur 10 (Mühl 1988, zit. nach: Fornefeld 2002, 36).
Die ersten staatlichen Beschulungsversuche finden erst zum Ende des 19. Jahrhunderts statt, indem so genannte „Sonderschulklassen an Volksschulen“ (Fornefeld 2000, 36) angegliedert werden, in denen alle Kinder zusammenkamen, „die dem normalen Unterricht der Volksschule nicht folgen konnten“ (ebd., 36). Auch in der ab 1880 entstandenen Hilfsschule sammelten sich alle Schüler, wie oben beschrieben. Fornefeld räumt aber ein, dass durch die damals unscharf verwendeten Begriffe des „’Idiot[en]’, ‚Schwachsinnige[n]’ oder ‚Blödsinnige[n]“ (2002, 36) wahrscheinlich sowohl Kinder mit Lernbehinderung als auch Kinder mit geistiger Behinderung diese Klassen besuchten.
Als zu erkennen war, dass es sowohl in den Sonderschulklassen als auch in den Hilfsschulen für die Schüler nicht möglich war, das Ziel der Schule zu erreichen, wurden ab 1910 spezielle Klassen eingerichtet, die sich „Vorklassen, Vorstufen, Vorbereitungsklassen oder Sammelklassen“ (Fornefeld 2002, 36) nannten.
Im Gegensatz zum Beginn des 19. Jahrhunderts empfand man um die folgende Jahrhundertwende herum die Schüler, die als bildungsunfähig dargestellt wurden, als Ballast, vor allem, da sich der Leistungsdruck auf die Hilfsschulen verstärkte und die „Verbreitung nationalsozialistischer Wertmaßstäbe“ (ebd., 36) an Bedeutung gewann.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigten sich zwar viele neue reformpädagogische Richtungen und Veränderungen, angeregt von dem Leitgedanken der Demokratie und Gerechtigkeit in der Erziehung, allerdings blieb die Heilpädagogik von diesen Entwicklungen weitestgehend unberührt (vgl. Fornefeld 2002, 37). Viel entscheidender für den Stellenwert der Heilpädagogik und für den Umgang mit Menschen mit Behinderungen war der Einfluss und die Zunahme von „nationalsozialistischen und sozialdarwinistischen“ (ebd., 37) Denkweisen im Zeitraum 1933 bis 1945.
Die Grundlage für die Ausgrenzung und Vernichtung „Behinderter, Kranker und Randständiger“ (ebd., 38) basierten auf den Theorien des Biologen Charles Darwin und des Genetikers Gregor Mendel.
Die zentrale Aussage Darwins, dass die natürliche Selektion im Bereich der Pflanzen- und Tierwelt zur Entstehung überlebensfähiger Spezies führe, wurde von ihm selbst nicht auf den Menschen bezogen. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts übertrugen die Sozialdarwinisten diese Theorie des ‚survival of the fittest’ auf die menschliche Entwicklung, so dass sie „eine Auslese der Besten einer Art und eine Vernichtung der Minderwertigen“ (Fornefeld 2002, 38) für notwendig erachteten.
Gregor Mendel begründete (zurückgreifend auf die Beobachtungen des Engländers Francis Galton) die Eugenik, eine Erbgesundheitslehre, die verschiedene Vererbungsgesetze beinhaltete, durch die die Annahme wuchs, dass „Schwachsinn erblich sei, zur Armut, Kriminalität und diversen Krankheiten führe und deshalb ausgemerzt werden müsse“ (Speck 2005, 28).
Die 1920 von Binding und Hoche erschienene Schrift „Die Freigabe der Tötung lebensunwerten Lebens“ (2005, 28) deutet auch nach Speck auf eine Fortführung dieser sozialdarwinistischen Tendenzen:
Sie richtete sich gegen die Existenzberechtigung von Menschen mit schweren geistigen Mängeln, deren Versorgung als sinnlos und kostspielig angesehen wurde. Unter dem Einfluss volkswirtschaftlicher und selektiv- eugenischer Maßgaben hatten die Autoren gefordert, ‚unheilbar blödsinnige’ Menschen zu ‚erlösen’, statt sie hinter Anstaltsmauern nutzlos am Leben zu erhalten (Speck 2005, 28f).
Was hier bereits angedeutet wurde, trat am 01.01.1934 durch das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (Fornefeld 2002, 39) in Kraft, schwachsinnigen und als schulbildungsunfähig geltenden Menschen wurde das Lebensrecht abgesprochen. Fornefeld beschreibt, wie es zur „volksbiologischen Aufgabe“ (2002, 39) wurde, vor allem auch für die Hilfsschullehrer, die arische Rasse rein zu halten. Später wurden auch Berufsgruppen, wie „Hebammen, Geburtshelfer und Leiter von Entbindungsanstalten“ (Mühl 1991, zit. nach Fornefeld 2002, 40) in die besagte Aufgabe einbezogen und wurden verpflichtet, „idiotische und missgebildete Neugeborene[n] beim zuständigen Gesundheitsamt zu melden“ (ebd., zit. nach Fornefeld 2002, 39) um dann, wie Mühl darstellt, die Neugeborenen zur Vernichtung freizugeben (1991, zit. nach ebd. 39f).
Da ab 1938 das Reichsschulpflichtgesetz in Kraft trat, das in § 11 verfügt:
Bildungsunfähige Kinder und Jugendliche sind von der Schulpflicht befreit. Als bildungsunfähige Kinder und Jugendliche sind solche Kinder und Jugendliche anzusehen, die körperlich, geistig oder seelisch so beschaffen sind, daß sie auch mit den vorhandenen Sonderschuleinrichtungen nicht gefördert werden können“ (nach Speck 2005, 30), waren Hilfsschullehrer außerdem verpflichtet, die Schüler zu melden, die diesem Bildungsbegriff und dem „völkischen Kriterium der Brauchbarkeit, der Nützlichkeit für die Volkgemeinschaft nicht entsprachen“ (Fornefeld 2002, 39). Die Vernichtung der „Ballastexistenzen“ (Speck 2005, 30) begann also mit einer Welle von Zwangssterilisationen und endete mit dem „’Euthanasie’- Programm“ (Fornefeld 2002, 39), was dazu führte, dass 1945 „die Anstalten entleert“ (ebd., 40) waren und das Hilfsschulwesen nicht mehr existierte.
1.2 Phase des Aufbaus
Zunächst änderte sich nach 1945 nicht viel für geistig behinderte Kinder, weder schulisch noch sozial. Die Hilfsschule knüpfte dort an, wo man 1933 aufgehört hatte, das heißt:
Die Hilfsschule etablierte sich wieder als Leistungsschule, die an einer Einbeziehung der Schwerschwachsinnigen kaum interessiert war. Man überließ sie- wie einst- den Anstalten, d.h. der ‚privaten Mildtätigkeit’. Die Ausschulung der sog. Bildungsunfähigen, ihre ‚Schulbefreiung’, wurde vielfach bedenkenlos praktiziert. Die Hilfsschule registrierte diese ‚Befreiten’ lediglich in ihren Akten (Speck 2005, 32).
Es gab also noch keine neue „Bildungskonzeption“ (Fornefeld 2002, 40) für geistig behinderte Kinder, wofür es auch keine Veranlassung gab, da das „Reichsschulpflichtgesetz von 1938 weiter Gültigkeit besaß und Schüler mit geistiger Behinderung damit weiter als bildungsunfähig galten“ (ebd., 40). Auch die „Universal Declaration of Human Rights“, die 1948 von den Vereinten Nationen verabschiedet wurden, führte nicht zu einer Veränderung der Situation für geistig behinderte Kinder, obwohl in den Artikeln 1 und 2 die Gleichheit aller Menschen hervorgehoben wird und ihnen in Artikel 26/ 1 und 2 allen Menschen ein Recht auf Bildung zugesprochen wird. Auch das 1949 in Kraft getretene Grundgesetz der BRD, welches die Unantastbarkeit der Menschenwürde postuliert, ändert daran nicht.
Eine einzige Ausnahme bilden, so berichtet Fornefeld, einzelne Pädagogen, die in Anstaltsschulen tätig sind und versuchen sich für eine „öffentliche Schulbildung“ (2002, 41) der Kinder mit geistiger Behinderung einzusetzen. Ihre Forderungen bleiben aber noch unerhört und werden nicht in die Tat umgesetzt.
1.3 Phase des Ausbaus
Bei der Darstellung der Aufbau- Phase der sonderpädagogischen Förderung muss bedacht werden, dass das System, welches vor 1933 in Deutschland bestand, bis 1945 von Grund auf zerstört wurde. Demnach kann sich dieser Aufbau naturgemäß nicht in wenigen Jahren vollziehen und so muss die Aussage, dass sich zunächst für geistig behinderte nicht viel änderte, in eben diesem Kontext relativiert und bewertet werden.
Die wichtigste Veränderung für die Bildungssituation von geistig behinderten Kindern bildete bereits 1958 die Gründung der ‚Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e.V.’ (vgl. Fornefeld 2002. 41) durch betroffene Eltern in Marburg. Sie basierte auf dem Wunsch der Eltern, „ihre Kinder familiennah versorgt zu wissen und nicht in abgelegene Anstalten abgeben zu müssen“ (ebd., 41). Fornefeld zitiert in diesem Zusammenhang den § 2 der Satzung des Vereins, der die Aufgaben wie folgt verdeutlicht:
Aufgabe und Zweck des Vereins ist die Förderung aller Maßnahmen und Einrichtungen, die eine wirksame Lebenshilfe für geistig Behinderte aller Altersstufen bedeuten. Dazu gehören z.B. Heilpädagogische Kindergärten, heilpädagogische Sonderklassen der Hilfsschule, Anlernwerkstätten und ‚Beschützende Werkstätten’ (§ 2 der Satzung des Vereins vom 18.01.1959 nach Möckel 1999, zit. nach Fornefeld 2002, 42).
Der Verein sorgte dafür, dass in den folgenden Jahren „die Zahl der Kindergärten für geistig Behinderte stieg“ (Fornefeld 2002, 42), was durch die Zahlen in Fornefelds Beschreibung deutlich wird. Im Zeitraum von 1962 bis 1982 ergibt sich ein Zuwachs an Kindergärten von 10 auf 410 und an Schulen bzw. Tagesbildungsstätten von 50 auf 550 (vgl. ebd., 42). Möckel stellt außerdem dar:
Die ‚Bundesvereinigung Lebenshilfe’ gehört zu den erfolgreichsten Erziehungs- und Schulinitiativen in Deutschland. (…) Die Bundesrepublik fand dank der Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V. Anschluß an den Standard in der Erziehung geistig behinderter Kinder und Jugendlicher im westlichen Ausland und in Skandinavien. Besondere Verdienste erwarb sich die Lebenshilfe um die Verbesserung der Einstellung zu geistig Behinderten in der Bevölkerung (Möckel 1999, zit. nach Fornefeld 2002, 42).
Der Grundstein für das „Aufgabengebiet der Geistigbehindertenpädagogik“ (Fornefeld 2002, 42) war also gelegt und weitete sich auch dementsprechend aus.
Verstärkend hinzu kam das „Gutachten der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder zur Ordnung des Sonderschulwesens“ (Fornefeld 2002, 41) von 1960, in dem die Bildbarkeit der geistig behinderten Kinder bestätigt wurde. Vor allem Speck räumt hier aber ein, dass sie „als so gering angesehen“ wurde, „daß der angenommene Personenkreis weder in Schulen noch in Heilpädagogischen Kindergärten gefördert werden kann“ (1979, zit. nach Fornefeld 2002, 41). Weitere Kritik Specks am „Gutachten der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder zur Ordnung des Sonderschulwesens“ (Fornefeld 2002, 41) tritt in folgender Textpassage deutlich hervor:
Der Staat darf sich der Verpflichtung nicht entziehen, auch diesen Kindern gerecht zu werden… Diese Lebenskreise sind stationär in Heimen oder… als Tagesheimstätten einzurichten. Wieweit die Jugendfürsorge oder die Schulbehörde oder beide gemeinsam solche Einrichtungen schaffen und beaufsichtigen, hängt von den jeweiligen örtlichen Gegebenheiten und dem jeweiligen Charakter dieser Einrichtung ab (Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik 1960, zit. nach Speck 2005, 33).
Besonders der letzte Abschnitt des Zitats provoziert bei Speck die Bezeichnung einer „Verlegenheitslösung“ (2005, 33), da hier von einem „schulorganisationsfremden Terminus ‚Lebenskreis’“ (2005, 34) gesprochen und somit eine negative Fixierung vorgenommen wird: die geistig behinderten Kinder wurden als ‚pflegebedürftig’, d.h. nicht schulbildungsfähig, deklariert. Die menschliche Aufgabe an ihnen wurde nicht als Bildungsaufgabe, sondern als ‚Pflege der körperlichen und seelischen Kräfte’ definiert (Speck 2005, 34).
Anzuerkennen ist trotzdem, dass die öffentliche Aufmerksamkeit wieder auf die Bildungsaufgabe an geistig behinderten Kindern gelenkt wurde (vgl. Speck 2005, 34). Wie bereits in Kapitel 1.2 beschrieben, sahen sich die Hilfsschulen nicht in der Lage die so genannten „bildungsunfähigen“ (ebd., 34) Schüler wieder aufzunehmen, da sie ihren Bildungsauftrag, der aus der „Tradition und Position als ‚Leistungsschule’“ (ebd., 34) verständlich ist, nicht gefährden wollten. Daher war es notwendig eine gesetzlich festgelegte Sonderschule für geistig behinderte Kinder zusätzlich zur Hilfsschule zu schaffen.
Diese gesetzliche Verankerung fand Mitte der sechziger Jahre im „Erlass von Sonderschulgesetzen in den Bundesländern“ (ebd., 34) statt und bedeutete:
a) die Bestätigung des allgemeinen, durch Verfassungen gesicherten Bildungsanspruches, damit
b) die Bestätigung der Zugehörigkeit zum Gesamt der Schulen besuchenden Kinder und Jugendlichen,
c) die Sicherung der Vermittlung aller dem geistig behinderten Kinde zugänglichen Bildungsgüter einschließlich derer, die zu den so genannten Kulturtechniken gehören, und
d) den Einbau dieser Bildungsarbeit in die umfassende Organisation der Schule (Speck 2005, 34).
Nach Muth zeichnet sich das gegenwärtige deutsche Sonderschulsystem durch einen behindertenfeindlichen und selektiven Charakter aus, was sich auch durch die Formulierungen in den KMK- Empfehlungen von 1960 zeigt. Hier soll für die Einweisung in eine Sonderschule überprüft werden, „ob und inwieweit Sonderschulbedürftige ihre Mitschüler in der allgemeinen Schule stören oder gefährden“ (KMK 1960, 11). Bis 1972, als die neuen Empfehlungen zur Ordnung des Sonderschulwesens veröffentlicht wurden, änderte sich die Haltung der Kultusminister nicht. Es bestand vielmehr die Tendenz an der Selbständigkeit der Sonderschule festzuhalten, denn:
für die Beibehaltung eigenständiger Sonderschulen spricht die Notwendigkeit, eine umfassend angepasste Hilfe für behinderte Schüler zu geben und gleichzeitig die allgemeine Schule von Schülern zu entlasten, denen sie nicht gerecht werden kann (KMK 1972, 21).
Vor allem Integrationsbefürworter werfen den Empfehlungen der Kultusminister „Borniertheit und Rückschrittlichkeit“ (Lochte 2003, 15) vor, was durch das Festhalten an der Eigenständigkeit der Sonderschule sichtbar wird und sich in den KMK wie folgt äußert: „Der Lehrer handelt pflichtwidrig, wenn er durch Unterlassung der Meldung verhindert, dass sonderschulbedürftigen Kindern rechtzeitig geholfen wird“ (KMK 1972, 15).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass durch Gesetzgebungen und das Gutachten der Kultusminister zwar ein sinnvoller Grundstein gelegt wurde, der die Bildungsaufgabe am geistig behinderten Kind ernst nimmt und somit auch als wichtige Errungenschaft für sonderpädagogische Förderung bezeichnet werden kann. Allerdings kann die alleinige Beschulung durch den Förderort der Sonderschule nur so lange aufrecht erhalten werden, wie es keine vergleichbaren integrativen Beschulungsprojekte gibt, die zeigen könnten, dass die Sonder- bzw. Förderschule nicht in jedem Fall der bestmögliche Förderort ist.
Die Entwicklung der sonderpädagogischen Förderung zu einer mehr und mehr integrativen Förderung soll in Punkt 1.4 genauer dargestellt werden.
1.4 Phase des Umbaus
Viele Autoren benennen die 1973 veröffentlichte Empfehlung des Deutschen Bildungsrates „Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher“ als erste entscheidende Wende in der staatlichen Auseinandersetzung mit einer integrativen Beschulung. Muth zitiert das Anliegen der Empfehlung, nämlich „dass so viel gemeinsamer Unterricht wie möglich durchgeführt wird und dass eine isolierte Förderung der behinderten Kinder nur vorgenommen wird, wo sie notwendig ist“ (Deutscher Bildungsrat 1973, zit. nach Muth 2002, in: Eberwein, Knauer 2002, 41). Zugleich bezeichnet er diese Empfehlung jedoch als „[z]urückhaltend“ (2002, in: Eberwein, Knauer 2002, 41), und äußert damit eine Kritik, die viele Integrationsbefürworter der Gegenwart teilen. Aus heutiger Sicht kann man sagen, dass der Deutsche Bildungsrat besonders durch folgende Passage der Empfehlung zeigt, dass die Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten im allgemeinen Schulwesen an Bedeutung gewonnen hat und für die bildungspolitische Organisation integrativer oder gemeinsamer Bildung einen entscheidenden Stellenwert hatte:
Die Begründung der neuen Konzeption ist für die Bildungskommission vor allem darin gegeben, daß die Integration Behinderter in die Gesellschaft eine der vordringlichen Aufgaben jedes demokratischen Staates ist. Diese Aufgabe, die sich für Behinderte und Nichtbehinderte in gleicher Weise stellt, kann nach der Auffassung der Bildungskommission einer Lösung besonders dann nahe gebracht werden, wenn die Selektions- und Isolationstendenz im Schulwesen überwunden und die Gemeinsamkeit im Lehren und Lernen für Behinderte und Nichtbehinderte in den Vordergrund gebracht werden; denn eine schulische Aussonderung der Behinderten bringt die Gefahr ihrer Desintegration im Erwachsenenleben mit sich (Deutscher Bildungsrat 1973, 16).
Während der Deutsche Bildungsrat also eine gemeinsame Erziehung und Bildung zumindest grundlegend befürwortet, dämpft die ein Jahr zuvor veröffentlichte Empfehlung der Kultusminister, wie oben bereits erwähnt, die integrative Richtung, so dass Muth diesen ambivalenten Zustand der Zeit wie folgt beschreibt:
(…) wird es ein Rätsel bleiben, wie es möglich sein konnte, dass die Kultusminister in ihrer Empfehlung zur Ordnung des Sonderschulwesens (16.3.72) der eigenständigen Sonderschule das Wort reden konnten, wenige Monate später als Ländervertreter in der Bund- Länder- Kommission im Zwischenbericht zum Bildungsgesamtplan und ein Jahr später im Bildungsgesamtplan selbst (15.6.73) für die Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten im allgemeinen Schulwesen stimmten und wiederum einige Monate später bei der Verabschiedung der Empfehlung des Deutschen Bildungsrates als Regierungskommission dieses Gremiums durch ihren Präsidenten die Glückwünsche für die integrative Konzeption überbringen lassen konnten (14.12.73) (Muth 2002, in: Eberwein 2002, 43).
Trotz aller Kritik bleibt die Empfehlung des Bildungsrates bahnbrechend und motiviert zu den ersten staatlichen Schulversuchen in der Bundesrepublik Deutschland: 1976 werden an der Fläming- Grundschule in Berlin integrative Klassen eingerichtet- jeweils eine von vier Parallelklassen- in denen fünf Kinder mit unterschiedlichen Behinderungen mit 10 nicht- behinderten Kindern unterrichtet werden. Es besteht außerdem ein „Zwei- Pädagogen- System“ (Heimlich 2003, 59). Weiterhin in Berlin wird sechs Jahre später die erste integrative Schule eingerichtet: die Uckermark- Grundschule, die nach dem 18 + 2 – Modell arbeitet (zwei Schüler mit Behinderung und achtzehn ohne Behinderung). Auch hier kommt ein „Zwei- Pädagogen- System“ (ebd., 59) zur Anwendung bestehend aus einer Sonderschullehrkraft und einer Grundschullehrkraft, während bei der Wahl der behinderten Schüler keine Behinderungsart ausgeschlossen wird (vgl. ebd., 59).
Betrachtet man die Entwicklung der sonderpädagogischen Förderung aus integrationspädagogischer Sicht, führen erst die 1994 durch die Kultusminister veröffentlichten „Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen in der Bundesrepublik Deutschland“ zu einer Veränderung der pädagogischen Richtung. Sie greifen zum Einen die Empfehlungen der Bildungskommission von 1973 auf und gehen des Weiteren von einem veränderten Verständnis von Behinderung aus, womit die Wende hin zur Integration aus Sicht der KMK markiert wird, denn sie zeichnet sich aus durch einen „Umbau des vorhandenen Systems der sonderpädagogischen Förderung mit der Verlagerung sonderpädagogischer Hilfen in die Allgemeine Schule“(Drave, Rumpler, Wachter 2000, 9). Das bedeutet, dass sonderpädagogische Förderung nicht mehr nur noch an Sonderschulen gebunden ist, sondern ihr „kann auch in allgemeinen Schulen, (…) vermehrt entsprochen werden“ (ebd., 26). Aufgrund dieser Entwicklung hin zu einer individualisierten und personenbezogenen Förderung, werden in den folgenden sieben Jahren Empfehlungen für acht Förderschwerpunkte verfasst, beispielsweise die der geistigen Entwicklung, des Lern- und Leistungsverhaltens, der Sprache etc. (vgl. ebd., 29f).
Besonders hervorzuheben ist der Umstand, dass durch die KMK von 1994 die Möglichkeit der Förderung in einer integrativen Schulsituation gegeben ist, da diese explizit aufgelistet wird „im gemeinsamen Unterricht/ (…)/ in kooperativen Formen“ (Kanter 2000, in: Drave, Rumpler, Wachtel 2000, 49) und dass der wohnortnahen Beschulung nun stärkere Bedeutung beizumessen ist als zuvor(vgl. KMK 1994, 3).
Kinder und Jugendliche mit Sonderpädagogischem Förderbedarf können allgemeine Schulen besuchen, wenn dort die notwendige sonderpädagogische und auch sächliche Unterstützung sowie die räumlichen Voraussetzungen gewährleistet sind; die Förderung aller Schülerinnen und Schüler muss sichergestellt sein (KMK 1994, 14).
Mit diesem Zeitpunkt beginnend und durch die genannten Empfehlungen bedingt, kann die Forderung der Integration bzw. der Integrationspädagogik verwirklicht werden und Schülern und ihren Familien die Möglichkeit gegeben werden, die am wenigsten einschränkende Lernumgebung zu wählen (vgl. Wocken 2001, 77).
Wie die ‚Integration’ konkret verwirklicht wird, das heißt, wie Integrationsbefürworter sie genau definieren, wie sie in der Praxis umgesetzt wird und welche speziellen Organisationsformen es zur Zeit gibt, soll im Folgenden Kapitel dargestellt werden.
2 SCHULISCHE INTEGRATION- SONDERPÄDAGOGISCHE FÖRDERUNG IN ALLGEMEINEN SCHULEN
Der Begriff der ‚Integration’ wird in vielen Wissenschaftsfeldern verschiedenster pädagogischer Bereiche (wie Interkultureller Pädagogik, Heilpädagogik etc.) parallel verwendet, so dass an dieser Stelle zunächst eine Eingrenzung des Begriffes stattfinden muss. Damit wird festgelegt, welche Bedeutung die Bezeichnung ‚Integration’ im Zusammenhang mit dieser Arbeit trägt.
Weiterhin sollen in Kapitel 2.2 die verschiedenen Organisationsformen vorgestellt werden, durch die eine schulische Integration in der BRD aber im Besonderen in Nordrhein- Westfalen verwirklicht wird. Besonders hervorgehoben wird dabei in Kapitel 2.3 die Form des Gemeinsamen Unterrichts.
2.1 Begriffsbestimmung
Unter ‚Integration’ versteht man den Prozess der Bemühung, allen Menschen eine uneingeschränkte Teilhabe an allen gesellschaftlichen Elementen zu ermöglichen (vgl. Feuser 1996, 1). Nach Feuser umschreibt sie die „Idee vom Erhalt bzw. der Wiederherstellung gemeinsamer Lebens- und Lernfelder für behinderte und nichtbehinderte Menschen, um der Erweiterung der Entwicklungsmöglichkeiten aller willen“ (1996, 1). Gesellschaftlich umfasst Integration viele Ebenen, wie den Bereich der vorschulischen Erziehung, der Schule/ der Ausbildung, des Wohnens, des Arbeitens oder auch der Freizeit. Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht nun der Bereich der schulischen Integration.
Möckel unterscheidet zwei Formen der schulischen Integration: eine im weiteren Sinne und eine im engeren Sinne. Mit der Integration im weiteren Sinne meint Möckel die Schaffung des Sonderschulwesens, durch die Kinder mit Behinderung in das Bildungs- und Schulwesen integriert werden. Die Integration im engeren Sinne meint, dass Kinder mit Behinderung in allgemeinen Schulen unterrichtet werden. Dabei ist sowohl die Seite des Kindes, als auch die Schul- Seite zu beachten. Zum einen sollen Kinder in einer allgemeinen Schule aufgenommen werden, mit der Einschränkung, dass sie dem Unterricht folgen können. Und zum anderen sollen die Schulen ihrerseits angemessen ausgestattet sein, damit die Schüler mit Behinderung sie problemlos besuchen können und eine Unterrichtung an „ihren Heimatorten“ (Möckel 2002, 88) möglich ist.
Feuser fasst die Ziele der schulischen Integration zusammen im „Bemühen um » Humanisierung « und » Demokratisierung « des gesamten Erziehungs-, Bildungs- und Unterrichtswesens“ (1996, 1). Für (Regel-) Kindergärten und (Regel-) Schulen folgt daraus, dass diese so gestaltet sein sollen, dass jedes Kind/ jeder Schüler seinen „individuellen Voraussetzungen gemäß umfassend gefördert und unterrichtet wird“ (ebd., 1). Es soll dadurch ein sozialer Ausschluss und/ oder eine persönliche Etikettierung als „defekt, abweichend oder behindert“ (ebd., 1) verhindert werden.
Aus diesen Charakteristika der Integration folgt, dass eine Beschulung in Sonderkindergärten oder –schulen nicht im Sinne einer humanen und demokratischen Unterrichtung (vgl. ebd., 1) gesehen werden kann:
Sie realisiert die endgültige Absage an eine durch Prozesse der Selektion und Segregation gekennzeichnete pädagogische und therapeutische Praxis dadurch, daß allen von »Behinderung« und/ oder »psychischer Krankheit« betroffenen Kindern und Jugendlichen
- die volle Teilhabe an den gesellschaftlichen Gütern und am sozialen Verkehr garantiert bleibt,
- sie an den Orten/ in den Stadtteilen, an denen sie leben, zusammen mit ihren nichtbehinderten Alterskameraden, Nachbarn und Freunden Kindergarten und Schulen besuchen können (Prinzip der Regionalisierung) und dort alle speziellen Hilfen, pädagogische und therapeutischen Erfordernisse gewährt bekommen, derer sie für ihre weitere Persönlichkeitsentwicklung bedürfen (Prinzip der Dezentralisierung) (Feuser 1996, 1f).
Während Feuser als „radikal- gesellschaftskritischer Integrationspädagoge“ (Lochte 2003, 18) für eine bedingungslose Demokratisierung des gesamten Bildungssystems steht, grenzt Speck ein, dass Klassen und Schulen für geistig behinderte Kinder und Jugendliche, also heil- bzw. sonderpädagogische Einrichtungen, für deren schulische Bildung unverzichtbar seien (vgl. Speck 1999, 224). Speck räumt in diesem Zusammenhang ein, dass es einem „Vabanquespiel“ (ebd., 224), also einem Wagnis, gleich käme, wenn man sich aus Hoffnung heraus auf die nur in Ansätzen vorhandene Integrationsbereitschaft und Kompetenz allgemeiner Schulen verlassen würde. Gleichzeitig kritisiert Speck, dass die „gerade erst erkämpften und aufgebauten“ (ebd., 224) Sonderschuleinrichtungen für geistig Behinderte damit gefährdet und in Frage gestellt würden. Anders als Feuser ist Speck der Überzeugung, dass auch die schulischen Einrichtungen für geistig Behinderte einen großen Beitrag zur sozialen Integration ihrer Schüler leisten können, da diese die „erforderlichen identitätsfördernden Fähigkeiten“ (ebd., 224) stärken, soweit- und hier grenzt Speck seine Aussage selbst ein- keine Stigmatisierung von außen stattfindet (vgl. ebd., 224ff).
Diese Ansicht Specks teile ich nicht, denn bereits durch die Zuweisung von behinderten Schülern an Förderschulen findet von vornherein eine Stigmatisierung statt, da unter anderem auch gegen die organisatorischen Prinzipien Feusers der „Regionalisierung“ (1996, 3) und der „Dezentralisierung“ (ebd., 3) verstoßen wird.
Die Theorie Feusers hat durch ihre Bedingungslosigkeit für die Integrationspädagogik viel in Bewegung gesetzt und wichtige Veränderungen hervorgerufen. Dabei teilt sich die Gemeinde der Sonder- bzw. Heilpädagogen bis heute in die aufgezeigten Positionen auf: Erhalt und Ausbau der integrativpädagogischen Unterrichtung parallel zur weiter erhaltenen sonderpädagogischen Unterrichtung oder den Umbau des Systems in ein rein integratives System, wie Feuser es fordert.
Die Abgrenzung von der Möglichkeit einer Integrationspädagogik neben der Sonderpädagogik zeigt sich bei Feuser ganz klar dadurch, wie er die Integration als Pädagogik umgesetzt sieht:
Sie zeichnet sich nämlich dadurch aus, dass „ alle Kinder und Schüler“ (Feuser 2001, 2) in Kooperation miteinander und auf ihrem jeweiligen Entwicklungsniveau spielen, lernen und arbeiten. Damit ist Integration als eine „ kooperative (dialogische, interaktive, kommunikative) Tätigkeit im Kollektiv“ (ebd., 2) zu definieren. Hervorzuheben ist dabei der „gemeinsame[n] Gegenstand (Projekt/ Vorhaben/ Inhalt/ Thema)“ (ebd., 2), den Feuser als einen der wichtigsten Momente integrativer Didaktik postuliert. Hierbei ist nicht das fassbare Ergebnis gemeint, denn dieses wird erst in den Händen der Kinder und Schüler zum Lerngegenstand, sondern vielmehr ist der „gemeinsame Gegenstand“ (ebd., 3) als der zentrale Prozess zu sehen, der hinter diesen fassbaren und materiellen Erscheinungen steht und sie hervorbringt (vgl. ebd., 3). Als weitere Momente der Umsetzung von Integration sind die durch „biographisch- entwicklungslogische und –bezogene ‚Individualisierung’“ (ebd., 3), die die innere Differenzierung realisieren soll und die „Kooperative Tätigkeit “ (ebd., 3) am bereits genannten gemeinsamen Gegenstand zu nennen.
In letzter Konsequenz münden Feusers integrationspädagogische Forderungen nicht in eine integrative Pädagogik als spezieller Teil der Sonderpädagogik, wie oben bereits erwähnt, sondern in eine neue „allgemeine Pädagogik“ (ebd., 2f):
Sie ist insofern eine basale Pädagogik, als sie Kinder und Jugendliche aller Entwicklungsniveaus, aller Grade der Realitätskontrolle, Wahrnehmungs- Denk- und Handlungskompetenzen ohne sozialen Ausschluss zu lehren und mit ihnen zu lernen vermag, (…) und eine allgemeine Pädagogik, als sie unter den vorgenannten Bedingungen keinen Menschen von der Aneignung der für alle Menschen in gleicher Weise bedeutenden gesamten gesellschaftlichen Erfahrung ausschließt (…) (Feuser 2001, 2f).
In den letzten Jahren wurde, passend zu Feusers Forderungen, dieser Ansatz weiter verfolgt. Angelehnt an eine Debatte, die in Nordamerika, Australien und Großbritannien seit mehreren Jahren geführt wird, nimmt der Kreis der Wissenschaftler, Pädagogen, Forscher etc. auch in Deutschland zu, der sich mit dem Begriff der „Inklusion“ (Boban/ Hinz 2004, 2) als „Qualitätsschub für die Integrationspraxis“ (ebd., 2) beschäftigt.
Zentrale Aussage dieser Debatte ist, dass nicht mehr die „Zusammenführung von Personen und Gruppen“ (ebd., 2) im Mittelpunkt steht, wodurch sich die Integration auszeichnete, sondern die generelle „Anerkennung von Individualität in der Gemeinsamkeit“ (GEW 2003, 20. zit. Nach: Boban/ Hinz 2004, 2) angestrebt werden soll, was durch den Begriff der ‚Inklusion’ beschrieben wird.
Veranschaulicht wird dies an unten abgebildeten Darstellungen von Hinz und Boban, wobei die Abbildung der ‚Segregation’ selbsterklärenden Charakters ist, die der ‚Integration’ und der ‚Inklusion’ jedoch näherer Erklärung bedürfen. Während in der ‚Integration’ zwar auch (symbolisch ausgedrückt) rote Figuren einbezogen werden, bleibt doch eine Mehrheit von grünen Figuren. Hier bleibt die Integration von roten Figuren oder anderer Randfiguren immer abhängig von der Konstellation der Mehrheits- Figuren. Schulisch ausgedrückt würde man hier sagen, dass ein behinderter Schüler nicht in eine allgemeine Schule eintreten kann, weil die Rahmenbedingungen (räumlich, sächlich oder personell) nicht adäquat gegeben sind. Betrachten wir die Darstellung der Inklusion, befinden sich alle verschieden bunten Figuren in einer gemeinsamen Gruppierung, ohne dass eine „grüne Normalität“ (Boban/ Hinz 2004, 5) dominiert.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Segregation- Integration- Inklusion (nach Boban/ Hinz 2004, 6)
Boban und Hinz haben als Leitfaden für die schulische Umsetzung des ‚Inklusions’- Begriffes den so genannten „Index für Inklusion“ (Boban/ Hinz 2003) entwickelt, der auf Vorarbeiten in Australien und den USA zurückgeht.
Wie bereits erwähnt, steht diese Forschungsrichtung jedoch noch am Anfang.
Es gibt also kaum allgemeine Schulen, die sich mit dem Prinzip der Inklusion beschäftigen oder gar versuchen in einem Schulkonzept programmatisch umzusetzen. Und selbst wenn Schulen, wie die IGS- Holweide in Köln, versuchen ihr Schulprogramm auf den ‚Index für Inklusion’ abzustimmen und ihn umzusetzen, befinden diese sich noch in der Test- bzw. Anfangsphase.
Dass kaum allgemeine Schulen mit dem Index arbeiten ist insofern verständlich, als dass zum einen die Thematik noch zu wenig, vor allem in Bereichen der allgemeinen Pädagogik, verbreitet ist und zum anderen scheinen die Schulen, die bislang nach den verschiedensten Formen von integrativem Unterricht arbeiten, noch immer auf große Probleme zu stoßen.
Hier soll nun ein Überblick über die angesprochenen Organisationsformen der sonderpädagogischen Förderung gegeben werden, welche in allgemeinen Schulen Nordrhein- Westfalens durchgeführt werden.
2.2 Organisationsformen der Sonderpädagogischen Förderung in den allgemeinen Schulen Nordrhein- Westfalens
Angeregt durch die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz von 1994 werden im Schulgesetz NRW von 2005 die bisherigen Sonderschulen „ Förderschulen “ (SchuG 2005, 93) genannt, die sich nach den Förderschwerpunkten der Schüler richten. Diese sind dementsprechend die Schulen für die Förderschwerpunkte:
1. Lernen,
2. Sprache,
3. Emotionale und soziale Entwicklung,
4. Hören und Kommunikation,
5. Sehen,
6. Geistige Entwicklung,
7. Körperliche und motorische Entwicklung.
Nicht mehr als Sonderschule (Förderschule), sondern als Schule eigener Art wird demgegenüber die Schule für Kranke geführt (SchuG 2005, 93).
Die sonderpädagogische Förderung von Schülern mit Förderbedarf ist weiterhin in den oben genannten Förderschulen möglich, falls keine sonderpädagogische Förderung in allgemeinen Schulen gewünscht oder umsetzbar ist.
Organisationsformen integrativer Art sind nun als mögliche Förderorte hinzugekommen, die schulrechtlich gesehen gleichwertig zu oben genannten sind (vgl. Link 2000/ SchuG 2005):
Der Schulträger kann Förderschulen unterschiedlicher Förderschwerpunkte im Verbund als eine Schule in kooperativer oder integrativer Form führen (SchuG 2005, 21).
Hier gelten sowohl die Richtlinien der jeweiligen Förderschule, als auch die Vorgaben der allgemeinen Schule (vgl. SchuG 2005, 21).
Eine Form der integrativen Beschulung an allgemeinen Schulen ist die Einrichtung von Sonderschulklassen in allgemeinen Schulen. Diese Form ist dann zugelassen, wenn eine andere wohnortnahe sonderpädagogische Förderung nicht möglich ist. Die eingerichtete Sonderschulklasse ist somit ein „ausgelagert[er]“ (Link 2000, 196) Teil der Förderschule, womit gleichzeitig die Richtlinien der jeweiligen Förderschule Maßstab bleiben für die Unterrichtung der Schüler mit Förderbedarf (vgl. ebd., 196). Die nächsten NRW- typischen Organisationsformen der sonderpädagogischen Förderung bilden die sonderpädagogischen Fördergruppen an allgemeinen Schulen (als deren Teil). Für diese Form muss die allgemeine Schule ein pädagogisches Schulkonzept vorlegen können, in dem die „Möglichkeit gemeinsamen Lernens“ (ebd., 196) beschrieben wird. Für Schüler mit Förderbedarf kommt diese Möglichkeit der Beschulung dann in Frage, wenn die allgemeine Schule als der bestmögliche Förderort festgestellt wird, die Möglichkeit des Gemeinsamen Unterrichts aber noch nicht zu realisieren ist (vgl. Link 2000, 196). Schüler aller Behinderungsarten bzw. Förderschwerpunkte sollen aufgenommen werden, die dann zwar als Schüler der allgemeinen Schule gelten, aber weiterhin nach den Richtlinien der Förderschule unterrichtet werden (vgl. SchuG 2005, 20). Außerdem werden sie „stellenbedarfsmäßig“ (Link 2000, 196) als Teil der Sonderschule gezählt (vgl. ebd., 196).
Eine Besonderheit bildet dabei die allgemeine Schule der Sekundarstufe I. Hier kann „die Schulaufsichtsbehörde mit Zustimmung des Schulträgers“ (SchuG 2005, 20) integrative Lerngruppen einrichten, wenn die Schule „personell und sächlich ausgestattet ist“ (ebd., 20).
Link beschreibt außerdem, dass seit dem 01. August 1994 ein Schulversuch durchgeführt wurde (zunächst befristet bis 31. Juli 1998, dann verlängert bis zum 31. Juli 2000), bei dem Schüler der verschiedenen Behinderungsarten bzw. Förderschwerpunkte wie „lernbehinderte, erziehungsschwierige und sprachbehinderte“ (RdErl. KM NW 1994. Nach: Link 2000, 198) an einer Sonderschule bzw. Förderschule zu einer Lerngruppe zusammengefasst wurden.
Als weitere Organisationsform besteht in NRW und der gesamten Bundesrepublik Deutschland der Gemeinsame Unterricht, dessen Definition und Umsetzung im Weiteren beschrieben wird.
2.3 Gemeinsamer Unterricht
Der Gemeinsame Unterricht bildet eine Ausnahme der sonderpädagogischen Förderung an allgemeinen Schulen. Durch ihn ist es möglich, dass Schüler mit Förderbedarf in der Primarstufe sowohl zielgleich, also nach Vorgaben und Richtlinien der allgemeinen Schule, als auch zieldifferent, nach Richtlinien der jeweiligen Förderschule, unterrichtet werden (vgl. Link 2000, 193). Auch in Form des Gemeinsamen Unterrichts bildet die Sekundarstufe I eine Ausnahme:
In der Sekundarstufe I können behinderte Schülerinnen und Schüler nach § 7 Abs. 3 SchpflG unterrichtet werden, wenn sie den Anforderungen der jeweiligen Schulform gerecht werden können, das heißt, wenn eine zielgleiche Förderung möglich ist (vgl. ebd., 194).
In einiger Literatur wird der ‚Gemeinsame Unterricht’ fälschlicherweise mit jeder Form von integrativem Unterricht definiert. Hier soll nun der Terminus des Gemeinsamen Unterrichts trennscharf von den anderen Organisationsformen integrativer Beschulung unterschieden werden.
Vorrausetzung für Gemeinsamen Unterricht ist, wie oben bereits erwähnt, die personelle und sächliche Ausstattung der allgemeinen Schule, die begünstigt, dass Schüler mit Förderbedarf wohnortnah unterrichtet werden können. Die Beschreibung von adäquater personeller und sächlicher Ausstattung wird in den Empfehlungen der KMK vorgenommen. Dabei ist mit sächlicher Ausstattung gemeint, dass die allgemeine Schule eine Versorgung mit Therapie- und Pflegeräumen bereitstellt und das Gebäude barrierefrei gebaut ist. Außerdem sollten die Schülerarbeitsplätze in der Einrichtung angepasst sein und notwendige Unterrichtsmaterialien angeschafft werden (vgl. KMK 1994, 4). Die personelle Ausstattung meint, dass nichtlehrendes Personal, wie Therapeuten, Zivildienstleistende oder Integrationshelfer einbezogen werden können (vgl. ebd., 4).
Neben den genannten Rahmenbedingungen wird des Weiteren von mehreren Autoren eine veränderte methodisch- didaktische Unterrichtung im Gemeinsamen Unterricht gefordert, die sich vom „herkömmlichen Frontalunterricht“ (Heimlich 2003, 46) abgrenzt. Hier zeigt Heimlich den wichtigsten Grundstein Gemeinsamen Unterrichts auf:
Gemeinsamer Unterricht ist demnach ein Lehr- Lernprozess, der auf die unterschiedlichen Lernbedürfnisse in einer heterogenen Lerngruppe ausgerichtet wird. Es ist ein Unterricht erforderlich, der das Prinzip der inneren Differenzierung konsequent umsetzt (Gehrmann 1997, nach: Heimlich 2003, 47).
Angelehnt an die angesprochene Heterogenität im Gemeinsamen Unterricht, nennt Heimlich explizit zwei Methoden, die sich als besonders effektiv und geeignet erwiesen haben. Dies wäre zum einen der „offene Unterricht“ (Heimlich 2003, 51) und zum anderen der „Projektunterricht“ (ebd., 51). Dabei zeichnen sich die Grundbausteine offenen Unterrichts, wie „Freie Arbeit, Wochenplan, Stuhl- bzw. Gesprächskreis und der strukturierte Klassenraum“ (ebd., 51), besonders dadurch aus, dass sie selbsttätige Lernprozesse fördern und fordern sollen und einem schülerorientierten Lernen dienen (vgl. ebd., 51f). Der einzige Bereich, der sich auf der Grundlage der integrationstypischen Didaktik und Methodik als Problem erwiesen hat, bezieht sich auf die „Leistungsmessung und –bewertung“ (ebd., 52). So kann sich für die Schüler aus dem Gemeinsamen Unterricht beim Übergang in die Sekundarstufe I durch die Benotung ein schwerwiegendes Umstellungsproblem ergeben. Anders als im Gemeinsamen Unterricht, in dem üblicherweise eine Leistungsbeurteilung auf der Basis individueller Bezugsnormen des jeweiligen Schülers praktiziert wird, setzt die Sekundarstufe I die Prioritäten in der Bewertung bei den sozialen Bezugsnormen. Die Möglichkeiten der individualisierten Rückmeldung über die erzielten Lernfortschritte oder eines noch zu erreichenden Förderbedarfs eines Schülers rücken somit zugunsten einer mit den anderen Schülern vergleichenden und positionierenden Bewertung aus dem Zentrum des Handelns (vgl. ebd., 52ff).
Es soll nun im Besonderen darauf eingegangen werden, was die Veränderung der didaktisch- methodischen Umsetzung im Gemeinsamen Unterricht für Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung bedeutet.
Podlesch gliedert den Gemeinsamen Unterricht mit oben genannten Schülern in neun integrationspädagogische Unterrichtsprinzipien, die zum Gelingen der Integration der Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung notwendig sind:
- Lernen durch Selbst- und Mitbestimmung
- Lernen durch Orientierung
- Lernen durch Handeln
- Lernen mit allen Sinnen
- Lernen durch Kommunikation
- Lernen durch Übung und Wiederholung
- Lernen in Kooperation
- Lernen am „gemeinsamen Gegenstand“
- Lernen nach individuellen Erziehungsplänen (Podlesch 2003, 42).
Auch wenn Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung Unterschiede aufweisen in „Bezug auf das Tempo der Entwicklung und in Bezug auf das jeweilige Kompetenzniveau in einzelnen Entwicklungsbereichen“ (ebd., 51), sollte davon ausgegangen werden, dass sie genau wie andere Heranwachsende lernen können (vgl. ebd., 51). So sollten die aufgelisteten Unterrichtsprinzipien, die den Schülern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung eine hilfreiche Struktur geben, verbunden mit offenen Unterrichtsformen, dazu dienen den Unterrichtsalltag dahingehend zu verändern, dass auch die genannte Schüler- Gruppe Selbstbestimmung und Teilhabe erfährt und dadurch erlernt (vgl. ebd., 51f).
Der vorliegende Abschnitt sollte einen kurzen Überblick geben über die Neuerungen in der Methodik, Didaktik und Pädagogik für die Erziehung im Gemeinsamen Unterricht, auf eine detailliertere Darstellung muss an dieser Stelle verzichtet werden. Nicht nur in Nordrhein- Westfalen, sondern in der gesamten Bundesrepublik Deutschland wurden viele Schulversuche zum integrativen und Gemeinsamen Unterricht durchgeführt und evaluiert (vgl. Eberwein 1998/ Lersch 2001/ Möckel 1989/ Wocken & Antor 1987). Trotzdem bleiben Zweifel bei den Integrationskritikern, da beispielsweise Speck bemängelt, dass eine zu große Vielzahl von günstigen Faktoren parallel gegeben sein müssen, damit Gemeinsamer Unterricht wirkungsvoller ist, als die Beschulung von Schülern mit Förderschwerpunkt an einer Förderschule (vgl. Speck 1999, 221). Specks Kritik, die im Weiteren auf eine Forderung nach ständiger Evaluation von Gemeinsamem Unterricht hinausläuft, ist durchaus verständlich und sinnvoll. Schließlich sollte Unterricht immer in seiner Qualität überprüft werden, um einen positiven Ausbau dessen zu ermöglichen. Diese Evaluationen und Studien von Gemeinsamem Unterricht finden in einer Vielzahl statt, sowohl in NRW als auch in anderen Bundesländern. Sie haben, wie ich bereits in der Einleitung beschrieben habe, unter anderem gezeigt, dass das Lernen in heterogenen Lerngruppen keinerlei Nachteile birgt (vgl. Klafki & Stöcker 1996).
Daher bleibt für mich zusammenfassend zu sagen, dass die Forderung und die Umsetzung von gemeinsamen Unterrichtssituationen -oder mit den Worten Feusers- einer ‚Schule für alle Schüler’ eine Frage der pädagogischen Werte und Einstellungen ist, die nicht ausschließlich durch Zahlen und Fakten legitimiert werden sollte:
„Integration ist eine Wertentscheidung und nicht empirisch zu erweisen“ (Wocken 2001, 79).
Die Historie, die Begriffsbestimmung und die Nennung der möglichen sonderpädagogischen Fördermaßnahmen bilden bis hierher eine Grundlage für den Gemeinsamen Unterricht, wie er explizit in Nordrhein- Westfalen stattfindet. Dies soll in den nächsten beiden Kapiteln gezeigt werden. Dabei wird der Fokus auf politischen Diskussionen und gesetzlichen Vorgaben liegen.
In letzter Konsequenz versucht das 4. Kapitel an drei Beispielen von Gemeinsamem Unterricht die praktische Umsetzung dessen zu beschreiben und auszuwerten.
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- Citar trabajo
- Immacolata Venturiello (Autor), 2006, Aktueller Stand des Gemeinsamen Unterrichts im Hinblick auf die Integration des Förderschwerpunktes geistige Entwicklung in NRW, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/93661
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