Theoretische Annäherung an die Frage: Ist mehr Gleichheit in unserer Gesellschaft erstrebenswert und überhaupt möglich?
Warum ich nicht in den einträchtigen Ruf nach mehr Gleichheit einstimmen möchte
Oder: Was ist der Mensch?
von Lisa Wegener
Eine der im Titel angekündigten Begründungen ist sicher in meiner individualistischen Persönlichkeit zu suchen. Da ich mich dem Thema jedoch argumentativ nähern möchte, anstatt bloß auf meine Neigung zu verweisen, werde ich zunächst versuchen, die zentralen Dimensionen von Gleichheit sowie verwandte Begriffe abzugrenzen und ihre Bedeutung herauszustellen.
Gleichheit bedeutet zunächst nichts weiter als Identität, Abwesenheit von Unterschieden; im gesellschaftspolitischen Verständnis die Abwesenheit rechtlicher oder sozial relevanter Unterschiede zwischen Mitgliedern der Gesellschaft.
Man unterscheidet in rechtliche, politische und soziale Dimension. Erstere postuliert die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, was durch Rechtsstaatlichkeit - die in Deutschland als Staatsziel in Artikel 28 des Grundgesetzes verankert ist - gewährleistet werden soll. Der politische Aspekt der Gleichheit ermöglicht die gleichrangige Partizipation aller Bürger am politischen Willensbildungsprozess; gesichert durch das Demokratieprinzip. Ebenso in Artikel 20 GG ist die Sozialstaatlichkeit festgeschrieben, welche soziale Ungleichheit minimieren und Chancengleichheit verwirklichen soll.
Stefan Hradil identifiziert soziale Ungleichheit dann, „wenn Menschen aufgrund ihrer Stellung im gesellschaftlichen Beziehungsgefüge regelmäßig in unterschiedlicher Weise an den wertvollen Gütern einer Gesellschaft partizipieren.“ [Hradil, Stefan: Soziale Ungleichheit in Deutschland. Wiesbaden 2005 (8. Auflage), S. 30]. In unserer Gesellschaft sind als wichtigste Güter zu nennen: Arbeit, Einkommen, Gesundheit, Bildung, politische Partizipationsmöglichkeiten und zunehmend auch Zeit bzw. Freizeit.
Obwohl Gleichheit an und für sich kein vieldeutiger Begriff ist, kommt es im gesellschaftlichen Sprachgebrauch oft zu - möglicherweise bewussten - Verwechslungen bzw. Uneindeutigkeiten. Beispielsweise wird Start- (oder auch Chancengleichheit) nicht deutlich von Ergebnisgleichheit abgegrenzt, was allerdings einen enormen Unterschied macht, da die Schaffung gleicher Startbedingungen und Chancen wohl niemals gleiche Ergebnisse zur Folge haben wird - sofern es sich bei den Betroffenen um Individuen handelt.
Das zeigt sich bereits bei weitaus primitiveren Lebensformen als dem Menschen und dennoch handelt es sich hierbei möglicherweise um ein grundsätzliches Missverständnis, das immer wieder zu Frustrationen führt.
Man bekommt etwa bei Politikern und Pädagogen gelegentlich das Gefühl, sie könnten einfach nicht verstehen, wieso trotz Chancengleichheit nur rund ein Drittel aller Schüler das Gymnasium besucht. Nun, der Gedanke mag Sozialforschung & Co. vielleicht unseriös erscheinen, weil er keine Lösung in Aussicht stellt - aber möglicherweise mangelt es dem Großteil der Haupt- und Realschüler tatsächlich an geistigen Fähigkeiten, um das Abitur zu bestehen. Die Erkenntnis, dass Intelligenz nicht allein auf den sozialen Hintergrund zurückzuführen ist, sondern auf einem angeborenen Potenzial beruht, scheint in der Ungleichheitsdebatte ein Tabu zu sein.
Doch auch gemäß der Sichtweise, dass die Umwelt auf die Entwicklung von Intelligenz den entscheidenden Einfluss ausübt, ist das naive Händeringen kaum nachzuvollziehen. Benötigt werden offensichtlich kostenlose Betreuungsangebote für alle Kinder; Einrichtungen, die sprachliche und soziale Kompetenz schon im Kleinkindalter fördern und in einer anregenden Umgebung eventuelle Schwächen der elterlichen Fürsorge ausgleichen. Dies hätte den positiven Nebeneffekt, dass sozial schlechter gestellte Eltern entlastet würden und einfacher wieder einen Beruf ergreifen könnten. Dadurch stiege wiederum ihr sozialer und materieller Status, was hoffentlich den Kindern selbst zugutekäme.
Der Bericht über „Bildung in Deutschland“ 2006 bestätigt, dass sich Bildung positiv auf Erwerbschancen und Erwerbsbereitschaft, Einkommen, Gesundheitsverhalten, politische Partizipation und sogar das Wirtschaftswachstum auswirkt. Hier liegt also eindeutig der Anknüpfungspunkt zur Minimierung sozialer Ungleichheit.
Grundsätzlich sollten sich diejenigen, die nach Chancengleichheit rufen, aber bewusst machen, dass es sich eben schon bei der Gleichheit der Startbedingungen um eine Illusion handelt. Dem Staat, an den in letzter Zeit zunehmend überzogene Erwartungen gestellt werden, wird es nie gelingen, ein Kind aus „bildungsfernen Schichten“ und eines aus dem „Bildungsbürgertum“ - veraltete Begriffe angesichts zunehmender sozialer Durchlässigkeit und Milieubildung - die gleichen Bildungschancen zu gewähren, es sei denn, die Gleichheit läge uns so am Herzen, dass wir ein totalitäres System nach platonischem Vorbild wählten, in dem die Kinderaufzucht von Geburt an der Gemeinschaft übertragen wird und so ideale Staatsbürger ohne jegliche soziale Unterschiede herangezogen werden.
Bildungsarme Familien erziehen bildungsarme Kinder - wer hätte etwas anderes erwartet? Da in unserer modernen „knowledge society“ bildungsarme Kinder signifikant geringere Chancen auf existenzsichernde Löhne oder überhaupt einen Arbeitsplatz haben und dementsprechend meist auf finanzielle Unterstützung durch Vater Staat angewiesen sind sollten wir folglich in die Bildung der (zukünftigen) bildungsarmen Familien investieren.
Deutschland liegt mit der Aufwendung von nur 4,59% des Bruttoinlandsprodukts [im Jahr 2004, Quelle: Eurostat. http://epp.eurostat.ec.europa.eu/tgm/table.do?tab=table&init=1& plugin=0&language=de&pcode=tsdsc510] für Bildungsangelegenheiten unter dem EU- Durchschnitt und hinter seinen Nachbarn wie Frankreich, Großbritannien und vor allem Dänemark. Während die Ausgaben für Kultur und Bildung tendenziell sinken, nehmen die Aufwendungen für „Arbeit und Soziales“ laufend zu - offensichtlich stopft der Staat so Löcher, die bei mehr Investition in Bildung gar nicht erst in diesem Maße aufgerissen wären. Eine Wandlung vom ohnehin kriselnden Wohlfahrtsstaat zum Sozialinvestitionsstaat würde Abhilfe schaffen, nicht zuletzt, weil das auf dem Generationenprinzip beruhende Sozialversicherungssystem kaum in der Lage sein wird, die anstehenden demografischen Veränderungen zu verkraften: der prozentuale Anteil der über 65jährigen wird sich bis 2050 voraussichtlich auf knapp 30% verdoppeln, während der Anteil der 20- bis 50jährigen von 44% auf etwa 34% sinken wird.
Eine weitere der Gleichheit verwandte Idee ist die Gerechtigkeit. Hier kommt eine zentrale Unterscheidung ins Spiel, nämlich jene zwischen askriptiven bzw. zugeschriebenen Merkmalen - Geschlecht, Alter, Herkunft etc. - einerseits und erworbenen Merkmalen, zum Beispiel Neigungen, Fähigkeiten oder Bildungsqualifikationen, andererseits. Gerechtigkeit impliziert, dass niemand aufgrund seiner askriptiven Merkmale benachteiligt wird; sie meint hingegen nicht, dass alle trotz unterschiedlicher erworbener Eigenschaften gleich behandelt werden sollten - deshalb halte ich sie für weitaus reichhaltiger, realitätsnaher und damit für die sozialwissenschaftliche Forschung angemessener als das zweifelhafte Ideal der Gleichheit. In der Tat ist meiner Ansicht nach das, was wir unter rechtlicher Gleichheit verstehen in Wirklichkeit rechtliche Gerechtigkeit, denn die Rechtsprechung erfolgt zwar unabhängig von askriptiven Merkmalen - zumindest streben wir das an -, hängt jedoch sehr wohl von persönlichen Umständen ab, für die der Angeklagte selbst verantwortlich ist, wie von der Frage, ob es sich um einen Wiederholungstäter handelt.
Gerechtigkeit fragt nach den Beziehungen zwischen Menschen, sie ist immer relational. In sozialer Hinsicht führt dies zu der wichtigen Differenzierung, ob es jemandem, warum auch immer, an einem bestimmten Gut mangelt oder ob demjenigen von seinen Mitmenschen ungerechtfertigterweise Güter oder Chancen vorenthalten werden.
Beim Gut der politischen Partizipation stellt sich beispielsweise die Frage, inwiefern bestimmte Personen davon ausgeschlossen werden. Im Gegensatz zum auch in Deutschland lang praktizierten Zensuswahlrecht sichern die heutigen Wahlmodalitäten jeder Stimme das gleiche Gewicht, unabhängig von Vermögen und sozialem Status. Momentan ergibt sich sogar der Eindruck, dass den Wählern aus sozial schwächeren Milieus von den meisten Parteien die größte Aufmerksamkeit eingeräumt wird und Wahlkampfstrategien kaum ein Thema mehr strapazieren als „soziale Gerechtigkeit“. Darüber hinausgehende TeilhabeChancen sind im Fall direkter Demokratie in Deutschland von marginaler Bedeutung und werden im Bereich der Bürgerinitiativen, Parteimitgliedschaften etc. immer weniger genutzt. Dass Angehörige sozial schwächerer Milieus seltener am politischen Prozess partizipieren, hängt sicherlich mit ihrer Stellung im gesellschaftlichen Beziehungsgefüge zusammen; insofern wären Stefan Hradils Bedingungen für soziale Ungleichheit erfüllt - aber ist diese Ungleichheit auch ungerecht? Wird denjenigen die aktive Mitwirkung vorenthalten oder verzichten sie darauf - aus Mangel an Zeit und Information oder auch Interesse? Natürlich ist dieser Mangel wiederum in erster Linie auf geringere Chancen am Arbeitsmarkt und letztendlich auf einen Mangel an Bildung zurückzuführen.
Damit stellt sich erneut die Frage, was gegen Bildungsarmut zu unternehmen sei. Ist unser Bildungssystem ungerecht? Wird Bildung jemandem vorenthalten? Ist es eine Frage des sozialen Status‘, wenn ein Kind, das nicht durch eine Lernbehinderung beeinträchtigt ist, bis zur achten Klasse, egal welcher Schulform, nicht richtig Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt hat? Letztlich entscheiden nur Leistung und persönlicher Wille über den Zugang zu einer akademischen Ausbildung. Dennoch bejahen viele Statistiken und Publikationen diese Fragen mit Nachdruck. Unter anderem in der APuZ [Aus Politik und Zeitgeschichte (bpb). „Ungleichheit - Ungerechtigkeit“ 37/2005 S. 9] wird festgestellt, dass von 100 Kindern aus einem gut situierten Elternhaus 81 ein Studium anfingen, hingegen von den „Arbeiterkindern“ nur elf. Schlussfolgerung: „Demnach ist die Chance zu studieren für Kinder der Herkunftsgruppe ‚hoch‘ mehr als sieben Mal größer als für Kinder der Herkunftsgruppe ‚niedrig‘.“. Dies scheint mir ein eklatanter Fehlschluss zu sein, der auf der Verwechslung von Chance - im Verständnis von Chancengleichheit - und Wahrscheinlichkeit beruht. Nur weil aus der ersten Gruppe sieben Mal mehr Kinder ein Studium beginnen, bedeutet das nicht, dass deren Chance sieben Mal größer ist - man kann daraus höchstens eine sieben Mal höhere Wahrscheinlichkeit ableiten.
Die Chance zum Studium wird von unserem Bildungssystem eindeutig auch „Arbeiterkindern“ gewährt, erst recht durch staatliche Ausbildungsförderung (BAföG) und gebührenfreies Studieren in einigen Bundesländern. Sie wird nur häufig nicht genutzt, was auf die Setzung der Prioritäten zurückzuführen ist. Listigerweise hat Bildung in „bildungsfernen Schichten“ einen weitaus geringeren Stellenwert als bei „bildungsnahen“; es erscheint wichtiger, schnell ein zusätzliches Einkommen zu beziehen. Die Aufgabe, eine Investition in ein Studium als nachhaltige, Erfolg versprechende Investition zu präsentieren, liegt wiederum beim Bildungssystem - und nicht zuletzt auch bei den Massenmedien. Veröffentlichungen mit dem Tenor „Nach dem Studium erwarten dich jahrelang unbezahlte Praktika“ schaffen natürlich ein ungünstiges Klima, selbst für Kinder aus verhältnismäßig gut situierten Verhältnissen.
Die Beschäftigung mit der Frage nach sozialer Ungleichheit birg einige moralische Fallstricke. Spricht man sich als Besserverdiener oder - angehender - Akademiker gegen mehr Gleichheit aus, so liegt die Vermutung nahe, dass diese Einstellung nicht auf logischer Argumentation, sondern auf purem Egoismus beruht. Denn mehr soziale Gleichheit bedeutet in erster Linie: Abgeben, vor allem für diejenigen, die sich theoretisch mit dem Thema befassen, anstatt Supermarktkassen zu bedienen oder Flure zu putzen - also für Soziologen, Politiker und ebenso für mich und meine Kommilitonen. Wie so oft ist es die Divergenz zwischen Reden und Handeln, die die Aufrichtigkeit der Überzeugungen zutage fördert.
Umfragen belegen, dass gerade Gutsituierte häufig ein Problem damit haben, soziale Ungleichheit zu legitimieren. Während aus dem untersten Einkommensquartil rund 42% der Befragten der Aussage zustimmen, dass soziale Unterschiede gerecht seien, bestätigen dies aus dem ersten Quartil nur etwa halb so viele. [Quelle: Statistisches Bundesamt. Datenreport 2006 - Zahlen und Fakten über die BRD. S. 632] Ich bezweifle stark, dass diejenigen, die in der Bundesrepublik am meisten verdienen, es tatsächlich als ungerecht empfinden, mit dem Mercedes anstelle der Straßenbahn zur Arbeit zu fahren. Das allerdings zuzugeben wäre ein Fauxpas, den die kollektive (Schein-)Moral gnadenlos anprangern würde - momentan in Deutschland, da Höchstlöhne für Manager im Gespräch sind, die Linkspartei Einzug in immer mehr Länderparlamente hält und selbst die CDU langsam von einigen Wählern und Mitgliedern als „zu links“ eingestuft wird, mehr denn je.
Hier liegt schließlich auch der Grund, warum ich als Untertitel meines Essays Immanuel Kants zentrale Grundfrage gewählt habe. Ich glaube nicht daran, dass es autonome wissenschaftliche Gesetze gibt, sei es in der Wirtschaft, der Politik oder selbst der Physik, in der so vertraute Größen wie die Zeit neuerdings als abhängig vom Betrachter erkannt werden. Jeder unserer individuellen oder kollektiven Wahrnehmungen und Handlungen liegen letztendlich allein die Gesetze des menschlichen Daseins, der menschlichen Psyche, wenn man so will, zugrunde.
Es ist menschlich, nicht nur möglichst viel, sondern unbedingt mehr haben zu wollen als „die Anderen“, denn der Vergleich mit einer Bezugsgruppe prägt entscheidend unser Glücksempfinden. Dies legt nahe, dass soziale Unterschiede, die zunächst einmal durch Leistung entstehen, nicht aufgrund moralischer Bedenken der Bessergestellten restringiert oder abgebaut werden. Ein Experiment stellt uns zwei Szenarien zur Wahl: Erstens, wir beziehen ein Jahresgehalt von 100 000€ und unsere Nachbar/Kollegen von 120 000€. Zweitens, wir erhalten 80 000€ und unsere Nachbarn/Kollegen nur 60 000€. Obwohl wir dabei 20 000€ im Jahr verschenken, würde sich jeder für letztere Alternative entscheiden.
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- Citar trabajo
- Lisa Wegener (Autor), 2008, Warum ich nicht in den einträchtigen Ruf nach mehr Gleichheit einstimmen möchte - Oder: Was ist der Mensch?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/92687