Auf interdisziplinäre Art und Weise untersucht der Beitrag die Gesellschaftskonfiguration, also den Demokratischen Konföderalismus Rojavas. Dabei werden Macht- und Herrschaftsverhältnisse, entlang von Kategorien wie Race, Class und Gender auf der Subjekt-, Struktur-, und Symbolebene intersektional analysiert.
Es werden soziale Ungleichheiten, Formen der Diskriminierung, sowie Partizipations- und Selbstermächtigungsmöglichkeiten in der Konfiguration der Herrschaftsinstitutionen erforscht. Gezeigt wird, inwieweit gesellschaftliche Spannungsverhältnisse mittels basisdemokratischer Konsensfindung und polit-ökonomischer Inklusion von Frauen und ethnischer Minderheiten friedlich entschärft werden konnten.
Ausgegangen wird von der These, dass der Demokratische Konföderalismus eine gesellschaftliche Kooperationsform mit anarchafeministischen Merkmalen ist, welche einen geringen Einsatz von Gewalt, Zwang und Hierarchie aufweist. Der Beitrag geht über eine Policy-Analyse des Gesellschaftsvertrages hinaus, stützt sich kombinatorisch auf empirische und theoretische Quellen und deckt die progressiven Elemente, als auch die Widersprüche und ambivalenten Machtkonstellationen Rojavas auf.
Der basisdemokratische Widerstand zwischen Utopie und Wirklichkeit Rojavas Demokratischer Konföderalismus aus intersektionaler und anarchafeministischer Perspektive The grassroots resistance between utopia and reality Rojavas Democratic confederalism from an intersectional and anarchafeminist perspective Josef Mühlbauer1
Schlüsselwörter: Intersektionalität, Anarchafeminismus, Basisdemokratie, Demokratischer Konföderalismus, Geschlechterverhältnisse, Rojava
Keywords: intersectionality, anarchafeminism, grasroots democracy, democratic confederalism, gender relations, rojava
Abstract
Auf interdisziplinäre Art und Weise untersucht der Beitrag die Gesellschaftskonfiguration, also den Demokratischen Konföderalismus Rojavas. Dabei werden Macht- und Herrschaftsverhältnisse, entlang von Kategorien wie Race, Class und Gender auf der Subjekt-, Struktur-, und Symbolebene intersektional analysiert. Es werden soziale Ungleichheiten, Formen der Diskriminierung, sowie Partizipations- und Selbstermächtigungsmöglichkeiten in der Konfiguration der Herrschaftsinstitutionen erforscht. Gezeigt wird, inwieweit gesellschaftliche Spannungsverhältnisse mittels basisdemokratischer Konsensfindung und polit-ökonomischer Inklusion von Frauen und ethnischer Minderheiten friedlich entschärft werden konnten. Ausgegangen wird von der These, dass der Demokratische Konföderalismus eine gesellschaftliche Kooperationsform mit anarchafeministischen Merkmalen ist, welche einen geringen Einsatz von Gewalt, Zwang und Hierarchie aufweist. Der Beitrag geht über eine Policy-Analyse des Gesellschaftsvertrages hinaus, stützt sich kombinatorisch auf empirische und theoretische Quellen und deckt die progressiven Elemente, als auch die Widersprüche und ambivalenten Machtkonstellationen Rojavas auf.
Abstract:
In an interdisciplinary fashion, the article examines the social configuration, ie the democratic confederalism of Rojava. Forms of power and domination are intersectionally analyzed along categories such as race, class and gender and on a subject-, structural and symbolic level. Social inequalities, forms of discrimination, as well as possibilities of participation and selfempowerment are explored in the configuration of the ruling institutions. It shows to what extent societal tensions could be peacefully released by means of grassroots democratic consensus-building and political-economic inclusion of women and ethnic minorities. The starting point is the thesis that Democratic Confederalism is a form of social cooperation with anarcho-feminist characteristics, which shows little use of force, coercion and hierarchy. The paper goes beyond a policy analysis of the social contract, is based on combinatorial empirical and theoretical sources and reveals the progressive elements, as well as the contradictions and ambivalent power constellations Rojavas.
1 Einleitung
Als im Verlauf des syrischen Bürgerinnen- bzw. Stellvertreterinnenkrieges das Regime von Assad die Kontrolle über sein nördliches Territorium verloren bzw. taktisch abgegeben hatte (Gunes 2019), übernahmen kurdische Kräfte die Organisation und stellten eine autonome Übergangsverwaltung namens Rojava auf. Es ist demokratietheoretisch betrachtet ein einzigartiges Gesellschaftsmodell, welches auf der Theorie des Demokratischen Konföderalismus fußt. Diese wurde maßgeblich vom Anarchafeministen Abdullah Öcalan und vom Ökoanarchisten Murray Bookchin geprägt (Leezenberg 2016: 675) und enthält Prinzipien bzw. soziale Praktiken wie: Dezentralisierung, Selbstsuffizienz, gemein- bzw. genossenschaftliche Wirtschaftsaktivitäten, ökologische Nachhaltigkeit sowie flache (Geschlechter-)Hierarchien und die politisch-wirtschaftliche Inklusion von Frauen und ethnischen Minderheiten (Bookchin 2015: 65-70; Öcalan 2010). Laut der Ethnologin Anja Flach (2017: 8) symbolisiert Rojava ein Kampf um ein freiheitliches demokratisches Bewusstsein und ein Kampf für egalitäre Geschlechterverhältnisse (ebd.). Diese Beurteilung ist in ähnlicher Form bei einigen Wissenschaftlicher*innen zu finden (Burg 2019, Brauns 2016, Hunt 2017, Shahvisi 2018, Hosseini 2016). Ist mit Rojava der Weg für egalitäre Geschlechter- Macht- und Herrschaftsverhältnisse geebnet? Oder handelt es sich hierbei um „linke Projektionsflächen“ utopischer Wunschvorstellungen? Anlehnend an diesen Gedanken soll aus einer intersektionalen Perspektive gezeigt werden, welche Macht- und Herrschaftsverhältnisse in Rojava präsent sind und inwieweit diese als basisdemokratisch-feministischer Widerstand oder gar als „Ambiguität“ (Leezenberg 2016) zu werten sind.
1.1 Forschungsfrage und -Relevanz
Folgende Fragen werden beantwortet: Inwieweit tragen die aktuellen Gesellschaftskonfigurationen in Rojava intersektional- und anarchafeministische Merkmale? Und inwieweit kollidieren der selbstdeklarierte Anspruch und die realpolitische Wirklichkeit, vor allem angesichts der derzeitigen Kriegs- und Krisensituation?
Werfen wir nun einen Blick auf den bisherigen Stand der Forschung. Flach (2007) beschäftigt sich mit Geschlechterverhältnisse in der PKK und Flach (et al: 2017) liefert einen historischen Überblick über die Revolution in Rojava. Loqman Radpey (2016) beschäftigt sich mit der kurdischen Verfassung und Michiel Leezenberg (2016) mit der historischen und ideologischen Entwicklung von Abdullah Öcalan und Rojava. Kian Kurtz analysiert systemtheoretisch den Demokratischen Konföderalismus. Ich schließe mich ihm (2014: 12) an und behaupte, dass dem Thema „Demokratischer Konföderalismus“ in der nicht-kurdischen Literatur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Dem ist so, weil vordergründig die Aspekte Krieg und Nationalismus (Özcan 2006), Geopolitik (Gunes 2019), Ethnizität und Geschichte (Hosseini 2016), Ökologie (Hunt 2017) und Gender bzw. Feminismus (Shahvisi 2018, Tank 2017, Düzgün 2016) wissenschaftlich behandelt wurden. Demokratie- und systemtheoretische Arbeiten finden sich zum Teil bei Ahmet H. Akkaya & Joost Jongerden (2012), Yubraj Aryal (2018) und Monica Quirico & Gianfranco Ragona (2018) wieder. Schmidinger (2015) gibt eine chronologische Darstellung der Revolution in Rojava wieder und verwendet dabei Interviews und seine Feldforschung. Anahita Hosseini (2016) greift philosophische Aspekte von Badiou auf, um Rojava als gesellschaftlich-demokratisches Alternativmodell darzustellen. Angesichts dieses Forschungsstands fülle eine wissenschaftliche Lücke, in dem ich aus einer intersektional feministischen bzw. aus einer anarchafeministischen Perspektive den Demokratischen Konföderalismus Rojavas untersuche.
2 Theoretischer Rahmen und Begriffsbestimmung
In dieser Arbeit verwende ich die anarchistischen Theorien von Murray Bookchin (1982, 2015) und Öcalan (2010, 2011, 2013) wobei die Aspekte der Intersektionalität (Crenshaw 1989, Bronner & Paulus 2017) im Zentrum dieser Arbeit stehen. Diese beiden Grundlagen verwende ich, da sie eine zentrale Rolle spielen für die neu entstandene Gesellschaftskonfiguration Rojavas (Leezenberg 2016: 675). Eine Begriffsbestimmung ist vorweg notwendig, damit die Begriffe wie Intersektionalität und politischer Anarchismus ausdifferenziert werden können und damit Kriterien zur Bewertung der Macht- und Herrschaftsverhältnisse gesetzt werden können.
2.1 Intersektionalität
Das Konzept der Intersektionalität geht auf die afroamerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw (1989) zurück. Diese Forschungsbrille entstand im Kontext der Erfahrungen Schwarzer Frauen, die sich im westlichen Feminismus weißer Mittelschichtsfrauen kaum wiederfanden. Mit ihr können die Verschränkungen unterschiedlicher Ungleichheit erzeugender Strukturkategorien untersucht werden. Kategorien in diesem Kontext bezeichnen eine Merkmalskonfiguration durch deren Existenz und Wirkmächtigkeit sich Gruppen von Personen bilden. Diese Gruppen mit ihren gemeinsamen und sozial relevanten Merkmalen, werden in Bezug auf Unterdrückungs- und Diskriminierungsmechanismen analysiert (ebd.). Häufig betrachtete Kategorien der Diskriminierung sind unter anderem: Class, Race und Gender. Intersektionale Untersuchungsebenen sind laut Bonner & Paulus (2017) die Strukturebene (Wirtschaft, Politik, Gesetze, Institutionen), die Symbolebene (Diskurse, Medien, Ideologien, Moral) und die Subjektebene (individuelles Verhalten, Wahrnehmung, Handeln). Auf allen drei Ebenen werde ich die Gesellschaftskonfiguration Rojavas analysieren.
2.2 Politischer Anarchismus und Anarchafeminismus
Der Anarchismus ist eine politische Ideenlehre, welche jegliche Unterdrückung von Menschen über Menschen sowie hierarchisch-zentralisierte Machtstrukturen ablehnt (Göhler & Ansgar 1993). Anarchistinnen streben demnach eine freie Gesellschaft der Gleichberechtigung an, bei der die Mitglieder befähigt und ermutigt werden, ihre gesellschaftlichen Bedürfnisse, ohne Bevormundung und mit einem Minimum an Entfremdung selbst in die Hand zu nehmen.
Den Begriff „inklusive Basisdemokratie“ fasse ich gemäß des Anarchafeminismus auf, nämlich als „positive Autonomie im Sinne einer möglichst gleichmäßig, d. h. gerecht verteilten Teilhabe an der Machtausübung“ (Pechriggl et al. 2009: 29) und zwar mit dem Fokus auf die Inklusion aller Geschlechter.2 Aus intersektionaler Perspektive heißt dies wiederrum, dass niemandem aufgrund irgendeines Merkmals oder Anspruchs dauerhaft der Platz der Macht (arche) zusteht (ebd.). Dieses hier beschriebene anarchafeministische Merkmal von Basisdemokratie, mit dem Fokus auf Inklusion dient mir als normative Vergleichskategorie.
3 Methodologische Herangehensweise
Die Demokratiequalität Rojavas kann derzeit nicht anhand der bisherigen Bewertungssysteme gemessen werden, weil Indizes und Analysen wie Freedoom House Index, Democracy Index, Corruption Perceptions Index und Press Freedom Index Rojava gar nicht, bzw. nicht separat von Syrien auswerten (Stand: Aug. 2019). Des Weiteren handelt es sich beim Demokratischen Konföderalismus nicht um eine liberale Demokratie, sondern dieser enthält Elemente einer Rätedemokratie, welche außerhalb des Nationalstaates fungieren. Angesichts dieser Problematik, bzw. Forschungslücke werde ich eine innovative Herangehensweise implementieren. Ganz im Sinne der intersektionalen Herangehensweise (Bonner & Paulus 2017), versuche ich die Macht- und Herrschaftsverhältnisse von Rojava aufzudecken. Dies geschieht entlang der folgenden normativen Begriffskategorien: Race („inklusive Basisdemokratie“), Class („solidarische Ökonomie“) und Gender („egalitäre Geschlechterverhältnisse“) und entlang der drei schon erwähnten Ebenen (Struktur-, Symbol-, und Subjektebene).
Im Rahmen der Kategorie „inklusive Basisdemokratie“ (Race) geht es um die politische Inklusion von allen Geschlechtern sowie ethnischen, religiösen und sogar ideologisch- politischen Minderheiten (vgl. Kap.2.2). Race wird in dieser Arbeit als negative Kontrastfolie herangezogen, da eine politische Exklusion von sozialen Gruppen und ethnischen Minderheiten, als eine Art von Rassismus und Diskriminierung gewertet werden kann. Diese Art von Exklusion und Rassismus ist im Grunde jedem Nationalstaat inhärent (Foucault 2001: 34-97, Öcalan 2010)3, da nationalstaatliche Demokratien territoriale Grenzen unterworfen sind, genealogisch betrachtet auf Nationalismus fußen (de Guevara & Kühn 2010: 23) und da sie politische Partizipation mit der Staatsbürgerschaft begründen, welche wiederum auf zufällige Tatsachen wie Geburtsort und Abstammung beruht (Shachar 2009, in: Celikates 2012: 304). Das Staatswesen wird aus intersektionaler Perspektive als „vergeschlechtlichte, ethnisierte Klassen- und Bürgerinnen erzeugende Formation“ (Sauer 2003 zit. in Ludwig 2015: 47) betrachtet.
Die zweite Kategorie „solidarische Ökonomie“ (Class) soll den etwaigen Klassenantagonismus und daher ökonomische Ungleichheiten der Gesellschaft Rojavas aufzeigen. Solidarische Ökonomie bezeichnet Formen des Wirtschaftens, die menschliche Bedürfnisse auf Basis freiwilliger Kooperation, Selbstorganisation und gegenseitiger Hilfe befriedigen (Voß 2010; Giegold 2007). Eine Vielzahl sozialer Praktiken stehen hierbei im Vordergrund: So wird auf Besitz, also auf den tatsächlichen Gebrauch statt auf Eigentum (Recht zum Ausschluss anderer bzw. Verkaufsrecht) Wert gelegt (Giegold 2007). Des Weiteren wird solidarisch geteilt, genossenschaftlich gearbeitet und individuell beigetragen, statt monetär getauscht. Demokratisch geregelte Banken, gemeinschaftliche Wohnungs- und Produktionsformen sowie Agrarkooperativen und Nutzungsgemeinschaften werden dabei gefördert. Mit dieser Kategorie „Class“ werde ich die ökonomischen Zugangsmöglichkeiten, Verteilungsmechanismen (Output-Dimension) und mögliche Privilegien einzelner Gruppen analysieren (vgl. die Herangehensweise von Merkel 2015: 12), wobei mir die erwähnten Praxen und Prinzipien Solidarischer Ökonomie als normative Bewertungskriterien dienen.
Im Rahmen der letztgenannten Kategorie „egalitäre Geschlechterverhältnisse“ (Gender) soll die politische Partizipationsmöglichkeit von allen Geschlechtern analysiert werden. Darüber hinaus werfe ich einen Blick auf private Rückzugsräume für Frauen sowie Repräsentationsund politische Vetomöglichkeiten von Frauen. Die Input-Dimension bzw. den Geltungsbereich des politischen Systems erforsche ich anhand der Konfiguration der Herrschaftsinstitutionen, also anhand von sechs Klassifikationskriterien: Herrschafts- Legitimation, -Zugang, -Monopol, -Struktur, -Anspruch und Herrschaftsweise (Merkel 1999: 21ff.). Egalitäre Geschlechterverhältnisse erfasse ich mit Alice Pechriggl (et al. 2009: 28) und meine damit eine kollektiv gefasste Autonomie, bei der nicht nur die politische, sondern auch die ökonomische und persönliche Selbstbestimmung aller Individuen, somit aller Geschlechter im Zentrum steht. Diese soeben definierten drei Kategorien (Race, Class und Gender) dienen als normative Kriterien zur Analyse der Geschlechter-, Macht- und Herrschaftsverhältnissen sowie der Messung der Demokratiequalität in Rojava. Da von mir keine eigene Feldforschung betrieben wurde stützt sich meine Analyse auf den verschriftlichten Gesellschaftsvertrag (2014) sowie auf der theoretisch-ideologische Grundlage Rojavas (Bookchin 1982, 2015, Öcalan 2010, 2011, 2013) und den empirischen Forschungen von Schmidinger (2015), Flach et al. (2015) und Colasanti et al. (2018).
4 Geschlechter-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse in der Gesellschaftskonfiguration Roj avas
Es folgt nun der analytische Teil der Arbeit. Hier frage ich wer und in welcher Form über gesellschaftspolitische Fragen mitentscheiden darf, als Teil der Gesellschaft anerkannt wird bzw. wer und auf welcher Weise von den Herrschaftsverhältnissen profitiert. Beginnen werde ich mit dem Blick auf die Kategorie Race.
4.1 Inklusive Basisdemokratie (Race) - Multiethnisch-feministischer Konföderalismus
Am 17. März 2016 wurde die Demokratische Föderation Rojava-Nordsyrien von 31 Parteien, 200 Delegierte sowie einigen arabischen, assyrischen, armenischen, turkmenischen und tschetschenischen Vertreterinnen der Region ausgerufen (Burg 2019: 20). Allein diese heterogene Mischung der Vertreterinnen lässt die in der Verfassung Rojavas zu findenden Prinzipien von Selbstverwaltung, Multikulturalismus und Konföderalismus in Erscheinung treten (ebd.: 21). Dies spiegelt sich auf der Strukturebene wieder.
Das politische System ist aufgebaut nach den Prinzipien des Konföderalismus in Anlehnung an die Theorien Bookchins und Öcalans (Schmidinger 2019: 66). Im Mittelpunkt dieser „partizipativen“ (Brauns 2016: 96), „radikalen“ (Burg 2019: 26) bzw. „direkten Demokratie“ (Hosseini 2016: 254) steht die kleinste Einheit, nämlich die Kommune. Dieses Zentrum der gesellschaftspolitischen Organisierung besteht aus 30 bis 150 Familien einer Straße, einer Siedlung bzw. eines Dorfes und umfasst die Regelung der unmittelbaren sozialen Probleme vor Ort (Müllabfuhr, Energie- und Lebensmittelversorgung etc.). Jede Kommune enthält ein Mala Gel (Volkshaus), welches als erstinstanzliche Gerichtsbarkeit fungiert (Ayboga/ Flach & Knapp Seite 5 2015: 109). Aus den kleinsten Einheiten werden Delegierte in die Stadtteilräte gesandt. Von dort wiederum werden Delegiert in die Stadträte und schlussendlich in den Kantonrat entsandt. Spezifische Komitees sind in den Räten für ganz bestimmte Politikbereiche zuständig (Bildung, Landwirtschaft, Umwelt, Gender Equality etc.). Demokratische Legitimation erhielt Rojava durch die am 22. September 2017 stattgefundene Kommunalratswahl und die darauffolgende Regionalratswahl im Dezember (Küpeli 2017). Insgesamt wählten 3.732 Kommunen ihre jeweiligen Co-Vorsitzenden, also insgesamt 7.464 Kommunalpolitiker*innen (ebd.). Das System des Co-Vorsitzenden (Hevserok-System) sieht vor, dass der zu wählende Posten des Vorsitzenden, der Kommunalverwaltung oder im Gericht jeweils von einem Mann und einer Frau gleichzeitig besetzt wird (Burg 2019: 26). Die Vorsitzende wird durch eine reine Frauenwahl gewählt, im Gegensatz zum Vorsitzenden, der von allen Geschlechtern gewählt werden kann (ebd.). Die Wahlbeteiligung lag bei 69% (Küpeli 2017). Die Liste der Demokratischen Nation (LND), bestehend aus 17 Parteien, die der Partei der Demokratischen Union (PYD) nahestehen und für das basisdemokratische Projekt Rojava einstehen, gewann die Wahl mit 92%. Die Opposition erhielt nur drei Prozent und daher kann hier ein ambivalentes Bild skizziert werden (Küpeli 2017), da einerseits die große Mehrheit für das Projekt Rojava gewählt haben, jedoch eine Rojava ablehnende und starke Opposition fehlt. Jedoch muss dazu gesagt werden, dass jene Opposition, die Rojava ablehnend gegenübertritt die Wahlen boykottiert hat (gemeint ist der Kurdische Nationalrat in Syrien, kurz ENKS). Oppositionelle Kräfte haben laut Verfassung (Artikel 34) das Recht zu streiken, ihre Meinung frei zu äußern und friedlich zu demonstrieren. Festzuhalten ist jedoch: Die demokratische Legitimation wird durch die Kriegs- und Krisensituation stark beeinträchtigt. So wurde die dritte Phase der Wahlen, nämlich die Wahlen für den Volkskongress (Koma Gel) in Rojava nicht wie geplant Ende 2018 abgehalten. Grundsätzlich sollte der Volkskongress rund 300 Mitglieder haben und die verschiedenen Identitäten, Ethnien und Geschlechter Rojavas abbilden. Zu diesem hier beschriebenen direktdemokratischen Rätesystems Rojavas besteht jedoch eine Parallelstruktur die von der Kampfeinheit YPG/ YPJ dominiert wird. Auch dies kann ambivalent betrachtet werden, da einerseits diese militärische Struktur Schutz vor dem IS, oder vor türkischen Angriffen bietet und somit nicht nur internationale Solidarisierungsbekundungen, sondern auch regionale Legitimation erhält (Rana M. Khalaf 2016). Andererseits steht sowohl die PYD als auch die YPG/ YPJ unter Kritik, weil sie mit Assads Regime stillschweigend kooperieren4, Einfluss auf demokratische Entscheidungsprozesse haben und beschuldigt werden das Menschenrecht verletzt zu haben (Khalaf 2016). Abseits dieser Kritikpunkte zeigt Rojava trotz der humanitären Krise (schwache Kranken-, und Stromversorgung) und der kriegerischen Situation sehr wohl basisdemokratische Charakteristika. So zum Beispiel sieht das Grundprinzip des Demokratischen Konföderalismus ein Vetorecht für Frauen bei Entscheidungen in allen Institutionen vor, die sie (un-)mittelbar betreffen (Burg 2019: 26). Politikerinnen sind aufgrund des imperativen Mandats an die Vorgaben der Wählerinnen gebunden und können jederzeit abgesetzt werden (Flach et al. 2015). Frauen werden durch institutionelle Selbstverteidigungsmechanismen vor politischer Ausbeutung, Unterdrückung und Korruption von Männern geschützt (Burg 2019: 26). In allen Gremien der Selbstverwaltung Rojavas besteht eine vorgeschriebene Frauenquote von 50% und zusätzlich gibt es Quoten für ethnische Minderheiten (Knapp & Jongerden 2016). Die Verfassung (Art. 14) spricht sich explizit gegen Rassismus und im Artikel 30 für die Chancengleichheit aller Bürgerinnen aus. Die föderalen Demokratiestrukturen zeigen deutlich Vorteile in Bezug auf die Machtkontrolle, zusätzliche Partizipationsmöglichkeiten, Schutz und Förderung kultureller Vielfalt (Krumm 2015: 28). Diese Vorteile des Föderalismus lassen sich im Bereich der politischen Inklusion verschiedener Interessen, Identitäten und Minderheiten theoretisch (Gerring & Tacker 2008, In: Krumm 2015: 29) und wie wir bisher sahen auch strukturell festhalten. In Anlehnung an Merkels (1999) Herrschaftsklassifikationen lässt sich zusätzlich folgendes Bild skizzieren: Der Herrschaftszugang ist radikal offen für alle ethnischen, sozialen, kulturellen und nationalen Gruppen. Der Herrschaftsanspruch ist deutlich begrenzt, da die Privatsphäre insbesondere von Frauen und auch das Privateigentum geschützt werden. Die Herrschaftslegitimation lässt zwar Raum für Diskussion offen (Küpeli 2017), erscheint aber aufgrund der Wahlbeteiligung von 69%, der Befürwortung des regierenden politischen Lagers von 92%, dem imperativen Mandat und der starken Anbindung der Zivilgesellschaft deutlich vorhanden zu sein (ebd.). Das Kriterium des Herrschaftsmonopols zeigt deutlich die inklusiven und basisdemokratischen Einbindungsmöglichkeiten von Frauen und ethnischen Minderheiten in Bezug auf die politisch bindenden Entscheidungen. Die Freiwilligenmiliz Asayis untersteht den demokratisch gewählten Räten und trägt gesellschaftliche Sicherheitsaufgaben. Die Asayis wählen ihre Vorgesetzte selbst, somit werden hierarchische Machstrukturen und Formen der Machtsedimentierung vermieden (Brauns 2016: 96). Die YPG hingegen ist ein militärischer Akteur mit unklaren Strukturen und politischer Nähe zur türkischen PKK (die in einigen Staaten als Terrororganisation eingestuft wird). Die Herrschaftsweise orientiert sich an rätedemokratische und gewaltenteilende Prinzipien. Zuletzt zeigt die Herrschaftsstruktur eine horizontale (dezentralisierte) Verteilung von Macht- und Herrschaftsträgern, wobei eine Rojava-kritische Opposition nicht vorhanden ist (Küpeli 2017) und die PYD als Parallelstruktur angesehen werden kann (Khalaf 2016).
Nun werde ich das politische System Rojavas von der Symbolebene her betrachten und blicke daher auf die Medienlandschaft sowie auf die theoretisch-ideologischen Fundamente Rojavas. Die Medienlandschaft wird rechtlich von den Artikeln 24 und 33 der Verfassung und im Sinne der Gedanken- und Pressefreiheit reglementiert. Die Freie Medienunion (YRA) wurde im August 2013 ins Leben gerufen und wird politisch von der PYD dominiert, wobei oppositionelle Journalistinnen bis 2015 sogar ausgewiesen oder festgenommen worden sind (Freedom House 2019). Medien müssen bei der YRA eine Lizenz beantragen um ihre journalistische Arbeit aufnehmen zu dürfen. Den der irakischen KDP nahestehenden Medien Orient TV und Rudaw Media Network wurde aufgrund von Propagandavorwürfen die Lizenz entzogen. Neben Ronahi TV und Zagros TV gibt es die Ronahi und Büyerpress Zeitung und den Radiosender Arta FM. Der zuletzt genannte Sender Arta FM wird teilweise von der EU, den USA und Kanada gefördert und wurde im April 2016 sogar in Brand gesetzt und es wurde ein Leiter entführt (Huch 2019: 103). Dieser liberale Sender ist den konservativen Kadern der PKK ein Dorn im Auge (Hackensberger 2016). ROJ-TV auf der anderen Seite wurde 2012 wegen ihrer Unterstützung der PKK in den meisten europäischen Staaten verboten (ebd.). Da es bis heute keine wissenschaftlichen (Inhalts-)Analysen oder empirischen Daten über die Medienlandschaft in Rojava gibt, beschränke ich mich auf die bisher erwähnte Kritik von Freedom House (2019), Hackensberger (2016) und Huch (2019).
[...]
1 Danken für das Feedback, die Diskussionen und für die Kritik möchte ich Univ.-Ass. Mag. Dr. Mathias Flatscher, Mariele Friesacher BA BA MA, Alan Pire BA sowie der Ethnologin Anja Flach, dem Team vom „Varna Institute for Peace Research“ und dem Verein zur Förderung von Nachwuchsforscher*innen der Geistes- und Sozialwissenschaften namens „under.docs“.
2 Da die analytische Kategorie „Geschlecht“ im „klassischen Anarchismus“ größtenteils ausgelassen wird (vgl. Lohschelder et al. 2009), bediene ich mich anarchafeministischer Ansätze, um diese Lücke zu schließen.
3 Mit dem Nationalstaat etablierte sich ein rassistischer Diskurs von einer homogenen Gesellschaft in Abgrenzung zu heterogenen Elementen („Unterrassen“), welche den „Staatskörper“ schädigen können (Foucault 2001: 82104). Dieser rassistische Diskurs lässt sich schon vor dem 17. Jh. aber insbesondere mit der Entstehung von Nationalstaaten im 19. Jh. festhalten (ebd.). Ähnliche Gedanken finden sich bei Öcalan (2011) wieder. Seite 4
4 Assad kontrolliert den Flughafen in Qamishli und Staatsbedienstete arbeiten zusammen mit der PYD in Regierungsgebäude (Khalaf 2016: 19).
- Quote paper
- Josef Muehlbauer (Author), 2019, Der basisdemokratische Widerstand zwischen Utopie und Wirklichkeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/933380
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