In der Arbeit wird der Wegfall des Arbeitslosengeld II bei Nichterfüllung von Pflichten aus der Eingliederungsvereinbarung nach der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23.06.2016 (B 14 AS 30/15 R) erörtert.
Der Autor beschäftigt sich mit dem Urteil des BSG (§ 39 SGG) mit Sitz in Kassel, welches Revisions- sowie Rechtsbeschwerdeinstanz ist. Das BSG ist zuständig für die Überprüfung der Urteile der LSG, gegen die Revision eingelegt wurde. Das BSG führt keine Ermittlung des Sachverhaltes durch, sondern prüft grundsätzliche Rechtsfragen der Vorinstanzen beziehungsweise Verfahrensmängel.
Hierfür wird zunächst der Gegenstand der Entscheidung erläutert. Anschließend wird die Entscheidung des BSG ausführlich dargelegt. Mit Grundlage dieser Ergebnisse wird der Sachverhalt sowie die Entscheidung kritisch gewürdigt. Dazu wird jeweils die Rechtsnatur von Eingliederungsvereinbarungen und die Pflichtverletzungen aus dieser analysiert, auf das Urteil bezogen sowie kritisch hinterfragt.
Inhaltsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
I. Einleitung
II. Gegenstand der Entscheidung
III. Argumentation des Gerichts
IV. Kritische Würdigung
1. Rechtsnatur von Eingliederungsvereinbarungen
a) Inhaltskontrolle von Eingliederungsvereinbarungen
b) Bewertung und Kritik der BSG Entscheidung
2. Pflichtverletzungen aus der Eingliederungsvereinbarung
a) Darstellung gemäß § 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II
b) Bewertung und Kritik der BSG Entscheidung
V. Resümee
Hinweise zur Lesbarkeit
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf eine geschlechtsspezifische Differenzierung, wie zum Beispiel Teilnehmer/in, verzichtet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung für beide Geschlechter.
Literaturverzeichnis
Anmerkungen
- Körtek, Prof. Dr. Yasemin, Anmerkung zum BSG, Urt. vom 23.06.2016 – B 14 AS 30 /15 R, jurisPR-SozR 11/2017 Anm. 1.
Kommentare
- Eicher, Wolfgang / Luik, Dr. Steffen (Hrsg.), SGB II, Grundsicherung für Arbeitsuchende, 4. Auflage 2017, Beck.
- Münder, Prof. Dr. Johannes (Hrsg.), Sozialgesetzbuch II, Grundsicherung für Arbeitsuchende 6. Auflage 2017, Nomos.
- Von Wulffen, Matthias (Hrsg.), SGB X, 6. Auflage 2008, Beck.
Lehrbücher/ Monographien
- Berchthold, Dr. Josef / Richter, Prof. Ronald (Hrsg.), Prozesse in Sozialsachen, 1. Auflage 2009, Nomos.
- Brockhaus-Verlag (Hrsg.), Brockhaus Studienlexikon Recht, 21. Auflage 2009, Beck.
- Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.), § 15 SGB II Fachliche Weisungen, 2018.
- Herbst, Sebastian / Luhn, Katharina (Hrsg.), Formulierungshilfen für die sozialrechtliche Praxis, 2. Auflage 2017, Nomos.
- Arbeitskammer des Saarlandes (Hrsg.), Arbeitslosengeld II Sozialgeld, 6. Auflage 2017, repa.
- Möbius, Konrad (Hrsg.), Widerspruchsverfahren bezüglich Sanktionen im SGB II, 1. Auflage 2009, Grin.
- Schneider, Ann-Kristin (Hrsg.), Rechtsanalyse zu dem Vergleich der Eingliederungsvereinbarungen und der Rechtsfolgen im SGB III und SGB II, 1. Auflage 2012, Grin.
Abkürzungsverzeichnis
Abs. - Absatz
BGB - Bürgerliches Gesetzbuch
BSG - Bundessozialgericht
ebda. - ebenda
f./ff. - folgende
GG - Grundgesetz
i. V. m. - in Verbindung mit
LSG - Landessozialgericht
Nr. - Nummer
Rn. - Randnummer
S. - Satz
SG - Sozialgericht
SGB - Sozialgesetzbuch
SGG - Sozialgerichtsgesetz
Urt. - Urteil
vgl. - vergleiche
I. Einleitung
In der vorliegenden Referatsausarbeitung wird der Wegfall des Arbeitslosengeld II bei Nichterfüllung von Pflichten aus der Eingliederungsvereinbarung nach der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23.06.2016 (B 14 AS 30 / 15 R) erörtert. Das Urteil ist das 30. Revisionsverfahren des 14. Senats des BSG des Jahres 2015 im Sachgebiet Grundsicherung für Arbeitsuchende. Die Sozialgerichtsbarkeit ist gemäß Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit (i. V. m.) § 51 Abs. 1 Nr. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) für die Rechtskontrolle der Leistungsträger, die nach dem Sozialgesetzbuch Leistungen zu erbringen haben, zuständig. Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende sind Leistungen, welche im Sozialgesetzbuch unter der Eingangsnorm § 19 Sozialgesetzbuch (SGB) II geregelt werden. Diese Grundsicherungsleistungen werden gemäß § 6 SGB II i. V. m. § 6a SGB II und § 44b SGB II durch die Bundesagentur für Arbeit und durch kommunale Träger (sogenannte gemeinsame Einrichtung) oder durch zugelassene kommunale Träger erbracht. Entsprechend § 6d SGB II führen zugelassene kommunale Träger nach § 6a SGB II sowie gemeinsame Einrichtungen nach § 44b SGB II die Bezeichnung Jobcenter.1
Gemäß § 62 SGB X i. V. m. § 51 Abs. 1 Nr. 4, 4a und § 83 SGG ist ein förmlicher Rechtsbehelf gegen Verwaltungsakte (§ 31, 33 SGB X) ein Widerspruch. Nach § 84 SGG beträgt die Widerspruchsfrist grundsätzlich einen Monat nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides durch die zuständige Behörde.2 Entsprechend § 85 SGG kann die Behörde bei Feststellung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes eine Abhilfeentscheidung treffen. Wenn keine Abhilfeentscheidung erfolgt, wird ein Widerspruchsbescheid (§ 85 Abs. 2 SGG) erlassen. Der Widerspruchsbescheid bildet die Grundlage für die Klage beim Sozialgericht (SG).3 In Deutschland ist das Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit dreistufig aufgebaut. Die erste Instanz (§ 8 SGG) ist das SG, im Urteil das SG Kassel (S 13 AS 133/12). Örtlich ist das SG zuständig, in dem der Kläger seinen Wohnsitz hat oder beschäftigt ist (§ 57 Abs. 1 SGG). Bei der ersten sozialgerichtlichen Instanz handelt es sich um eine Tatsacheninstanz. Gegen ein Urteil eines SG kann grundsätzlich Berufung vor dem zuständigen Landessozialgericht (LSG) erfolgen (§ 144 SGG). Die Berufung ist möglich, wenn der Streitwert mindestens 750 Euro beträgt (§ 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG). Die Berufung muss innerhalb eines Monats nach Zustellung des Sozialgerichtsurteils eingelegt werden (§ 151 SGG).
Die Berufungs- und Beschwerdeinstanz (§ 29 SGG) ist das jeweilige LSG der Bundesländer, im Urteil das Hessische LSG (L 6 AS 134/14). Bei der zweiten sozialgerichtlichen Instanz handelt es sich ebenfalls um eine Tatsacheninstanz. Eine Revision ist zulässig, wenn das LSG diese in seinem Urteil zugelassen hat oder das BSG im Einzelfall einen besonderen Beschuss erlassen hat (§ 160 SGG). Das Hessische LSG hatte die Revision aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG), da noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung bezüglich der Sanktionierung der Verletzung einer durch eine Eingliederungsvereinbarung auferlegten Pflicht vorliegt.4
Die vorliegende Ausarbeitung beschäftigt sich mit dem Urteil des BSG (§ 39 SGG) mit Sitz in Kassel, welches Revisions- sowie Rechtsbeschwerdeinstanz ist. Das BSG ist zuständig für die Überprüfung der Urteile der LSG, gegen die Revision eingelegt wurde. Das BSG führt keine Ermittlung des Sachverhaltes durch, sondern prüft grundsätzliche Rechtsfragen der Vorinstanzen bzw. Verfahrensmängel.
In der Referatsausarbeitung wird zunächst der Gegenstand der Entscheidung erläutert. Anschließend wird die Entscheidung des BSG ausführlich dargelegt. Mit Grundlage dieser Ergebnisse, wird der Sachverhalt sowie die Entscheidung kritisch gewürdigt. Dazu wird jeweils die Rechtsnatur von Eingliederungsvereinbarungen und die Pflichtverletzungen aus dieser analysiert, auf das Urteil bezogen sowie kritisch hinterfragt. Abschließend folg ein Resümee.
II. Gegenstand der Entscheidung
Der 14. Senat des BSG entschied am 23.06.2016 über die Rechtmäßigkeit einer Sanktionsentscheidung wegen Verletzung von Pflichten aus der Eingliederungsvereinbarung, in welcher keine konkrete Vereinbarung zur Übernahme von Kosten der geforderten Eigenbemühungen enthalten waren.5
Der Kläger ist ein 1977 geborener, alleinstehender Arbeitslosengeld II Empfänger.6 Das Arbeitslosengeld II bezog er in den Jahren 2010 und 2011 vom beklagtem Jobcenter.7 Am 17.06.2011 unterzeichnete der Kläger mit dem Beklagten eine bis zum 16.12.2011 gültige Eingliederungsvereinbarung (§ 15 Abs. 1 S. 3 SGB II alte Fassung, in der bis zum 31.07.2016 geltenden Fassung). Es wurde unter Ziffer 2 der Eingliederungsvereinbarung vereinbart, dass der Kläger monatlich zehn Eigenbewerbungen zur Eingliederung in Arbeit zu erbringen habe um sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse zu unternehmen und diese unaufgefordert jeweils am 16. eines jeden Monats, durch Kopien der schriftlichen Bewerbungen und/oder durch Antwortschreiben der Arbeitgeber, vorzulegen habe.8
Der Beklagte bot dem Kläger in Ziffer 1 der Eingliederungsvereinbarung als Unterstützungsleistungen zur Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung „Mobilitätshilfen, weitere Leistungen und Einstiegsgeld“ an, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind und zuvor eine gesonderte Antragstellung erfolgt. Eine ausdrückliche Regelung zur Übernahme von Bewerbungskosten enthielt die Eingliederungsvereinbarung nicht.9 In ihrer Rechtsfolgenbelehrung wurde unter Bezugnahme auf eine zuletzt erfolgte Leistungsminderung in Höhe von 60 % des maßgebenden Regelbedarfs darauf hingewiesen, dass jeder weitere wiederholte Pflichtverstoß (Verstoß gegen die Eingliederungsvereinbarung) des Klägers bis zum 18.11.2011 den vollständigen Wegfall des Arbeitslosengeld II zur Folge haben werde.10
Für den Zeitraum vom 17.09.2011 bis 16.10.2011 kam der Kläger dieser Vereinbarung nicht nach. Mit Schreiben vom 20.10.2011 hörte der Beklagte den Kläger zur beabsichtigten Absenkung der Leistungen nach dem SGB II an. Die Höhe der Absenkung lässt sich aus der Anhörung nicht entnehmen. Der Kläger äußerte sich am 10.11.2011 wie folgt zur beabsichtigten Absenkung: Da er keinen Computer habe, müsse er ins Internet Café, hierfür benötige er erst einmal Geld für eine Fahrkarte.11 Seine Mutter läge im Krankenhaus, weshalb er sich sehr um deren Angelegenheiten kümmern musste. Er habe 10 Bewerbungen abgegeben, diese seien von der Beklagten jedoch nicht angenommen worden, da sie zu spät gewesen seien (Blatt 375 des Verwaltungsaktes).12
Im persönlichen Gespräch wurde er auf den vollständigen Wegfall der Leistungen aufgrund wiederholter Pflichtverletzungen hingewiesen.13 Am 21.10.2011 stellte der Kläger einen Weiterbewilligungsantrag bei der Beklagten.14 Mit Bescheid vom 22.11.2011 senkte der Beklagte die Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.12.2011 bis 29.02.2012 vollständig ab, weil der Kläger wiederholt seinen Pflichten aus der Eingliederungsvereinbarung nicht nachgekommen sei. Auf die Gewährung von ergänzenden Sachleistungen in Form von Gutscheinen in Höhe von monatlich 167,00 Euro wurde hingewiesen (Blatt 378 des Verwaltungsaktes). Mit Bescheid vom 08.12.2011 bewilligte der Beklagte dem Kläger vorläufig Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.12.2011 bis 31.05.2012. Im Zeitraum vom 01.12.2011 bis 29.02.2012 kam es aufgrund der eingetretenen Absenkung der Leistungen zu keiner Auszahlung.15
Mit Schreiben vom 09.12.2011, eingegangen am 15.12.2011, legte der Bevollmächtigte des Klägers Widerspruch gegen den Absenkungsbescheid vom 22.11.2011 ein, der Bescheid sei aufzuheben, da der Kläger die geforderten Bewerbungen vorgelegt habe.16
Mit Bescheid vom 09.01.2012 wurde der Widerspruch des Klägers als unbegründet zurückgewiesen, weil der Kläger seiner Verpflichtung aus der Eingliederungsvereinbarung vom 17.06.2011 nicht nachgekommen sei. Der Kläger habe am 10.11.2011 weniger als zehn Bewerbungen abgeben wollen, die alle nach dem 16.10.2011 bzw. 21.10.2011 datiert gewesen seien.17
Der Kläger erhob am 10.02.2012 Klage beim SG Kassel. Bewerbungsunterlagen seien vorgelegt worden und durch die Erkrankung seiner Mutter sei der Kläger überdies an Bewerbungen gehindert gewesen.18 Das SG Kassel hat den angefochtenen Bescheid vom 22.11.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.01.2012 aufgehoben (S 13 AS 133/12). Das SG Kassel erachtet die Eingliederungsvereinbarung im Hinblick auf den vereinbarten Nachweis von monatlich zehn Eigenbemühungen als nichtig, weil damit vom Kläger kostenträchtige Maßnahmen verlangt seien, welcher keine konkrete Gegenleistung zur Übernahme dieser Kosten gegenübersteht.19 Auch das Hessische LSG hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen (L 6 AS 134/14). Das LSG erklärt die Eingliederungsvereinbarung als öffentlich-rechtlichen Vertrag zwar als nicht nichtig, begründet jedoch, dass die Eingliederungsvereinbarung mit ihren Formularklauseln der Inhaltskontrolle nach § 58 Abs. 2 SGB X i. V. m. § 307 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) unterliegt. Die Regelung von mindestens zehn Bewerbungen pro Monat, der keine Regelung einer Kostenerstattung gegenüberstehe ist unwirksam und widerspricht dem gesetzlichen Leitbild des § 15 SGB II. Die Eingliederungsvereinbarung stellt daher keine Grundlage einer Sanktionsentscheidung nach §§ 31 ff. SGB II dar.20
Der Beklagte beantragt beim BSG, die Urteile des Hessischen LSG vom 13. Mai 2015 und des SG Kassel vom 23. Januar 2014 aufzuheben und die Klage abzuweisen. Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.21
III. Argumentation des Gerichts
Der Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist das Urteil des LSG und das Urteil des SG, durch das der Bescheid des Beklagten vom 22.11.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9.01.2012 aufgehoben worden ist.22 Das Jobcenter beantragt beim BSG die oben genannten Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen. Das BSG prüft als Rechtsrügeinstanz grundsätzliche Rechtsfragen bzw. Verfahrensmängel des LSG Urteils (L 6 AS 134/14), gegen welches Revision eingelegt wurde.
Das BSG erachtet die zulässige Revision des Beklagten als unbegründet und weist die Revision zurück (§ 170 Abs. 1 S. 1 SGG). Das BSG schätzt die Entscheidung des LSG, dass die angefochtene Sanktionsentscheidung rechtswidrig ist, als zutreffen ein. Die angefochtene Sanktionsentscheidung ist rechtswidrig, weil die Eingliederungsvereinbarung insgesamt nichtig ist und der Kläger daher nicht zu Bewerbungsbemühungen verpflichtet war.23
Zunächst prüft das BSG die Klageart. Der Kläger hat eine reine Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 S. 1 SGG eingelegt, da er die Aufhebung eines Verwaltungsakts (§ 31 SGB X), den Bescheid des Beklagten vom 22.11.2011 in Form eines Widerspruchsbescheids vom 09.01.2012, fordert. Die richtige Klageart liegt daher vor. Regelungsgegenstand der streitbefangenen Bescheide ist die Feststellung einer weiteren wiederholten Pflichtverletzung des Klägers und des sich daraus resultierenden vollständigen Entfallens des Arbeitslosengeld II vom 01.12.2011 bis 29.02.2012. Der Arbeitslosengeld II Anspruch sowie dessen Höhe findet in der Prüfung des BSG keine Anwendung.24
Die Rechtsgrundlage für die Pflichtverletzung des Klägers ist § 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 31a Abs. 1 S. 3, § 31b Abs. 1 S. 1 und 3 SGB II. Nach § 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II verletzten erwerbsfähige Leistungsberechtigte (§ 7 SGB II) ihre Pflichten, wenn sie trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen (§ 36 SGB X) oder deren Kenntnis sich weigern, in der Eingliederungsvereinbarung (§ 15 SGB II) festgelegte Pflichten zu erfüllen, insbesondere in ausreichendem Umfang Eigenbemühungen nachzuweisen. Ein Pflichtverstoß zieht Rechtsfolgen nach § 31a SGB II nach sich. Demnach mindert sich das Arbeitslosengeld II in einer ersten Stufe um 30 % des maßgebenden Regelbedarfs (§ 31a Abs. 1 S. 1 SGB II), bei der ersten wiederholten Pflichtverletzung um 60 % (§ 31a Abs. 1 S. 2 SGB II) und bei jeder weiteren wiederholten Pflichtverletzung nach § 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II entfällt das Arbeitslosengeld II vollständig (§ 31a Abs. 1 S. 3 SGB II) für drei Monate beginnend mit dem Monat, der auf das Wirksamwerden des die Pflichtverletzung und die Rechtsfolge feststellenden Verwaltungsakts folgt (§ 31b Abs. 1 S. 1 und 3 SGB II).25
Die angefochtenen Bescheide, nach denen eine Pflichtverletzung nach § 31 Abs. 1 S. 1, § 31a Abs. 1 S. 3, § 31b Abs. 1 S. 1 und 3 SGB II durch das Jobcenter festgestellt wurde, sind rechtswidrig.26 Die formellen Voraussetzungen der angefochtenen Bescheide, insbesondere die vorherige Anhörung (§ 24 Abs. 1 SGB X) des Bescheides vom 22.11.2011 sind erfüllt. Zudem ist der Bescheid vom 22.11.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides, in der wegen einer weiteren wiederholten Pflichtverletzung für die Zeit vom 1.12.2011 bis 29.2.2012 ein vollständiger Wegfall des Arbeitslosengeld II festgestellt wird, inhaltlich hinreichend bestimmt (§ 33 Abs. 1 SGB X).27 Allerdings entscheidet das BSG, dass die angefochtenen Bescheide materiell rechtswidrig sind, weil keine Pflichtverletzung nach § 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II vorliegt.28
Nach Ziffer 2 der Eingliederungsvereinbarung vom 17.6.2011 sollte der Kläger als Eigenbemühungen zur Eingliederung in Arbeit vom 17.6.2011 bis 16.12.2011 mindestens zehn Bewerbungsbemühungen pro Monat um sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse unternehmen und diese bis zum 16. eines jeden Monats, durch Kopien der schriftlichen Bewerbungen und/oder durch Antwortschreiben der Arbeitgeber, unaufgefordert vorlegen. Nach § 15 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ist es vorgesehen, dass in der Eingliederungsvereinbarung die Art der Bemühungen zur Eingliederung in Arbeit, die Häufigkeit, die Mindestzahl und die Form festgelegt wird. Dies wurde unter Ziffer 2 inhaltlich ausreichend bestimmt.29 Eingliederungsvereinbarung sind jedoch öffentlich-rechtliche Verträge in Form des subordinationsrechtlichen Austauschvertrags gemäß §§ 53 Abs. 1 S. 2, 55 SGB X. Demnach sind Eingliederungsvereinbarungen wirksam, wenn sie nicht nichtig sind. Dies ist in der Regel durch eine Inzidentprüfung zu klären. Demnach ist ein Vertrag nichtig, wenn sich die Behörde eine unzulässige Gegenleistung versprechen lässt, das sogenannte Koppelungsverbot (§ 58 Abs. 2 Nr. 4 i. V. m. § 55 Abs. 1 S. 2 SGB X). Die Vereinbarung von Eigenbemühungen, insbesondere von individuell bestimmten und sanktionsbewehrten Bewerbungsbemühungen in der Eingliederungsvereinbarung ist daher nur angemessen, wenn deren Unterstützung durch Leistungen des Jobcenters, insbesondere durch die Übernahme von Bewerbungskosten konkret und verbindlich bestimmt ist.30 Nach diesem Maßstab ist die Eingliederungsvereinbarung vom 17.06.2011 zwar wirksam zustande gekommen, denn die für einen Vertragsschluss erforderlichen übereinstimmenden Willenserklärungen der Vertragsparteien liegen vor (§ 61 S. 2 SGB X i. V. m. §§ 145 ff. BGB); das Schriftformerfordernis ist eingehalten (§ 56 SGB X); es geht um die Erbringung von Ermessensleistungen zur Eingliederung in Arbeit (§ 53 Abs. 2 SGB X, § 3 Abs. 1 S. 1 SGB II, § 16 Abs.1 S. 2 SGB II i. V. m. SGB III, § 16b SGB II). Aufgrund der fehlenden Gegenleistung ist die Eingliederungsvereinbarung jedoch nichtig.31 Die unter Ziffer 1 der Eingliederungsvereinbarung aufgeführten „weitere Leistungen“ stellen keine angemessene Gegenleistung dar, da diese zum einen nicht konkretisiert werden und zum anderen das Gesetz zwischen Förderungsleistungen bei der Anbahnung oder der Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung unterscheidet (§ 16 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II i. V. m. § 44 SGB III). Eine Förderung durch Übernahme von Bewerbungskosten betrifft die Anbahnung einer solchen Beschäftigung, die Eingliederungsvereinbarung indes greift nur Leistungen für die Aufnahme einer solchen Beschäftigung auf.32 Gesetzliche Vorschriften zur Übernahme von Bewerbungskosten (§ 16 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II i. V. m. § 44 SGB III), ändert nichts daran, dass Eingliederungsvereinbarungen ein ausgewogenes Verhältnis der wechselseitigen Verpflichtungen aufzuweisen haben und ohne dieses insgesamt nichtig im Sinne des § 58 Abs. 3 SGB X sind.33
Daher fehlt es vorliegend an einer Pflichtverletzung (Obliegenheit) des Klägers zu Bewerbungsbemühungen aufgrund der Eingliederungsvereinbarung und so die Grundlage für die angefochtene Sanktionsentscheidung.
Faktisch wurde die Eingliederungsvereinbarung in der Form eines einseitig regelnden Verwaltungsaktes abgeschlossen, da sie nach ihrem Inhalt nicht erkennen lässt, dass sie dem mit § 15 Abs. 1 SGB II verfolgten gesetzgeberischen Regelungskonzept entspricht.34 Zudem ist nicht ersichtlich, dass die Eingliederungsvereinbarung auf den Leistungsgrundsätzen des § 3 Abs. 1 S. 2 SGB II beruht. Demnach ist die Eignung, individuelle Lebenssituation, voraussichtliche Dauer der Hilfebedürftigkeit und Dauerhaftigkeit der Eingliederung zu berücksichtigen. Weiterhin fehlen individuelle, konkrete und verbindliche Leistungsangebote zur Eingliederung in Arbeit im Sinne des § 15 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II. Ebenfalls ist nicht zu entnehmen, ob und inwieweit eine Eignungsanalyse unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse des Klägers durchgeführt und die bisher gewonnenen Erfahrungen bei der Eingliederungsvereinbarung im Sinne des § 15 Abs. 1 S. 5 SGB II berücksichtigt wurden.35
IV. Kritische Würdigung
1. Rechtsnatur von Eingliederungsvereinbarungen
Die gesetzgeberische Intention der Eingliederungsvereinbarung ist die Umsetzung des Grundsatzes des Forderns (§ 2 i. V. m. § 12a SGB II). Zudem soll der erwerbsfähige Leistungsberechtigte durch den Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung in die Lage versetzt werden die festgelegten Verpflichtungen zu befolgen und damit alle Möglichkeiten zur Beendigung der Hilfebedürftigkeit (§ 9 SGB II) auszuschöpfen.36 Gemäß der derzeit gültigen Rechtsprechung stellen Eingliederungsvereinbarungen einen öffentlich-rechtlichen Vertrag nach §§ 53 ff. SGB X in Form des subordinationsrechtlichen Austauschvertrags nach §55 SGB X dar. Ein zentrales Element der Eingliederungsvereinbarung ist die Regelung der gegenseitigen Pflichten, für den Grundsicherungsträger sind dies die Leistungspflichten nach § 16 SGB II und für die erwerbsfähigen Leistungsberechtigten die insbesondere die Eigenbemühungen. Nach § 53 Abs. 2 SGB X kann ein öffentlich-rechtlicher Vertrag über Sozialleistungen nur geschlossen werden, soweit die Erbringung der Leistung im Ermessen des Leistungsträgers steht.37 Dem Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung geht ein umfassende und systematische Potenzialanalyse voraus.38
[...]
1 vgl. Lenze, in: Münder, Sozialgesetzbuch II, § 19, Rn. 7, 8.
2 vgl. Herbst/ Luhn, Formulierungshilfen für die sozialrechtliche Praxis, S. 42, Rn. 36, 37.
3 vgl. ebda., S. 42, Rn. 40.
4 vgl. Körtek, Anmerkung zum BSG, Urt. vom 23.06.2016 – B 14 AS 30 /15 R, zitiert nach juris online, S. 1.
5 vgl. Körtek, Anmerkung zum BSG, Urt. vom 23.06.2016 – B 14 AS 30 /15 R, zitiert nach juris online, S. 1.
6 vgl. BSG, Urt. vom 23.06.2016 – B 14 AS 30 /15 R, zitiert nach juris online, Rn. 2.
7 vgl. SG Kassel, Urt. vom 23.01.2014 - S 13 AS 133/12, zitiert nach juris online, Rn. 2.
8 vgl. BSG, Urt. vom 23.06.2016 – B 14 AS 30 /15 R, zitiert nach juris online, Rn. 2.
9 vgl. ebda.
10 vgl. ebda.
11 vgl. BSG, Urt. vom 23.06.2016 – B 14 AS 30 /15 R, zitiert nach juris online, Rn. 3.
12 vgl. SG Kassel, Urt. vom 23.01.2014 - S 13 AS 133/12, zitiert nach juris online, Rn. 6.
13 vgl. SG Kassel, Urt. vom 23.01.2014 - S 13 AS 133/12, zitiert nach juris online, Rn. 6.
14 vgl. ebda, Rn. 5.
15 vgl. BSG, Urt. vom 23.06.2016 – B 14 AS 30 /15 R, zitiert nach juris online, Rn. 3.
16 vgl. SG Kassel, Urt. vom 23.01.2014 - S 13 AS 133/12, zitiert nach juris online, Rn. 9.
17 vgl. ebda, Rn. 10.
18 vgl. ebda, Rn. 11, 12.
19 vgl. BSG, Urt. vom 23.06.2016 – B 14 AS 30 /15 R, zitiert nach juris online, Rn. 4.
20 vgl. ebda, Rn. 4.
21 vgl. BSG, Urt. vom 23.06.2016 – B 14 AS 30 /15 R, zitiert nach juris online, Rn. 6, 7.
22 vgl. ebda, Rn. 9.
23 vgl. ebda, Rn. 8.
24 vgl. ebda, Rn. 10.
25 vgl. ebda, Rn. 11.
26 vgl. BSG, Urt. vom 23.06.2016 – B 14 AS 30 /15 R, zitiert nach juris online, Rn. 12.
27 vgl. ebda, Rn. 13.
28 vgl. ebda, Rn. 14.
29 vgl. ebda, Rn. 15.
30 vgl. Knickhelm/ Hahn, in: Eicher/ Luik, SGB II, § 31, Rn. 18.
31 vgl. BSG, Urt. vom 23.06.2016 – B 14 AS 30 /15 R, zitiert nach juris online, Rn. 17.
32 vgl. BSG, Urt. vom 23.06.2016 – B 14 AS 30 /15 R, zitiert nach juris online, Rn. 21.
33 vgl. ebda, Rn. 22.
34 vgl. ebda, Rn. 18.
35 vgl. ebda, Rn. 19.
36 vgl. Kador in: Eicher/ Luik, SGB II, § 15, Rn. 1.
37 vgl. ebda, § 15, Rn. 8.
38 vgl. Arbeitskammer des Saarlandes, Arbeitslosengeld II Sozialgeld, 2017, S. 125.
- Quote paper
- Sarah Maria Held (Author), 2019, Wegfall des Arbeitslosengeld II, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/931515
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