Als chinesische Muttersprachlerin mit mehrjähriger Deutschlernerfahrung und einiger Deutschlehrerfahrung in China beobachtet die Verfasserin der vorliegenden Arbeit häufig die Besonderheiten der Aussprache chinesischer Deutschlernender. Das Phänomen, dass nordchinesische Deutschlernende tendenziell größere Schwierigkeiten und Probleme bei der Produktion der deutschen E-Laute aufweisen als südchinesische Lernende, erweckte das Forschungsinteresse der Verfasserin.
Um die eigene Beobachtung des beschriebenen Phänomens zu überprüfen, führte die Verfasserin eine empirische Untersuchung durch. Dabei ging es um eine Tonaufzeichnung mit 14 chinesischen ProbandInnen (7 aus Nordchina und 7 aus Südchina) und eine Beurteilungsphase der Aussprache der Probanden durch 8 deutsche MuttersprachlerInnen. Alle eigens entwickelten Instrumente (u. a. Aufnahmematerial, Bewertungsbogen) basieren auf den relevanten Kenntnissen der deutschen Vokale hinsichtlich der Parameter "Zungenstellung", "Lippenrundung" sowie "Quantität" und "Qualität".
Anhand der Untersuchungsergebnisse identifiziert die Verfasserin die jeweiligen Problembereiche der Deutschlernenden aus Nord- und Südchina bei den E-Lauten und schlägt eine Reihe von Ausspracheübungen und Trainingsmethoden vor, die zur Verbesserung der ermittelten Abweichungen beitragen können. Dazu zählen z. B. der Einsatz visueller und motorischer Ansätze, die Einführung der digitalen Medien und die Optimierung traditioneller Übungsformate wie einfacher Hörübungen usw. Zudem werden auch im Schlussteil Reflexionen aus Perspektive der chinesischen DaF-Lehrkräfte über die existierende Problematik bei ihrer Aussprachevermittlung gemacht und geeignete didaktisch-methodische Empfehlungen gegeben.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Grundlegende Begriffsbestimmungen
1.1 Phonetik und Phonologie
1.2 Vokale
1.3 Standardaussprache des Deutschen
1.4 Dialekte und Akzente in Nord- und Südchina
1.4.1 Chinesische Dialekte und ihre geografische Verteilung
1.4.2 Inländische Akzente der Nord- und SüdchinesInnen
2 Kontrast der E-Laute im Deutschen und in den Dialekten in Nord- und Südchina
2.1 E-Laute im Deutschen
2.2 E-Laute in den Dialekten in Nordchina
2.3 E-Laute in den Dialekten in Südchina
3 Forschungsstand zu Problemen chinesischer Deutschlernender bei E-Lauten
4 Empirische Untersuchung
4.1 Fragestellung und Zielsetzung
4.2 Forschungsdesign
4.2.1 Forschungsmethode und -planung
4.2.2 Kriterien für die Auswahl der Untersuchungsteilnehmenden
4.2.3 Fragebogen für ProbandInnen
4.2.4 Tonaufnahmematerial
4.2.5 Bewertungsbogen
4.3 Beschreibung der Untersuchungsteilnehmenden
4.3.1 ProbandInnen
4.3.1.1 Persönliche Angaben
4.3.1.2 Deutschlernerfahrung
4.3.1.3 Einstellungen zu Aussprachelernerlebnissen in China
4.3.2 BeurteilerInnen
4.4 Durchführung der Untersuchung
5 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse
5.1 Ergebnisse der ProbandInnengruppe aus Nordchina
5.1.1 Probandin N1
5.1.2 Probandin N2
5.1.3 Proband N3
5.1.4 Probandin N4
5.1.5 Proband N5
5.1.6 Probandin N6
5.1.7 Probandin N7
5.2 Ergebnisse der ProbandInnengruppe aus Südchina
5.2.1 Probandin S1
5.2.2 Proband S2
5.2.3 Probandin S3
5.2.4 Probandin S4
5.2.5 Proband S5
5.2.6 Proband S6
5.2.7 Probandin S7
5.3 Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse
6 Rückschlüsse auf die Aussprachevermittlung bezüglich der E-Laute
Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
Anhang
Einleitung
Als chinesische Muttersprachlerin mit mehrjähriger Deutschlernerfahrung und einiger Deutschlehrerfahrung in China beobachtet die Verfasserin der vorliegenden Arbeit häufig die Besonderheiten der Aussprache chinesischer Deutschlernender und ist dabei auch sensibilisiert für bei ihnen oft vorkommende Ausspracheprobleme. Die umfangreichste Gruppe der Deutschlernenden in China setzt sich vor allem aus Germanistik-Studierenden an chinesischen Hochschulen sowie SchülerInnen, die Sprachinstitute in Groß- und Mittelgroßstädten besuchen, zusammen. All diese Lernenden haben diverse Kulturhintergründe bzw. stammen aus verschiedenen Regionen und Dialektgebieten in ganz China. Als die Verfasserin an der Camai Foreign Language Training School in der chinesischen Stadt Chongqing als Deutschlehrerin tätig war, bemerkte sie bei einem A1-Deutschkurs ein interessantes Phänomen: Die zwei KursteilnehmerInnen, die jeweils aus Shenyang in Nordchina und Chongqing in Südchina kommen, zeigten unterschiedliche Erwerbsgeschwindigkeiten beim Lernen der deutschen Vokale. Insbesondere bei E-Lauten fiel es dem Schüler aus dem Norden im Vergleich zu der Schülerin aus dem Süden offensichtlich schwerer, die Buchstaben e und ä sowie die Wörter mit E-Lauten richtig zu produzieren. Außerdem traten bei diesem Schüler im weiteren Verlauf seines Lernens öfter stärkere Abweichungen bei der Produktion von E-Lauten auf als bei der genannten Schülerin. Diese Entdeckung machte die Verfasserin im Laufe ihres weiteren Studiums darauf aufmerksam, dass eine ähnliche Tendenz bei ihren chinesischen KommilitonInnen ebenfalls erkennbar ist: Die Mitstudierenden aus Nordchina weisen relativ größere und vielfältigere Aussprachefehler im Bereich der E-Laute auf als diejenigen aus Südchina. Gerade dieses beobachtete Phänomen erweckte ein erhebliches Forschungsinteresse der Verfasserin.
Aus geografischer Sicht lassen sich nördliche und südliche Regionen Chinas durch das Qinling-Gebirge und den Huaihe-Fluss abgrenzen (vgl. Zhang 1908: 185). Die beiden Landeshälften unterscheiden sich ziemlich stark im Hinblick auf das Klima, Essgewohnheiten sowie Sitten und Gebräuche. Ferner besitzen die jeweiligen Sprachen auch regionsspezifische Merkmale. In China gibt es eine weitbekannte Redewendung: „Ein gemischter Akzent von Norden und Süden“, womit gemeint ist, dass man das Standardchinesisch mit einem besonders auffälligen regionalen Akzent spricht. Dies hängt eng mit den komplexen chinesischen Dialektsystemen zusammen. Die sieben großen Dialektbündel in China sind Mandarin, Wu, Xiang, Kejia, Min, Yue und Gan. In Nordchina werden zum größten Teil Mandarin-Dialekte gesprochen, auf denen das Hochchinesisch basiert und zwischen denen geringe Unterschiede bestehen. Im Gegensatz dazu verteilen sich in Südchina neben Mandarin noch die anderen sechs Dialektbündel, die gegenseitig schwer verständlich sind. Mit der umfassenden Verbreitung des Standardchinesischen Putonghua im ganzen Land seit 1982 wird die Frequenz der Dialektverwendung im Alltag relativ reduziert. Trotzdem werden die mit verschiedenen Dialekten aufgewachsenen ChinesInnen unvermeidlich von ihrer erstsprachlichen Umgebung beeinflusst und weisen als Konsequenz beim Sprechen des Putonghua typische Akzente auf, welche ihre nördliche oder südliche Herkunft leicht verraten könnten.
Als eine der bedeutendsten Theorien zum Zweitspracherwerb1 stellte Lado 1957 die Kontrastivitätshypothese auf, die sich darauf bezieht, dass die Gewohnheiten der Erstsprache2 (z. B. bei der Aussprache, Wortbildung, Syntax usw.) der Lernenden auf ihre Zweit- oder Fremdsprache übertragen werden können und deren Erwerb dadurch positiv oder negativ beeinflussen würden. Ein positiver Transfer kann geschehen, wenn Gemeinsamkeiten zwischen den Strukturen der L1 und der Zielsprache bestehen. Demgegenüber ist ein negativer Transfer (auch Interferenz) zu erwarten. Es kann erst einmal von dieser Theorie ausgegangen werden, dass die Deutschlernenden aus Nord- und Südchina unter Einfluss ihrer jeweiligen Heimatdialekte unterschiedliche Schwierigkeiten beim Erwerb der deutschen Aussprache aufweisen könnten. Diese Interferenz könnte darüber hinaus auch noch von vielen externen Faktoren wie z. B. fehlenden Kontakten mit deutschen MuttersprachlerInnen oder dem Einfluss der Akzente von Lehrpersonen verstärkt werden.
Viele Studien (u. a. Sun 1994; Hunold 2009; Liu 2015), die sich mit den Ausspracheproblemen chinesischer Deutschlernender beschäftigten, ergaben, dass deren größter Problembereich Suprasegmentalia seien, und zwar die „Verstöße gegen erwartete Melodisierung, Tempo, Lautstärke und Gliederung der Rede“ (Hunold 2009: 156), welche gleichfalls als typisch chinesischer Akzent charakterisiert wurden (vgl. ebd.). Im Vergleich zu Suprasegmentalia seien laut Hunold (2009: 178) und Liu (2015: 109) die Ausspracheabweichungen von ChinesInnen auf die segmentale bzw. lautliche Ebene aufgrund der geringen Störung der Verständigung eher nachrangig. Allerdings sind die Probleme im Bereich der Segmentalia auch nicht zu unterschätzen, denn einerseits ist die Verständlichkeit eines Wortes oder eines Satzes nicht unabhängig von der Aussprache eines Vokals oder eines Konsonanten, andererseits lassen sich eben jene minimalen, aber hartnäckigen Abweichungen wegen der Interferenz aus der L1 der Lernenden nicht leicht beseitigen. Beispielsweise sei es für eine Menge von südchinesischen Deutschlernenden äußerst schwierig, die Phonempaare /n/ – /l/, /h/ – /f/ und /l/ – /r/ zu unterscheiden (vgl. Hunold 2009: 180).
In Bezug auf die Segmentalia sieht Hachenberg (2003) die Abweichungen bei den Vokalen als einen wesentlichen heiklen Bereich der chinesischen Deutschlernenden an. Insbesondere die abwechslungsreichen Probleme bei den E-Lauten machen nach Hachenberg ein auffälliges Merkmal des chinesischen Akzentes aus (vgl. ebd.: 109). Jedoch wurde in seiner Arbeit nicht diskutiert, in welchem Zusammenhang die Abweichungsarten von E-Lauten und die Heimatorte und -dialekte der chinesischen Lernenden stehen. Bislang liegen auch keine anderen Arbeiten vor, die die Ausspracheprobleme nord- und südchinesischer Deutschlernender bei Vokalen bzw. E-Lauten zusammen erforschen und kontrastieren, was einen geeigneten Ausgangspunkt für die vorliegende Masterarbeit liefert.
Anhand der am Anfang geschilderten Beobachtung durch die Verfasserin lassen sich die folgenden vier grundlegenden und zu überprüfenden Hypothesen aufstellen:
Hypothese 1: Nord- und südchinesische Deutschlernende weisen Ausspracheabweichungen bei der Produktion der E-Laute auf.
Hypothese 2: In den Abweichungen im Bereich der E-Laute existieren Unterschiede bei nord- und südchinesischen Deutschlernenden.
Hypothese 3: Nordchinesische Deutschlernende weisen vielfältigere Abweichungen bei E-Lauten auf als südchinesische Deutschlernende.
Hypothese 4: Beim Hören wirken die Abweichungen im Bereich der E-Laute von nordchinesischen Lernenden störender als die von südchinesischen Lernenden.
Das Ziel dieser Masterarbeit liegt darin, die jeweiligen Charakteristiken der Ausspracheabweichungen bezüglich der E-Laute bei nord- und südchinesischen Lernendengruppen zu untersuchen sowie dadurch die Rückschlüsse auf die Aussprachevermittlung desselben Bereichs für die jeweilige Lernendengruppe abzuleiten. Die Endergebnisse können die Lehrkräfte für Deutsch als Fremdsprache3 in China anregen, gezielte Verbesserungsansätze für die beiden Lernendengruppen auszuwählen und auch neu zu entwickeln.
Hierbei muss hervorgehoben werden, dass sich das Augenmerk der vorliegenden Arbeit hauptsächlich auf die Deutschlernenden aus Nord- und Südchina im geografischen Sinne bzw. mit ihren jeweiligen regionalspezifischen Akzenten richtet. Die detaillierten Differenzierungen zwischen und innerhalb von den einzelnen chinesischen Dialektbündeln werden nicht in der Arbeit behandelt.
Zur Überprüfung der vier formulierten Hypothesen wurde eine empirische Untersuchung durchgeführt, die aus zwei wesentlichen Phasen besteht: In der ersten Phase machten 14 chinesische ProbandInnen – sieben aus Nordchina und sieben aus Südchina – einzeln bei einer Tonaufzeichnung mit, wobei die vorgegebenen Aufgaben bearbeitet wurden. In der zweiten Phase wurden die Aufnahmen der beiden ProbandInnengruppen jeweils von vier Deutsch-MuttersprachlerInnen mithilfe eines Bewertungsbogens beurteilt. Die Ergebnisse wurden nach der Auswertung aller erhobenen Daten aus den Bewertungsbögen gewonnen.
Die Arbeit gliedert sich insgesamt in sechs Kapitel. Im ersten Kapitel geht es um die Erklärung der grundlegenden Begriffe der vorliegenden Arbeit, nämlich Phonetik und Phonologie, Vokale, Standardaussprache des Deutschen sowie Dialekte und inländische Akzente in Nord- und Südchina. Im zweiten Kapitel werden die E-Laute im Deutschen und in den Dialekten in Nord- und Südchina durch Tabellen veranschaulicht und miteinander kontrastiert, damit die theoretischen Grundlagen für die empirische Untersuchung aufgebaut werden. Es schließt sich im dritten Kapitel ein Überblick über den bisherigen Forschungsstand zum Problembereich E-Laute bei chinesischen Deutschlernenden an. Dabei wird außerdem explizit auf die bestehenden Forschungslücken in demselben Bereich hingedeutet. Im vierten Kapitel wird auf den empirischen Teil der Arbeit eingegangen. Es handelt sich dabei um die genauen Beschreibungen bezüglich des vollständigen Forschungsdesigns, der an der Untersuchung teilnehmenden ProbandInnen und BeurteilerInnen sowie des tatsächlichen Untersuchungsverlaufs. Im fünften Kapitel werden zunächst die gewonnenen Untersuchungsergebnisse dargestellt, und danach erfolgt die Interpretation der Ergebnisse in Verknüpfung mit den vier zentralen Hypothesen der Arbeit. Im letzten Kapitel werden ausgehend von den Untersuchungsergebnissen relevante Schlussfolgerungen auf die Aussprachevermittlung bzw. die Übungsvorschläge für die Lernendengruppen aus Nord- und Südchina im Bereich der E-Laute gezogen.
1 Grundlegende Begriffsbestimmungen
Zur Verständlichkeit der gesamten Arbeit sollen als Erstes die dafür relevanten Begrifflichkeiten klar beschrieben. Nachstehend werden zunächst die Definitionen von „Phonetik und Phonologie“ und „Vokale“ eingeführt. Im Anschluss daran werden die Standardaussprache des Deutschen, die Verteilung der Dialektbündel in Nord- und Südchina sowie die Merkmale der inländischen Akzente von Nord- und SüdchinesInnen detailliert dargestellt.
1.1 Phonetik und Phonologie
Die Untersuchung der Ausspracheprobleme von Fremdsprachenlernenden setzt vor allem die Definition der Schlüsselbegriffe „Phonetik und Phonologie“ voraus. Die beiden Termini werden von Bußmann (2002) folgenderweise definiert:
Phonetik. Empirische, naturwissenschaftlich orientierte Disziplin, die die lautlichen Ereignisse und Prozesse der sprachlichen Kommunikationen unter folgenden Aspekten untersucht: (a) artikulatorisch-genetische Sprachproduktion (Artikulatorische Phonetik); (b) Struktur der akustischen Abläufe (Akustische Phonetik); (c) neurologisch-psychologische Vorgänge der Sprachperzeption (Auditive Phonetik).
Phonologie. Teildisziplin der Sprachwissenschaft, die sich mit den Phonemen, ihren Eigenschaften, Relationen und Systemen unter synchronischen und diachronischen Aspekten beschäftigt. (Bußmann 2002: 512f)
In einfachen Worten handelt es sich hier um eine deutliche Unterscheidung zwischen den beiden Begrifflichkeiten: Phonetik beschäftigt sich mit „den hör- und messbaren Eigenschaften gesprochener Sprachlaute“ (Hunold 2009: 39) und kann nach Trubetzkoy (1939) als „Sprachaktlautlehre“ bezeichnet werden. Um Sprachlaute (auch Phone) und Buchstaben zu unterscheiden, entwickelte die International Phonetic Association das Internationale Phonetische Alphabet4 als ein universales Lautschriftsystem aller menschlichen Sprachen. Die IPA-Lautschriften werden in eckigen Klammern „[ ]“ dargestellt. Im Vergleich zur Phonetik kann Phonologie als „Sprachgebildelautlehre“ (ebd.) betrachtet werden, die die Erstellung des Lautsystems einer Sprache auf Basis der vorhandenen minimalen bedeutungsunterscheidenden Einheiten analysiert (vgl. Glück 2000: 491). Dieses kleinste bedeutungsdifferenzierende Segment wird Phonem genannt und in die Zeichen „/ /“ gesetzt. Zum Beispiel kann eine phonologisch-phonetische Analyse wie folgt aussehen: Die Bedeutungen der Wörter leben und neben unterscheiden sich durch die abstrakten Phoneme /l/ und /n/, die bei der Artikulation durch die konkreten Phone [l] und [n] realisiert werden. Infolgedessen stehen Phonetik und Phonologie trotz deren begrifflicher Differenzierung in einem engen Zusammenhang bei der Auseinandersetzung mit dem Thema „Aussprache“.
Auf der phonetischen Ebene werden Sprachlaute in zwei Lautklassen eingeordnet, nämlich die Vokale (auch Selbstlaute) und die Konsonanten (auch Mitlaute) (vgl. Mangold 2005: 23). Nachfolgend soll die Lautklasse „Vokale“ explizit erläutert werden, die in den Vordergrund der Arbeit tritt.
1.2 Vokale
Im Duden findet sich eine genaue Definition von Vokalen: „Vokale sind Laute, bei denen die Stimmlippen im Kehlkopf schwingen und die Atemluft ungehindert durch den Mund ausströmt“ (ebd.). Die Qualität (auch Klangfarbe) eines Vokals ist abhängig von der Zungen- und Lippenstellung (vgl. ebd.: 24). Anhand der qualitativen Eigenschaften von Vokalen liefert die International Phonetic Association ein sogenanntes „Vokaltrapez“ (siehe Abbildung 1), das die Bezugsvokale der Einzelsprachen aus aller Welt mit den IPA-Lautschriftzeichen in einer schematisierten Mundhöhle darstellt (vgl. ebd.: 24f).
Abbildung 1: IPA-Vokaltrapez (Mangold 2005: 25)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Je nach Vokalsystem unterschiedlicher Sprachen ändert sich die Form des Vokaltrapezes entsprechend. In der Abbildung 2 wird die deutsche Version gezeigt, die die 17 Monophthonge im Deutschen illustriert. Darüber hinaus gibt es im Deutschen noch drei Diphthonge [aɪ̯] (wie in Zeit [tsaɪ̯t]), [aʊ̯] (wie in Haus [haʊ̯s]) und [ɔʏ̯] (wie in neu [nɔʏ̯]), die jedoch nicht im Trapez dargelegt werden. Die Termini „Monophthonge“ und „Diphthonge“ werden im Duden wie folgt definiert:
Im Gegensatz zu den Monophthongen (einfachen Vokalen) bestehen Diphthonge (Zwielaute, Doppellaute) aus zwei Vokalen, von denen der eine silbisch und der andere unsilbisch ist, die also beide zur selben Silbe gehören. [...] Phonetisch gesehen sind Diphthonge Gleitlaute, bei denen die Zunge oder die Zunge zusammen mit den Lippen eine Gleitbewegung von einer Vokalposition zu einer anderen durchführt. (Mangold 2005: 26)
Abbildung 2: IPA-Vokaltrapez des Deutschen (Mangold 2005; zit. nach Trouvain 2008: WWW-Veröffentlichung)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Aus dem Vokaltrapez des Deutschen lässt sich die Zungenposition in zwei Dimensionen – der Vertikal- und der Horizontallage – ersehen. Die vertikale Dimension zeigt die Höhe der Zunge und den Öffnungsgrad eines Vokals: Je höher der Zungenrücken liegt, desto höher und geschlossener ist ein Vokal. Beispielsweise werden [i:] (wie in Liebe [ˈli:bə]) als hoher/geschlossener Vokal, [e:] (wie in eben [ˈe:bən]) als mittlerer/halbgeschlossener Vokal, [ɛ:] (wie in wählen [ˈvε:lən]) als mittlerer/halboffener Vokal und [a:] (wie in Staat [ʃta:t]) als niedriger/offener Vokal klassifiziert (vgl. Mangold 2005: 24). Unter der horizontalen Dimension kann verstanden werden, dass ein Vokal umso heller ist, je weiter vorne der höchste Punkt des Zungenrückens im Mund liegt. Im Gegensatz dazu ist ein Vokal dunkel, wenn sich der höchste Punkt des Zungenrückens hinten im Mund befindet. Zum Beispiel werden [ø:] (wie in König [ˈkø:niç]) als Vorderzungenvokal/heller Vokal, [ə] (wie in Name [ˈna:mə]) als zentraler Vokal und [o:] (wie in Ofen [ˈo:fən]) als Hinterzungenvokal/dunkler Vokal bezeichnet (vgl. ebd.).
Über die Zungenstellung hinaus wird die Qualität eines Vokals auch von der Lippenrundung bestimmt. In der Abbildung 2 sind bei den paarweise auftretenden Vokalen die auf der linken Seite stehenden ungerundet und die auf der rechten Seite stehenden gerundet (vgl. ebd.: 25). Beispielsweise sind die Lippen bei [ɪ] (wie in Zimmer [ˈtsɪmɐ]) ungerundet, während die Lippen bei [ʏ] (wie in füllen [ˈfʏlən]) gerundet sind.
Außer der Vokalqualität gibt die Abbildung 2 Auskunft über ein anderes entscheidendes Merkmal der deutschen Vokale, und zwar die Vokalquantität, die Länge und Kürze der Vokale bezeichnet. Lange Vokale werden im IPA mit dem Doppelpunkt gekennzeichnet, während kein Doppelpunkt nach kurzen Vokalen vorkommt (z. B. langes [a:] versus kurzes [a]). Die Vokallänge wird eng mit der Vokalqualität bzw. der „Spannung der Artikulationsmuskeln der Sprechorgane“ (Żyromski: WWW-Veröffentlichung) korreliert. Lange Vokale werden meistens gespannt gesprochen und kurze ungespannt5. Des Weiteren verfügen die Vokalquantität und -qualität auf der phonologischen Ebene über eine distinktive Funktion, z. B. unterscheiden sich E sel und E ssen durch die Phoneme /e:/ und /ε/.
Um lange und kurze Vokale in geschriebenen Wörtern zu unterscheiden, sollen Deutschlernende die folgenden entsprechenden Ausspracheregeln in Hinsicht auf die Laut-Buchstaben-Beziehungen beherrschen:
(1) Ein Vokal wird lang gesprochen:
- wenn auf ihn ein h folgt (das h selbst bleibt stumm): Bühne, Uhr, sehen
- wenn er als Doppelvokal auftritt: See, Boot, Staat
- bei ie oder ieh: ihr, sieh mal
(2) Ein Vokal wird kurz gesprochen:
- wenn auf ihn ein Doppelkonsonant oder ein ck folgt: kmmen, Zcker
- (fast immer), wenn auf ihn ng oder x folgt: Jnge, Txi
(3) Ein Vokal wird manchmal (aber nicht immer) kurz gesprochen, wenn auf ihn mindestens zwei verschiedene Konsonanten folgen.
- Diese Regel gilt z. B. für: Wlt, Mnsch
- Diese Regel gilt z. B. nicht für: Obst, (du) sagst (Reinke 2018: WWW-Veröffentlichung)
Im Anschluss an die Vorstellung der Lautklasse „Vokale“ werden im folgenden Abschnitt die Festlegung der deutschen Standardaussprache sowie deren gegenwärtige Definition thematisiert.
1.3 Standardaussprache des Deutschen
Während der Normierung der Rechtschreibung seit Ende des 19. Jahrhunderts legte die Siebs-Kommission von drei Sprachwissenschaftlern und drei Theaterdirektoren 1898 ebenfalls die Ausspracheregelungen fest, die sich der gebräuchlichen Aussprache im Norden Deutschlands annäherten. Das ursprüngliche Ziel war, die Aussprache auf den Theaterbühnen im deutschen Sprachraum zu vereinheitlichen (vgl. Mangold 2005: 29). Anschließend wurde diese Aussprachevarietät auch in der schulischen Praxis angewendet, um eine allgemeine sprachliche Norm werden zu können. Ab den 1920er Jahren wurde die sogenannte „Bühnenaussprache“ mit der Entwicklung der Massenmedien als vorbildhafte Aussprache – auch als sprachwissenschaftliche Terminologie Standardaussprache – akzeptiert und allgemein verbreitet. Inzwischen konnten sich jedoch einige der ursprünglichen Festlegungen der Bühnenaussprache der Sprechwirklichkeit nicht anpassen und wurden deswegen in vielen Aussprachekodifikationen durch die an der Realität orientierten Regelungen ersetzt (vgl. ebd.: 30). Zum Beispiel charakterisiert das Große Wörterbuch der deutschen Aussprache als Standardaussprache diejenige Form der Lautung, die sich für die Literatursprache, wie sie beispielsweise in der Belletristik der Gegenwart und in den Nachrichtentexten des Hör- und Fernsehfunks verwendet wird, als angemessen herausgebildet. Sie verfügt mit der Literatursprache über einen umfassenden Geltungsbereich und ist daher die allgemeingültige Aussprache, die von jedem Muttersprachler verstanden werden kann. Sie ist für jede Kommunikation verbindlich, in der die Literatursprache formbewusst gesprochen wird. (Krech 1982: 13; zit. nach Hunold 2009: 44)
Des Weiteren gibt das Duden Aussprachewörterbuch eine gegenwärtige Beschreibung der Standardaussprache an, die von Hunold (2009) prägnant zusammengefasst wird:
Sie sei eine Gebrauchsnorm, die der Sprechwirklichkeit nahe käme, darüber hinaus soll sie überregional, einheitlich und schriftnah sein. Die Standardaussprache ist deutlich; die Laute unterscheiden sich einerseits stärker als die Umgangslautung, andererseits schwächer als die zu erhöhter Deutlichkeit neigende Bühnenaussprache. (Mangold 2005: 31f; zit. nach Hunold 2009: 44)
Trotz der Einheitlichkeit der Standardlautung des Deutschen bestehen mehr oder weniger Unterschiede in der wirklichen Verwendung. Beispielsweise findet sich eine gewisse Differenzierung bei der Aussprache zwischen den drei nationalen Varietäten der Standardsprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Unterschiede zwischen diesen zeigen sich nicht nur in der Aussprache, sondern auch im Wortschatz und der Syntax (vgl. Krech/Stock/Hirschfeld & Anders 2009: 261). Hierbei ist zu erwähnen, dass sich die vorliegende Arbeit ausschließlich auf die Standardsprache in Deutschland sowie deren Lautsystem fokussiert. Die anderen zwei nationalen Varietäten werden in der Arbeit nicht in Betracht gezogen. Das nächste Kapitel beschäftigt sich mit den chinesischen Sprachen bzw. Dialekten sowie den Besonderheiten der nord- und südchinesischen Akzente.
1.4 Dialekte und Akzente in Nord- und Südchina
Für die Auseinandersetzung mit den Ausspracheabweichungen nord- und südchinesischer Deutschlernender gilt es, zunächst festzustellen, welche Dialekte in Nord- und Südchina gesprochen werden und wie sich die inländischen Akzente der Nord- und SüdchinesInnen charakterisieren lassen.
1.4.1 Chinesische Dialekte und ihre geografische Verteilung
Der Begriff „Chinesisch“ (Sprache der Han) bedeutet in einem weiteren Sinne die Sprachen, die von der bevölkerungsreichsten Han-Nationalität – abgesehen von den nationalen Minderheiten Chinas – gesprochen werden, und enthält zahlreiche Dialekte bzw. Varianten (vgl. Hunold 2009: 46). Die Einteilung der chinesischen Dialektgruppen ist seit Langem eine umstrittene Frage im Bereich der Sprachwissenschaft. Nach Yuan (1960) lassen sich die chinesischen Sprachen gemäß den jeweiligen Merkmalen generell in sieben große Dialektbündel gliedern, und zwar Mandarin, Wu, Xiang, Kejia, Min, Yue und Gan, auf deren Basis von späteren AutorInnen (u. a. Li/Xiong & Zhang 1987) noch weitere Gliederungen und Untergliederungen vorgenommen wurden. In dieser Arbeit wird die Version von Yuan angewendet.
Die geografische Verteilung der sieben Dialektbündel in nördlichen und südlichen Regionen von China kann zusammen aus den Abbildungen 3 und 4 ersehen werden. Aus der Abbildung 3 ist zu entnehmen, dass China im Sinne der Geografie und des Klimas durch das Qinling-Gebirge und den Huaihe-Fluss in Norden und Süden eingeteilt wird.
Abbildung 3: Geografische Abgrenzung Nord- und Südchinas (Schwartz 2016; zit. nach Ito/Zhang 2016: 35)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Verbreitungsgebiete der chinesischen Dialektbündel6 (Wang 2004: 74; zit. nach Pehlken-Bakenhus 2015: WWW-Veröffentlichung)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Im Zusammenhang mit der Abbildung 3 ist aus der Abbildung 4 deutlich ersichtlich, dass Mandarin-Dialekte quer durch den Norden und Süden Chinas die größten Verbreitungsgebiete umfassen. Sowohl in den ganzen nördlichen Regionen als auch in vielen südlichen Provinzen wie Yunnan, Guizhou, Sichuan, Hubei (außer dem Südosten), dem Nordwesten von Hunan und Guangxi werden Mandarin-Dialekte gesprochen (vgl. Yi 2013: 56). Wegen ihrer inneren Ähnlichkeiten werden Mandarin-Dialekte in der Literatur häufig „nordchinesische Dialekte“ genannt, die aber in dieser Arbeit nicht verwendet werden, da diese Bezeichnung nicht mit dem geografischen „Nordchina“ übereinstimmt und zur Verwirrung führen kann.
Die Ähnlichkeiten zwischen den Mandarin-Dialekten können auf die historischen Faktoren zurückgeführt werden: Im Laufe der tausendjährigen Geschichte Chinas herrschten im Norden häufig andauernde Kriege mit der massiven Abwanderung der Bevölkerung, was die Begegnung und die Integration der Dialekte in nördlichen Regionen förderte. Außerdem wurden Mandarin-Dialekte als Guanhua (Kanzleisprache) bestimmt, da „Nordchina die Wiege der Kultur der Han-Chinesen gewesen ist und das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum Chinas bleibt“ (Wang 1993: 21). Im Jahr 1955 wurden bei der nationalen Konferenz der Sprachreform und der akademischen Konferenz der Standardfragen zur modernen chinesischen Sprache die Pekinger Aussprache als Standardaussprache sowie die Mandarin-Dialekte als grundlegende Dialekte festgelegt (vgl. Liu 2015: 22).
Neben Mandarin liefert die Abbildung 4 auch Informationen über die anderen sechs Dialektbündel, nämlich Wu, Xiang, Kejia, Min, Yue und Gan, die hauptsächlich im Südosten Chinas verbreitet sind. Die sechs südlichen Dialektbündel werden von circa 30 Prozent der Han-Bevölkerung verwendet und unterscheiden sich so stark voneinander, dass die Kommunikation zwischen den einzelnen Bündeln fast unmöglich ist (vgl. Wang 1993: 21). Dies kann daraus resultieren, dass die nördlichen Han-ChinesInnen während zahlreicher Kriege in der Vergangenheit ständig nach Süden umsiedelten und ihre zu verschiedener Zeit gesprochenen Sprachen auch sukzessiv nach Süden brachten. Aufgrund der Berg- und Hügellandschaft entwickelten sich die Dialekte in Südchina mit den Besonderheiten der in unterschiedlichen Zeiträumen integrierten nördlichen Sprachen jeweils in isolierten Umgebungen (vgl. Wang 1989) und sind allmählich in sechs Bündel aufgespalten.
Obwohl die Verbreitung des Standardchinesischen Putonghua im Jahr 1982 von der chinesischen Regierung in der Verfassung festgesetzt wurde und danach in weiten Teilen von China umfangreich gefördert worden ist, weicht das in verschiedenen Regionen gesprochene Putonghua mehr oder minder stark von der normierten Aussprache ab. Laut Wu (2009) sind Nord- und SüdchinesInnen beim Sprechen des Putonghua offensichtlich erkennbar an den jeweiligen speziellen Akzenten, auch wenn zwischen den sieben Dialektbündeln erhebliche Unterschiede existieren (vgl. ebd.: 22). Im Folgenden wird auf die Merkmale der inländischen Akzente von Nord- und SüdchinesInnen eingegangen.
1.4.2 Inländische Akzente der Nord- und SüdchinesInnen
Bevor über die nord- und südchinesischen Akzente diskutiert wird, sollen als Erstes die Begriffe „Akzent“ und „Dialekt“ sowie deren Unterscheidung erläutert werden. In Bezug auf die beiden Termini gibt Fenocchio (2010) die folgende Definition mit konkreten Beispielen an:
Grundsätzlich lässt sich sagen, dass der Akzent sich allein auf die Aussprache bezieht. Er tritt sowohl innerhalb einer Sprache auf, wie zum Beispiel der amerikanische Südstaatenakzent, als auch zwischen Aus- und Inländern (z. B. französischer Akzent im Deutschen). Der Dialekt dagegen bezieht sich auf die gesamte Aussprache, Wortschatz und Grammatik einer Sprache. Er tritt immer innerhalb einer Sprache auf. Im Deutschen ist dies z. B. beim bairischen [sic!] der Fall. Neben der Aussprache fallen hier auch völlig andere Wörter auf7, wie auch eine veränderte Grammatik, die im hochdeutschen [sic!] als falsch betrachtet wird8. (Fenocchio 2010: 4f)
Nach Fenocchio umfasse der Dialekt außer der Aussprache auch noch andere linguistische Elemente, während der Akzent nur die Aussprache betreffe. Darüber hinaus beziehe sich der Terminus „Akzent“ nicht nur auf einen fremden Akzent von AusländerInnen, sondern auch auf einen inländischen Akzent von MuttersprachlerInnen. Diese Auffassung gilt ebenfalls für Nord- und SüdchinesInnen, die beim Sprechen des Putonghua eigene typische Aussprachegewohnheiten und -besonderheiten aufweisen.
Die Akzente in Nord- und Südchina werden nach Xie und Kuang (2012), die sich mit der Beziehung zwischen den Artikulationsmerkmalen von Nord- und SüdchinesInnen und der Kunst des Gesangs auseinandersetzten, mit dem Wissen der artikulatorischen Phonetik charakterisiert und unterschieden. Die beiden Autoren vertreten den Standpunkt, dass vor allem der Mundöffnungsgrad und die Artikulationsposition die Unterschiede zwischen dem nördlichen und dem südlichen Akzent auslösen (vgl. ebd.: 120). Die Artikulationsweisen der Nord- und SüdchinesInnen sowie deren jeweilige Wirkungen auf die Stimmbildung lassen sich in der folgenden Tabelle vergleichen.
Tabelle 1: Artikulationsmerkmale der Nord- und SüdchinesInnen (vgl. Xie/Kuang 2012: 121)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die gemeinsamen Merkmale des nordchinesischen Akzentes charakterisieren sich vorwiegend durch den größeren Öffnungsgrad des Mundes und die sich relativ hinten im Mundraum befindende Artikulationsstelle. Dies kann dazu beitragen, dass die Resonanzhöhlen des Mundes und des Rachens beim Sprechen völlig geöffnet werden, wodurch die Stimme der NordchinesInnen voll und kräftig sowie die Klangfarbe hell und klar wirkt (vgl. ebd.).
Im Vergleich zu NordchinesInnen ist der Mundöffnungsgrad der SüdchinesInnen beim Artikulieren tendenziell kleiner. Außerdem liegt ihre Artikulationsposition vergleichsweise im vorderen Teil des Mundes, sodass die Lippen und Vorderzähne besonders aktiv und häufig zur Verwendung kommen. Die wesentliche Konsequenz daraus ist, dass die Stimme der SüdchinesInnen meistens dünn und weich klingt und die Klangfarbe dunkel wird, indem sich die Resonanzhöhlen des Mundes und des Rachens verengen (vgl. ebd.).
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die jeweiligen Artikulationsgewohnheiten jeweils einen ähnlichen Akzent innerhalb Nordchinas und innerhalb Südchinas ausmachen, obwohl sich in den beiden Landeshälften zahlreiche feine Dialektzweige verteilen. Gemäß diesem Kriterium werden in dieser Arbeit die Ausspracheabweichungen von nord- und südchinesischen Deutschlernenden bei E-Lauten als zwei Untersuchungsgegenstände angesehen.
Nach der Beschreibung aller wichtigen Begrifflichkeiten der vorliegenden Arbeit erfolgen im anschließenden Kapitel 2 die Darstellung und Kontrastierung der E-Laute im Deutschen und in den Sprachen in Nord- und Südchina.
2 Kontrast der E-Laute im Deutschen und in den Dialekten in Nord- und Südchina
Laut Lados (1957) Kontrastivitätshypothese, einer der dominanten Theorien des L2-Erwerbs, kann aufgrund der Übereinstimmungen oder Unterschiede zwischen den Strukturen der L1 und L2 ein positiver oder negativer Transfer beim L2-Erwerb eintreten. Von dieser Hypothese ausgehend werden im vorliegenden Kapitel die jeweiligen E-Laute im Deutschen sowie in den Dialekten in Nord- und Südchina aufgelistet und die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen denselben veranschaulicht. Dadurch kann eine theoretische Basis für das – wie in der Einleitung geschildert – durch die Verfasserin beobachtete Phänomen bezüglich der unterschiedlichen Erwerbsgeschwindigkeiten und Schwierigkeiten der nord- und südchinesischen Deutschlernenden beim Lernen der E-Laute geschaffen werden.
Die deutschen E-Laute werden dem Vokaltrapez des Deutschen (siehe Abbildung 2 im Kapitel 1.2) im Duden Aussprachewörterbuch entnommen, während die Daten der E-Laute in den Dialekten in Nord- und Südchina aus der Untersuchung von Shi (2010) stammen. Um die Merkmale der Vokalsysteme der chinesischen Sprachen zu erforschen, wählte Shi die Audioaufnahmen der 40 vertretenen Dialekte in der Phonetischen Datenbank der modernen chinesischen Dialekte (Hou 1994 – 1999) aus. Danach führte sie ein phonetisches Experiment mithilfe der von der Nankai-Universität entwickelten Software MiniSpeechLab V1.0 durch (vgl. Shi 2010: 25). Aufgrund ihrer Untersuchungsergebnisse erstellte Shi die entsprechenden Vokaltrapeze der einzelnen Dialekte. Anders als das Vokalviereck des Deutschen werden die Vokale in den chinesischen Sprachen grundsätzlich in Form von Dreiecken dargestellt (siehe Anhang 1 und 2).
2.1 E-Laute im Deutschen
Wie die Tabelle 2 zeigt, lassen sich anhand des Vokalvierecks vier E-Laute im Deutschen klassifizieren, und zwar [e:] (wie in Esel [ˈe:zəl] , Beet [be:t] , Reh [re:]), [ɛ:] (wie in zählen [ˈtsɛːlən] , wägen [ˈvɛːgən]), [ɛ] (wie in essen [ˈɛsən] , fällen [ˈfɛlən]) und [ə] (wie in Name [ˈna:mə] , Liebe [ˈliːbə]).
Tabelle 2: E-Laute im Deutschen (vgl. Hunold 2009: 87)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Bei der Artikulation der Laute [e:], [ɛ:] und [ɛ] bestehen die folgenden gemeinsamen Eigenschaften: Insgesamt hebt sich der Vorderzungenrücken „mittelhoch (d. h. weniger stark als bei den i -Lauten) zum vorderen harten Gaumen und die Mundöffnung ist etwas größer als bei den hohen Vokalen“ (Mangold 2005: 36). Außerdem bleiben die Lippen dabei ungerundet. Demgemäß gehören die drei E-Laute zu den ungerundeten mittleren Vorderzungenvokalen. Allerdings soll eine Nuance nicht außer Acht gelassen werden: Bei den halboffenen Vokalen [ɛ:] und [ɛ] befindet sich der Vorderzungenrücken im Vergleich zum halbgeschlossenen [e:] noch tiefer und der Mundöffnungsgrad ist vergleichsweise auch größer (vgl. ebd.). Darüber hinaus bleiben Artikulationsmuskeln bei [e:] gespannt, jedoch bei [ɛ:] und [ɛ] ungespannt.
Der vierte E-Laut im Deutschen ist der Zentralvokal [ə] (auch Schwa-Laut, Reduktionsvokal), der nur als unbetonte Silbe vorkommt. Dieser Laut heißt gleichfalls ungerundeter Mittelzungenvokal, denn „der mittlere Zungenrücken ist leicht zum mittleren harten Gaumen angehoben“ (ebd.: 37) und liegt entspannt im Mundraum. Die Zungenhöhe des [ə] ist ungefähr wie welche der Vokale [e:] und [o:] und die Lippen runden sich dabei nicht (vgl. ebd.).
Im Unterschied zu den deutschen E-Lauten finden sich in den chinesischen Dialekten noch mehr Varianten. Nachfolgend werden zuerst die E-Laute in den Dialekten in Nordchina präsentiert.
2.2 E-Laute in den Dialekten in Nordchina
Unter den untersuchten 40 chinesischen Dialekten von Shi gibt es 14, die in den nördlichen Städten gesprochen werden, und zwar Beijing, Tianjin, Jinan, Qingdao, Zhengzhou, Ha’erbin, Xi’an, Yinchuan, Lanzhou, Xining, Wulumuqi, Taiyuan, Pingyao und Huhehaote (vgl. Shi 2010: 15). Aus den einzelnen Vokaldreiecken der 14 Dialekte (siehe Anhang 1) ergeben sich insgesamt vier Arten E-Laute [e], [ɛ], [æ] und [ɤ], die sich durch die Tabelle 3 illustrieren lassen.
Tabelle 3: E-Laute in den Dialekten in Nordchina (vgl. Shi 2010: 256 – 259)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Das halbgeschlossene [e] und das halboffene [ɛ] werden – wie im Deutschen – als ungerundete mittlere Vorderzungenvokale bezeichnet (vgl. ebd.: 263f). Darüber hinaus zählt dazu noch der Laut [æ], dessen Zungenhöhe zwischen [ɛ] und dem niedrigen Vokal [a] liegt und dessen Mundöffnung größer als [ɛ], aber kleiner als [a] ist (vgl. ebd.: 264). Der letzte spezifische E-Laut ist der Zentralvokal [ɤ], der allein als Auslaut dient (z. B. bei g ē [gɤ] „Bruder“ und h ē [hɤ] „trinken“). Seine Besonderheit liegt in seiner relativ flexiblen Vertikallage im Mundraum. Je nach Dialekt kann sich dieser Vokal zwischen den vertikalen Zungenpositionen von [e] und [æ] bewegen9 (vgl. ebd.: 233). Die Zunge bleibt bei der Artikulation entspannt (vgl. ebd.: 263).
Des Weiteren ergibt das Experiment von Shi, dass sich die in der Tabelle 3 gezeigten vier E-Laute nicht gleichmäßig in allen 14 nördlichen Dialekten verteilen. Am häufigsten tritt der Laut [ɤ] auf, bzw. findet sich dieser in 12 Dialekten. Als Nächstes kommt [ɛ] in sieben Dialekten vor. Dagegen lassen sich die Laute [e] und [æ] nur jeweils in einem Dialekt finden, und zwar [e] im Qingdao-Dialekt und [æ] im Pingyao-Dialekt (vgl. Anhang 1).
2.3 E-Laute in den Dialekten in Südchina
Außer der 14 Dialekte in Nordchina erforschte Shi noch 26 Dialekte in südchinesischen Regionen. Den sieben großen Dialektbündeln gemäß können die 26 Dialekte folgenderweise kategorisiert werden: (1) Mandarin-Dialekte: Nanjing, Guiyang, Chengdu, Hefei, Wuhan und Kunmin; (2) Wu-Dialekte: Shanghai, Suzhou, Hangzhou, Wenzhou, Shexian und Tunxi; (3) Xiang-Dialekte: Changsha und Xiangtan; (4) Kejia-Dialekte: Taoyuan und Meixian; (5) Min-Dialekte: Fuzhou, Xiamen, Jian’ou, Haikou, Taibei und Shantou; (6) Yue-Dialekte: Guangzhou, Hongkong und Nanning; (7) Gan-Dialekte: Nanchang (vgl. ebd.: 15).
Anhand der Vokaldreiecke der 26 südlichen Dialekte (siehe Anhang 2) können fünf Varianten von E-Lauten herausgefunden werden, nämlich [e], [E], [ɛ], [æ] und [ɤ].
Tabelle 4: E-Laute in den Dialekten in Südchina (vgl. Shi 2010: 256 – 259)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Wie in der Tabelle 4 dargestellt, umfassen die untersuchten Dialekte in Südchina einerseits die gleichen Varianten [e], [ɛ], [æ] und [ɤ] wie welche im Norden. Hinzu kommt noch der ungerundete mittlere Vorderzungenvokal [E], dessen Zungenhöhe sowie Mundöffnungsgrad zwischen [e] und [ɛ] bleiben (vgl. ebd.: 250). Am umfangreichsten verteilt sich der Laut [e] in 16 der 26 Dialekte. An der zweiten Stelle kommt [ɛ] in 10 Dialekten vor. Danach existiert [ɤ] in 5 Dialekten. Als Letztes finden sich die Laute [E] und [æ] nur jeweils in drei Dialekten (vgl. Anhang 2).
Aus den drei Tabellen bezüglich der E-Laute im Deutschen sowie in den Dialekten in Nord- und Südchina kann zusammenfassend festgehalten werden, dass die E-Laute in den chinesischen Sprachen zwar über mehr Varianten verfügen als im Deutschen, jedoch keine Vokallänge und -kürze mit distinktiver Funktion aufweisen. Außerdem gibt es in südchinesischen Dialekten eine Variante [E] mehr als in nordchinesischen. Allerdings zeigen die dargestellten E-Laute unterschiedliche Verwendungshäufigkeiten in Nord- und Südchina: In nördlichen Dialekten tauchen die Laute [ɛ] und [ɤ] relativ öfter auf, während [e] und [ɛ] in südlichen Dialekten tendenziell häufiger gesprochen werden.
Aus der obigen kontrastiven Analyse lässt sich vermuten, dass die Differenzierungen zwischen den E-Lauten in den drei Sprachgruppen zu verschiedenen Interferenzen bei der Produktion der deutschen E-Laute bei nord- und südchinesischen Deutschlernenden führen könnten. Aber die Frage, welche genauen Probleme im Bereich der E-Laute die beiden Lernendengruppen aufweisen, ist noch in den nächsten Kapiteln zu beantworten.
Im nun folgenden Kapitel 3 wird versucht, einen umfassenden Überblick über den bisherigen Forschungsstand hinsichtlich des Problembereichs E-Laute bei chinesischen Deutschlernenden zu geben sowie die noch zu schließenden Forschungslücken aufzuzeigen.
3 Forschungsstand zu Problemen chinesischer Deutschlernender bei E-Lauten
Bislang lässt sich noch keine Literatur finden, die speziell die Ausspracheprobleme bezüglich der E-Laute bei chinesischen Deutschlernenden thematisiert. Vielmehr gilt dieser Bereich eher als ein untergeordnetes Untersuchungsthema in den vorhandenen Schriften, die sich entweder mit der Kontrastierung der Phonetik und Phonologie des Chinesischen und des Deutschen (u. a. Yen 1992; Liu 2015) oder den segmentalen Ausspracheabweichungen chinesischer Deutschlernender (u. a. Hachenberg 2003; Hunold 2009; Shang 2018) beschäftigen. Im Folgenden werden die betreffenden Ergebnisse in der Literatur resümiert.
Hachenberg (2003) stellt die Ausspracheprobleme chinesischer Lernender mit den deutschen Vokalen ausführlich dar und hält die Abweichungen bei E-Lauten für einen ihrer heikelsten Problembereiche. Beim langen gespannten [e:] – auch dem schwierigsten und problematischsten E-Laut aus Sicht vieler AutorInnen – folgt Hachenberg der Auffassung von Yen (1992), dass bei chinesischen Lernenden eine Bandbreite der Ersetzungen des [e:] zu [i: ɪ], [ɛ: ɛ] oder dem Diphthong [eɪ] auftrete. Beispielsweise wird leben [ˈle:bən] als [ˈli:bən], [ˈlɛ:bən] oder [ˈleɪbən] ausgesprochen. Jedoch könne nicht vorhergesagt werden, welche Varianten bei einzelnen Sprechenden zustande kommen würden (vgl. Yen 1992: 228; zit. nach Hachenberg 2003: 109). Das Phänomen der Diphthongierung des [e:] zu [eɪ] betrachtet Hachenberg als typische Besonderheit eines chinesischen Akzentes, da das [e] im Standardchinesischen nicht als alleinstehende Silbe, sondern nur als instabiler Diphthong- oder Triphthongbestandteil wie [eɪ] in f ē i „fliegen“ oder [ʊeɪ] in du ì „stimmen“ auftaucht (vgl. Hachenberg 2003: 109f).
Die Behauptung über die Variationsbreite der Ersetzungen für den [e:]-Laut wurde auch in einigen nachfolgenden empirischen Studien (u. a. Hunold 2009: 174; Shang 2018: 32) bewiesen. Zudem fügt Liu (2015) auch noch eine Ersetzungsmöglichkeit des [e:] hinzu, nämlich den chinesischen [ɤ]-Laut (vgl. Liu 2015: 79).
Zu dem langen [ɛ:] und dem kurzen [ɛ] vertritt Hachenberg den Standpunkt, dass die Tendenz dahin gehe, dass das [ɛ:] quantitativ abweichend sei, bzw. durch das [ɛ] substituiert werde. Zum Beispiel wird bäten [ˈbɛ:tən] oft wie betten [ˈbεtən] gesprochen (vgl. Hachenberg 2003: 112). Darüber hinaus kommt Hunold zu dem Ergebnis, dass das kurze [ɛ] manchmal durch [a] oder [e] ersetzt wird.
Nicht zuletzt sei der letzte deutsche E-Laut [ə] nach Hunold, Hachenberg und Liu auch nicht unproblematisch. Unabhängig von dem Sprachniveau sieht Hachenberg die Abweichung beim Schwa-Laut [ə] als „nahezu unausrottbares Problem“ (ebd.: 118) bei den meisten chinesischen Lernenden an: Sie können das Schwa-[ə] und das ebenfalls zentralisierte [ɐ] (z. B. lieb er, Lehr er) nicht auseinanderhalten, bzw. den [ɐ]-Laut tendenziell durch das [ə] oder das chinesische [ɤ] ersetzen. Beispielsweise sprechen sie Lage [ˈla:gə] statt Lager [ˈla:gɐ] (vgl. ebd.: 118f).
Es muss darauf verwiesen werden, dass all diese bislang erworbenen Ergebnisse bezüglich der Probleme bei E-Lauten ausschließlich für Mandarin-Sprechende gültig sind, jedoch als Abweichungen aller chinesischen Deutschlernenden verallgemeinert werden. Ein wesentliches Defizit besteht darin, dass die Lernenden aus den anderen sechs südlichen Dialektgebieten nicht in die Untersuchungen mit einbezogen wurden. Dementsprechend liegen bisher sehr wenige Arbeiten in Bezug auf die Betrachtung der Ausspracheprobleme südchinesischer Dialektsprechender vor. Beispielsweise untersuchten nur zwei chinesische Autorinnen Zheng (2015) und Tu (2019) den Ausspracherwerb der Shanghai-Dialektsprechenden und weisen im Bereich der E-Laute darauf hin, dass das ungerundete halbgeschlossene [e:] relativ schwierig für diese Lernendengruppe sei (vgl. Zheng 2015: 333) und häufig zum Diphthong [eɪ] tendiere (vgl. Tu 2019: 62). Des Weiteren gibt es bisher ebenfalls keine Schriften, die Ausspracheabweichungen der nord- und südchinesischen Deutschlernenden als zwei Untersuchungsgegenstände gemeinsam analysieren, kategorisieren und vergleichen.
Die oben erwähnten Einschränkungen der vorhandenen Studien stellen große Lücken im Forschungsbereich der Ausspracheprobleme und -schwierigkeiten chinesischer Deutschlernender dar und können deswegen als neuer Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit dienen. Im nächsten Kapitel wird ausführlich auf den empirischen Teil der Arbeit eingegangen.
4 Empirische Untersuchung
Im diesem Kapitel werden die Schwerpunkte im Wesentlichen auf die Fragestellung und Zielsetzung der empirischen Untersuchung, das vollständige Forschungsdesign, die Beschreibung aller Untersuchungsteilnehmenden und die Wiedergabe des tatsächlichen Untersuchungsverlaufs gesetzt.
4.1 Fragestellung und Zielsetzung
Ausgehend von der eigenen Beobachtung durch die Verfasserin bezüglich der Aussprachebesonderheiten nord- und südchinesischer Deutschlernender bei E-Lauten sowie der zugrunde liegenden kontrastiven Analyse der E-Laute im Deutschen und in den Dialekten in Nord- und Südchina werden die folgenden vier zentralen Hypothesen abgeleitet, die im Rahmen dieser Arbeit überprüft werden sollen:
Hypothese 1: Nord- und südchinesische Deutschlernende weisen Ausspracheabweichungen bei der Produktion der E-Laute auf.
Hypothese 2: In den Abweichungen im Bereich der E-Laute existieren Unterschiede bei nord- und südchinesischen Deutschlernenden.
Hypothese 3: Nordchinesische Deutschlernende weisen vielfältigere Abweichungen bei E-Lauten auf als südchinesische Deutschlernende.
Hypothese 4: Beim Hören wirken die Abweichungen im Bereich der E-Laute von nordchinesischen Lernenden störender als die von südchinesischen Lernenden.
Die Überprüfung der oben formulierten vier Hypothesen kann das Ziel erreichen, genaue Abweichungsarten von E-Lauten bei den Deutschlernenden aus Nord- und Südchina zu diagnostizieren, Schlussfolgerungen auf die Aussprachevermittlung hinsichtlich der E-Laute zu ziehen sowie effektive Übungsvorschläge gezielt für die beiden Lernendengruppen zu machen. Im darauffolgenden Abschnitt wird vor allem das gesamte Forschungsdesign im Detail beleuchtet.
4.2 Forschungsdesign
Das Forschungsdesign dieser Arbeit beinhaltet vier Hauptaspekte: die ausgewählte Forschungsmethode, die einzelnen Forschungsphasen, die Auswahl der Untersuchungsteilnehmenden und die Entwicklung der einzusetzenden Materialien. Im Folgenden werden zunächst die festgelegte Forschungsmethode bzw. die allgemeine Forschungsplanung vorgestellt.
4.2.1 Forschungsmethode und -planung
Um die jeweiligen Ausspracheabweichungen im Bereich der E-Laute bei nord- und südchinesischen Deutschlernenden zu ermitteln, wurde eine empirische Untersuchung als entsprechende Forschungsmethode bestimmt. Dabei ging es um eine Durchführung der Tonaufzeichnung von zwei ProbandInnengruppen jeweils aus Nord- und Südchina und einen anschließenden Beurteilungsprozess durch deutsche MuttersprachlerInnen.
Im Großen und Ganzen wurde das methodische Vorgehen in drei Schritten konzipiert: In der Vorbereitungsphase sollten als Erstes passende ProbandInnen und BeurteilerInnen festgelegt und rekrutiert. Danach waren die für die Untersuchung benötigten Materialien zu gestalten, und zwar der Fragebogen zur Sammlung persönlicher Informationen der ProbandInnen, das Tonaufnahmematerial für ProbandInnen sowie der Bewertungsbogen für BeurteilerInnen. Anschließend sollten alle entwickelten Materialien pilotiert werden, um potenzielle Defizite darin zu beseitigen. Nach der Pilotierung der Materialien folgte die Durchführungsphase: Die ProbandInnen sollten zuerst den Fragebogen ausfüllen und danach einzeln in einem ruhigen Raum die Aufgaben auf dem Aufnahmematerial bearbeiten. Dabei sollten die ProbandInnen durch zwei Aufnahmegeräte aufgezeichnet werden, damit eine gute Aufnahmequalität gesichert werden konnte. Nachdem alle Aufnahmen gesammelt worden waren, wurden diese von den deutsch-muttersprachlichen BeurteilerInnen angehört und zugleich mit den vorbereiteten Bögen bewertet. Schließlich waren in der Nachbereitungsphase alle Bewertungsbögen zu sammeln, die erhobenen Daten zu analysieren und die Endergebnisse zu ziehen. Im nächsten Teil werden die berücksichtigten Kriterien für die Auswahl der ProbandInnen und BeurteilerInnen konkret erläutert.
4.2.2 Kriterien für die Auswahl der Untersuchungsteilnehmenden
Für die Beteiligung an der Tonaufnahme wurden insgesamt 14 ProbandInnen eingeplant. Diesbezüglich wurde auf die folgenden Kriterien geachtet: Die 14 ProbandInnen sollten aus zwei Gruppen bestehen, und zwar sieben NordchinesInnen, deren Heimatdialekt Mandarin ist, und sieben SüdchinesInnen, die jeweils aus den sieben Dialektgebieten in Südchina stammen. Ferner sollten als ProbandInnen nur diejenigen ChinesInnen ausgewählt werden, die Deutschlernerfahrung zunächst in China hatten und zum Zeitpunkt der Aufnahme in Deutschland studierten. Das heißt, dass die ProbandInnen den TestDaF oder die Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang (DSH) bereits bestanden und mindestens das Sprachniveau B2 erreicht hatten. Um die Vielfalt der ProbandInnen zu erhöhen, sollten diese aus unterschiedlichen Studiengängen an mehreren deutschen Hochschulen ausgesucht werden.
Zur Beurteilung der Aussprache von ProbandInnen wurden acht deutsche MuttersprachlerInnen eingeplant, die entsprechend den ProbandInnen auch in zwei Gruppen jeweils mit vier Personen eingeteilt werden konnten. Jede Beurteilungsgruppe sollte sich aus zwei ExpertInnen und zwei LaiInnen zusammensetzen. Als ExpertInnen wurden diejenigen ausgesucht, die sich mit dem Bereich DaF oder Germanistik beschäftigten bzw. Fachkenntnisse in Phonetik und Phonologie hatten, während als LaiInnen die MuttersprachlerInnen ausgewählt wurden, die mit den genannten Bereichen nicht vertraut waren. Eine gemischte Beurteilungsgruppe auf diese Weise konnte die Objektivität der erhobenen Daten in höchstem Maße gewährleisten. Die ausführliche Vorstellung der festgelegten 14 ProbandInnen und acht BeurteilerInnen findet sich im Kapitel 4.3.
Die anschließenden Abschnitte beziehen sich auf die Konzipierung der in der Untersuchung angewendeten Materialien. Zuerst werden im Folgenden die Inhalte des Fragebogens zur Erhebung der Profile der 14 ProbandInnen präsentiert.
4.2.3 Fragebogen für ProbandInnen
Der für die ProbandInnen entwickelte Fragebogen (siehe Anhang 3) enthält drei Schwerpunkte: 1) persönliche Angaben (Alter, Geschlecht, Geburtsort, Heimatdialekt, Studienfach und Fachsemester sowie gelernte Fremdsprache/n); 2) Lernerfahrung des Deutschen inklusive der Dauer des Deutschlernens, der abgelegten deutschen Sprachprüfungen, der Aufenthaltszeit in Deutschland, der Verwendungshäufigkeit des Deutschen sowie der Deutschkurse, die die ProbandInnen zum Zeitpunkt der Aufnahme besuchten; 3) Einstellungen zur Wichtigkeit der sprachlichen Fertigkeit „Aussprache“ und zu eigenen Aussprachelernerlebnissen im DaF-Unterricht in China. Diesbezüglich sollten sich die ProbandInnen überlegen, wie ihnen die deutsche Aussprache in chinesischem DaF-Unterricht beigebracht wurde, welche Aspekte bei der Aussprachevermittlung in diesem Unterricht sie problematisch finden und welche noch zu verbessern sind. Die Antworten auf diese Fragen können zusammen mit den Ergebnissen der empirischen Untersuchung die chinesischen DaF-Lehrkräfte darauf aufmerksam machen, die bestehende Problematik in ihrem Ausspracheunterricht zu beachten und angemessene didaktische Maßnahmen dafür zu ergreifen.
4.2.4 Tonaufnahmematerial
Für eine möglichst umfassende Ermittlung der Probleme der ProbandInnen bei E-Lauten wurden als Aufnahmematerial eine Wortliste und ein kurzer Text (siehe Anhang 4) festgelegt, in denen die vier E-Laute [e:], [ɛ:], [ɛ] und [ə] eingebettet werden. Dieser Abschnitt befasst sich mit der Gestaltung und Aufgabestellung des gesamten Materials.
Die Wortliste enthält insgesamt 36 Wörter, die aus dem Duden Aussprachewörterbuch und Ehrlichs (2011) Stimmbildung und Sprecherziehung. Ein Lehr- und Übungsbuch stammen, in denen die IPA-Lautschriften von Wörtern angegeben sind. In der Wortliste wurden 30 Wörter als Zielwörter bestimmt, die aus den folgenden 20 ein- und zweisilbigen und 10 mehrsilbigen Wörtern mit E-Lauten bestehen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Bei den ein- und zweisilbigen Wörtern ist zu erwarten, dass die Wortbedeutung aufgrund der Abweichungen bei der Produktion von E-Lauten verändert und falsch verstanden werden würde (z. B. Quellen zu quälen, Lehrer zu Lehre). Zudem könnten die Abweichungen bei E-Lauten in den mehrsilbigen Wörtern zu einem negativen Eindruck des ganzen Wortes führen. Darüber hinaus wurden auch noch sechs Wörter (König, Pferd, fließen, Geräusch, überrascht, schöpfen), die nicht in die Beurteilung einbezogen wurden, als Übergang jeweils am Anfang, in der Mitte und am Ende der Wortliste hinzugefügt. Dies kann ermöglichen, den Forschungszweck in Hinsicht auf die E-Laute möglichst gut zu verstecken. Als Aufgabe sollten die ProbandInnen die Wörter auf einer ausgedruckten Liste einmal laut und deutlich im Zeitabstand von zwei Sekunden vorlesen. Jedoch tauchte bei der Pilotierung der Wortliste das Problem auf, dass das Lesen der Wörter in Papierform die Kontrolle der Pause zwischen einzelnen Wörtern erschwerte. Zur Verbesserung dieses Problems wurden die 36 Wörter stattdessen einzeln auf 36 PowerPoint-Folien eingetippt, und dazwischen wurde der Zeitabstand von zwei Sekunden eingestellt.
Als zweiter Teil des Aufnahmematerials wurde der folgende Text „Ein Reh“, der ursprünglich von Reinke (2018) zum Üben verschiedener E-Laute im Deutschen gestaltet wurde, ausgesucht und adaptiert. Der Grund für die Auswahl dieses Textes liegt darin, dass dadurch sowohl die Abweichungsarten von E-Lauten als auch deren Wirkungen auf das Hören des ganzen Textes ermittelt werden können.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die erste Version der Aufgabe bezüglich dieses Textes wurde folgenderweise konzipiert: Die ProbandInnen sollten den Text einmal vorlesen und danach einmal ohne Text frei sprechen, da das Vorlesen und das Freisprechen für zwei unterschiedliche Kompetenzen stehen. Jedoch zeigten sich während der Pilotierung des Textes einige Probleme beim Freisprechen: Mit dem Bewusstsein der Aufnahme tendierte die beteiligte Versuchsperson eher dazu, den Text wörtlich auswendig zu lernen, was von dem eigentlichen Ziel abwich. Des Weiteren traten beim Freisprechen des Textes eine Zunahme, Reduzierung oder Ersetzung der Wörter auf, welche die Entwicklung eines einheitlichen Kriteriums für die Bewertung der E-Laute schwierig machen konnten. Mit Berücksichtigung der oben genannten Faktoren wurde nach der Pilotierung des Textes entschieden, den Fall des Freisprechens aus der Aufgabe auszuschließen. Stattdessen sollten die ProbandInnen den Text nur einmal laut und deutlich vorlesen.
4.2.5 Bewertungsbogen
Entsprechend dem Aufnahmematerial wurde ein Bewertungsbogen (siehe Anhang 5) für die Ermittlung der Abweichungen der ProbandInnen bei E-Lauten entwickelt. Nachstehend wird der Aufbau des Bewertungsbogens dargelegt.
Das Deckblatt des Bogens umfasst vor allem das Thema und die Zielsetzung der empirischen Untersuchung. Darüber hinaus werden nach den persönlichen Informationen der BeurteilerInnen gefragt, nämlich Alter, Geschlecht, Muttersprache, Fremdsprache/n und Studienfach oder Berufstätigkeit. Im Anschluss daran folgen drei Beurteilungsteile bezüglich der Aufnahmen der 20 ein- und zweisilbigen Wörter, der 10 mehrsilbigen Wörter und des Textes „Ein Reh“.
Beim ersten Teil geht es um die Diskrimination der 20 ein- und zweisilbigen Wörter in Form von Wortpaaren oder -gruppen (z. B. Räder – Rede, Kehle – Kelle – Keller). Die BeurteilerInnen sollten jedes einzelne aufgenommene Wort anhören und eine Auswahl von den angegebenen Optionen treffen. Falls ein Wort gehört wurde, das aber nicht in den Optionen gegeben ist, sollte dieses auch aufgeschrieben werden. Außerdem steht noch ein Feld fürs Ankreuzen zur Verfügung, wenn die BeurteilerInnen keine Entscheidung treffen konnten. Der Konzeption dieser Beurteilungsform liegen die bedeutungsunterscheidenden Merkmale der deutschen Vokale zugrunde, wodurch die Abweichungen der ProbandInnen bei der Quantität und Qualität der E-Laute festgestellt werden können.
Der zweite Teil handelt von der Beurteilung der Aussprache der 10 mehrsilbigen Wörter mit E-Lauten als betonter Silbe. Insgesamt sollten die BeurteilerInnen die gelesenen 10 Wörter zweimal anhören. Für eine Globaleinschätzung sollte beim ersten Hören die Aufmerksamkeit nur auf das ganze Wort gelegt werden, wobei dessen Aussprache mit der vierstufigen bipolaren Skala (1 = richtig, 4 = sehr abweichend) bewertet wurde. Beim zweiten Hören sollten sich die BeurteilerInnen besonders auf die markierten E-Laute in akzentuierter Position in den einzelnen Wörtern konzentrieren und versuchen, die konkreten Abweichungen dieser Laute zu charakterisieren. Als Hilfsmittel werden auf dem Bogen Hinweise zur Fehlerbeschreibung (z. B. abweichende Vokallänge, Ersetzung durch andere Buchstaben/Laute usw.) mit anschaulichen Beispielen angezeigt. Auf diese Weise lassen sich sowohl umfassendere Abweichungsarten von E-Lauten als auch die Einflüsse derselben auf die Wahrnehmung der Aussprache des gesamten Wortes herausfinden.
Zuletzt sollten die BeurteilerInnen den von den ProbandInnen gelesenen Text „Ein Reh“ zweimal anhören und zwei Aufgaben bearbeiten. Das erste Mal sollten die BeurteilerInnen die Aufnahmen nur anhören, ohne den Text zu schauen. Danach folgte die Bewertung des Gesamteindrucks der Aussprache des Textes hinsichtlich der Verständlichkeit und des fremden Akzentes mit der Skala von 1 bis 4 (1 = bester Wert). Außerdem konnten auch andere relevante Kommentare dazu ergänzt werden. Beim zweiten Hören sollte der Fokus gezielt auf die fettgedruckten E-Laute im Text gelegt werden, wobei die genauen Abweichungstypen derselben mithilfe der zur Verfügung stehenden Anweisung zu beschreiben waren. Die Konzipierung dieses Beurteilungsteils zielt darauf ab, zu ermitteln, ob und welche Abweichungen bei E-Lauten störend beim Hören wirken bzw. zum Erschweren der Verständlichkeit oder zu einem fremden Akzent führen können.
[...]
1 Im Folgenden: L2-Erwerb.
2 Im Folgenden: L1.
3 Im Folgenden: DaF.
4 Im Folgenden: IPA.
5 Eine Ausnahme hier ist der Laut [ε:], der lang und ungespannt artikuliert wird (vgl. Settinieri 2013: WWW-Veröffentlichung).
6 Die in der Abbildung 4 dargestellten Dialektbündel Min (Nord) und Min (Süd) werden von Yuan (1960) gemeinsam als Min-Dialekte bezeichnet und in dieser Arbeit auch nicht getrennt betrachtet.
7 z. B. „Bub“ für „Junge“
8 z. B. „Ich war gesessen“ an Stelle von „Ich habe gesessen.“
9 Laut Shi lässt sich der Zentralvokal [ɤ] je nach Dialekt noch weiter in drei Varianten [ə], [ɵ] und [ɜ] unterteilen (vgl. Shi 2010: 264).
- Quote paper
- Master Ruanling Miao (Author), 2020, Ausspracheabweichungen nord- und südchinesischer Deutschlernender bei E-Lauten, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/923267
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