Ich stellte mir zu Beginn meiner Arbeit die Frage, wie Friedrich Schlegel zu einer Interpretation der Lucinde stünde, welche Ansprüche er an eine solche erheben würde. Ich kam zu dem Ergebnis, dass die Interpretation eines „romantischen Romans“ – in Einklang mit der transzendentalpoetischen Auffassung – selbst romantisch sein müsste, um dem idealistischen Realismus eines romantischen Werks gerecht zu werden und zwar indem es die vorliegende Schrift und Lucinde als Gesamtheit einer Erkenntnishandlung „Interpretation“ begreift. Andererseits sollte eine Interpretation literaturwissenschaftlichen Kriterien der wissenschaftlichen Systematik eindeutiger Aussagen genügen und nicht eine mehrdeutige Verwirrung derselben sein. Hier kollidieren literaturwissenschaftliche Betonung der differenzierenden „Philosophie“ und der romantische Anspruch an eine dichte „Poesie“ und stellen jede Interpretation mit einem totalitären Anspruch vor ein unausweichliches Dilemma.
Ich habe mich – in großen Teilen Manfred Engels Arbeit folgend – für eine graduelle Lösung einer strukturparallelen (homomorphen) An-Deutung entschieden, als einem systematischen Gedankenfundament einer freien, romantischen, gleichartigen (iso-morphen) Deutung. Die Deutung selbst als romantisch-idealistisches Gedankengebäude muss sich im Mitdenkenden herausbilden. Die vorgestellte Interpretation ist hiernach keine Erkenntnishandlung an sich – daher unromantisch – aber sie versucht den Weg einer Erkenntnishandlung durch Andeutung des „Bandes der Ideen“ nachzuvollziehen. Das Band der Ideen findet seinen klarsten Asudruck in der Liebesgemeinschaft als epistemischem Subjekt der Welterkenntnis: die Liebesbezihung des Paares in der Lucinde, die Beziehung des Rezipienten zum Author oder der des Leseres dieser Arbeit zur Interpretation. Erst durch die wechselseitige Beziehung entsteht der totalitäre Geist, welcher ganzheitlich erkennt.
Inhaltsangabe
1. Die Problemstellung der Interpretation eines „romantischen Romans“
2. Was charakterisiert den „romantischen Roman“?
2.1 Theoretische Grundlagen der Literaturproduktion nach Schlegel
2.1.1 Fichtes Wissenschaftstheorie
2.1.2 Wilhelm Meisters Lehrjahre
2.1.3 Die französische Revolution
2.2 Praktische bzw. ästhetische Grundlagen der Literaturproduktion nach Schlegel
2.2.1 Die romantische Verwirrung
2.2.2 Der sentimentale Stoff
2.2.3 Der historische Stoff
2.2.4 Die progressive Universalpoesie
2.2.5 Die Transzendentalpeosie
2.2.6 Die Neue Mythologie
2.2.7 Die romantische Ironie
3. Lucindes Gestalt als „romantisches Buch“
3.1 Der formale Aufbau
3.2 Die inhaltliche Struktur
3.2.1 Die vier thematischen Ebenen
3.2.1.1 Die Ebene der organischen Bildung
3.2.1.2 Die Ebene der Liebe
3.2.1.3 Die Ebene der Kunst
3.2.1.4 Die Ebene der Religion und Mythologie
3.2.2 Die drei Bauprinzipien
3.2.2.1 Das Bauprinzip „Organismus“
3.2.2.2 Das Bauprinzip „Potenzierung“
3.2.2.3 Das Bauprinzip „intensiver => extensiver Totalität“
4. Lucindes Inhalt als transzendentale Geschichte eines Bildungsprozesses
5. Die Detailanalyse des Prologs
5.1 Erster Absatz
5.2 Zweiter Absatz
5.3 Dritter Absatz
5.4 Vierter Absatz
6. Zusammenfassung
7. Literaturverzeichnis
1. Die Problemstellung der Interpretation eines „romantischen Romans“
Ich stellte mir zu Beginn meiner Arbeit die Frage, wie Friedrich Schlegel zu einer Interpretation der Lucinde stünde, welche Ansprüche er an eine solche erheben würde. Ich kam zu dem Ergebnis, dass die Interpretation eines „romantischen Romans“ – in Einklang mit der transzendentalpoetischen Auffassung – selbst romantisch sein müsste, um dem idealistischen Realismus eines romantischen Werks gerecht zu werden und zwar indem es die vorliegende Schrift und Lucinde als Gesamtheit einer Erkenntnishandlung „Interpretation“ begreift. Andererseits sollte eine Interpretation literaturwissenschaftlichen Kriterien der wissenschaftlichen Systematik eindeutiger Aussagen genügen und nicht eine mehrdeutige Verwirrung derselben sein. Hier kollidieren literaturwissenschaftliche Betonung der differenzierenden „Philosophie“ und der romantische Anspruch an eine dichte „Poesie“ und stellen jede Interpretation mit einem totalitären Anspruch vor ein unausweichliches Dilemma.
Ich habe mich – in großen Teilen Manfred Engels Arbeit folgend[1] – für eine graduelle Lösung einer strukturparallelen (homomorphen) An-Deutung entschieden, als einem systematischen Gedankenfundament einer freien, romantischen, gleichartigen (isomorphen) Deutung. Die Deutung selbst als romantisch-idealistisches Gedankengebäude muss sich im Mitdenkenden herausbilden. Die vorgestellte Interpretation ist hiernach keine Erkenntnishandlung an sich – daher unromantisch – aber sie versucht den Weg einer Erkenntnishandlung durch Andeutung des „Bandes der Ideen“ nachzuvollziehen.
2. Was charakterisiert den „romantischen Roman“?
2.1. Theoretische Grundlagen der Literaturproduktion nach Schlegel
Schlegel beobachtet[2] drei dominierende Tendenzen in seinem Zeitalter: (i) Fichtes Wissenschaftstheorie, die jegliche Erkenntnis in die Hände der Selbsterkenntnis legt, (ii) Goethes „Meister Wilhelms Lehrjahre“ als Paradigma einer Bildungsgeschichte im Sinne einer transzendentalen Erkenntnishandlung und schließlich (iii) die französische Revolution als Sinnbild der Befreiung von Konventionen und vom fatalistischen Schicksal eines mechanischen Weltbildes.
2.1.1. Fichtes Wissenschaftstheorie
Fichtes Wissenschaftstheorie ist eine Radikalisierung kantischer Philosophie. Kant begründet die mentale Repräsentation der Gegenstände unserer Erfahrung dualistisch: er unterscheidet zwischen Erkenntnisanfang und Erkenntnisursache. Der Anfang unserer Erfahrung liegt im Ding an sich. Das Ding an sich ist eine unerfahrbar gesetzte Entität hinter dem Erscheinungsbild der Gegenstände unserer Erfahrung, es ist dasjenige, was in uns die mentale Repräsentation evoziert und welches wir niemals unvermittelt wahrnehmen können. Der transzendentale Ursprung unserer Erfahrung liegt dagegen in uns selbst: es sind die Bedingungen der Möglichkeit einer Erfahrung überhaupt. Zum Einen die beiden ästhetischen Bedingungen der sinnlichen Wahrnehmung Raum und Zeit und zum Anderen die reinen Verstandesbegriffe der vier Kategorien Quantität, Qualität, Relation und Modalität, unter die die Erfahrungsgegenstände subsumiert und hierdurch zum Objekt unserer Erkenntnis werden.
Fichte verschärft nun diesen kantischen Ansatz, indem er das Ding an sich als „eine bloße Erdichtung“[3] betrachtet, welchem „keine Realität“[4] zukommt. Das einzig unwiderruflich Reale ist die gesetzte Selbstbestimmung, ist das Ich an sich. Das Ich an sich ist streng unterschieden von dem Ding an sich: Ersteres ist uns zugänglich und in uns wirklich, real gesetzt, wohingegen sich letzteres in eine ferne Unzugänglichkeit des Unsichtbaren verliert. Also muss der Erkenntnisgrund der Erfahrung ausschließlich in jenem Ich gesucht werden und nicht etwa hinter der Welt der Erscheinungen. Der Erkenntnisgrund der Erfahrung liegt nun in der Selbstbestimmung von Ich und Nicht-Ich:
„ Seine Bestimmtheit erhält es [ das vom Erkenntnissubjekt unterschiedene Weltganze der Erkenntnisobjekte ] allein als Grenze bzw. als Negation eines bestimmten (Erkenntnis-) Handelns: als vom (absoluten) Ich (d.h. durch die freie Grundentscheidung) im Ich (d.h. in dem der Selbstreflexion zugänglichen Bewusstsein) dem teilbaren Ich (d.h. dem in bestimmter Weise in der Welt handelnden Subjekt) entgegengesetztes teilbares Nicht-Ich (d.h. nur als Negation dieses bestimmten Handelns bestimmter Wahrnehmungsgehalt).“[5]
Das epistemische Subjekt ist hiernach selbst als reflexiv Handelnder die Grenze von Ich und Nicht-Ich, d.h. es ist selbst Anfang und Ursprung seiner Erkenntnis: Der Anfang liegt nicht mehr wie bei Kant ausserhalb des Selbst im Reich der Dinge an sich, sondern im erkennenden Subjekt selbst – es erfährt das Nicht-Ich durch die Selbsterkenntnis. Diese Erkenntnishandlung vollzieht sich in der richtigen Bildung des Bewusstseins. Die reflexive Analyse dieser Erkenntnishandlung ist sozusagen die Selbsterkenntnis der Welt im Selbstbewusstsein: Aus dieser Analyse lässt sich nach Fichte eine „vollständige Deduktion der ganzen Erfahrung aus der Möglichkeit des Selbstbewusstseins“[6] ableiten.
Das ist der Grundgedanke von Fichtes Transzendentalphilosophie. Schlegel führt diesen Gedanken weiter und dehnt dessen Geltungsbereich auf den literaturtheoretischen Kontext aus:
Die Deduktion ist selbst eine Erkenntnishandlung und unterschieden von der Demonstration, dem formalen Beweis[7]. Der Erkennende (etwa der Rezipient Fichtes oder der Lucinde) muss selbst diese Erkenntnishandlung ausführen: d.h. das Sujet eines der Philosophie Fichtes verpflichteter Textes ist also die Erkenntnishandlung des Lesers (oder – metaphorisch gesprochen – des transzendental poetischen Textes selber), welcher durch die reflexive Analyse dieser Erkenntnishandlung die Selbsterkenntnis vollzieht und an Selbstbewusstsein gewinnt, sich bildet. Der gesamte Text versteht sich somit als Allegorie auf das gebildete Ganze, auf die Einheit (Selbstbewusstsein) von Einheit (absolutem Ich) und Differenz (geteiltem Ich). Der romantische Text erhebt also den Anspruch eine isomorphe Abbildung einer transzendentalen Erkenntnishandlung der epistemischen Einheit von Autor und Rezipient zu sein. Wir werden uns noch später, unter Punkt 3.2.1.2 und in der Detailanalyse des Prologs, eingehender mit der Thematik befassen.
2.1.2. Wilhelm Meisters Lehrjahre
In Meister Wilhelms Lehrjahren ist die Bildung – wie bereits aus dem Titel zu entnehmen – das zentrale Moment. Schlegel verbindet nun diesen Begriff der „Bildung“ mit dem der oben beschriebenen „Erkenntnishandlung“. Die Bildung vollzieht sich in der Erkenntnishandlung. Indem ich mich selbst erkenne, d.h. in den Urgrund meiner Erfahrung vordringe, erlange ich den höchsten Grad an Bildung: Ich erkenne die Einheit von Einheit und Differenz. Denn wenn alles aus dem Selbstbewusstsein ableitbar ist (wie Fichte darlegte), dann erkenne ich in meiner Selbstbestimmung das Eine, die Harmonie des Weltganzen. Und dies ist der höchste Bildungsgrad.
Jeder einzelne Bildungsschritt steht nicht isoliert für sich in der Entwicklungsgeschichte, sondern verweist auf das Bildungsziel, auf das Ganze. Jede einzelne Variation der Form beinhaltet das Gesamte der Formvollendung. D.h. der Roman besteht aus selbständigen Teilsystemen, die in ihrer Einheit das Weltganze nachempfinden. Der Roman ist nach den Bauprinzipien eines Organismus gestaltet, dessen Teile jeweils die Anlage des Ganzen enthalten und der die Verschmelzung von Subjekt und Objekt im Urgrund des Absoluten der Selbstbestimmung erahnen lässt: Im Großen und Ganzen ist das Kleine alles.
2.1.3. Die französische Revolution
Die französische Revolution steht hier paradigmatisch für die Befreiung von Konventionen. Befreiung meint hier das Loslösen als „Libertinage“ von überkommenen Wertvorstellungen (etwa die Rollenverteilung der Geschlechter[8] ) als auch die Befreiung aus dem Joch eines durch das mechanische Weltbild diktierten deterministischen Schicksals[9]. Hier zeigt sich deutlich die Betonung der Individualität. Originalität und Kreativität des Individuums können nur autark durch eine freie Grundentscheidung (siehe Fichte) zum Ausdruck gelangen.
Die einzelnen Teile des Werks werden intuitiv absichtslos nach einem „systematischen Instinkt“[10] hervorgebracht, um sie dann absichtlich zu einem gebildeten Ganzen zusammen zu fügen. Eine Abhängigkeit von den Konventionen erstickt die Kreativität des Instinkts, wohingegen eine totale Aufgabe aller Konventionen zu einem unhabbaren Chaos des Ungebildeten führt. Das Chaos muss gebildet sein, und zwar nach der Morphologie einer Erkenntnishandlung. Erst dann ist das Chaos eine echte „romantischen Verwirrung“[11].
Wir müssen also frei von Konventionen sein, um kreativ und originell handeln zu können. Und d.h. wir müssen frei sein von einem fatalistischen Weltbild, um uns zu einer solch freien Handlung überhaupt entschließen zu können. Wären wir innerhalb einer Kausalkette gefangen und damit von unserer Umwelt strikt abhängig, so wäre eine Befreiung von einer gesellschaftlichen Umgebung oder dergleichen schlicht unmöglich: Es existierte nämlich keine freie Handlung, und damit erst gar nicht die Voraussetzung für originelle und kreative Handlung.
2.2. Praktische bzw. ästhetische Grundlagen der Literaturproduktion nach Schlegel
Die literatur-praktischen Grundlagen sind die Grundpfeiler eines „romantischen Romans“[12], wie sie v.a. in dem „Brief über den Roman“ aus dem „Gespräch über die Poesie“ dargestellt sind. Es handelt sich hierbei (i) um die romantische Verwirrung, (ii) um den sentimentalen Stoff, (iii) um den historischen Stoff, (iv) um die „progressive Universalpoesie“, (v) um die Transzendentalpoesie, (vi) um die Neue Mythologie, und schließlich (vii) um die romantische Ironie.
[...]
[1] Engel, Manfred: „Der Roman der Goethezeit. Bd. 1: Anfänge in Klassik und Frühromantik: Transzendentale Geschichten“. Stuttgart: J.B.Metzler, 1993.
[2] Vgl. Schlegel, F.: Gespräch über die Poesie. Brief über den Roman. In: Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka. Hrsg. Von Bertram, Mathias. Digitale Bibliothek, Berlin.
[3] Fichte, J.G.: Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre. In: Geschichte der Philosophie. Hrsg. Von Bertram, Mathias. Digitale Bibliothek, Berlin.
[4] Ebd.
[5] Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie Bd. 1. Hrsg. Jürgen Mittelstraß. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler, 2004.
[6] Ebd.
[7] Es handelt sich hier um die zu Fichtes Zeiten übliche Konnotation des Begriffs „Deduktion“ als mehr oder weniger „Evidenz“, im Gegensatz zum heutigen Verständnis der Deduktion (von J.S. Mill geprägt) als eines formal logischen Beweises. Die Deduktion war zu jener Zeit ein Begriff der Jurisprudenz und nicht einer der formal logischen Beweistheorie (vgl. Henrich, Dieter: Identität und Objektivität. Eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion, Heidelberg 1976 [= Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Jg. 1976, Abh. 2, S. 129-131] ). Wir verwenden heutzutage die Begriffe „Demonstration“ und „Deduktion“ genau entgegengesetzt. Eine Handlung wird demonstriert, wohingegen ein Theorem aus den Axiomen deduziert wird.
[8] Deutlich im Rollenspiel während des Liebesaktes in der „Dithyrambische[n] Fantasie“ ( S. 19).
[9] Lisettes Suizid (S. 63ff.) und Julius Überwindung des Todes, der sich süß schmecken lässt.
[10] Schlegel, F.: Über Goethes Meister. In: Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka. Hrsg. von Bertram, Mathias. Digitale Bibliothek, Berlin.
[11] Vgl. Schlegel, F.: Gespräch über die Poesie. Brief über den Roman. In: Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka. Hrsg. von Bertram, Mathias. Digitale Bibliothek, Berlin.
[12] Vgl. Schlegel, F.: Gespräch über die Poesie. Brief über den Roman. In: Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka. Hrsg. von Bertram, Mathias. Digitale Bibliothek, Berlin.
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- Nikolaos Kromidas (Author), 2006, Die Liebesgemeinschaft als epistemisches Subjekt der Welterkenntnis - Schlegels "romantischer Roman" Lucinde, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/93218
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