Für Parzival wird sich die Aventiurenfahrt fernab der arthurischen Rittergesellschaft auch als eine Reise in die eigene Persönlichkeit herausstellen, bei der er seine Grundüberzeugungen zu überprüfen, seinen Hass auf Gott abzulegen hat, um am Ende das ferne Ziel, den Gral, wiederzusehen, und eine zweite Chance zu bekommen, den Gralskönig von seinem Leiden zu erlösen. Die Elemente der Schuld, Besinnung, Umkehr und Erlösung schimmern immer wieder durch Wolframs Parzivalhandlung hindurch; ihnen nachzuspüren soll die Aufgabe der vorliegenden Arbeit sein. Zugleich sollen einige der wesentlichen theologischen Aspekte im Werk Wolframs von Eschenbach mit der altfranzösischen Vorlage Chrétiens de Troyes und den mystischen Schriften des heiligen Bernhard von Clairvaux abgeglichen werden, um herauszuarbeiten, welche Gewichtungen der deutsche Dichter in seiner Bearbeitung und Erweiterung des Stoffes gesetzt hat. Parzivals Sünden und Verfehlungen werden dabei ebenso eine Rolle spielen, wie die Bedeutung seiner Genese vom Sünder zum Herrscher über den Gral.
Inhaltsverzeichnis
0. Einleitung
1. Sünde und Schuld
1. Theologischer Sündenbegriff
2. Parzivals Schuldigwerden
2.1 Tod der Mutter
2.2 Fehlanwendung höfischer Normen
2.3 Cunnewâres Misshandlung durch Keie
3. Das Frageversäumnis
3.1 Die Beschreibung von Munsalvaesche
3.2 Die Lanzenprozession
3.3 Der Cortège de Graal
3.3.1 Herkunft des Gralsmotivs
3.3.2 Darstellung des Grals bei Wolfram und Chrétien
3.3.3 Religiöse Dimensionen
4. Öffentliche Anklage und Abkehr von Gott
5. Theologische Aufklärung und Besinnung
5.1 Sigunes Treue
5.2 Die Gläubigkeit des Kahenis
5.3 Religiöse Unterweisung und Laien-Absolution
6. Umkonzeptionierung des Ritterbildes
6.1 Die Templeisen
6.2 Die historischen Tempelritter
Abschließende Betrachtungen
Literatur
1) Primärliteratur:
2) Sekundärliteratur:
o. Einleitung
In einer Auslegung des bekannten 21. Kapitels des Matthäus-Evangeliums, das den Einzug Jesu in Jerusalem beschreibt, heißt es im Evangelienbuch des Otfried von Weißenburg:
Thaz selba fíhu birun wír, irkenn iz sélbo bi thír; thuruh dúmpheiti so bírun wir iz nóti!
Ésil, wizun wir tház, theist fíhu filu dúmbaz; ni míduh mih thero wórto: ist húarilinaz hárto;
Íz mag ouh in wára búrdin dragan suára, mag scádon harto lídan, ni kánn inan bimídan. Wir wárun io firlórane joh súntono biládane, druagun bi únsen wirdin thero úmmezlicha búrdin; Joh wárun wir gispánnan, mit séru bifángan, mit úbilu gibúntan,
ni múasun unser wáltan. Wir warun úmbitherbe joh hárto filu dúmbe, so thie sar gót nirknaent, ouh ímo sih ni náhent.
(„Das genannte Tier [ein Esel, auf dem Jesus reitet] sind wir, erkenne dies nur an dir selbst; wir sind es leider wegen unserer Torheit. Denn der Esel ist, wie wir wissen, ein sehr törichtes Tier; außerdem stehe ich nicht an zu sagen: auch ein sehr geiles. Zudem kann es wahrlich schwere Lasten schleppen und viel Züchtigung ertragen,
die zu vermeiden es nicht imstande ist. Wir waren einst verloren, mit Sünden beladen, trugen durch unsere Schuld ihre unendliche Last. Wir waren gefesselt, vom Leid eingesperrt, an unsere Bosheit gekettet; wir hatten keine Möglichkeit, über uns selbst zu bestimmen. Wir waren unnütz und voller Torheit, wie alle, die Gott nicht kennen und sich ihm nicht nahen.“ – Buch IV, Kapiel 5, 5-16[1])
Schwere Lasten der Schuld zu tragen, die er in seinem jungen Leben auf sich genommen hat, für seine Verfehlungen einzustehen und zu büßen, das ist auch Parzival, dem Helden des gleichnamigen Romans von Wolfram von Eschenbach aufgegeben. Seine tumpheit führt nicht nur dazu, dass er andere Menschen verstört, weil er Äußerungen und Regeln, die ihm mit-geteilt werden, zu strikt beachtet (so beispielsweise in der ersten Begegnung mit Condwîramûrs, in der kein Wort über seine Lippen kommen will). Seine Unwissenheit und die fehlende Vertrautheit mit den „ways of the world“ resultieren schließlich im Tod und im Leiden anderer. Die aggressive Rücksichtslosigkeit, mit welcher sich der Tor aus der Behütetheit der beinahe paradiesischen mütterlichen Sphäre[2] in Soltâne hinausbegibt, führt darum binnen kürzester Zeit zum Tod zweier Verwandter, seiner Mutter und Ithers, und zur Entehrung der Herzogin Jeschute, die er – den Rat der Mutter falsch auslegend – überfällt, zu einem Kuss nötigt und ihres Rings beraubt. Seine tumpheit wird dem Helden schließlich in der Gralsburg Munsalvaesche zum Fallstrick werden, wo er schweigt, als er hätte sprechen müssen, wo er die deutlichen Zeichen seiner Gastgeber verkennt und die von Gott vorherbestimmte Gralsherrschaft unwissentlich verspielt. Auf die Anklage durch Cundrie folgt eine Suche, die sich über viereinhalb Jahre erstrecken wird und zu der auch König Vergulaht und Gawan verpflichtet werden. Für Parzival wird sich diese Aventiurenfahrt fernab der arthurischen Rittergesellschaft auch als eine Reise in die eigene Persönlichkeit herausstellen, bei der er seine Grundüberzeugungen zu überprüfen, seinen Hass auf Gott abzulegen hat, um am Ende das ferne Ziel, den Gral, wiederzusehen, und eine zweite Chance zu bekommen, den Gralskönig von seinem Leiden zu erlösen. Die Elemente der Schuld, Besinnung, Umkehr und Erlösung schimmern immer wieder durch Wolframs Parzivalhandlung hindurch; ihnen nachzuspüren soll die Aufgabe der vorliegenden Arbeit sein. Zugleich sollen einige der wesentlichen theologischen Aspekte im Werk Wolframs von Eschenbach mit der altfranzösischen Vorlage Chrétiens de Troyes und den mystischen Schriften des heiligen Bernhard von Clairvaux abgeglichen werden, um herauszuarbeiten, welche Gewichtungen der deutsche Dichter in seiner Bearbeitung und Erweiterung des Stoffes gesetzt hat. Parzivals Sünden und Verfehlungen werden dabei ebenso eine Rolle spielen, wie die Bedeutung seiner Genese vom Sünder zum Herrscher über den Gral.
1. Sünde und Schuld
1. Theologischer Sündenbegriff
Die katholische Moraltheologie geht davon aus, dass individueller Schuld zunächst eine Sünde vorauszugehen hat.[3] Als Sünde versteht sie dabei die Übertretung göttlichen Gesetzes, die gleichsam eine freie Entscheidung des Menschen darstellt, gegen den offenbaren Willen Gottes (wie er beispielsweise dem Dekalog zu entnehmen ist) zu verstoßen.[4] Wer sündigt, entfernt sich gleichsam von Gott und dem ewigen Leben. Man unterscheidet generell die aktive Sünde des Einzelnen (mit ihren konkreten Ausformungen als Tat-, Gedanken-, oder Unterlassungssünde) von der Erbsünde. Durch die Ursünde Adams (peccatum originale[5]),
das göttliche Verbot zu missachten, nicht von den Früchten des Baumes der Erkenntnis zu essen, sind alle Nachkommen Adams unter die Sünde gestellt, eine Sünde, die immer weitere Sünden nach sich ziehen muss. Die Vergehen, derer der einzelne Mensch schuldig werden kann, lassen sich weiter ausdifferenzieren in lässliche , d.h. verzeihliche Sünden und schwerwiegende Sünden bzw. Todsünden.[6] Zu den Todsünden zählt man traditionell Hochmut (Superbia), Geiz (Avaritia), Neid (Invidia), Zorn (Ira), Wollust (Luxuria), Völlerei (Gula) und Faulheit (Acedia)). Während lässliche Sünden auch durch Unwissenheit begangen werden können, geschehen Todsünden stets in vollem Bewusstsein und aus freiem Willen heraus. Sie sind immer durch eine besondere Schwere der Tat gekennzeichnet und haben den „Verlust der göttlichen Tugend der Liebe und der heiligmachenden Gnade“ zur Folge.[7]
Stets aber kommt auch den inneren Beweggründen Bedeutung zu; Gott als ein „durchluichtec lieht“ (Pz 466, 3) durchdringt die Gedanken der Menschen und bewertet sie schon vor der Ausführung der sündhaften Handlung. Aus diesem Grund beschränkt sich etwa das sechste Gebot (nach Mt. 5: 28) nicht nur auf die Tat des Ehebrechens als äußerlich sichtbarem Vorgang, sondern auch auf das innerliche Begehren einer gebundenen Frau: Das innere Motiv ist in seiner Schwere gleich zu werten wie die Ausführung selbst: „Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen.“ Die Tatsache, dass die Ausführung einer Handlung nicht schwerer wiegt als die Planung der Handlung, betont im
12. Jahrhundert Petrus Abaelardus in seiner Schrift Scito te ipsum und verteidigt seinen Standpunkt gegen die Ansichten mancher Zeitgenossen, die die sichtbare Sündentat von der unsichtbaren Absicht trennen möchten, da sie das Sündigen in Gedanken für weniger verurteilungswürdig halten, als die eigentliche Ausführung der Tat.[8] Die Lehren des Abaelardus beeinflussen später unter anderem auch Petrus Lombardus und Thomas von Aquin.
2. Parzivals Schuldigwerden
2.1 Tod der Mutter
Nach dem Sündenfall, dem ersten Verstoß des Menschen gegen den Willen Gottes, welcher den Menschen zu einem imago dei geformt hatte, wurde der Mensch aus dem Paradies verstoßen, um nach seiner neuen, sündhaft erworbenen Fähigkeit, zwischen Gutem und Bösen unterscheiden zu können, nicht auch noch Unsterblichkeit zu erlangen.
Wie in diesem Naturzustand wächst auch Parzival auf[9], der, von seiner Mutter Herzeloyde behütet, von der Wirklichkeit des ritterlich-höfischen Lebens abgeschirmt wird, nachdem sein Vater Gahmuret im Dienste des Kalifen von Bagdad gefallen ist. Als Herzeloyde vom Tode Gahmurets erfährt, ist sie mit Parzival schwanger: Das ungeborene Leben hindert sie daran, Hand an sich zu legen und ihr eigenes Leben vorzeitig zu beenden. Dass Parzival Herzeloyde den Verlust ihres Gemahls kompensieren soll, wird deutlich in den Worten: “[ich] bin sîn muoter und sîn wîp” (Pz 109, 25). Anklänge eines inzestuösen Verhältnisses mögen darin mitschwingen, wie Brian Murdoch festhält[10], das Motiv des Inzests soll jedoch - anders als in Hartmanns Gregorius – keineswegs zur Entfaltung kommen. Vielmehr geht es darum, den exzessiven Beschützerinstink der Mutter zu begründen, und zu erklären, aus welchem Grund sie das Kind in solch großer Unwissenheit aufwachsen lässt. In dem Paradies von Soltâne ist sie es, die entscheidet, was für Parzival gut und was schlecht ist. Alle Aspekte der Ritterwelt betrachtet sie nach ihrem traumatischen Verlust grundsätzlich als schädlich und versucht sie darum von ihrem Sohn fernzuhalten.
Doch ist Herzeloyde mehr als eine einfache Mutter. Sie ist auch gleichzeitig Herrscherin über Waleis und Norgals. Mit ihrem Rückzug aus der Welt, der dem ihrer Verwandten Trevrizent und Sigune zumindest ähnelt, gibt sie auch gleichzeitig die Menschen preis, die auf ihren landesherrlichen Schutz angewiesen sind: Waleis und Norgals sind nach ihrem Weggang äußeren Aggressoren ausgeliefert und werden schließlich von Llewelyn[11] erobert, der das „volc [...] sluoc unde vienc.“ Wie Breziljan im Iwein wird Soltâne als „walt“ beschrieben (Pz 117, 8; bei Chrétien findet sich die Formulierung „gaste forest sountaine“, „wilder, einsamer Wald“: Pc 75). Soltâne wird als ein locus amoenus beschrieben, der sich in Kontrast zu der höfischen Welt und deren Normen setzt: Es ist eine Gegenwelt des Natürlichen.
Indem sie nach Soltâne aufbricht, wendet sich Hezeloyde vom Hof und vom Höfischen ab. Ihren Dienstleuten verbietet sie bei Todesstrafe, Parzival auch nur von Rittern zu erzählen .
Wie aussichtslos, vergeblich und überzogen diese Strategie des Verheimlichens und Abschirmens ist, wird deutlich, als Herzeloyde befiehlt, die Singvögel in den Wäldern erdrosseln zu lassen, weil diese zu starke Emotionen in dem Jungen auslösen[12].
Unvermeidlicherweise kommt der Tag, an dem der heranwachsende Parzival auf einen Pulk von Rittern trifft, die dem Frauenräuber Meljakanz nachjagen. In der Begegnung wird eine Parallele zum Iwein Hartmanns von Aue augenfällig: Wie der „wilde Mann“ aus dem Wald von Breziljan stellt auch der Junge eine Frage, die das ritterliche Leben betrifft.
Sie unterscheidet sich von derjenigen des ungehuire s, indem sie nicht lautet: “âventiure, waz ist daz?“ (Iw 527), sondern: „du nennest ritter : waz ist daz?“ (Pz 123, 4).
In Wolframs mutmaßlicher Vorlage, dem Conte du Graal Chrétiens, findet sich diese Frage nicht: hier interessiert sich der junge Perceval vielmehr für die äußerlichen Eigenschaften der Ritter, insbesondere Lanze und Schild, die ihrerseits Symbole der Ritterschaft sind. Parzivals Euphorie für den Ritterdienst kennt bei Wolfram wie bei Chrétien keine Grenzen: Sein Drang, Ritter zu werden, ist übermächtig, denn die Anlagen hierzu sind ihm von väterlicher Seite sprichwörtlich in die Wiege gelegt.[13] So erfährt der Leser oder Zuhörer, dass sich Parzival bereits in jungen Jahren im Jagen und im Umgang mit dem Gabilot übt, Vorstufen des Ritter-kampfes, für den der Held bestimmt ist.[14] Ausgestattet mit einem Narrengewand und einem schlechten Pferd verlässt er die mütterliche Einöde, um seine Bewährung als Ritter zu suchen. Das Torenkleid Parzivals kennzeichnet ihn als einen Gesetzlosen im formal theologischen Sinne: Er ist ante legem (wir erinnern uns, dass Parzival seine Narrenkleider später auch unter der Rüstung tragen wird).[15]
Mit seinem Auszug fällt auch das erste Schuldigwerden zusammen, und der Alptraum Herzeloydes vor der Geburt des Sohnes scheint Realität zu werden: Der Drache, der sich ihrem Körper entwindet und ihr das Herz aus dem Leibe reißt, ist Parzival. Dieser Traum wird, so Volker Mertens, noch bis zum Ende des Mittelalters mit Maria von Burgund, der Gemahlin von Kaiser Maximilian, in Verbindung gebracht.[16] In diesem Traum kündige sich die Geburt eines Herrschers an.[17] Auch spielt die Tiersymbolik des Drachen sicherlich eine Rolle, handelt es sich doch um ein Symbol des Bösen, wie es beispielsweise in der Waldlichtungsszene des Iwein zum Vorschein kommt).[18]
Als sie den Sohn aus dem Blick verliert, bricht Herzeloyde tot zusammen; dies ist die Treue, so kommentiert der Erzähler, die Herzeloyde den Himmelslohn sichern und sie vor Höllenqual beschützen wird. Wolframs Titelheld bemerkt von dem tragischen Ereignis freilich nichts; Chrétiens Perceval hingegen reitet fort, obwohl er sich noch einmal umdreht und die Mutter niedersinken sieht. Eine kausale Beziehung zwischen Parzivals Entscheidung, Ritter zu werden, und dem Tod der Mutter ist in beiden Fällen anzunehmen.[19] Zwar trifft Herzeloyde der Weggang des Sohnes nicht unvorbereitet (nutzt sie doch die Gelegenheit, ihm zuvor einige Ratschläge mit auf den Weg zu geben[20]), der Schmerz über den Verlust, in dem sich für Herzeloyde die Trennung von Gahmuret noch einmal wiederholt, erweist sich jedoch als übermächtig. Parzival mag allenfalls eine moralische Mitschuld am Tod der Mutter treffen. Der unterlassenen Hilfeleistung macht er sich aber keineswegs schuldig. Wolfram ist offensichtlich bemüht, diese im Bewusstsein begangene Tat aus seinem Text zu tilgen, um die Handlung auf die unterlassene Frage im fünften Buch zu fokussieren.[21]
Der weitere Weg Parzivals ist durch Missverständnisse und Fehlinterpretationen bestimmt. Dies provoziert nicht zuletzt die Erziehung der Mutter, die einseitig ist und wichtige lebens-weltliche Informationen auslässt, und deren religiöse Lehren dem Kind aufgrund mangelnder Präzision, übermäßiger Abstraktheit und Idealisierung falsche Vorstellungen von Göttlichkeit vermitteln, religiöse Vorstellungen, die sich geradezu unvermeidlich mit dem Weltlichen vermischen und für Parzival zum großen Lebensirrtum werden.[22]
2.2 Fehlanwendung höfischer Normen
Auch die nächsten Aktionen in der Handlungsfolge, die Begegnung mit Jeschute, die Ankunft am Arthushof und das Aufeinandertreffen mit Ither, lösen allseitigen Kummer aus. Wegen seiner tumpheit und der fehlenden Vertrautheit mit allem Höfischen entehrt Parzival die Herzogin Jeschute, tötet den Verwandten Ither aus Habgier, und lenkt – dies freilich ohne eigenes Zutun – den Zorn Keies auf Cunnewâre und Antanor. Die Jeschute-Szene hat in der Wolframschen Bearbeitung einige Veränderungen erfahren, deren wichtigste in der Entfernung des religiösen Elementes besteht: Der mütterlichen Beschreibung eines Gotteshauses eingedenk hält der unwissende Perceval das Zelt des Orilus für ein Münster und tritt ein, in der bezeichnenden Absicht, Gott um Speise zu bitten. An dieser Episode wird bei Chrétien besonders deutlich, dass sich Parzival weder in der weltlichen, noch in der geistlichen Domäne nennenswert auskennt. Zu einem sexuellen Kontakt zwischen Parzival und Jeschute kommt es weder bei Wolfram, noch im Conte du Graal . Bedeutsamer und verhängnisvoller ist jedoch die Tatsache, dass sich Parzival in den Besitz des Ringes bringt, der Jeschute und Orilus als Zeichen der Treue miteinander verbindet; auf die Wegnahmehandlung folgt eine drakonische Strafe, die Orilus seiner Geliebten auferlegt: sie soll fortan ein Schandkleid tragen und auf einem Klepper reiten. Damit ist die Herzogin, die zuvor standesmäßig über Orilus stand, vor der höfischen Öffentlichkeit entehrt und deklassiert.
2.3 Cunnewâres Misshandlung durch Keie
Eine weitere Frauengestalt, Cunnewâre de la Lande, muss Gewalt erleiden, die sogar noch handfester ist als jene, die Jeschute widerfährt: Als sie Parzival ihr Lächeln schenkt und ihn auf diese Weise als denjenigen Ritter ausweist, der „den hôhsten prîs hete/ od solt erwerben“
(Pz 151, 14f.), wird sie von Keie brutal angegangen; die physische Gewalt, die er ihr antut, wird er an späterer Stelle zu büßen haben. Der Erzähler ist in der Beschreibung der Gewalt, die Keie der Fürstin antut, sehr präzise: „ir lange zöpfe clâre/ die want er umbe sîne hant“ (Pz 151, 24f.). Bereits in der Einführung von Sigune war erwähnt worden, dass „frou Sigûne/ ir langen zöpfe brûne/ vor jâmer ûzer swarten“ riss. Beide Frauen erfahren Leid durch männliche Gewalt und Sigune stirbt schließlich vereinsamt an ihrem langen Kummer um Schionatulander, ein Ritter, der (die vollständige Erzählung findet sich im „Titurel“) von Orilus, Cunnewâres Bruder, in ihrem Liebesdienst getötet worden war.
Wie im „Iwein“ wird der Artushof auch im „Parzival“ zunächst als genaues Gegenteil dessen beschrieben, was der mittelalterliche Leser oder Zuhörer mit ihm assoziiert haben würde: Auf die Vorbildlichkeit von König Artus fällt ein scharfes Licht: Ein Ritter der Tafelrunde versucht seinen Anspruch auf den Thron geltend zu machen. Dann verspricht Artus Parzival die Rüstung Ithers (und sanktioniert so die nachfolgende, unritterliche Tötung des Roten Ritters). Und schließlich ist der König ebenfalls anwesend, als niemand Cunnewâre beisteht, um sie vor Keies Schlägen zu beschützen (auch Parzival vermag ihr nicht zu helfen).
3. Das Frageversäumnis
Im Zentrum der Parzivalhandlung steht keines der bisher genannten Ereignisse, in denen Parzival schuldig geworden ist. Vielmehr läuft die Handlung der Parzivalbücher (und dies gleich zweimal) auf eine Aufnahme in die Gralsgesellschaft zu. Der missglückten ersten Begegnung mit der Gralswelt geht eine Belehrung voraus, die Parzival in erheblichem Maße prägen wird: Gurnemanz erteilt dem Jüngling im dritten Buch nicht nur Reit- und Kampf-techniken, sondern vermittelt ihm auch ethische Richtlinien. Er instruiert ihn über die Bedeutung von Scham, Demut, rechtem Maß, Mitleid, Sauberkeit, Mannesmut und Frauendienst. Bedeutsam für die weitere Handlung und die Geschehnisse um Parzival wird der Rat: „irn sult niht viel gevrâgen“ (Pz 171, 17). Eine erste Erprobung dieses Frageverbots findet sich in der Begegnung mit Condwîramûrs[23], in der Parzival die ihm angeratene Zurückhaltung strikt beachtet: „bî der küneginne rîche/ saz sîn munt gar âne wort“ (Pz 188, 20f.). Was hier noch als jugendliche Verschämtheit verstanden werden kann und allenfalls zu einer unangenehmen Stille führt, wirkt sich auf Burg Munsalvaesche deutlich extremer aus.
[...]
[1] Vgl. Weißenburg, Otfried von: Evangelienbuch, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1987, S. 125.
[2] Vgl. Murdoch, Brian: “Parzival and the Theology of Fallen Man”, S. 143-58, in: Hasty, Will (Hg.):
A Companion to Wolfram's ‘ Parzival ’ . Columbia, SC 1999, S. 146.
[3] Vgl. Dimler, Richard G.: „Parzival’s Guilt: A Theological Interpretation“, in: Monatshefte für Deutschen
Unterricht, Deutsche Sprache und Literatur 62, 1970, S. 124.
[4] Vgl. ebd.
[5] Vgl. Murdoch, Brian: “Parzival and the Theology of Fallen Man”, S. 143.
[6] Vgl. Dimler, Richard G.: „Parzival’s Guilt, S. 125.
[7] Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche . Dritter Teil (Das Leben in Christus), Abschn. 1, Kap. 1, Art. 8 (Die Sünde), V Die Schwere der Sünde – Todsünde und lässliche Sünde, 1857, 1861.
[8] Vgl. Dimler, Richard G.: „Parzival’s Guilt, S. 126.
[9] Die Parallele zu Adam scheint durchaus beabsichtigt zu sein; auch wird sie in der Begegnung Palogy of Fallen Man”, S. 150.
[10] Vgrzivals mit den Rittern erneut aufgerufen, als diese den jungen Mann seiner Schönheit wegen mit Adam vergleichen (Pz 123, 12-17). Seit Otfried von Weißenburg wird Adam als „der ellende“ (der Verbannte) bezeichnet, der zu seiner paradiesischen Heimat bei Gott zurückzukehren versucht. Vgl. Murdoch, Brian: “Parzival and the Theol. Murdoch, Brian: “Parzival and the Theology of Fallen Man”, S. 148.
[11] Llewelyn findet eine wirkliche Entsprechung unter Umständen in dem walisischen König Llewelyn ap Iorwerth (1194-1240), einem Gegner des Hauses Anjou und damit Richards I. Löwenherz von England, der im Parzival möglicherweise in der Figur des Gahmuret zu erkennen ist. Vgl. Volker Mertens: Der Gral . Mythos und Legende , Stuttgart 2003, S. 59.
[12] In dem Jungen wird durch den Gesang der Vögel eine Sehnsucht geweckt, die möglicherweise dem unterbewussten Wunsch nach Ritterehre und Liebe entspricht. Vgl. Poag, James F.: “Wip and Gral: Structure and Meaning in Wolfram’s Parzival”, In: Journal of English and Germanic Philology 67, 1968, S. 204f.
[13] Vgl. Mertens, Volker: Der Gral . Mythos und Legende , Stuttgart 2003, S. 65.
[14] Vgl. ebd.
[15] Vgl. ebd., S. 148f.
[16] Vgl. Mertens, Volker: Der Gral . Mythos und Legende , Stuttgart 2003, S. 60.
[17] Vgl. ebd.
[18] Vgl. Cramer, Thomas: „Sælde und Êre in Hartmanns Iwein ”, in: Kuhn, Hugo; Cormeau, Christoph (Hrsg.): Hartmann von Aue , Darmstadt 1973, S. 437f.
[19] Zur Definition der Kausalität möchte ich die juristische conditio sine qua non -Formel verwenden: „Kausal ist eine Handlung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg erfiele.“ Vgl. Wessels, Johannes; Beulke, Werner: Strafrecht – Allgemeiner Teil , 33. Aufl., Heidelberg 2003, S. 56.
[20] Vgl. Dimler, Richard G.: „Parzival’s Guilt, S. 128.
[21] Vgl. Johnson, Leslie Peter: “The Grail-Question in Wolfram and Elsewhere”, in: Green, D. H.; Johnson, L. P.; Wuttke, Dieter (Hrsg.): From Wolfram and Petrarch to Goethe and Grass : Studies in Literature in Honour of
Leonard Forster . Baden-Baden: 1982, S. 93.
[22] Vgl. Mertens, Volker: Der Gral . Mythos und Legende , Stuttgart 2003, S. 61.
[23] Bei Chrétien ist sie eine der wenigen Figuren, die einen richtigen Namen erhalten: Blancheflor. Eine der faszinierenden schöpferischen Leistungen Wolframs besteht darin, nicht nur (zum Teil sprechende) Namen für seine Figuren einzuführen, sondern darüber hinaus ein komplexes Verwandtschaftsgeflecht zwischen den Figuren zu entwickeln; vgl. hierzu auch Vgl. Volker Mertens: Der Gral . Mythos und Legende , Stuttgart 2003, S. 52f.
- Citation du texte
- Tobias Rösch (Auteur), 2007, Heil(ung) in den Parzivalbüchern, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/92016
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