Achtsamkeit erfährt derzeit ein exponentiell ansteigendes Interesse in der Forschung und Öffentlichkeit. Sie wird in die organisationale Personalentwicklung und das Gesundheitsmanagement integriert und zählt als Megatrend. Doch bietet sie auch einen Mehrwert für die Führung?
In dieser Arbeit wird das Konzept der Achtsamkeit in der Führung vorgestellt, Potenziale sowie Kritik analysiert und ein Überblick über den aktuellen Forschungsstand geliefert. Ziel ist es herauszufinden, ob und inwiefern Achtsamkeit in der Führung einen Hype oder zusätzlichen Erkenntnisgewinn darstellt. Trotz Kritik an den angewandten Forschungsmethoden und der Qualität der Studien legen die verbesserten Regulationsfähigkeiten und positiven Auswirkungen eine zukünftige Verankerung von Achtsamkeit als Kompetenz im Rahmen guter Führung und als Antwort auf die gegenwärtige Führungskomplexität nahe.
Inhalt
Darstellungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Zusammenfassung
Abstract
1 Einleitung
1.1 Einführung in die Thematik
1.2 Zielsetzung der Arbeit
1.3 Aufbau der Arbeit
2 Grundlagen der Achtsamkeit und Führung
2.1 Achtsamkeit
2.1.1 Definitionen und Charakteristika
2.1.2 Ursprung und gegenwärtige Entwicklung
2.1.3 Achtsamkeitspraxis und Interventionsprogramme
2.2 Führung
2.2.1 Definition und Eingrenzung des Führungsbegriffs
2.2.2 Aktuelle Rahmenbedingungen und Herausforderungen
2.2.3 Führung im Wandel
2.3 Zwischenfazit
3 Das Konzept der achtsamen Führung
3.1 Mindful Leadership
3.2 Achtsamkeit in Führungstheorien und -forschung
3.2.1 Authentische Führung
3.2.2 Transformationale Führung
3.2.3 Dienende Führung
3.2.4 Emotionale Führung
3.2.5 Gesundheitsorientierte Führung
3.2.6 Spirituelle Führung
3.3 Zwischenfazit
4 Aktueller Forschungsstand
4.1 Achtsamkeit im Blick der Forschung
4.2 Achtsamkeit in den Neurowissenschaften
4.3 Gesundheit, Stress und Achtsamkeit
4.4 Kritik an den empirischen Untersuchungen zur Achtsamkeit
4.5 Zwischenfazit
5 Wirkungen von Achtsamkeit in der Führung
5.1 Auswirkungen auf die menschliche Funktionsweise
5.2 Positive Effekte im organisationalen Kontext
5.2.1 Persönliches Wohlbefinden der Führungskräfte
5.2.2 Arbeitsverhalten und Leistungsfähigkeit der Führungskräfte
5.2.3 Führungsverhalten und Interaktion mit den Mitarbeitenden
5.2.4 Auswirkungen auf die Mitarbeitenden
5.3 Problembereiche und unerwünschte Nebeneffekte
5.4 Zwischenfazit
6 Achtsamkeit in der Führung – Fazit
Literaturverzeichnis
Darstellungsverzeichnis
Darst. 1: Unterbrechen des Reiz-Reaktions-Mechanismus durch Achtsamkeit
Darst. 2: Veröffentlichte Fachartikel zum Thema ‚Achtsamkeit‘ pro Jahr, 1980-2019
Darst. 3: Rahmenmodell der Auswirkungen von Achtsamkeit im Arbeitskontext
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Zusammenfassung
Achtsamkeit erfährt derzeit ein exponentiell ansteigendes Interesse in der Forschung und Öffentlichkeit. Sie wird in die organisationale Personalentwicklung und das Gesundheitsmanagement integriert und zählt alsMegatrend. Doch bietet sie auch einen Mehrwert für die Führung?
In der Masterarbeit „Achtsamkeit in der Führung: Hype oder zusätzlicher Erkenntnisgewinn? Eine kritische Bestandsaufnahme“1 wird das Konzept der Achtsamkeit in der Führung vorgestellt, Potenziale sowie Kritik analysiert und ein Überblick über den aktuellen Forschungsstand geliefert. Ziel ist es herauszufinden, ob und inwiefern Achtsamkeit in der Führung einen Hype oder zusätzlichen Erkenntnisgewinn darstellt.
Basierend auf der systematischen Aufbereitung bestehender Literatur konnte festgestellt werden, dass Achtsamkeit für Führende in verstärkter Aufmerksamkeits-, Emotions- und Verhaltensregulation, potenzierter Kognition, gesteigertem psychischen und körperlichen Wohlbefinden, optimiertem Arbeitsverhalten, erhöhter Leistungsfähigkeit, verbessertem Führungsverhalten sowie einer verbesserten Interaktion mit den Mitarbeitenden resultiert. Trotz Kritik an den angewandten Forschungsmethoden und der Qualität der Studien legen die verbesserten Regulationsfähigkeiten und positiven Auswirkungen eine zukünftige Verankerung von Achtsamkeit als Kompetenz im Rahmen guter Führung und als Antwort auf die gegenwärtige Führungskomplexität nahe. Vor diesem Hintergrund ist Achtsamkeit in der Führung ein zusätzlicher Erkenntnisgewinn, der eine Veränderung von Führungsverhalten und -kultur ermöglicht und damit einen nachhaltigen Mehrwert bietet.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abstract
Currently, the concept of mindfulness has increasingly drawn attention from researchers and the public. Furthermore, it is being integrated into organizational human resources development and health management, as well as being considered a mega-trend. But does it also offer additional value to leadership?
The master thesis "Mindfulness in leadership: Hype or additional insight? A critical review"2 presents the concept of mindfulness in leadership, analyzes its potential and criticism, while also providing an overview of its current state of research. The aim is to find out whether and to what extent mindfulness in leadership is a hype or additional knowledge.
Based on the systematic review of existing literature, it was found that mindfulness in leadership results in increased attention, emotion and behavioral regulation, heightened cognition, greater mental and physical well-being, optimized work behavior, increased performance, improved leadership behavior and better interactions with employees. Despite critiques of the applied research methods and quality of the studies; the improved regulatory abilities, alongside other positive effects, suggest a future establishment of mindfulness as a competence within the framework of good leadership, as well as a response to the present leadership complexity. In this context, mindfulness in leadership is an asset which enables a change in leadership behavior and culture thus offering sustainable added value to it.
Keywords: Mindfulness ∙ Leadership ∙ Leadership behavior ∙ Competence ∙ MBSR ∙ Meditation ∙ Stress management
1 Einleitung
Zu Beginn findet in dem vorliegenden Kapitel eine Einführung in die Thematik statt. Es folgt die Erläuterung der Zielsetzung sowie die Vorstellung des Aufbaus der Arbeit.
1.1 Einführung in die Thematik
Die Welt verändert sich – sie wird schneller, vernetzter, digitaler und komplexer. Der berufliche und private Druck steigt, während Stress, krankheitsbedingte Fehlzeiten und Burn-Out zu zentralen Themen in der Arbeitswelt werden. Mitunter aus diesen Gründen erfährt Achtsamkeit (engl. „ Mindfulness “), als Gegenpol zu diesen Herausforderungen und Turbulenzen, ein stark angestiegenes Interesse in der Gesellschaft. Das säkularisierte Konzept der Achtsamkeit, welches ursprünglich im Buddhismus beheimatet ist, hält Einzug in Medien, Zeitschriften, Apps und Fitnessstudios. Innovationstreibende Unternehmen wie Google integrieren Achtsamkeitskurse in ihr Gesundheitsmanagement und ihre Personalentwicklung. Googelt man den Begriff ‚Mindfulness‘, erhält man über 100 Millionen Ergebnisse. Der Onlinehändler Amazon.de hat mehr als 30.000 Bücher zum Thema ‚Achtsamkeit‘ gelistet und im Jahr 2019 erschienen rund 1.200 achtsamkeitsbezogene Beiträge in wissenschaftlichen Journals – mit einer steigenden Tendenz. Schon heute sind die gesundheitsfördernden, stressbewältigenden Wirkungen in der Wissenschaft belegt. Doch liefert dieses Konstrukt, abgesehen von Stressbewältigung und Entspannung, auch für Führungskräfte einen Mehrwert? Gerade Führende3 sind mit den vielseitigen Entwicklungen und dem Wandel in Gesellschaft und Arbeitswelt konfrontiert. Sie müssen Entscheidungen treffen, Informationen verarbeiten und das Wohl des Teams im Blick behalten, während gleichzeitig ein neues Verständnis von Führung gefordert wird. Dabei stellt sich die Frage, ob Achtsamkeit ein tragfähiges Konzept darstellt, um dem Wandel effektiv zu begegnen und Führungsverhalten zukunftsfähig weiterzuentwickeln.
1.2 Zielsetzung der Arbeit
Im Rahmen dieser Masterthesis soll das Konzept der Achtsamkeit in der Führung vorgestellt und Potenziale sowie Kritik daran analysiert werden. Ziel ist es, einen kritischen Überblick über den aktuellen Forschungsstand und die Auswirkungen von Achtsamkeit im Führungskontext zu geben.
Am Ende der Arbeit soll die Frage beantwortet werden, ob das ‚Phänomen‘ der Achtsamkeit ein Hype ist, der bald vorübergeht und keinen bleibenden Einfluss auf die Führungskultur hat oder ob es ein zusätzlicher Erkenntnisgewinn ist. Unter Hype wird eine „Welle oberflächlicher Begeisterung“ (Duden online, o. J.b) verstanden. Erkenntnis ist die „durch geistige Verarbeitung von Eindrücken und Erfahrungen gewonnene Einsicht“ (Duden online, o. J.a). Damit ist der Erkenntnisgewinn ein Gewinn von begründetem Wissen und eine Bereicherung mit praktischem Nutzen.
Es soll anhand einer kritischen Bestandsaufnahme herausgefunden werden, ob und inwiefern Achtsamkeit in der Führung als Erkenntnisgewinn eine Veränderung des Führungsverhaltens und der -kultur ermöglicht und als zukunftsorientierte Führungskompetenz einen Mehrwert leistet.
Obwohl Mitarbeitende, Führende und Unternehmen stark miteinander korrelieren, gilt das Augenmerk dieser Abschlussarbeit den Führungskräften. Dabei ist Achtsamkeit im vorliegenden Sinne von der reinen Konzentration abzugrenzen. Der Fokus liegt auf Achtsamkeit als säkulares Konzept der inneren Haltung und Geistesgegenwart.
1.3 Aufbau der Arbeit
Die vorliegende Masterarbeit ist in vier Hauptkapitel unterteilt. Anhand der Erläuterung des Nutzens von Achtsamkeit in der Führung, der kritischen Abwägung von Potenzialen und Problempunkten sowie der Einordnung in die derzeitige Führungssituation soll das Untersuchungsziel erreicht werden. Hierzu wird die bestehende Literatur systematisch aufbereitet und auf die erläuterte Thematik angewandt. Die vorgestellten Übungen, BestPractice-Beispiele aus der Unternehmenswelt und der Praxisteil zur Integration in den Führungsalltag sollen das Konstrukt der Achtsamkeit greifbar machen und einen Bezug zur Praxis herstellen.
Zunächst werden im zweiten Kapitel die Grundlagen von Achtsamkeit und Führung anhand ihrer Definitionen, gegenwärtigen Entwicklungen, Rahmenbedingungen und Relevanz erläutert. Im Anschluss erfolgt in Kapitel 3 die Vorstellung des Konzepts der achtsamen Führung, auch „ Mindful Leadership “ genannt. Dahingehend werden Führungsansätze vorgestellt, die Aspekte der Achtsamkeit beinhalten. Das Kapitel 4 befasst sich mit dem Stand der Achtsamkeitsforschung in Bezug auf Neurowissenschaften nebst Gesundheit und Stress. Kritikpunkte an den empirischen Untersuchungen werden ebenfalls umrissen. Kapitel 5 beinhaltet, basierend auf den Forschungsbeiträgen aus dem vierten Kapitel, Erkenntnisse über die Wirkungen von Achtsamkeit in der Führung, welche sich sowohl auf die menschlichen Funktionsweisen wie auch auf den organisationalen Kontext beziehen. Darüber hinaus werden Grenzen der praktischen Anwendbarkeit von Achtsamkeit in der Führung in Form von Problembereichen und Nebeneffekten aufgezeigt.
Die Zwischenfazite am Ende der jeweiligen Hauptkapitel fassen die wichtigsten Erkenntnisse zusammen und reflektieren diese kritisch. Das Schlusskapitel „Achtsamkeit in der Führung – Fazit“ dient als Resümee. Es präsentiert die Kernaussagen der Masterthesis, liefert eine kritische Würdigung, enthält Empfehlungen für Forschung und Führungspraxis sowie einen kurzen Ausblick.
2 Grundlagen der Achtsamkeit und Führung
Im folgenden Kapitel wird das Konzept der Achtsamkeit definiert und dessen charakteristische Eigenschaften, Ursprung und Entwicklung dargelegt. Zudem erfolgt eine Einführung in die Achtsamkeitspraxis. Ein Praxisbeispiel der Firma SAP sowie zwei Achtsamkeitsübungen werden zur Veranschaulichung illustriert. Ebenfalls definiert und eingegrenzt wird der Führungsbegriff nebst einer anschließenden Vorstellung der gegenwärtigen und zukünftigen Rahmenbedingungen, Anforderungen an sowie Veränderungen von Führung.
2.1 Achtsamkeit
Das Konzept der Achtsamkeit wird an dieser Stelle tiefgehender erläutert. Es werden der Ursprung und die zeitliche Entwicklung aufgezeigt sowie ein Überblick über die Achtsamkeitspraxis und achtsamkeitsbasierte Interventionsprogramme gegeben.
2.1.1 Definitionen und Charakteristika
Achtsamkeit (engl. „ Mindfulness “) wird als Bewusstseinszustand, Form der Aufmerksamkeit, Kompetenz oder als Persönlichkeitseigenschaft beschrieben. Gegenwärtig gibt es keine einheitlich festgelegte Begriffsbestimmung. Eine häufig zitierte Definition stammt von dem emeritierten Professor der University of Massachusetts Medical School, Jon Kabat-Zinn: „the awareness that emerges through paying attention on purpose, in the present moment, and nonjudgmentally to the unfolding of experience moment by moment.“ (Kabat-Zinn, 2003, S. 145) Es handelt sich demnach um eine Aufmerksamkeit, die absichtlich, nicht wertend und auf den gegenwärtigen Moment bezogen ist. Auch Brown/Ryan (2003, S. 822) betrachten Achtsamkeit als erhöhte Aufmerksamkeit und Gewahrsein der gegenwärtigen Erfahrung oder der gegenwärtigen Realität.
Für den Psychologen Daniel Goleman ist Mindfulness die Fähigkeit, sich all dessen bewusst zu sein, was man im Inneren des Selbst erlebt – Körper, Geist, Herz, Seele – und dem, was um uns herum geschieht, volle Aufmerksamkeit zu schenken – den Menschen, der Natur, der Umgebung und den Ereignissen (vgl. Goleman et al., 2013, S. 112). Ellen Langer von der Harvard University wiederum bezeichnet Achtsamkeit als den Prozess des aktiven Wahrnehmens neuer Dinge, der einen in die Gegenwart versetzt (vgl. Beard, 2014, S. 68; Langer/Moldoveanu, 2000, S. 1 f.). In dem Versuch, einen Konsens herzustellen, wurde von Bishop et al. (2004, S. 232) eine operationale Definition mit zwei Komponenten vorgeschlagen, bestehend aus der Selbstregulierung der Aufmerksamkeit („ self-regulation of attention “) sowie der bestimmten Ausrichtung auf die eigenen Erfahrungen im gegenwärtigen Moment („ orientation to experience “), welche durch Neugier, Offenheit und Akzeptanz gekennzeichnet ist.
Somit beinhalten die meisten Begriffsbestimmungen in der wissenschaftlichen Literatur die charakteristischen Kernbestandteile Aufmerksamkeit, Bewusstsein, Präsenz und Akzeptanz. Das absichtliche, aufmerksame Beobachten der eigenen Gedanken und Gefühle sowie der Außenwelt in einer nicht-wertenden Haltung soll zu einer bewussten Wahrnehmung und Annahme des Hier und Jetzt führen. Dabei handele es sich um eine Fähigkeit der Aufmerksamkeitsfokussierung, die grundsätzlich bei jedem Menschen angelegt ist. Wie Darst. 1 zeigt, soll diese Kompetenz helfen, eingefahrene Muster und Automatismen zu durchbrechen und dadurch einen Raum zwischen Reiz und gewohnheitsgemäßer Reaktion zu generieren (vgl. Amberg, 2016, S. 18–21; Bishop et al., 2004, S. 232; Grossman, 2009, S. 84 f.; Langer/Moldoveanu, 2000, S. 1 f.; Schrör, 2016, S. 27–35).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Darst. 1: Unterbrechen des Reiz-Reaktions-Mechanismus durch Achtsamkeit
In der vorliegenden Arbeit wird von Achtsamkeit als einer für jedermann erlernbaren Fähigkeit und Kompetenz ausgegangen, welche befähigt, den gegenwärtigen Moment absichtlich, bewusst und präsent zu leben und wahrzunehmen. Außerdem bedeutet achtsam zu sein, sich selbst und seiner Umwelt die volle, ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken, was das Gegenteil von Gedankenlosigkeit („ mindlessness “) darstellt. Gleichzeitig wird unter Achtsamkeit im vorliegenden Sinne eine innere Haltung der Akzeptanz, Nicht-Bewertung, Offenheit und freundlichen Neugier verstanden.
Von diesem Konzept der Achtsamkeit abzugrenzen ist der Begriff der Konzentration, der eine Fokussierung auf ein bestimmtes Objekt oder einen Inhalt beschreibt. Unter Achtsamkeit hingegen wird eine Erweiterung des Bewusstseins verstanden, eine Weitstellung des Fokus (vgl. Amberg, 2016, S. 18; Kabat-Zinn, 2019b, S. 75).
Die Begriffe Achtsamkeit, Mindfulness, Achtsamkeitspraxis, achtsamkeitsbasierte Intervention und Meditation werden in der Literatur, Forschung und damit auch in der vorliegenden Arbeit häufig synonym verwendet.
2.1.2 Ursprung und gegenwärtige Entwicklung
Begründet ist das Konzept der Achtsamkeit als über 2.500 Jahre alte Tradition in der buddhistischen Weisheitslehre und Philosophie. Achtsamkeit bezeichnet dort die klare Aufmerksamkeit und das Bewusstsein für das, was in der Gegenwart wahrgenommen wird. Sie wird auch als das Herzstück der buddhistischen Meditation bezeichnet und soll mitunter die Befreiung von Leiden ermöglichen (vgl. Glomb et al., 2011, S. 117 f.; Kabat-Zinn, 2003, S. 145 f.; Rose/Walach, 2009, S. 27–33; Thera/Bodhi, 2012, XXIV).
Trotz der buddhistischen Wurzeln ist Achtsamkeit per se nichts Religiöses und wird heutzutage besonders in Form der Achtsamkeitsmeditation („ Mindfulness Meditation“) auf säkularisierte Art und Weise gelehrt und ausgeübt. Nachdem in den 1960er Jahren Psychologen und Mediziner begannen, meditative Techniken in der klinischen Psychotherapie anzuwenden, wuchs das öffentliche Interesse im westlichen Kulturkreis am Thema Achtsamkeit. Einen bedeutenden Einfluss auf dieses wachsende Interesse der Forschung hatte der Mediziner Jon Kabat-Zinn, welcher das Programm „ Mindfulness-Based Stress Reduction “ (MBSR) als Stressbewältigung durch Achtsamkeit für die Behandlung chronischer Schmerzpatienten entwickelte (vgl. Bishop et al., 2004, S. 230 f.; Grossman, 2009, S. 69 f.; Kabat-Zinn, 2013, S. 43–45; Kohls et al., 2013, S. 164 f.).
Positive gesundheitliche Effekte und Erkenntnisse der Neurowissenschaft führen zu wachsender Popularität in der heutigen Zeit, sowohl in der Wissenschaft als auch in der Arbeitswelt. Achtsamkeit ist nicht nur in zahlreichen Therapieansätzen integriert, sondern ebenfalls als Training zur Stressbewältigung und Steigerung des Wohlbefindens im außerklinischen Kontext etabliert (vgl. Bauer, 2019, S. 100; Kohls et al., 2013, S. 164 f.; Sauer, 2011a, S. 17 f.).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Das Softwareunternehmen SAP bietet seit 2013 das zweitägige Achtsamkeitsseminar „ Search Inside Yourself “ (SIY) an. Mit mehr als 9.000 Mitarbeitenden, die weltweit daran teilnahmen und über 8.000 auf der Warteliste erfreut es sich hoher Beliebtheit.
SAP stellte fest, dass die Bereitstellung von Tools zur Stressreduzierung und zur Verbesserung von Konzentration, Empathie, Kommunikation und Resilienz der Mitarbeitenden messbare Ergebnisse in vielfältiger Weise beeinflusst. Nicht nur Mitarbeiterengagement und Vertrauen in die Führungskräfte sind signifikant gestiegen, auch die Fehlzeiten sind wesentlich gesunken und es wird von einem Return on Investment von 200 % gesprochen. Das Programm führe zu mehr Wohlbefinden, Kreativität, größerer Zufriedenheit und weniger Stress (vgl. Machmeier, 2018; Magyar, 2019).
Achtsamkeit ist mittlerweile in den Medien äußerst präsent und gilt laut Zukunftsforscher Matthias Horx (2020) als Megatrend. Dies spiegelt sich im exponentiellen Anstieg der veröffentlichten Studien und Forschungen wider. Große internationale Unternehmen wie Google, SAP und Bosch möchten von dem Konzept der Achtsamkeit profitieren und führen daher achtsamkeitsbasierte Programme im Rahmen der Personalentwicklung und speziell im Führungskräftetraining ein (vgl. Chang-Gusko, 2019, S. 4–7; Falk, 2016; Horx, 2020; Jardine, 2017; Michalak et al., 2006, S. 241 f.; Tan, 2015, S. 24 f.).
Einer der Gründe für die Entwicklung hin zu einem Trend ist die Digitalisierung und deren Folgen. Die Glücksforschung zeigt, dass Menschen sich heutzutage mehr nach Gemeinschaft sehnen und das Erleben dieser aufgrund der Digitalisierung und mobilen Vernetzung schwieriger wird. Das Fehlen von erfüllenden Beziehungen im Alltag führt zu einem verstärkten Stressempfinden und zu dem Wunsch nach einem näheren Kontakt zu sich selbst und zu anderen. Kabat-Zinn ermöglichte mit MBSR als einer wissenschaftlich basierten, weltanschauungsfreien Technik, Stress zu reduzieren und weitere positive Effekte zu erzielen. Die wissenschaftliche Evaluierung dieses Interventionsprogrammes fördert die Verbreitung des Konzepts in der Medizin und Wirtschaft und treibt damit den Trend der Achtsamkeit voran. Die Forschungserkenntnisse und der vermeintlich schnelle Weg zu Glück und Entspannung sowie die Hoffnung auf Selbstoptimierung lassen auch die Medien in den Trend einsteigen (vgl. Ballreich, 2017b, S. 114 f.; Gatterburg, 2016; Stephan/Tamdjidi, 2016, S. 397–399).
2.1.3 Achtsamkeitspraxis und Interventionsprogramme
Der Buddhismus geht davon aus, dass jeder Mensch achtsam sein kann. Die Achtsamkeit ist trainierbar und kann besonders durch Achtsamkeitsmeditation („ Vipassana “) erlernt werden. Das systematische Üben zusammen mit einer ethischen Lebenshaltung, geprägt von Freundlichkeit und Akzeptanz, kann zu einem inneren Transformationsprozess führen (vgl. Grossman, 2009, S. 74–79; Kabat-Zinn, 2013, S. 59–61).
Vor diesem Hintergrund wurden verschiedene achtsamkeitsbasierte Interventionsprogramme konzipiert, die als mentale Trainings erst in der Psychotherapie und inzwischen ebenfalls in der Gesundheitsförderung sowie der Personalentwicklung eingesetzt werden. Vorreiter war auch das „ Mindfulness-Based Stress Reduction“ -Programm, welches als meist bekanntes und evaluiertes Training der Achtsamkeit gilt. MBSR ist eine achtwöchige Gruppenintervention mit achtsamer Meditation als zentralem Element. Anhand formeller Übungen, wie beispielsweise dem „ Body Scan“ oder der Sitz- und Gehmeditation, und informeller Übungen zur Anwendung der Achtsamkeit im Alltag, z. B. beim Essen, sollen Teilnehmende die „nicht wertende Wahrnehmung des gegenwärtigen Moments“ (Chang-Gusko, 2019, S. 6) erlernen. Ziel ist es, folgende Faktoren zu fördern: Nicht-Beurteilen, Geduld, die Bewahrung des ‚Geists des Anfängers‘, Vertrauen, Nicht-Erzwingen, Akzeptanz und Loslassen (vgl. Bauer, 2019, S. 107 f.; Bishop et al., 2004, S. 231; Chang-Gusko, 2019, S. 12 f.; Kabat-Zinn, 2003, S. 148 f., 2013, S. 43–45; Kohls et al., 2013, S. 164 f.).
Um die Wirkung der Achtsamkeit praktisch zu verdeutlichen, wird an dieser Stelle eine klassische Einstiegsübung aus dem MBSR-Kurs vorgestellt, die den bewussten und achtsamen Verzehr einer Rosine lehrt:
Übung: Die klassische Rosinenübung
Nehmen Sie bitte eine Rosine zur Hand und betrachten Sie diese eingehend, als hätten Sie zuvor noch nie eine Rosine gesehen. Dann nehmen Sie sie mit allen Sinnen wahr. Ertasten Sie die Rosine. Wie fühlt sie sich an? Riechen Sie daran. Können Sie vielleicht etwas hören, wenn Sie die Rosine in den Fingern bewegen? Danach nehmen Sie die Rosine in den Mund und schmecken diese, kauen sie ganz bewusst und ertasten Sie die Rosine mit der Zunge. Genießen Sie die Rosine mit allen Sinnen, bevor Sie sie absichtlich herunterschlucken. Halten Sie einen Moment inne, um sich klarzuwerden, was Sie wahrgenommen haben (siehe auch Kabat-Zinn, 2019a, S. 62 f.; Kohls et al., 2013, S. 164).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Übungen wie diese ermöglichen das bewusste Nachvollziehen von automatisierten Abläufen und lehren im Sinne des ‚Geist des Anfängers‘, etwas unvoreingenommen zu betrachten und zugleich aufmerksam momentane Empfindungen nicht wertend wahrzunehmen (vgl. Kabat-Zinn, 2019a, S. 62–64; Kohls et al., 2013, S. 164; von Au/Seidel, 2017, S. 17 f.).
Auf MBSR basieren weitere therapeutische Programme, beispielsweise die „ Mindfulness-Based Cognitive Therapy“ 4 (MBCT) zur Rückfallprävention bei Depressionen, die „ Dialectical Behavior Therapy“ 5 als Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung oder die „ Acceptance and Commitment Therapy“ 6 (vgl. Bauer, 2019, S. 108; Chang-Gusko, 2019, S. 14 f.).
Davon abgesehen entwickeln sich weitere achtsamkeitsbasierte Verfahren und Trainings, besonders im Gesundheitstourismus und Unternehmenskontext. Die Stressbewältigung und Steigerung des Wohlbefindens durch Achtsamkeit gewinnen an Relevanz und sind Treiber für auf die Arbeitswelt abgestimmte Achtsamkeitsprogramme (vgl. Chang-Gusko, 2019, S. 4–16; Kohls et al., 2013, S. 165 f.). Unternehmen wie Google betrachten diese als Investition in die „Entwicklung einer positiven Zusammenarbeit und einer wertschätzenden Führungskultur“ (Chang-Gusko, 2019, S. 4). Ein Beispiel dafür ist das von Google-Ingenieur Chade-Meng Tan in Zusammenarbeit mit Kabat-Zinn und Goleman konzipierte Selbstentwicklungsprogramm „ Search Inside Yourself “ zum Erlernen emotionaler Intelligenz anhand von Achtsamkeitstraining in drei Schritten: 1. Aufmerksamkeitsschulung, 2. Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung sowie 3. nützliche geistige Gewohnheiten (vgl. Tan, 2015, S. 24–30).
Der Einzug von Achtsamkeit in die digitale Welt bleibt auch nicht aus und so greifen immer mehr Menschen auf achtsamkeitsbasierte Online-Kurse oder Apps zum Einüben der Achtsamkeit zurück (vgl. Chang-Gusko, 2019, S. 6 f.; Creswell, 2017, S. 495).
Die folgende einfache Übung kann helfen, den gegenwärtigen Moment bewusst und achtsam wahrzunehmen, um Achtsamkeit ganz praktisch selbst zu erfahren:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
[...]
1 Natascha Krauss M.Sc. Human Resource Management
2 Natascha Krauss M.Sc. Human Resource Management
3 Im Sinne der besseren Lesbarkeit wird weitestgehend auf gender- und diversitätssensible Sprache verzichtet. Grundsätzlich sind aber immer alle Personengruppen gemeint.
4 Siehe hierzu auch Segal, Zindel / Williams, Mark / Teasdale, John (2013): Mindfulness-based cognitive therapy for depression, 2. Aufl., New York: Guilford Press, 2013.
5 Siehe hierzu auch Linehan, Marsha (1993): Cognitive-behavioral treatment of borderline personality disorder, New York: Guilford Press, 1993.
6 Siehe hierzu auch Hayes, Steven / Strosahl, Kirk / Wilson, Kelly (2011): Acceptance and Commitment Therapy, Second Edition: The Process and Practice of Mindful Change, 2. Aufl., New York: Guilford Publications, 2011.
- Citar trabajo
- Natascha Krauss (Autor), 2020, Achtsamkeit in der Führung. Hype oder zusätzlicher Erkenntnisgewinn?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/933848
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