In dieser Seminararbeit sollen die Widersprüche der stalinistischen Industrialisierung bzw. der von Stalin vorgegebenen Ziele am Beispiel der Errichtung des Metall-Komplexes Magnitogorsk am Ural beschrieben werden. Diese kolossale Produktionsstätte mit integrierter Stadt war das Idealbild der Bolschewiki für die „sozialistische Stadt“ und die Errichtung einer industriellen Großproduktion, in der der neue, sozialistische Mensch geschaffen werden und leben sollte. Hier sollte eine kooperative Gesellschaft von gleichen Menschen geschaffen werden. Die Arbeiter sollten in schönen Behausungen leben, die Realität entsprach unterschied sich jedoch von diesen Zielen. De facto wurde durch ein System von extremen Leistungsansprüchen, durch zügellosen Terror gegen jene, die nicht den hohen Erwartungen der Sowjetführung entsprachen und durch Privilegien für die Eliten ein neuer Widerspruch innerhalb der Sowjetgesellschaft geschaffen.
Der Autor geht in einer Arbeitshypothese davon aus, dass die Ziele Stalins im Zuge der Industrialisierung, die von ihm initiiert wurde, über die technischen und menschlichen Möglichkeiten weit hinaus gingen und die Umsetzung der hoch gesteckten Ziele auf Kosten der Bevölkerung erfolgte. Diese Hypothese soll insbesondere anhand einer Betrachtung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterschaft in Magnitogorsk überprüft werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1. Themenstellung, Forschungsfragen und Forschungsstand
1.2. Aufbau der Arbeit
1.3. Begriffsdefinitionen:
2. Die stalinistische Industrialisierung in der Sowjetunion
3. Der „neue, sozialistische“ Mensch
4. Die Errichtung des Metall-Komplexes Magnitogorsk
5. Magnitogorsk und die wirtschaftliche Entwicklung der Sowjetunion während und nach dem Zweiten Weltkrieg
6. Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
1.1. Themenstellung, Forschungsfragen und Forschungsstand
Ich beschäftige mich in dieser Proseminar-Arbeit mit der Industrialisierung der Sowjetunion, die 1928/29 unter Stalin begann. Die Sowjetunion sollte im Rahmen von Fünf-Jahres-Plänen, die von der Sowjetführung ausgearbeitet wurden, innerhalb weniger Jahre von einem wirtschaftlich und technisch rückständigen sowie stark landwirtschaftlich geprägten Land zu einem industrialisierten, modernen Staat umgewandelt werden. Hierfür nahm die Staatsführung auch in Kauf, dass zugunsten der technischen Entwicklung und Industrialisierung in anderen Bereichen (z. B. Konsumgüterherstellung) Kürzungen erfolgen mussten, die etwa zu Hungersnöten führten und stark zu Lasten der Bevölkerung gingen.
Die Pläne zur Industrialisierung, die als ein Krieg gegen den Kapitalismus verstanden wurde, mündeten schließlich im Terror gegen jene, die verdächtigt wurden, der Erhöhung der Produktivität und die industrielle Entwicklung der Sowjetunion zu behindern oder zu sabotieren, und auch gegen eine Reihe von anderen Bevölkerungsgruppen (z. B. Kulaken). Der Plan Stalins sah nicht nur eine ökonomische Umorientierung der Sowjetunion vor sondern auch die Schaffung eines neuen sozialistischen Menschen. Aus den ungebildeten Bauern sollten qualifizierte, fleißige und begeisterte Arbeiter werden, die Reste des verhassten zaristischen Reiches, auch in Form der „alten“ Ingenieure, sollten beseitigt werden.
Um diese Ziele zu erreichen, wurde die Hilfe ausländischer Techniker und Ingenieure in Anspruch genommen, was im Widerspruch zur antikapitalistischen Ideologie Stalins stand. Im Rahmen von Fünf-Jahres-Plänen wurden zahlreiche neue Schwerindustrieanlagen, Staudämme, Städte usw. aus dem Boden gestampft oder bestehende Anlagen erweitert und modernisiert, wobei die Bauprojekte und die Produktion zentral vom Staat organisiert wurden. Die Praxis der Errichtung der kolossalen Anlagen und der Produktion von Metallen, Maschinen usw. entsprach jedoch oft nicht den Plänen und Vorstellungen, die von der Sowjetführung vorgegeben wurden. Statt raschen Baufortschritten und einem Schritthalten mit Bauprojekten in kapitalistischen Ländern kam es zu umfangreichen Verzögerungen, Pannen und Unfällen, deren Ursachen u. a. in fehlenden Materialien und Arbeitskräften, Planungsfehlern, mangelnder Qualifikation oder aber auch einfach in den schwierigen klimatischen Bedingungen in den Baugebieten lagen.
In dieser Seminararbeit sollen die Widersprüche der stalinistischen Industrialisierung bzw. der von Stalin vorgegebenen Ziele am Beispiel der Errichtung des Metall-Komplexes Magnitogorsk am Ural beschrieben werden. Diese kolossale Produktionsstätte mit integrierter Stadt war das Idealbild der Bolschewiki für die „sozialistische Stadt“ und die Errichtung einer industriellen Großproduktion, in der der neue, sozialistische Mensch geschaffen werden und leben sollte. Hier sollte eine kooperative Gesellschaft von gleichen Menschen geschaffen werden. Die Arbeiter sollten in schönen Behausungen leben, die Realität entsprach unterschied sich jedoch von diesen Zielen. De facto wurde durch ein System von extremen Leistungsansprüchen, durch zügellosen Terror gegen jene, die nicht den hohen Erwartungen der Sowjetführung entsprachen und durch Privilegien für die Eliten ein neuer Widerspruch innerhalb der Sowjetgesellschaft geschaffen. Wie Filtzer in seinen Ausführungen betont, wurde mit diesen Maßnahmen ein Keil in die aus Bauern neu entstandene Arbeiterklasse getrieben.
Ich gehe in einer Arbeitshypothese davon aus, dass die Ziele Stalins im Zuge der Industrialisierung, die von ihm initiiert wurde, über die technischen und menschlichen Möglichkeiten weit hinaus gingen und die Umsetzung der hoch gesteckten Ziele auf Kosten der Bevölkerung erfolgte. Diese Hypothese soll insbesondere anhand einer Betrachtung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterschaft in Magnitogorsk überprüft werden. Stephen Kotkin liefert mit seinem Standardwerk zu Magnitogorsk und seinen Darstellungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen der lokalen Bevölkerung einen maßgeblichen Beitrag zur Bearbeitung dieser Fragestellung.
Die Beschäftigung mit diesem Thema erfolgte unter Zuhilfenahme der vorliegenden Sekundärliteratur. Hierzu möchte ich bemerken, dass es in den Bibliotheken meines Studienortes Salzburg kaum brauchbare Literatur zur Beantwortung der gestellten Fragen gibt. Das Standardwerk Donald Filtzers zum Sowjetischen Arbeiter und zur Stalinistischen Industrialisierung etwa ist in ganz Österreich nur in der Fachbibliothek für Osteuropakunde der Universität Wien entlehnbar. Auch die Arbeit von Stephen Kotkin zum Thema Magnitogorsk ist nur in Wien verfügbar.
1.2. Aufbau der Arbeit
Im zweiten Kapitel dieser Proseminararbeit werden die Entwicklung der Wirtschaft der Sowjetunion unter Stalin und die beginnende Industrialisierung beschrieben. Ich untersuche, welche (Zwangs-)Maßnahmen angewendet wurden, um eine derart rasche Umwandlung einer agrarischen in eine industrialisierte Gesellschaft zu ermöglichen. Das dritte Kapitel widmet sich dem Menschenbild, das von den Bolschewiki vertreten wurde. Die Frage, wie sich die Sozialisten den neuen, sozialistischen Menschen, der nun geschaffen werden sollte, vorstellten, wird aufgeworfen. Damit in Zusammenhang steht die Beschäftigung mit dem Bild des heroischen Arbeiters, das von den Bolschewiki – ähnlich wie von den Nationalsozialisten – entworfen wurde.
Im vierten Kapitel dieser Arbeit wird die stalinistische Industrialisierung anhand eines Beispiels, der Industriestadt Magnitogorsk, dargestellt. Hier soll im Konkreten gezeigt werden, wie unter massivem Material- und Arbeitskräfteeinsatz quasi aus dem Nichts ein kolossales Metall-Werk mit zugehöriger Stadt errichtet wurde. Im Rahmen dieser Darstellung wird die Frage aufgeworfen, welche Funktion Prestigeprojekte wie Magnitogorsk hatten – sowohl für die staatliche Propaganda als auch zur „Erziehung“ des sozialistischen Menschen. Die Widersprüche zwischen den hochgesteckten Zielen Stalins - in Hinsicht auf die Errichtung der Industriestadt und die lokalen Lebensbedingungen für die Bevölkerung - und der Realität sollen aufzeigt werden. Auch wird der Frage nachgegangen, wie es jenen erging, die sich nicht dem Idealbild des „sozialistischen Menschen“ fügen wollten oder konnten. Das fünfte Kapitel bietet einen kurzen Überblick über die wirtschaftliche Entwicklung von Magnitogorsk und der Sowjetunion während und nach dem Zweiten Weltkrieg, bis zum Zusammenbruch des Sowjetsystems.
1.3. Begriffsdefinitionen:
NKWD: Narodny Kommissariat Wnutrennich Djel, übersetzt: Volkskommissariat für innere Angelegenheiten: Diesem „Volkskommissariat“ unterstand u. a. die Sowjetische Geheimpolizei[1].
Kulak: Kulak war vor 1917 (Oktoberrevolution Lenins) eine abfällige Bezeichnung für Schwindler und Wucherer. Nach 1917 wurde die Bedeutung des Begriffs ausgedehnt. Nun verstand man darunter „ländliche Ausbeuter“, wobei es auf dem Höhepunkt der Kollektivierung 1932/33 ausreichte, eine Kuh zu besitzen, oder einen Tagelöhner/Knecht zu beschäftigen, um des Kulakentums beschuldigt zu werden[2]
2. Die stalinistische Industrialisierung in der Sowjetunion
Zum allgemeinen Verständnis der industriellen Entwicklung der Sowjetunion ab den späten 1920ern und davon, wie sich die Bolschewiki diese Entwicklung vorstellten, wird in diesem Kapitel ein grundlegender Überblick über die wichtigsten von Stalin angeordneten Maßnahmen gegeben. Die Pläne Stalins gipfelten, wie bereits erwähnt, in dem Ziel, einen neuen Sowjetmenschen zu schaffen, auf den in einem folgenden Kapitel näher eingegangen wird.
1929 erklärte Stalin auf dem 16. Parteikongress der KPdSU, dass er die Sowjetunion auf dem Weg zum Sozialismus industrialisieren wolle, die USSR sollte ein Land des Metalls, der Autos, der Traktoren werden, die Russische Rückständigkeit sollte beendet werden[3]. Bereits der Russische Zar Peter der Große hatte Ende des 17./ Anfang des 18. Jahrhunderts diverse Reformen (z. B. Wissenschaft, Bildung, Industrie, Technik, Handel, Modernisierung der Armee, Umstellung auf julianischen Kalender) eingeleitet, um den rückständigen Russischen Staat zu modernisieren und dem Westen ähnlicher zu machen. Die Zarin Katharina die Große setzte die Reformen Peters in Staat und Verwaltung im 18. Jahrhundert fort[4].
Der Aufbau des „Sozialismus in einem Land“ („Building socialism“) sollte nun unter Stalin begonnen werden, wobei „Sozialismus“ das Machtmonopol der Partei in Verbindung mit einer raschen nichtkapitalistischen Industrialisierung bedeutete. Der freie Markt sollte durch Planung ersetzt werden, private Produktion und das Privateigentum an Produktionsmitteln wurden durch staatliche Produktion ersetzt. Damit sollte die Ausbeutung der Arbeiternehmer durch die Bourgeoisie beendet werden.
[...]
[1] Wikipedia, Artikel zum Begriff „NKWD“, abgerufen von http://de.wikipedia.org/wiki/NKWD (25.02.2007).
[2] Wikipedia, Artikel zum Begriff „Kulak“, abgerufen von http://de.wikipedia.org/wiki/Kulak (25.02.2007); vgl. Conquest, Robert (1986). For the record: Conquest's statement before the famine commission, abgerufen von der Homepage des „Ukrainian Weekly“, http://www.ukrweekly.com/Archive/1986/448621.shtml, (25.02.2007).
[3] Kotkin, Stephen (1997). Magnetic Mountain: Stalinism as a Civilization, Berkeley, Seite 29.
[4] Sommerville, Johann (o. J.). Reforming Russia, abgerufen von der Homepage des Department of History, Universität von Wisconsin-Madison, http://history.wisc.edu/sommerville/351/351-152.htm (25.02.2007); vgl. Otto, Alexander (2005). Die Russische Hofgesellschaft in der Zeit Katharinas II., abgerufen von http://w210.ub.uni-tuebingen.de/dbt/volltexte/2005/1730/pdf/Dissertation_Otto.pdf (25.02.2007), Seite 94-97; vgl. Schattenberg, Susanne (2002). Stalins Ingenieure – Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren, München, Seite 50.
- Arbeit zitieren
- Markus Rachbauer (Autor:in), 2007, Magnitogorsk und die stalinistische Industrialisierung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/93532
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