Bereits kurz nach dem Erscheinen von Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf im Jahre 1929 entbrannten in der Fachwelt heftige Diskussionen über die Rolle Berlins in diesem sogenannten „Großstadtroman“. Die einen sahen die Stadt als eine Art Dämon, der als Antagonist dem Menschen bedrohlich gegenüber steht und diesem eine sinnvolle Lebensgestaltung verwehrt. Andere machten den Protagonisten Biberkopf und dessen bornierte Denkweise selbst für seinen erfolglosen Lebenslauf verantwortlich.
Inhaltsverzeichnis
I. Die Schuldfrage
II. Überforderung der Sinne
III. Die Indifferenz des Großstädters
IV. Biberkopfs inhärente Unzulänglichkeit
V. Der Einzelkämpfer
VI. Biberkopf gegen Berlin
VIII. Ort der mechanischen Gewalt
IX. Die Bedeutung der Vernunft
Literaturverzeichnis
Primärtext
Sekundärtexte
I. Die Schuldfrage
Bereits kurz nach dem Erscheinen von Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf im Jahre 1929 entbrannten in der Fachwelt heftige Diskussionen über die Rolle Berlins in diesem sogenannten „Großstadtroman“. Die einen sahen die Stadt als eine Art Dämon, der als Antagonist dem Menschen bedrohlich gegenüber steht und diesem eine sinnvolle Lebensgestaltung verwehrt. Andere machten den Protagonisten Biberkopf und dessen bornierte Denkweise selbst für seinen erfolglosen Lebenslauf verantwortlich.
Ausgehend von diesem offensichtlichen Widerspruch in der Interpretation des Werkes stellt sich zwangsläufig die Frage, ob nun die Großstadt oder die Hauptperson selbst die Schuld an Biberkopfs Werdegang trägt. Dieses Problem soll im Folgenden anhand von ausgewählten Textstellen aus den ersten beiden Büchern, Buch vier und fünf sowie dem letzten Buch des Romans sorgfältig erörtert werden.
Zunächst wird beschrieben, wie Berlin Franz Biberkopf mit seinen vielen Reizen maßlos überfordert. Durch die vielen verschiedenen Eindrücke, die gleichzeitig auf ihn einströmen, bekommt er Angst und reagiert panisch, später zudem aggressiv auf seine Außenwelt. Im folgenden dritten Kapitel wird dann gezeigt, wie Biberkopfs Geist versucht, sich vor einer drohenden Reizüberflutung zu schützen. Allerdings wird dadurch auch seine Wahrnehmungsfähigkeit erheblich vermindert. Der Protagonist ist nun nicht mehr zu einer kritischen Beobachtung seiner Umwelt fähig. Die beiden Kapitel machen also deutlich, wie die hektische und grelle Lebensrealität der Stadt die Wahrnehmungs- und Denkfähigkeit des Menschen negativ beeinflussen und sogar verändern.
Die nächsten drei Abschnitte zielen darauf ab, einige von Franz´ Eigenschaften und deren Auswirkung auf seine Lebensgestaltung zu diskutieren. In der Person Franz Biberkopf sind Charakterzüge wie Jähzornigkeit, Geltungssucht, Naivität und Egoismus vereint. Diese ergeben, in der Gesamtheit betrachtet, das Bild eines äußerst ignoranten Menschen, welcher nicht fähig ist, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. In der Folge ist es Franz auch nicht möglich, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden, da er sich hartnäckig gegen eine Integration in das Stadtkollektiv weigert. Erst durch sein eigenes Fehlverhalten kann sich ein Zweikampf zwischen der Großstadt und dem kleinen Menschen Biberkopf entwickeln. Diese Beobachtungen deuten also allesamt darauf hin, dass vielleicht doch nicht die Stadt, sondern der Protagonist selbst die Verantwortung für sein missglücktes Leben trägt.
Andererseits ist die These, die Großstadt sei für das Scheitern Biberkopfs verantwortlich zu machen, auch nicht ganz so leicht von der Hand zu weisen. Dies wird vor allem durch die beiden Kapitel sieben und acht deutlich. Hier wird die Stadt zunächst in ihrer Rolle als unüberschaubares, komplexes Netzwerk beschrieben, welches es dem Einzelnen unmöglich macht, seinen Platz im Stadtkollektiv zu finden. Die kalte technische Seite der Metropole, die keinerlei Rücksicht auf Franz Biberkopf und seine Bedürfnisse nimmt, wird im Anschluss daran sorgfältig beleuchtet. Abschließend sollen die beiden Interpretationsansätze gegeneinander abgewogen und die Frage der Schuld endgültig geklärt werden.
II. Überforderung der Sinne
Am Anfang des ersten Buches von Döblins Berlin Alexanderplatz wird der Protagonist Franz Biberkopf nach vier Jahren Haft aus dem Zuchthaus Tegel entlassen. Doch anstatt sich zu freuen, empfindet er diese wieder gewonnene Freiheit als Bestrafung. Er scheint sich in das Gefängnis zurückzusehnen, wo sein Alltag für ihn organisiert worden ist, er selbst keine Entscheidungen treffen musste und genau abschätzen konnte „wie der Tag anfängt und wie er weitergeht.“[1]
Zurück in der Großstadt wird Biberkopf überwältigt von den zahllosen, simultan auf ihn einströmenden Geräuschen, Gerüchen und Bildern:
In ihm schrie es entsetzt: Achtung, Achtung, es geht los. Seine Nasenspitze vereiste, über seine Backe schwirrte es. ‚Zwölf Uhr Mittagszeitung’, ‚B.Z.’, Die neueste Illustrierte’, ‚Die Funkstunde neu’, ‚Noch jemand zugestiegen?’ Die Schupos haben jetzt blaue Uniformen. Er stieg unbeachtet wieder aus dem Wagen, war unter Menschen. […] Was war das alles. Schuhgeschäfte, Hutgeschäfte, Glühlampen, Destillen. Die Menschen müssen doch Schuhe haben, wenn sie soviel rumlaufen. (BA 15-16)
Alles das, was er sieht, wird in einer Art Montage zusammenhanglos aneinander gereiht – Zeitschriften, Geschäfte, Konsumartikel, Menschen. Nichts scheint miteinander verbunden zu sein und dennoch ist alles gleichzeitig und nebeneinander vorhanden. Die Stadt „wirkt auf alle Sinne vor allem durch Autos, Straßenbahnen und Leuchtreklamen.“[2] Von diesen Eindrücken überfordert, irrt Biberkopf kopflos durch die Straßen und weiß nicht, wohin er gehen soll. Immer wieder fällt sein Blick auch auf die Menschen um ihn, welche wiederholt als „Gewimmel“ (BA 15) und „es“ (BA 16) beschrieben werden; das macht wiederum Franz´ Überforderung mit der Situation, der Lebensrealität Berlins, deutlich. Er kann die anderen nicht einordnen, erkennt keine Details und nimmt die Umwelt als ein großes überwältigendes Ganzes wahr.
Biberkopf kann sich weder orientieren noch selbstständig agieren; vielmehr reagiert er auf die zahlreichen Reize seiner Umwelt – mit Angst, Fluchtgedanken und Aggression. Weil er sich nicht anders zu helfen weiß, will der Strafentlassene sämtliche Schaufenster der Läden einschlagen. Dann flüchtet er sich in dunklere Nebenstraßen, um sich vor der Großstadt und den Menschenmassen zu verstecken; doch auch von dort aus sieht er noch „die ollen Häuser, die wimmelnden Menschen, die rutschenden Dächer.“ (BA 18) Dieses Dächermotiv zieht sich durch den ganzen Roman, um die immer wiederkehrenden Angstgefühle des Protagonisten gegenüber der Großstadtrealität eindrucksvoll zu verdeutlichen. Franz Biberkopf ist offensichtlich nicht stark genug für das Leben in der Großstadt und droht an ihm zu scheitern.
[...]
[1] Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. 45. Auflage. München 2006, S. 19. Im Folgenden werden die Zitate im Text mit der Sigle BA nachgewiesen.
[2] Hermann Kähler: Berlin - Asphalt und Licht. Die große Stadt in der Literatur der Weimarer Republik. Westberlin 1986, S. 88.
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- Maria Melanie Meyer (Author), 2008, Die Frage nach der Schuld in Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/92007
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