Ziel dieser Masterarbeit ist es Arbeit ist es zu untersuchen, wie praxisnah der Zusatzkode bei der Behandlung substanzbedingter Störungen bei Kindern und Jugendlichen von den Behandelnden eingeordnet wird. Durch die Auswertung der Daten sollen nötige Weiterentwicklungen sowie fehlende fachliche Standards der Mindestmerkmale erkannt werden. Auch wenn von Mindestmerkmalen gesprochen wird, können Versorgungslücken durch die Empfehlungen der Behandelnden erkannt und geschlossen werden.
Um die Frage nach der praktischen Umsetzung beantworten zu können, ist es notwendig folgende Forschungsfragen zu untersuchen:
- Es gilt zu klären, inwieweit ein pauschalierendes System die Qualität der Behandlung beeinflusst
- Es soll untersucht werden, wie die praktische Umsetzung der geforderten Mindeststandards von den Behandelnden eingeschätzt wird
- Weiterhin stellt sich die Frage, ob die Mindeststandards nach derzeitiger wissenschaftlicher Erkenntnis aktuell sind
Anhand der Ergebnisse soll aufgezeigt werden, welche Weiterentwicklungen für eine professionelle Behandlung notwendig sind.
Inhaltsverzeichnis
Abstract
1 Einleitung
1.1 Hinführung zum Thema
1.2 Theoretische Grundlagen und Forschungsstand
1.2.1 Substanzbezogene Störungen bei Kindern und Jugendlichen
1.2.1.1 Besonderheiten jugendlicher Suchtproblematik
1.2.1.2 Epidemiologie
1.2.1.3 Ätiologie
1.2.1.4 Diagnostik
1.2.2 Behandlung von substanzbezogenen Störungen bei Kindern und Jugendlichen im deutschen Gesundheitssystem
1.2.2.1 Allgemeine Therapieprinzipien
1.2.2.2 Rechtliche Grundlagen
1.2.2.3 Bestehende Behandlungsangebote
1.2.3 Zwischenfazit
2 Ziele und Forschungsfrage
3 Methode
3.1 Forschungsdesign
3.2 Datengenerierung: Experteninterview nach Lamnek (2016)
3.2.1 Auswahl der Experten
3.2.2 Planung und Durchführung der Interviews
3.3 Datentransfer: Transkription nach Kuckartz (2018)
3.4 Datenanalyse nach Mayring (2015)
3.5 Datenvalidität: Gütekriterien nach Mayring (2015)
4 Ergebnisse
4.1 Analyse der transkribierten Interviews: Kategorienbildung nach Mayring (2015)
4.2 Kategorienbeschreibung
5 Diskussion
5.1 Herausforderungen und Umsetzung aktueller Vorgaben
5.2 Weiterentwicklung: Behandlungssetting
5.3 Weiterentwicklung: Methodisches Vorgehen
5.4 Strukturierte Übersicht von Veränderungspotenzialen
6 Fazit und Ausblick
7 Literaturverzeichnis
8 Anhang
I) Checklisten zur Dokumentation der Strukturvoraussetzungen der OPS- Behandlungskodes 9-65, 9-67 und 9-694
II) Vorschlagsverfahren im DIMDI
III) Behandlungskonzept
IV) Datenschutzerklärung
Danksagung
Abstract
In der vorliegenden Masterthesis mit dem Titel „Entwicklung eines Behandlungskon- zeptes zur spezifischen Behandlung im besonderen Setting bei substanzbedingten Störungen bei Kindern und Jugendlichen nach den Mindestmerkmalen des OPS-Kode 9-694 – Eine Evaluation durch Experten“ werden der aktuelle Forschungsstand zum Thema, und im Anschluss durch narrative Interviews mit vier praktisch tätigen Behan- delnden eine Evaluation der bereits in der Praxis umgesetzten Mindeststandards er- hoben. Dies geschieht anhand eines Entwurfs einer möglichen Konzeption zur spezi- fischen Behandlung im besonderen Setting für Kinder und Jugendliche mit substanz- bedingten Störungen. Die Forschungsfragen, wie ein pauschalierendes System die Qualität der Behandlung beeinflusst und wie die praktische Umsetzung der Mindest- standards eingeschätzt wird, leiten über zur Experteneinschätzung, ob die derzeit gül- tigen Mindeststandards noch aktuell sind. Eine Gegenüberstellung in einer Tabelle der aktuellen mit den neu formulierten Kodes bietet hierzu einen klaren Überblick und zeigt mögliche Weiterentwicklungen in der Ausgestaltung der Mindeststandards auf.
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Aktuelles Rauchen bei 11- bis 17-Jährigen nach Geschlecht und sozioökonomischem Status
Abb. 2: Anteil der 11- bis 17-Jährigen mit riskantem Alkoholkonsum (AUDIT-C)
Abb. 3: Anteil der Jugendlichen, die jemals eine andere illegale Droge außer Cannabis konsumiert haben
Abb. 4: Anteil der Jugendlichen, die jemals Tranquilizer/Sedativa eingenommen haben
Abb. 5: Anteil der Jugendlichen, die in den letzten 12 Monaten Cannabis konsumiert haben
Abb. 6: Therapeutische Behandlungsansätze; MAS-Achsen I-VI des multiaxialen Klassifikationsschemas
Abb. 7: PEPP-Checkliste für den OPS-Kode Version 2020 9-65
Abb. 8: PEPP-Checkliste für den OPS-Kode Version 2020 9-67
Abb. 9: PEPP-Checkliste für den OPS-Kode Version 2020 9-694
Abb. 10: Vorschlagsverfahren für ICD-10-GM und OPS
Tabellenverzeichnis
Tab. 1: Rauchen und Alkoholkonsum bei 11- bis 17-Jährigen nach Geschlecht und Alter
Tab. 2: Prävalenzen des Konsums illegaler Drogen bei Jugendlichen und Erwachsenen
Tab. 3: Vollstationäre Patienten und Patientinnen der Krankenhäuser 2016 nach Hauptdiagnose und Altersgruppen
Tab. 4: Psychoanalytische Krankheitsmodelle und Theorien der Sucht
Tab. 5: Erster Durchgang der Zusammenfassung
Tab. 6: Zweiter Durchgang der Zusammenfassung
Tab. 7: Mögliche Weiterentwicklungen der Behandlungskodes
Abkürzungsverzeichnis
AACAP – American Academy of Child an Adolescent Psychiatry AG – Arbeitsgruppe
AWMF – Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesell- schaften
BMG – Bundesgesundheitsministerium für Gesundheit
DG-Sucht – Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie DIMDI – Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information feM – freiheitsentziehende Maßnahmen
GM – German Modification
IneK – Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus
ICD – Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten
IQTIG – Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen
KHG – Gesetz zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser und zur Regelung der Krankenhauspflegesätze (Krankenhausfinanzierungsgesetz)
MDK – Medizinischer Dienst der Krankenversicherung OPS – Operationen und Prozedurenschlüssel
PEPP – Pauschalierendes Entgeltsystem Psychiatrie/Psychosomatik SEV – Sozialer Eingliederungsversuch
SKT – Sozialkompetenztraining
SPFH – Sozialpädagogische Familienhilfe UN-KRK – UN-Kinderrechtskonvention
1. Einleitung
1.1 Hinführung zum Thema
Zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit substanzbedingten Störungen stellt sich die Frage, wie sich ein möglichst professionelles Behandlungssetting aufbauen lässt. Fachkräfte verschiedener Professionen stehen vor der Herausforderung die the- oretischen Hintergründe und den aktuellen Forschungsstand dieses Störungsbildes sowie die besonderen Herausforderungen dieser speziellen Klientel in die Behandlung einfließen zu lassen. Des Weiteren steht man zu Beginn der Erstellung eines Konzep- tes für diese Zielgruppe vor der Herausforderung, dieses an die Vorgaben des deut- schen Gesundheitssystems anzupassen. Strukturelle und fachliche Mindeststandards zur Erstellung eines spezialisierten Konzeptes zur Behandlung von substanzbedingten Störungen bei Kindern und Jugendlichen werden im Zusatzkode 9-694 des Operatio- nen- und Prozedurenschlüssel (OPS) „Spezifische Behandlung im besonderen Setting bei substanzbedingten Störungen bei Kindern und Jugendlichen“ genannt. Herausge- geben wird der OPS jährlich neu überarbeitet vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI).
Da der Kode 9-694 ein Zusatzkode ist, kann er nicht alleine stehen, sondern nur in Verbindung mit der psychiatrisch-psychosomatischen Regelbehandlung bei psychi- schen und psychosomatischen Störungen und Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen (9-65) und der psychiatrisch psychosomatischen Intensivbehandlung bei psychischen und psychosomatischen Störungen und Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen (9-67) angegeben werden (DIMDI: 2019, Vorabversion 2020)
Soll ein Konzept zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen erstellt und ange- wandt werden, so gilt es, die Standards dieser Komplexbehandlungskodes zu beach- ten. Diese spezifischen OPS-Kodes existieren seit 2010 im Pauschalierenden Entgelt- system Psychiatrie/Psychosomatik (PEPP) auf Grundlage des §17d KHG (Kranken- hausfinanzierungsgesetz) vom 30.11.2009. Eine inhaltliche Festlegung besteht darin, dass es sich um ein durchgängiges, leistungsorientiertes und pauschalierendes Ver- gütungssystem auf der Grundlage von tagesbezogenen Entgelten mit einem praktikablen Differenzierungsgrad für den unterschiedlichen Behandlungsaufwand bei bestimmten medizinisch unterscheidbaren Patientengruppen handeln soll (§17d Abs. 1 KHG).
Das PEPP ist ein Klassifikationssystem und setzt den Ressourcenverbrauch eines Krankenhauses in Bezug zu Anzahl und Art behandelter Krankenhausfälle (InEK 2019: 2). Es gilt zu untersuchen, wie sich ein fachlich strukturiertes Vorgehen bei einer so unsteten Zielgruppe in der Praxis umsetzen lässt. Des Weiteren gilt es bei der Behand- lung von substanzbedingten Störungen auslösende, aufrechterhaltende Bedingungen sowie verschiedene komorbide Erkrankungen zu berücksichtigen. Es stellt sich daher die Frage, ob ein solch leistungsorientiertes, formelles System in der Praxis zur Pro- fessionalität der Behandlung beiträgt.
Durch die Definition von Mindestmerkmalen entsteht ein Behandlungsgerüst, in dem Behandelnde die Schwerpunkte der Behandlung je nach Bedarf einschätzen und um- setzen können. So ist es auch möglich, einzelne Inhalte dem Stand der Forschung anzupassen und geeignete Methoden in die Behandlung zu integrieren. Die Mindest- merkmale des OPS-Kode 9-694 sind daher auch als solche zu betrachten, da sich die Behandlungsschwerpunkte bei Kindern und Jugendlichen mit substanzbedingten Stö- rungen als sehr unterschiedlich erweisen können. Eine Spezialisierung, die alle wich- tigen und empfohlenen Behandlungselemente enthält, wäre schon aufgrund der un- terschiedlichen Ausprägung des Störungsbildes sowie der unterschiedlichen komorbi- den Erkrankungen nicht umsetzbar. Für die Praktiker würde dies eine große Ein- schränkung in ihrer Behandlungsfreiheit bedeuten und flexibles, auf die Klienten zuge- schnittenes, Handeln einschränken. Deshalb ist es notwendig eine Balance zwischen praktischem Nutzen und Realisierbarkeit sowie überprüfbaren Mindeststandards zu finden.
Eine Begleitforschung zu den Auswirkungen des Vergütungssystems ist im §17d KHG geregelt. Dabei soll das Augenmerk auf die „ Qualität der Versorgung “ (§17d Abs. 8 KHG) sowie auf „ die Auswirkungen auf die anderen Versorgungsbereiche sowie die Art und der Umfang von Leistungsverlagerungen “ (ebd.) gerichtet werden. Dies soll eine Veränderung von Versorgungsstrukturen bewirken.
Dahingehend sollen die Mindestmerkmale des OPS-Kode 9-694 in dieser Arbeit hin- terfragt und evaluiert werden. Für die Notwendigkeit solcher Untersuchungen können folgende Gründe genannt werden:
- Die Überprüfung der Mindestmerkmale durch ein pauschalierendes System, wie das PEPP-System, verlangt hohen administrativen Aufwand, was die Qua- lität der Behandlung beeinflussen kann.
- Klientel und Störungsbild unterscheiden sich sehr stark, auch durch kulturelle und soziale Unterschiede bedingt. Die Möglichkeiten zur praktischen Umset- zung der fachlichen Mindestmerkmale sollte von Behandelnden stets hinterfragt und auf Aktualität überprüft werden.
- Durch neue Ansatzpunkte in der Therapie substanzbedingter Störungen bei Kindern und Jugendlichen ist darauf zu achten, diese neuen Entwicklungen in die Praxis zu transferieren, wenn deren Wirksamkeit evaluiert wurde. So kön- nen modernisierte Standards geschaffen werden und eine Verbesserung der Qualität der Behandlung erreicht werden.
Möchte ein Krankenhaus einen OPS-Kode kodieren, so müssen beim entsprechenden Kode alle behandlungs- und strukturbezogenen Voraussetzungen erfüllt sein. Der OPS-Katalog gibt diese Voraussetzungen vor. Ob ein Krankenhaus die geforderten Voraussetzungen erfüllt, obliegt dem Krankenhaus (BWKG, BKG 2019: 2).
Um die Krankenhäuser in der Dokumentation der vorgegebenen Strukturvorausset- zungen der Behandlungskodes zu unterstützen, wurde eine Arbeitshilfe der Landes- krankenhausgesellschaften von Baden-Württemberg, Bayern und Niedersachsen ent- wickelt, welche folgende Vorgehensweise empfiehlt (ebd.: 2 f.):
- Selbstkritische Prüfung ob die gesamten Strukturvoraussetzungen der betref- fenden OPS-Kodes in der Einrichtung erfüllt wurden.
- Das Krankenhaus sollte vor der Budgetverhandlung aktiv die Erfüllung der ge- forderten strukturellen Voraussetzungen thematisieren. Dies wird durch unter- zeichnete Checklisten belegt, die das Krankenhaus freiwillig einmal im Jahr auf Anfrage der Krankenkassen veröffentlicht.
- Zur Überprüfung der Korrektheit der entsprechenden Kodierung und Dokumen- tation ist der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) einzuschalten, wenn medizinische Fragestellungen und Inhalte der Behandlung geklärt werden sollen.
Die Checklisten zur Dokumentation der Strukturvoraussetzungen der OPS-Behand- lungskodes 9-65, 9-67 und 9-694 sind im Anhang aufgeführt (siehe Anhang I).
Die Entstehung und Umsetzung eines Konzeptes zur Behandlung von substanzbe- dingten Störungen bei Kindern und Jugendlichen verlangt somit die Auseinanderset- zung mit den Mindestmerkmalen, die vom OPS vorgegeben werden sowie die Unter- suchung und Weiterentwicklung dieses momentanen Standes der Forschung. Nur so können neue Entwicklungen überholte Ansichten und Methoden ablösen und eine leit- liniengerechte/systematische Behandlung sichergestellt werden, was sich positiv auf den Krankheitsverlauf auswirken kann und somit Vorteile für Patienten, Behandler und Kostenträger mit sich bringt. Diese Arbeit beschäftigt sich im Folgenden mit dem Stand der Forschung hinsichtlich der Mindeststandards des OPS-Kode 9-694. Um zu unter- suchen, wie sich diese in der Praxis umsetzen lassen, soll ein auf den Mindeststan- dards aufgebautes Behandlungskonzept von Expertinnen und Experten evaluiert wer- den.
1.2 Theoretische Grundlagen und Forschungsstand
Im Folgenden soll ein Überblick über die Besonderheiten bei der Entstehung, Ausprä- gung und Behandlung von substanzbezogenen Störungen im Kindes- und Jugendalter im deutschen Gesundheitssystem gegeben werden.
Die Behandlung von Kindern und Jugendlichen verlangt durch die großen Unter- schiede in deren psychischer und physischer Entwicklung bereits spezifisches und in- dividuelles Vorgehen der praktisch Tätigen, das durch das Vorhandensein einer Suchterkrankung noch mehr an Bedeutung gewinnt. Somit besteht die Herausforde- rung, die Therapie individuell an die Bedarfe der Klientel anzupassen. Die bestehen- den und sich entwickelnden Konzepte sind daher einerseits gefordert, die Suchtprob- lematik mit den kinder- und jugendspezifischen Besonderheiten in die Behandlung zu integrieren, andererseits müssen die Behandlungs- und Therapieprinzipien sowie strukturelle Vorgaben stets auf Aktualität hin überprüft und ggf. verändert werden.
Durch die Auseinandersetzung mit diesen Inhalten vermittelt dieses Kapitel wichtige Kenntnisse über die Besonderheiten der Zielgruppe bez. der Behandlung sowie die notwendigen Ansatz- und Behandlungspunkte, die bei der Entwicklung, bzw. Entste- hung spezifischer Konzepte zu berücksichtigen sind.
1.2.1 Substanzbezogene Störungen bei Kindern und Jugendlichen
Dieser Teil der Thesis soll die Grundlagen hinsichtlich der Behandlung von substanz- bezogenen Störungen bei Kindern und Jugendlichen aufzeigen und näher beschrei- ben.
Um den besonderen Bedürfnissen dieser Zielgruppe gerecht zu werden, ist die Unter- scheidung zur Therapie von Erwachsenen stets zu beachten. Im ersten Teil des Kapi- tels sollen daher die Besonderheiten jugendlicher Suchtproblematik dargestellt wer- den. Es ist Aufgabe des Versorgungssystems die Behandlungsangebote hinsichtlich Entwicklungsaufgaben, Lebenssituation und individuellen Bedarfen anzupassen.
Im Anschluss soll die Epidemiologie näher betrachtet werden, um einen Überblick über die aktuelle Entwicklung des Konsumverhaltens von Kindern und Jugendlichen zu schaffen. So werden konkrete Bedarfe der Klientel erkannt und die Notwendigkeit pas- sender Angebote wird verdeutlicht. Bereits 2009 beschreibt Thomasius (2009: 13), dass Suchtstörungen die zahlenmäßig größten Risiken für eine altersgerechte Ent- wicklung sowie Gesundheit von Kindern und Jugendlichen darstellen.
Die Ätiologie betrachtet die Entstehung der Suchterkrankung im bio-psycho-sozialen Kontext.
„Die Entstehung einer Abhängigkeitserkrankung ist ein sehr komplexes Zusammen- spiel zahlreicher Faktoren. Im Wesentlichen sind die drei Aspekte „Droge“, „Person“ und „Umwelt“ daran beteiligt“ (Wendt, 2017: 18).
Der Einbezug mehrerer Professionen und Herangehensweisen ist unerlässlich, um die Komplexität jugendlicher Suchtproblematik detailliert erfassen und professionell be- handeln zu können.
Abschließend wird die Diagnostik anhand geltender Standards bez. Kindern und Ju- gendlichen näher erläutert. Einerseits ist die Einordnung von Suchterkrankungen durch systematisierte Klassifikationssysteme möglich, andererseits muss sich das Ver- sorgungssystem mit medizinisch-psychologischen und sozialen Gegebenheiten von Kindern und Jugendlichen mit substanzbedingten Störungen auseinandersetzen, um eine möglichst vollständige Diagnostik sicherzustellen, die dem Hilfebedarf gerecht wird. So kann eine professionelle Behandlungs- und Therapieplanung ermöglicht wer- den.
1.2.1.1 Besonderheiten jugendlicher Suchtproblematik
Wird versucht eine auf den aktuellen Forschungsstand ausgerichtete Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Substanzstörungen sicherzustellen, sollten die zielgrup- penspezifischen Besonderheiten unbedingt berücksichtigt werden. Eine Übertragung von Behandlungskonzepten für Erwachsene ist dabei aufgrund folgender Ausführun- gen nicht zielführend:
Die S3-Leitlinie zu alkoholbezogenen Störungen (AWMF, 2016: 245) beschreibt die Notwendigkeit von geschlechts- und altersspezifischen Erkenntnissen beispielsweise bei Dosierungsempfehlungen beim Einsatz von Psychopharmaka. Dosierungsempfeh- lungen für Kinder und Jugendliche weichen gegenüber Erwachsenen durch einen sich entwickelnden Metabolismus sowie das geringere Körpergewicht ab. Dies liegt zu- nächst in der körperlichen Entwicklung begründet, da die hirnorganische Entwicklung erst im jungen Erwachsenenalter abgeschlossen ist. Durch die Umbauprozesse der Physis wirken sich die psychotropen Substanzen im jungen Alter anders aus, was ei- ner speziellen Betrachtung durch das Hilfesystem hinsichtlich der Behandlungspla- nung bedarf. Andererseits sind entwicklungspsychologische Eigenheiten dieser Ziel- gruppe gesondert mit einzubeziehen. Will man ein Behandlungskonzept speziell für Kinder und Jugendliche erstellen, gilt es diese Besonderheiten für den Einzelfall zu erheben, da sich auch bei gleichem Alter große Unterschiede beim Voranschreiten in bestimmten physischen und psychischen Entwicklungsaufgaben erkennen lassen. Be- lastende Lebensphasen, die durch Entwicklungsaufgaben begründet sind, werden nach der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) näher erläutert (2001: 16 f.):
Im Kindes- und Jugendalter sind Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Den Aus- gangspunkt, um diese meistern zu können, bildet die Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse nach körperlicher und seelischer Zuwendung, Spiel, Empathie und Verständnis.
- Das Kindesalter betreffende Entwicklungsaufgaben:
- Psychische und physische Entwicklung sowie deren Verarbeitung
- Entwicklung motorischer Fähigkeiten
- Entwicklung von Kognition und Sprache
- Entwicklung von sozialem Verhalten
- Entwicklung selbstbestimmter Identität
- Entwicklung einer Geschlechtstypisierung
Werden diese Entwicklungsschritte positiv bewältigt, bilden sie einen wichtigen Pfeiler für die Bewältigung der anstehenden Anforderungen im Jugendalter. Hierbei sind mit den Entwicklungsaufgaben psychische, emotionale, soziale und biologische Verände- rungen verbunden.
- Das Jugendalter betreffende Entwicklungsaufgaben:
- Verarbeitung psychischer und physischer Veränderungen
- Auseinandersetzung mit eigener Geschlechterrolle
- Selbstbestimmte Identitätsbildung
- Schaffen eines Freundeskreises
- Bewältigung von Leistungsanforderungen schulischer Art sowie eventu- ellen Leistungseinbrüchen während der Pubertät
- Entwicklung des eigenen Wertesystems
- Entwicklung eigener Lebens- und Berufsperspektive
- Auseinandersetzung mit Normen, Werten und gesellschaftlichen Institu- tionen
- Auseinandersetzungen mit Angeboten der Konsumgesellschaft, ein- schließlich Medien, sowie Angeboten gesundheitsgefährdender Sucht- stoffe und Angeboten des kommerziellen Freizeitmarktes Das Ausprobieren von eigenen Fähigkeiten und das Erfahren eigener Grenzen kenn- zeichnen diesen Lebensabschnitt.
Die Betrachtung von Entwicklungsaufgaben gibt wichtige Anhaltspunkte bez. der Resi- lienz, bzw. Anfälligkeiten für Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Die angewand- ten Behandlungskonzepte sollten dies berücksichtigen und eine Stütze für noch nicht bewältigte Aufgaben darstellen. So bietet das Setting Unterstützung, diese Aufgaben im geschützten Rahmen bewältigen zu können. Dabei gilt es nach Barth (2011: 272) in der Behandlung gewisse Strukturen und Regeln für therapeutisches und pädagogi- sches Arbeiten zu schaffen. Da Pubertät und Sucht häufig mit Strukturverlust und Auf- lehnung gegen vorgegebene Gefüge korrelieren, treten im Behandlungsalltag häufig Probleme auf. Grundsätzlich sollen Strukturen in bestimmter Form veränderbar sein, sodass diese bearbeitbar sind und als positiv erlebt und bewertet werden können. Dies sollte in der Ausgestaltung der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit sub- stanzbedingten Störungen beachtet werden.
Ein spezielles Behandlungsangebot steht somit vor der Herausforderung all diese Ent- wicklungsaufgaben für den Einzelfall im Blick zu haben. Die durch bewältigte Entwick- lungsaufgaben erworbene Sicherheit ist notwendig, um den steigenden Leistungs- druck der Gesellschaft gegenüberstehen zu können. Dieser ist oftmals durch Versa- gensängste, steigende Ansprüche in Schule und Beruf oder übermäßige Ansprüche an die eigenen Erfolge geprägt. Die erworbene Resilienz durch die bewältigten Ent- wicklungsaufgaben hilft somit bei der Bewältigung der folgenden Aufgaben. Ein Aus- bleiben dieser Reifungsprozesse begünstigt andererseits die Wahrscheinlichkeit der Einnahme psychotroper Substanzen als Mittel gegen Stress, Ängste oder zur Leis- tungssteigerung, um Anforderungen besser schaffen zu können. Dieses dysfunktio- nale Verhalten kann den Grundstein für eine lebenslange Suchtkarriere legen.
Thomasius (2008: 42 f.) beschreibt, dass Behandlungskonzepte, die für Erwachsene angewendet werden, nicht auf Kinder und/oder Jugendliche übertragen werden soll- ten. Deren Behandlung verlangt die alters- und störungsspezifische Orientierung mit den zugehörigen entwicklungspsychopathologischen und -psychologischen Beson- derheiten dieser Patientengruppe.
Spezielle Behandlungsangebote sind nach Thomasius (2008: 43 f.) aufgrund folgen- der Gründe zu befürworten:
- Der Behandlungswunsch wird im Jugendalter häufiger durch Angehörige vor- getragen und oft nicht aus Motivation der Betroffenen
- Familiäre Konflikte werden bei Kindern und Jugendlichen häufig zu Behand- lungsbeginn deutlich, während das Bedürfnis elterliche Unterstützung zu erhal- ten, ungebrochen hoch ist
- Die Anforderungen pädagogischer Förderung und schulischer sowie beruflicher Qualifikationsmöglichkeiten sind im Vergleich zu erwachsenen Patienten un- gleich größer
Die Behandlungsplanung erfolgt nach Thomasius (2008: 44) aus einer entwicklungs- orientierten bio-psycho-sozialen Perspektive. Dabei ist es unerlässlich verschiedene Behandlungsansätze mit einzubeziehen. Ebenfalls gilt es bei Kindern und Jugendli- chen zu beachten, dass der Perspektivenklärung und Weichenstellung sowie der Klä- rung der psychosozialen Situation große Bedeutung zukommt. Der sozioökonomische Status scheint ergänzend dazu oftmals einen Einfluss auf den Substanzkonsum dieser Zielgruppe zu haben.
Dies belegen Kuntz et al. (2018: 52) am Beispiel von rauchenden Kindern und Jugendlichen zwischen elf und siebzehn Jahren. Der Anteil der Raucher liegt bei 7,2%. Zwischen Jungen und Mädchen bestehen insgesamt nur geringfügige Unterschiede. Allerdings lässt sich erkennen, dass Befragte mit einem niederigeren sozialökonomischen Status durchgängig häufiger rauchen, als Befragte mit einem höheren sozialökonomischen Status.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Aktuelles Rauchen bei 11- bis 17-Jährigen nach Geschlecht und sozioökonomischem Status (Kuntz et al., 2018: 52)
Nach Kuntz et al. (2018: 45 f.) ist dem Gesundheitsverhalten von Minderjährigen hohe Bedeutung zuzuschreiben, da dieses oftmals bis in das Erwachsenenalter fortbesteht. Der Konsum psychoaktiver Substanzen wird vor allem im Jugendalter häufig erprobt und je nach Erfahrung verworfen oder aufrechterhalten. Es besteht weiterer For- schungsbedarf, ob und wie bestehende suchttherapeutische Interventionen entwick- lungs- und altersspezifisch angepasst werden müssen. Dies gilt es an den messbaren Kriterien für die Behandlungsplanung auszurichten. Weiterhin sind besondere Risi- kopopulationen bei Kindern und Jugendlichen noch einmal gesondert zu betrachten. Dies beinhaltet den frühen Verlust von Eltern(-teilen), frühe Traumatisierungen oder mehrgenerationalen Substanzmissbrauch (AWMF, 2016: 244). Weiterhin gilt es zu be- achten, dass einerseits junge Erwachsene und Jugendliche vulnerabel und benachtei- ligt sind, „die durch psychiatrische Erkrankungen wie ADHS nicht in der Lage sind, ihre Impulsivität zu steuern, die beispielsweise durch Traumafolgestörungen beeinträchtigt sind und durch Rauschmittelkonsum eine zeitnahe Entlastung erleben, sowie anderer- seits diejenigen, deren psychische Struktur, Abwehrverhalten und Konfliktthemen nur durch einen Suchtmittelkonsum zumindest vorübergehend stabil und bewältigbar er- scheinen“ (Bilke-Hentsch & Leménager, 2019: 36).
Daher sind spezielle Behandlungsangebote für diese Zielgruppe zu schaffen und wei- terzuentwickeln, um dem breiten Indikationsspektrum auf den Einzelfall abgebildet ge- recht zu werden.
1.2.1.2 Epidemiologie
Die Untersuchung der Verbreitung legaler und illegaler Drogen unter Kindern und Ju- gendlichen bietet wichtige Ansatzpunkte, um aktuelle und zukünftige Trends beobach- ten zu können. Dies liefert wichtige Erkenntnisse für die Ausrichtung der Drogenpolitik, bestehende Versorgungslücken sowie zukünftige Behandlungsbedarfe und somit auch Inhalte der Behandlungskonzepte.
Bei den legalen Drogen sind die Konsummuster von Alkohol und Rauchen gut untersucht. Zeiher et al. (2018: 29) haben Zahlen zu den Konsummustern bei 11-17- Jährigen veröffentlicht. Während der Anteil der Tabak-Konsumierenden über die Jahre zurückgeht und derzeit 5,6% regelmäßig bzw. 3,7% täglich rauchen, ist bei 12,1% einen Risikokonsum bei Alkohol sowie bei 7% der Befragten regelmäßiges Rauschtrinken zu beobachten. Betrachtet man nur die Werte der 14-17-Jährigen, besteht bei 20,5% der Jugendlichen ein alkoholbezogener Risikokonsum sowie regelmäßiges Rauschtrinken bei 11,7%. Vergleicht man diese Werte mit den Angaben der Bevölkerungszahlen (Statista: 2018) würden in der Altersgruppe von 15-17- Jährigen ca. 473.000 Jugendliche einen Risikokonsum und ca. 270.000 Jugendliche regelmäßiges Rauschtrinken aufzeigen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Kuntz et al., 2018: 53)
Nach Untersuchungen der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen (KiGGS) Welle 2 (Kuntz et al., 2018: 53) gab ca. die Hälfte der Minderjährigen an, wenigstens einmal Alkohol getrunken zu haben. Der Unterschied im Trinkverhalten zwischen den Geschlechtern ist gering, jedoch steigert sich die Lebenszeitprävalenz erwartungsgemäß, da hier auch jeder Probierkonsum mit aufgenommen wird. Nur bei den Jungen ist ein Unterschied der Prävalenz bezüglich des sozioökonomischen Sta- tus erkennbar. Bei Jungen mit niedrigem sozioökonomischem Status ist die Lebens- zeitprävalenz geringer, als bei denen mit höherem sozialökonomischen Status. Forschungsergebnisse nach Zeiher (2018: 30) schlüsseln den Alkoholkonsum Jugendlicher bei zunehmendem Alter weiter auf, wonach ca. 40% der Jungen und Mädchen einen riskanten Alkoholkonsum aufzeigen. Dies zeigt den imensen Bedarf an frühzeitigen präventorischen und therapeutischen Interventionen auf.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Anteil der 11- bis 17-Jährigen mit riskantem Alkoholkonsum (AUDIT-C) (Zeiher, 2018: 30)
Der Alkoholkonsum von Kindern und Jungendlichen ist somit in der Behandlung zumindest abzuklären, auch wenn der Konsum anderer, evtl. illegaler Substanzen im Vordergund steht.
Nach Zahlen der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD) (2019: 2) liegt die Lebenszeitprävalenz von Jugendlichen zwischen dem zwölften und siebzehnten Lebensjahr illegale Drogen zu konsumieren im Jahr 2015 bei 10,2%, was 479.000 Personen entspricht. Eine Übersicht dazu bietet das Bundesgesundheitsministerium für Gesundheit (BMG) (2019: 81). Dabei sind im Vergleich zum Vorjahr nur beim Konsum von Cannabis Unterschiede erkennbar. Der Jemalskonsum und die 12-Monats-Prävalenz beim Cannabiskonsum stiegen um jeweils um ca. 1% auf 10% bzw. 8%. Das BMG weist darauf hin, dass Angaben von 0,0 Prozent nicht notwendiger Weise bedeuten, dass es keine Konsumierenden gibt. Die niedrige Anzahl der tatsächlich Konsumierenden fällt lediglich gesamtstatistisch nicht ins Gewicht. In der nachfolgenden Tabelle betrifft dies die Angaben zu Crystal Meth Konsumierenden zwischen 12-17 Jahren.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(BMG, 2019: 81)
Die Europäische Schülerstudie zu Alkohol und anderen Drogen (ESPAD-Studie) zeigt beim Konsum illegaler Drogen insgesamt höhere Prävalenzen bei Jugendlichen. Die Lebenszeitprävalenz des Konsums illegaler Drogen ohne Cannabis geht im Vergleich zurück, beträgt aber weiterhin insgesamt 12%.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3: Anteil der Jugendlichen, die jemals eine andere illegale Droge außer Cannabis konsumiert haben (IFT, 2016: 3)
Bei der Lebenszeitprävalenz von Tranquilizern/Sedativa lässt sich in den letzten 12 Jahren ein Anstieg von 8% bei den Jungen, bzw. 6% bei den Mädchen erkennen (IFT, 2016: 3 f.).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 4: Anteil der Jugendlichen, die jemals Tranquilizer/Sedativa eingenommen haben (IFT, 2016: 4)
Cannabis ist weiterhin die am häufigsten konsumierte illegale Droge der Befragten, wobei ein wellenförmiger, leicht zunehmender Trend zu beobachten ist (DBDD: 2019: 2). Die ESPAD-Studie, die den Cannabiskonsum von Jugendlichen über 12 Jahre lang untersucht hat, bildet einen zunehmenden Trend seit 2007 ab (IFT, 2016: 3).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 5: Anteil der Jugendlichen, die in den letzten 12 Monaten Cannabis konsumiert haben (IFT, 2016: 3)
Nach Angaben des statistischen Bundesamts (DESTATIS) (2017) zeigen sich fol- gende Zahlen bei den Krankenhausbehandlungen aufgrund psychischer und Verhal- tensstörungen durch den Konsum psychotroper Substanzen in den Altersgruppen un- ter 15 Jahren sowie bis 25 Jahre.
Tab. 3: Vollstationäre Patienten und Patientinnen der Krankenhäuser 2016 nach Hauptdiagnose und Altersgruppen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(DESTATIS: 2017)
Eine Nachfrage beim Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege ergab, dass der Kode 9-694 des Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) im Jahr 2016 von 5 Krankenhäusern in insgesamt 63 Fällen angegeben wurde. Insgesamt besteht im Vergleich zu den relevant höheren Zahlen der Krankenhausbehandlungen sowie denen der konsumierenden Kinder und Jugendlichen massiver Nachholbedarf bei der Behandlung auf Grundlage gut evaluierter Konzepte und Vorgaben, wie beispielsweise denen des OPS-Kode 9-694.
Die aktuellen Statistiken zeigen die Wirksamkeit der Drogenpolitik und Veränderungen der Trends im Drogenkonsum wie beispielsweise den Rückgang beim Rauchen oder die zunehmende Zahl der Cannbis konsumierenden Personen. Für die zukünftige Entwicklung von Behandlungsstrategien bei substanzbedingten Störungen sind die Gründe der Trends zu diskutieren und dementsprechend im Versorgungssystem darauf zu reagieren. Beispielsweise gilt es die möglichen Folgen des Cannabiskonsum hinsichtlich der Hirnentwicklung mit der Klientel zu bearbeiten, um der Verharmlosung des Konsums entgegensteuern zu können. Des Weiteren ist das soziale Umfeld Betroffener und der sozioökonomische Status mit in weitere Untersuchungen einzubeziehen. So können bereits erste Hinweise auf bestimmte Konsummuster, wichtige Ansatzpunkte für die Behandlungsplanung und weitere Perspektivenklärung erkannt werden. Es gilt, die bestehenden Zahlen zum Konsum psychotroper Substanzen von Kindern und Jugendlichen weiter zu erheben, um eine professionelle Versorgung ausbauen und gewährleisten zu können.
1.2.1.3 Ätiologie
Versucht man die auslösenden Bedingungen einer Suchterkrankung im Kindes- und Jugendalter zu erfassen, können verschiedene Modelle auf Grundlage der Psycholo- gie, Biologie und Sozialwissenschaften herangezogen werden. Die Auseinanderset- zung und Transferierung dieser Erklärungsansätze in die Praxis sollen ein möglichst vollständiges Bild der Entstehung des Krankheitsbildes ermöglichen. Die Einbezie- hung der verschiedenen Ansätze stellt somit eine wichtige Grundlage für die Entste- hung eines individuellen ätiologischen Fallverständnisses und der dazugehörigen the- rapeutischen Ausrichtung dar.
Die Entstehung einer Abhängigkeit aufgrund des Zusammenspiels psychischer, biolo- gischer und sozialer Faktoren sowie suchtmittelspezifischer Bedingungen wird im Fol- genden näher erläutert. Die Betrachtung auf verschiedenen Ebenen ist notwendig, um die Behandlung der Störung, vor dem Hintergrund unterschiedlicher Behandlungsan- sätze im deutschen Gesundheitssystem, den individuellen Bedürfnissen der zu Behan- delnden anpassen zu können.
Das umfassende Paradigma von Suchterkrankungen soll zunächst in der folgenden Übersicht klinisch psychologischer Ansätze nach Hautzinger & Thies (2009: 6) ver- deutlicht werden:
- Kindheitserfahrungen sind maßgeblich für die Entwicklung der Persönlichkeit mitverantwortlich. Die Beziehung zwischen Kindern und Eltern können nachhal- tige Beeinträchtigung späterer Beziehungen bedingen.
- Verhalten lässt sich nicht nur durch bewusste, sondern ebenso durch unbe- wusste Prozesse beeinflussen.
- Abwehrmechanismen sind beim Umgang von Stress und Angst wesentlich be- teiligt.
- Die Gründe für die Verhaltensweisen von Menschen können nicht immer offen- sichtlich erklärt werden, sondern bedürfen eines Blickes hinter den Vorhang.
Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Sichtweisen scheint somit unerlässlich, um Ursachen und Symptome gleichermaßen behandeln zu können. Bei Kindern und Jugendlichen, die sich auch bei gleichem Alter in unterschiedlichen Entwicklungssta- dien befinden, gewinnt diese Herangehensweise an Bedeutung.
Verhaltenstherapeutische Ansätze:
Die Lerntheorien finden bis heute Zugang zur Erklärung von substanzbedingten Stö- rungen und deren Behandlung. Im Sinne der operanten Konditionierung werden durch den Substanzkonsum das Erleben der Intensität positiver Situationen oder Zustände gesteigert, aversiver Situationen und Zustände vermindert (Tretter & Müller, 2001: 53). Somit wird davon ausgegangen, dass das dysfunktionale Verhalten durch die positiven oder den Wegfall negativer Konsequenzen ausgelöst und aufrechterhalten wird.
Zunächst wird der Konsum durch das Bewirken positiver Zustände und angenehmer Gefühle ausgelöst und trägt durch den anhaltenden Wunsch nach dieser positiven Wirkung zur Aufrechterhaltung des Konsums psychotroper Substanzen bei. Die Reduktion von aversiven Zuständen, wie die Verminderung von Entzugserscheinungen durch weiteren Konsum, verstärkt die positive Wirkungserwartung der Substanz und hält das dysfunktionale Verhalten als Lösungsstrategie aufrecht. Bei verschiedenen Erkrankungen oder Störungsbildern werden psychotrope Substanzen konsumiert, um unangenehme Symptome zu mildern. Der Konsum stellt dabei aber nur eine vorrübergehende Lösungsstrategie zur Bekämpfung der Symptomatik dar. Die Symptomatik kann sich aufgrund der verschiedenen Wirkungsweisen von Substanzen im Verlauf verschlechtern, was sich negativ auf den Allgemeinzustand der Betroffenen auswirkt. Bei anhaltendem Konsum und steigender Dosis kann sich daraus eine Abhängigkeit entwickeln. Kinder und Jugendliche mit einer Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung fühlen sich beispielsweise durch den Konsum von Cannabis motorisch ruhiger und weniger angespannt. Druck, der von außen ausgeübt wird, wird als weniger belastend erlebt. Führt dieser forschreitende Konsum zu einer Abhängigkeit, entwickeln die Betroffenen eine komorbide Suchtstörung und lernen den Konsum psychotroper Substanzen als erfolgreiche Lösungsstrategie kennen. Beginnt dieser Verlauf bereits im Kindes- und Jugendalter können sich manifeste Suchtstörungen entwickeln. Aufgrund der zu bewältigenden Entwicklungsaufgaben sowie den fehlenden Bewältigungsstrategien stellt dies ein besonderes Risiko für diese Zielgruppe dar.
Die Betrachtung des Modelllernens ist für die Entwicklung einer Suchtstörung von gro- ßer Bedeutung, da sich Drogenkonsum dadurch initiiert und sich zum Suchtverhalten entwickeln kann. Kinder ahmen das Verhalten ihrer Eltern nach und kommen so oft- mals früh in Kontakt mit psychoaktiven Substanzen (Tretter & Müller, 2001: 53), was sich ebenso in positiver Wirkungserwartung gegenüber dem Suchtmittel äußern kann. Das Lernen findet somit durch Nachahmung und Beobachtung statt.
Das Prinzip der klassischen Konditionierung erklärt den Zusammenhang zwischen Konsum psychoaktiver Substanzen und den situativen Faktoren, in denen der Konsum stattfindet. Ehemals neutrale Reize lösen durch mehrmalige Koppelung mit einem un- konditionierten Reiz eine Reaktion aus. Der neutrale Reiz wird somit zum konditionier- ten Reiz (Tretter & Müller, 2001: 53). Es wird ersichtlich, dass nicht nur die konsumierte Substanz, sondern auch Situationen und Umweltreize den Wunsch nach Konsum aus- lösen können. So können für Abhängige Geräusche, Gerüche und andere Faktoren zu Hochrisikosituationen werden, was in der späteren Behandlung, vor allem bei der Rückfallprävention, zu beachten ist.
Psychodynamisches Paradigma:
Betrachtet man die Entstehung der Sucht im psychoanalytischen Sinne, sind verschie- dene Theorieansätze mit einzubeziehen. Es geht neben sozialpsychologischen, sozi- ologischen und epidemiologischen Erklärungsansätzen um den Zusammenhang zwi- schen der Sucht und den Auswirkungen einer pathogenen Außenwelt. Diese treffen auf bereits bestehende psychische Strukturen und begünstigen die Entwicklung einer seelischen Störung (Bilitza, 2009: 18).
Die Auseinandersetzung mit den Krankheitsmodellen und den psychodynamisch ori- entierten Theorien führt zu einem besseren Verständnis und somit zu passender Aus- richtung der Behandlung, um nicht nur den Konsum als Symptom sondern die dahin- terliegende Erkrankung und Sinnhaftigkeit dysfunktionalen Verhaltens verstehen und behandeln zu können. Das Wesen einer Sucht wird nicht den chemischen Prozessen, sondern gefühlsmäßigen und inneren Strukturen eines Menschen zugewiesen. Eine Störung der Persönlichkeitsentwicklung ist somit ein Risikofaktor, eine Suchtstörung zu entwickeln, und der Konsum an sich ein Heilungsversuch, um mit den einhergehen- den und unangenehmen Gefühlen umgehen zu können (Knoll, 2014: 24 ff.). Nach Knoll (2014: 55 f.) entsteht eine Suchterkrankung durch eine vorgeschädigte Persön- lichkeitsstruktur mit fehlenden Bewältigungsmöglichkeiten, unangenehmen Gefühlen funktional begegnen zu können. Verschiedene Funktionen sind im Sinne des psycho- dynamischen Modells nicht entwickelt, gestört oder unzureichend gereift:
- Aushalten unangenehmer Erfahrungen ohne tiefergreifend seelisch beein- trächtigt zu sein (Lust vs. Frustration) im Sinne der Triebpsychologie der Sucht
- Erleben des Selbst als hilflos und schwach als Folge eines nicht einheitli- chen Bildes positiver und negativer Anteile von früheren Bezugspersonen und sich selbst im Sinne der Ich-Psychologie der Sucht
- Bewusstseinsveränderung, um schmerzhafte Erfahrungen abwehren zu können im Sinne der Selbst- und Objekttheorie der Sucht
Die folgende Tabelle zeigt die zentralen Paradigmen, die für die Entwicklung einer Suchttheorie im psychoanalytischen Sinne zu beachten sind:
Tab. 4: Psychoanalytische Krankheitsmodelle und Theorien der Sucht
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Bilitza, 2009: 23)
Durch die verschiedenen Ansätze lassen sich wiederum wichtige diagnostische Ein- schätzungen sowie Behandlungsansätze für die Therapie der Sucht finden, was den Stellenwert psychodynamischer Herangehensweise begründet. Bilke-Hentsch & Leménager (2019: 36) beschreiben dazu, dass der zweifache Blick im psychodynamischen und entwicklungspsychiatrischen Sinn die Verbindung zwischen individuellem Gewordensein und genutztem Suchtmittel herstellt. Dies erklärt zumin- dest den Anfang der Konsumgeschichte sowie oft auch das Rückfallverhalten der Be- troffenen.
Nach Thomasius & Stolle (2018: 44) ist die Anwendung psychotherapeutischer Ansätze verschiedener Therapieschulen in die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit substanzbezogenen Störungen mit einzubeziehen, um das Störungsbild aus einer entwicklungsorientieren Perspektive behandeln zu können. Demnach soll auch ein verhaltenstherapeutisch ausgerichtetes Behandlungssetting die Punkte des psychodynamischen Paradigmas in die Behandlung mit einbeziehen. Die Auseinandersetzung und Einbeziehung psychodynamischer Erklärungsmodelle dienen dem differenzierten Verständnis einer Suchtstörung, was auf therapeutischer Handlungsebene zu berücksichtigen ist.
Biologische Faktoren:
Einen weiteren Ansatz zur Erklärung von Suchterkrankungen bietet die Neurobiologie. Die Forschung in diesem Bereich trägt zu einem veränderten Blick auf Suchtstörungen bei, nämlich diese als Krankheit und nicht als persönliche Schwäche zu sehen.
Abhängigkeitserkrankungen sind auf biologischen Grundlagen beruhende Erkrankun- gen, die teilweise genetisch festgelegt sind. Das Gehirn wird in seiner Funktionsweise so entscheidend beeinflusst, dass Abhängige für ihre gesundheitliche Problematik nicht zur Verantwortung gezogen werden können (Heinz et al., 2012: 9). Die Neurobi- ologie zeigt neuronale Mechanismen auf, die die Entstehung und Aufrechterhaltung von süchtigem Verhalten bedingen. Durch dieses Wissen können neue Therapiefor- men entwickelt werden (Rommelspacher, 2009: 97). Auf psychoedukativer Basis sollen die neurobiologischen Grundlagen der Sucht mit den Betroffenen besprochen werden, um diese für das Krankheitsbild zu sensibilisieren und ein Verständnis für therapeutisches Vorgehen zu schaffen. Der Sinn therapeutischer Hausaufgaben wird für Betroffene beispielsweise klarer, wenn ein Verständnis von neuronaler Bahnung geschaffen wird. Dabei ist das Einüben von alternativen Verhaltensweisen außerhalb des therapeutischen Settings ein wichtiger Bestandteil des „Erlernens“ der Abstinenz.
Durch die Einnahme psychotroper Substanzen werden verschiedene Neurotransmitter im Gehirn freigesetzt, die das Belohnungssystem stimulieren und so für angenehme Gefühle sorgen. Dieser Belohnungseffekt ist dann wiederum Antreiber erneuter Stoff- zufuhr. Durch die psychotrope Substanz wird das empfindliche Gleichgewicht der Aus- schüttung der Neurotransmitter beeinflusst. So werden je nach Wirkungsweise antrei- bende oder bremsende Botenstoffe ausgeschüttet, worauf die Synapsen mit vermin- derter Bereitstellung von Transmittern reagieren (Schneider, 2013: 13 f.). Lässt die Wirkung der Substanz nach, führt dies zu einem Ungleichgewicht verschiedener Bo- tenstoffe, was sich in Entzugserscheinungen wiederspiegeln kann. Erleichterung kann dann durch erneuten Konsum verschafft werden, was eine zunehmende Anpassung des Gehirns und den weiteren Konsum bzw. das starke Verlangen nach einer Sub- stanz bedingt. Weiterhin besteht nach Bilke-Hentsch & Leménager (2019: 42) aus neu- robiologischer Sicht ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Abhängigkeitserkran- kung in der Adoleszenz, da unterschiedliche Reifungsprozesse im Gehirn noch nicht abgeschlossen sind.
Die Erkenntnisse der neurobiologischen Forschung tragen zur Erklärung der Entste- hung von Suchterkrankungen bei, wodurch diese besser als neurobiologische Gehirn- krankheit verstanden werden können. Weiterhin können im Verlauf wichtige therapeu- tische Anhaltspunkte gewonnen und die Betroffenen für ihr Krankheitsbild sensibilisiert werden.
Die genetische Disposition ist als Faktor der Entstehung von Suchterkrankungen nicht zu vernachlässigen. Alkoholkranke Elternteile haben dementsprechend häufiger alko- holkranke Kinder, was vor allem bei Söhnen von Alkoholikern beobachtbar ist. In Adop- tionsstudien konnte nachgewiesen werden, dass adoptierte Kinder öfter eine Alkohol- abhängigkeit entwickelten, wenn einer der leiblichen Elternteile selbst an einer Suchtstörung litt (Rommelspacher, 1999: 28 f.). Somit stellt die genetische Veranla- gung einen Risikofaktor für die Entstehung einer Suchtstörung dar. Im klinischen Kon- text gilt es diese Informationen beispielsweise durch Arbeit mit Genogrammen zu er- heben und anschließend psychoedukativ zu vermitteln, um ein Verständnis für die Ent- stehung der Suchtstörung schaffen zu können und Betroffene hinsichtlich ihrer Erkran- kung zu sensibilisieren. Die veränderte Wirkungserwartung sowie die Änderungen in verschiedenen neuronalen Netzen, die bei den Betroffenen so veranlagt sind, spielen eine wichtige Rolle im weiteren Behandlungsverlauf. Der Konsum kann somit mehr als Symptom einer Erkrankung und weniger als Willensschwäche oder fehlende Impuls- kontrolle gewertet werden.
Soziales Umfeld:
Das soziale Umfeld hat vor allem im Kindes- und Jugendalter große Bedeutung im Zusammenhang mit der Entstehung von Suchtstörungen. So lassen sich häufig frühe Beziehungs- und Bindungsstörungen bei Jugendlichen mit substanzbedingten Störun- gen finden. Weitere Ursachen sind Traumatisierungen durch verschiedene Gewalter- fahrungen sowie mangelnde Geborgenheit und Akzeptanz im Elternhaus. Diese Er- fahrungen wirken sich dementsprechend auf die Grundüberzeugungen und Kognitio- nen dieser Klientel aus. Beispielsweise lassen sich oft eine geringe Toleranz gegen- über Frust, wenig moralische oder normative Ideale oder Interessen bei Betroffenen finden (Möller, 2003: 23 f.). Die geringe Frustrationstoleranz kann so schnell zu starker Anspannung führen, die durch psychotrope Substanzen vermindert werden kann. Vor allem die fehlenden Interessen können bei Kindern und Jugendlichen als Risikofaktor für die Entstehung von Suchterkrankungen erkannt werden. Die Interaktion in sozial eingebundenen Peergroups wie Vereinen findet nicht statt, wodurch Betroffene oftmals mit deutlich risikofreudigeren Umgebungen konfrontiert sind. Dies könnte dazu führen, dass Beschaffung und Konsum psychotroper Substanzen die Freizeitgestaltung be- stimmen.
Frühe Bindungserfahrungen sind bei der Entwicklung von Suchtstörungen ebenso zu berücksichtigen wie die Erziehungsstile. Bei betroffenen Kindern und Jugendlichen fin- den sich häufig Erziehungsstile, die wenig oder keinen Entwicklungsfreiraum bieten. Als weitere Risikofaktoren im sozialen Gefüge sind Loyalitätskonflikte, oft wechselnde Bezugspersonen und anhaltende elterliche Konflikte zu nennen (Möller, 2003: 24). Durch fehlende emotionale oder soziale Unterstützung können wichtige Resilienzfak- toren zur Abwendung psychischer Erkrankungen nicht aufgebaut werden, was einen weiteren Risikofaktor für Kinder und Jugendliche darstellt. Darüber hinaus sind die un- günstigen psychosozialen Lebensbedingungen für Kinder aus suchtbelasteten Fami- lien eindeutig belegt und führen zu zusätzlicher Belastung der Betroffenen (BMG, 2017: 7 f.). Neben den familiären Risikofaktoren ist die Peergroup bei der Entstehung von Suchtstörungen im Jugendalter wesentlich beteiligt. Dahinter steckt oftmals der Wunsch nach Anerkennung oder Zugehörigkeit sowie Gruppenzwänge hinsichtlich des Konsums psychotroper Substanzen (Möller, 2003: 24).
Das soziale Umfeld trägt somit wesentlich zur Entstehung von Suchterkrankungen im Kindes- und Jugendalter bei und sollte in Diagnostik und Behandlung betroffener Min- derjähriger beachtet werden, um den Rückfall in alte Verhaltensweisen vermeiden zu können.
Suchtmittel:
Um zu verstehen wie eine Substanzstörung im Kindes- und Jugendalter entsteht, spielt die Wirkungsweise der psychotropen Substanz eine große Rolle. Je nach den indivi- duellen Merkmalen von Person, Situation und Substanz treten unterschiedliche Effekte auf. Tretter (2017: 15) beschreibt dazu drei unterschiedliche Wirkungsarten:
- Überwiegend aktivierend (Stimulanzien)
- Überwiegend sedierend (Hypnotika oder Sedativa)
- Überwiegend psychotogen bzw. psychodysleptisch (Halluzinogene)
Die Wirkung des Suchtmittels ist demnach mit den individuellen Bedürfnissen und Stö- rungsbildern der Betroffenen in Verbindung zu bringen. Durch erkannte Zusammen- hänge können wichtige Ansatzpunkte für die Behandlung gewonnen werden.
Neben der Wirkungsweise sind Faktoren wie die Verfügbarkeit, Konsumart und der Preis wichtige Anhaltspunkte für die Entwicklung einer Abhängigkeitserkrankung. Durch den Umgang mit Gleichaltrigen werden diese Faktoren mitbestimmt (Möller, 2003: 25). Im ätiologischen Verständnis ist dabei die Beziehung zum Suchtmittel zu klären. In einer Suchtanamnese kann erkannt werden, welche Suchtmittel zu welchem Zweck eingenommen wurden. So lässt sich auch die Entwicklung in der Art der An- wendung sowie Angaben zu Dauer, Dosis und konsumfreien Zeiten ermitteln. Diese Informationen sind für das Verstehen der individuellen Suchtentwicklung unerlässlich, um die Funktionalität des Suchtmittels zu erkennen und dies im therapeutischen Set- ting thematisieren zu können. Somit können passende alternative Strategien zum Er- reichen der Behandlungsziele eingesetzt werden.
Um ein Verständnis für die individuelle Entwicklung einer Suchtstörung im Kindes- und Jugendalter schaffen zu können, sind verschiedene Ansätze und Professionen mit in die Behandlung einzubeziehen. Die Beschäftigung mit den bio-psycho-sozialen und suchtmittelspezifischen Gegebenheiten und Auswirkungen des Konsums sind von der Entstehung einer Abhängigkeit bis zur Behandlung wichtige Ansatzpunkte für die wei- tere Behandlungsplanung und Perspektivenklärung.
1.2.1.4 Diagnostik
Die Diagnostik bei substanzbedingten Störungen bei Kindern Jugendlichen stellt eine große Herausforderung für Fachkräfte dar. Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten (ICD) gruppiert die Störungen in verschiedene Zustandsbilder und Di- agnosekriterien ein und bildet somit das Grundgerüst weiterer Behandlungsplanung. Um eine ganzheitliche und professionelle Behandlung zu gewährleisten, ist jedoch eine Diagnostik basierend auf einem bio-psycho-sozialen Entstehungsmodell sub- stanzbedingter Störungen unumgänglich. Nur so können auslösende und aufrechter- haltende Bedingungen sowie Begleiterkrankungen verstanden, erfasst und behandelt werden. Dabei ist der aktuelle Entwicklungsstand der Kinder und Jugendlichen mit in die Diagnostik einzubeziehen. Ein ausführliches und multiprofessionelles Verständnis von Diagnostik bietet wichtige Anhaltspunkte zur späteren Weiterbehandlung sowie für die Planung von Anschlussmaßnahmen. So können bereits erste Anhaltspunkte zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Störung erkannt und therapeutisches Vorgehen geplant werden. Die Daten zur Erstellung einer professionellen Diagnostik werden in Zusammenarbeit mit den Patientinnen und Patienten sowie deren Umfeld erfasst, überprüft und hinterfragt. Fachkräfte arbeiten hier bereits auf der Interventionsebene mit den Erkrankten, was die Wichtigkeit einer ausführlichen und multiprofessionellen diagnostischen Arbeit noch einmal betonen soll.
Im Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) sind die Diagnosekriterien durch die derzeit gültige ICD-10 von Bedeutung. Es gilt zu beachten, dass in der ICD nicht zwi- schen Jugendlichen und Erwachsenen unterschieden wird. Die Kriterien werden für jede Altersklasse verwendet.
Die substanzbedingten Diagnosekriterien teilen sich in der ICD-10 wie folgt auf (Dilling et al., 2014: 107):
- F10.xx psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol
- F11.xx psychische und Verhaltensstörungen durch Opioide
- F12.xx psychische und Verhaltensstörungen durch Cannabinoide
- F13.xx psychische und Verhaltensstörungen durch Sedativa oder Hypno- tika
- F14.xx psychische und Verhaltensstörungen durch Kokain
- F15.xx psychische und Verhaltensstörungen durch andere Stimulanzien, einschließlich Koffein
- F16.xx psychische und Verhaltensstörungen durch Halluzinogene
- F17.xx psychische und Verhaltensstörungen durch Tabak
- F18.xx psychische und Verhaltensstörungen durch flüchtige Lösungsmit- tel
- F19.xx psychische und Verhaltensstörungen durch multiplen Substanz- gebrauch und Konsum anderer psychotroper Substanzen
Dabei sollte die momentane Störung nach der Hauptsubstanz diagnostiziert werden. Meist ist dies die Substanz, die die gegenwärtige Symptomatik auslöst. Bestehen Zweifel an der Diagnose wird die Stoffgruppe oder der Stoff kodiert, der am häufigsten konsumiert wird, besonders bei täglichem oder ständigem Gebrauch. Zur Identifikation der konsumierten psychotropen Substanzen sollten unterschiedliche diagnostische Er- hebungen durchgeführt werden, um Klarheit über den Konsum zu erlangen. Dabei sind Eigenangaben der zu Behandelnden, objektive Analysen wie Blut- und Urinproben, Nachweise wie der Besitz verschiedener Substanzen, fremdanamnestische Angaben sowie die klinischen Symptome zu beachten (ebd.: 110 f.).
Die substanzbedingten Diagnosekriterien lassen sich nach Dilling et al. (2014: 108 f.) in folgende Zustandsbilder unterteilen:
- F1x.0 Akute Intoxikation (akuter Rausch)
- F1x.1 schädlicher Gebrauch
- F1x.2 Abhängigkeitssyndrom
- F1x.3 Entzugssyndrom
- F1x.4 Entzugssyndrom mit Delir
- F1x.5 Psychotische Störung
- F1x.6 Amnestisches Syndrom
- F1x.7 Restzustand und verzögert auftretende psychotische Störung
- F1x.8 Sonstige psychische und Verhaltensstörungen
- F1x.9 Nicht näher bezeichnete psychische und Verhaltensstörungen
Im Sinne einer dosierten Informationsvermittlung können einzelne Diagnosekriterien gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten überprüft und besprochen werden. Auf therapeutischer Ebene soll sich durch diese psychoedukative Arbeit die Compliance der Behandlung erhöhen und die zu Behandelnden für das Krankheitsbild sensibilisiert werden. Hierbei soll zunächst ein Verständnis für schädlichen Gebrauch und Abhän- gigkeit geschaffen werden.
Als schädlicher Gebrauch wird in der ICD ein „ Konsummuster psychotroper Substan- zen, das zu einer Gesundheitsschädigung führt “ (Dilling et al., 2014: 113) definiert. Dazu werden psychische sowie körperliche Störungen wie beispielsweise die depres- sive Episode aufgrund massiven Alkoholkonsums oder eine Hepatitis, die durch Selbstinjektion entsteht, genannt.
Die diagnostischen Leitlinien zum schädlichen Gebrauch umfassen folgende Merk- male (ebd.: 114):
- Der Konsument ist tatsächlich in seiner physischen oder psychischen Gesund- heit geschädigt
- Schädliches Konsumverhalten führt zu negativen sozialen Konsequenzen und wird häufig durch andere kritisiert
Dabei wird die akute Intoxikation (F1x.0) sowie ein „Kater“ nicht als Beweis für einen tatsächlichen Gesundheitsschaden gesehen. Des Weiteren ist die Diagnose zum schädlichen Gebrauch bei psychotischer Störung (F1x.5) sowie einem Abhängigkeits- syndrom (F1x.2) nicht zu stellen (ebd.).
Eine Abhängigkeit wird nach den Kriterien der ICD-10 diagnostiziert, wenn mindestens drei der folgenden sechs Kriterien in einem Zeitraum von einem Jahr wiederholt oder über mindestens 30 Tage zusammen bestanden haben (Dilling et al., 2016: 88 f.):
1. Es besteht der starke Wunsch eine psychotrope Substanz einzunehmen
2. Kontrollverlust hinsichtlich des Beginns, Menge und Beendigung des Konsums
3. Körperliches Entzugssyndrom, wenn der Konsum beendet oder reduziert wird
4. Toleranzentwicklung im Sinne einer Dosissteigerung zur Erreichung gewünsch- ter Wirkung, die bei Konsumenten ohne nachweisliche Toleranzentwicklung zu schweren Beeinträchtigungen oder Versterben führen würde
5. Vorrang des Substanzkonsums vor anderen Aktivitäten und Verpflichtungen so- wie eine Intensivierung des Zeitaufwands, um eine Substanz zu konsumieren oder zu beschaffen, bzw. sich nach dem Konsum wieder zu erholen
6. Anhaltender Substanzgebrauch trotz unbestreitbarer schädlicher Folgen (de- pressive Verstimmungen, drogenbedingte Verschlechterung von kognitiven Funktionen, Leberschädigung).
Um im klinischen Alltag zu überprüfen, ob ein Konsum von bestimmten Substanzen stattgefunden hat, kommen verschiedene Laboruntersuchungen zum Einsatz. Das al- leinige Vorhandensein einer Droge kann im Regelfall durch ein Screening im Urin be- stimmt werden. Es gibt eine Vielzahl von Fälschungsmöglichkeiten beim Urinscree- ning, beispielsweise Verdünnung durch Beimischung von Wasser oder Vertauschen der Proben, weshalb die Abgabe einer Urinprobe entweder unter Sicht erfolgen sollte oder mittels eines individuellen Markers ausgewertet wird. Absolute Sicherheit kann auch durch Temperaturmessung des Urins oder die Messung von weiteren Stoffen nicht erreicht werden. Um gängige Drogen wie Heroin oder Cannabis nachzuweisen, stehen hierfür verschiedene Schnelltests zur Verfügung. Dabei sollte die Möglichkeit von fehlerhaften Ergebnissen, beispielsweise durch Kreuzreaktionen mit ähnlichen Substanzen oder eingenommenen Medikamenten, beachtet werden. Fälschungssi- chere Nachweise sind durch andere Untersuchungsmaterialien wie Blut oder Haare möglich (Scherbaum, 2017: 199 ff.).
Zu einer umfassenden Diagnostik gehört weiterhin die Erstellung einer Suchtanam- nese. Beginn des Konsums psychotroper Substanzen sowie anhaltende und aktuelles Konsummuster sollten als Teil dieser Anamnese erfragt werden. Im diagnostischen Kontext kann hier bereits Bezug auf die Kriterien einer Abhängigkeit genommen wer- den. Weiterhin sind Konsequenzen sowie Vorbehandlungen und Abstinenzphasen be- züglich des Konsums zu erfassen (Tretter, 2017: 57 ff.). Durch das Besprechen des Konsumverlaufs sowie der bekannten Konsummuster befindet sich die Diagnostik hier bereits auf der Interventionsebene, was für die Wichtigkeit dieser Phase der Behand- lung spricht. Durch die Besprechung aktueller Konsummuster können im Sinne einer Verhaltensanalyse bereits auslösende und aufrechterhaltende Muster erkannt werden, auf die im weiteren therapeutischen Prozess zurückgegriffen werden kann. So können den Erkrankten schon während der Diagnostik die Zusammenhänge, die zu den indi- viduellen Konsummustern führen, bewusst gemacht werden.
Durch die Anamnese und das Gespräch über die eigene Abhängigkeit können bereits Rückschlüsse auf Therapie- und Veränderungsmotivation der Patientinnen und Pati- enten getroffen werden. Diese lässt sich im Phasenmodell nach Prochaska und Di Clemente (1985) einstufen, welches Tretter (2000: 69 f.) in folgende Phasen einteilt:
1. Stadium der Vorbesinnung (Vorstadium)
2. Stadium der Besinnung
3. Stadium der Entscheidung und Planung der Veränderung
4. Stadium der Handlung (konkrete Handlungsgestaltung in Richtung Konsumre- duktion oder Abstinenz)
5. Stadium der Stabilisierung
6. Stadium der Beendigung
Diese Einteilung ermöglicht bereits im Erstkontakt Hypothesen zu möglichen Interven- tionen zu bilden und die Erkrankten am momentanen Standpunkt „abzuholen“. Des Weiteren sind diese Überlegungen für die Gruppenzusammensetzung auf den Statio- nen von großer Bedeutung. Diese Unterschiede werden beispielsweise bei Patientin- nen und Patienten, die sich freiwillig in Behandlung begeben und solchen, die unter richterlichen Auflagen behandelt werden, deutlich. Das therapeutische Vorgehen muss demnach auf diese unterschiedlichen motivationalen Ausgangslagen abgestimmt wer- den.
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