Die Arbeit behandelt die Erklärung von Verschwörungstheorien in der Coronakrise. Hierfür wird das Model der Schweigespirale von Elisabeth Noelle-Neumann verwendet. Hierfür erfolgt zunächst eine Erläuterung der Theorie, die anschließend mit der Coronakrise in Zusammenhang gesetzt wird. Darauf folgt eine Darstellung der Entwicklung der Schweigespirale sowie ein abschließendes Fazit.
Die Theorie der Schweigespirale baut auf einer Argumentationskette auf, die die öffentliche Meinung erklären soll. Aus Begriffen wie 'allgemeine Theorie sozialer Integrationsmechanismen' und 'sozialpsychologische Fundierung normativer Demokratietheorie' lassen sich die Grundlage der Theorie, deren Hintergrund und ihre Erklärungsweise bereits sehr gut herauslesen.
Die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und medialen Entwicklungen der, als Coronakrise geläufig gewordenen, noch immer andauernden Phase in Deutschland und weltweit haben sich vor allem anfangs überschlagen. Mehrmals täglich gab es neue Meldungen in den Medien, die sich teilweise in ihrem Informationsgehalt sogar von den Informanten selbst her nach kurzer Zeit schon widersprachen.
Seminar: "Schock! Damit hätte niemand gerechnet...": Medien im Wandel Sommersemester 2020
Benennungsmacht und Meinungsbildung: Erklärung von Verschwörungstheorien in der Coronakrise durch die Schweigespirale
Die Theorie
Bereits in den 1990er Jahren formulierte die Meinungsforscherin und Gründerin des Instituts für Demoskopie Allensbach Elisabeth Noelle-Neumann auf Basis zweier Serien von Umfrageergebnissen ihre Theorie der Schweigespirale (Noelle-Neumann, 1980). Diese ist bis heute nicht unumstritten (vgl. z.B. Fuchs et al 1991). Kepplinger (2016) setzt sich kritisch damit auseinander; unter anderem auf Basis dieses Textes möchte ich argumentieren, warum die Theorie trotz aller Kritik die aktuellen Verschwörungstheorien zur Coronakrise in Teilaspekten erklären kann.
Aus Begriffen wie „allgemeine Theorie sozialer Integrationsmechanismen" (Noelle-Neumann, 1980) und „sozialpsychologische Fundierung normativer Demokratietheorien" (Kepplinger, 2016) lassen sich die Grundlage der Theorie, deren Hintergrund und ihre Erklärungsweise bereits sehr gut herauslesen. Die Bedingungen für die Anwendung ihrer Theorie hat NoelleNeumann aus Studien gezogen, die die Redebereitschaft bei umstrittenen Themen untersuchten. Bereits in der ersten Entwicklungsphase der Theorie bildete sich dabei heraus, dass es vor allem um die Meinungsentwicklung in emotional aufgeladenen Situationen bzw. bei solchen Themen geht. (Kepplinger, 2016) Zweifelsohne sind diese Bedingungen in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs, als die man die Coronakrise durchaus bezeichnen kann, mehr als gegeben. Dazu später mehr.
Die Theorie der Schweigespirale baut auf einer Argumentationskette auf, die die öffentliche Meinung erklären soll. Die Kernelemente dabei können in acht Sätzen zusammengefasst werden: „
1. Menschen fürchten sich, weil sie soziale Wesen sind, vor Isolation (Isolationsangst);
2. Isolation droht bei Meinungen und Verhaltensweisen, die emotional bedeutsame Werte und Meinungen anderer Menschen infrage stellen (Meinungsklima);
3. Um Isolation zu vermeiden, beobachten Menschen permanent und meist unbewusst ihre Umgebung (quasi-statistische Wahrnehmung);
4. Dabei stützen sie sich auf zwei Quellen - Beobachtungen von Menschen in ihrer sozialen Umgebung sowie Darstellungen der sozialen Realität durch die Massenmedien. Beide können sich entsprechen oder voneinander abweichen (doppeltes Meinungsklima);
5. Menschen, die sich im Einklang mit dem Meinungsklima sehen, vertreten ihre Sichtweisen in der Öffentlichkeit häufiger als Menschen, die sich im Widerspruch dazu sehen;
6. Als Folge ihres unterschiedlichen öffentlichen Engagements erscheint das Lager der tatsächlichen oder vermeintlichen Mehrheitsmeinung - des Meinungsklimas - größer als es tatsächlich ist. Deshalb kann auch eine Minderheitenmeinung als Mehrheitsmeinung erscheinen;
7. Die vermutete Dominanz derjenigen, die das Meinungsklima vertreten, vergrößert den ohnehin vorhandenen Isolationsdruck auf die Vertreter der tatsächlichen oder vermeintlichen Minderheitenmeinung und setzt einen Spiralprozess in Gang, der sich selbst verstärkt;
8. Im Falle eines doppelten Meinungsklimas setzt sich der Medientenor gegen die gegebene Mehrheitsmeinung der Bevölkerung durch.“ (Kepplinger, 2016)
Im Zusammenhang mit der Meinungsentwicklung in der Coronakrise sind vor allem die Sätze eins, vier, sechs und acht relevant, wie gezeigt werden wird.
Zusammenhänge mit der Coronakrise
Die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und medialen Entwicklungen in der als Coronakrise geläufig gewordenen, noch immer andauernden Phase in Deutschland und weltweit haben sich vor allem anfangs überschlagen. Mehrmals täglich gab es neue Meldungen in den Medien, die sich teilweise in ihrem Informationsgehalt sogar von den Informanten selbst her nach kurzer Zeit schon widersprachen. Am meisten Verunsicherung schafften dabei wohl scheinbar widersprüchliche, letztlich auf Basis neuerer Erkenntnisse aktualisierte Informationen des Robert- Koch-Instituts (RKI), dem in der Einflussnahme der Politik eine entscheidende Rolle zukam und noch immer zukommt. Weitere Organisationen wie die Weltgesundheitsorganisation WHO hielten sich insbesondere anfangs sehr zurück mit Empfehlungen, während (deutsche) Politiker gerade in Phasen der Hamsterkäufe vorrangig ein Klima der Sicherheit und Vorsorge aufzubauen versuchten; als Beispiele seien Merkel und Söder in ihrem Verhalten zu nennen. Ob das gelungen ist, wird sich vor allem im Nachhinein zeigen, in Studien, die seit den ersten Lockerungen des Kontaktverbotes unter anderem vom Meinungsforschungsinstitut für Demoskopie Allensbach durchgeführt werden. Während jetzt schon (teilweise willkürliche, noch nicht wissenschaftlich fundierte) Prognosen und Nachrichten im Umlauf sind, dass die Scheidungsrate sprunghaft ansteigen wird (Civey, 2020), Musik und Kultur als letzte Institutionen häufig kurz vor dem Ruin stehen (Eimermacher et al., 2020) und die neue Black-Lives-Matter- Bewegung Hunderttausende trotz des noch immer geltenden Mindestabstandes auf die Straßen treibt (ZEIT ONLINE, 2020a), scheint insgesamt eine zunehmend genervte, erschöpfte Stimmung unter der Bevölkerung zu herrschen. Über Wochen hinweg andauernde Demonstrationen mit zunehmend mehr Teilnehmern beschäftigten immer mehr die Medien (ZEIT ONLINE, 2020b) - was ist aus dieser Bewegung geworden? Sie bietet ein Paradebeispiel für die Entwicklung der Schweigespirale.
Warum ist diese gerade jetzt so einfach anwendbar? Weil, vor allem in den ersten Wochen der Ausgangsbeschränkung, die vor allem in Bayern sehr streng war, der Bevölkerung oftmals gar nichts anderes übrig blieb, als sich zu Hause mit den Medien auseinanderzusetzen, und zugleich der rege Austausch mit vielen weiteren Kontaktpersonen fehlte. Den sich überschlagenden Ereignissen in der Nachrichtenwelt kam gerade im Vergleich zum schleichenden Alltag eine tragende Rolle zu; zugleich trugen Filterblasen im Internet wahrscheinlich intensiv zur Meinungsbildung bei, ganz abgesehen von der psychischen Belastung für viele Bürger, die alleinleben, arbeitslos wurden und/oder keine Familie und Partner haben bzw. diese nicht sehen konnten. Gesellschaftlich gesehen kann eine Entwicklung dieser Art, die inzwischen seit einem halben Jahr bereits verschiedenste Phasen durchläuft, gar nicht ohne gravierende Folgen bleiben. Wir haben nun als Voraussetzungen also eine starke Isolationsangst gegeben (sowohl betreffend der Isolierung von sozialen Kontakten als auch bezüglich der schwierigen Einschätzung des Meinungsklimas durch fehlende Quellen, was der Isolationsangst nach Noelle-Neumann entspricht) bei gleichzeitiger Belastung der Bürger, die auf ein Meinungsklima trifft, das vor allem durch die Medien geprägt wird - was den Bürgern jedoch bewusst ist, sodass sich durch die wahrgenommene Diskrepanz leicht ein doppeltes Meinungsklima herausbilden und die Schweigespirale in Gang setzen kann.
Die Entwicklung der Schweigespirale
Wie hat sich die Schweigespirale der Theorie zufolge nun entwickelt? Beginnen wir bei Phase eins, der Angst vor Isolation. Treffender könnte eine Theorie an diesem Punkt nicht sein - vor allem in Kombination mit Punkt vier, der Form der Meinungsbildung, die durch die Beobachtung der sozialen Umgebung und der Medien geprägt ist. Wenn es nun kein soziales Umfeld gibt außer in glücklichen Fällen einen Partner oder die Familie, bleiben nur die Medien, die zwar auch im Falle sozialer Medien durch den imaginären Austausch unter Bekannten besteht, jedoch ganz andere soziale Umfelder und Informationsquellen liefert als die Bewegung in der breiten Öffentlichkeit. Welche Gruppe wird nun dem fünften und sechsten Satz zufolge ihre Meinung lauter vertreten? Das sind meist die Unzufriedenen, die gehört werden wollen, während sich zwei Drittel der Befragten einer Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach mit Äußerungen zu heiklen Themen zurückhalten (ZEIT ONLINE, 2020c). Nun stellt die Coronakrise selbst kein Tabuthema dar, im Gegenteil; lange Zeit beherrschte sie die Medienlandschaft, allmählich kehren auch andere Themen wieder in die Nachrichtenkanäle zurück, dennoch beherrscht sie das soziale, kulturelle und wirtschaftliche Leben und dementsprechend die Nachrichten darüber. Unter der Einschränkung grundlegender Rechte entwickeln sich dabei schnell diverse Theorien über die vermeintlich wahre Ursache der politischen Maßnahmen - die entsprechend Noelle-Neumanns Theorie durch ihre Brisanz und die oben ausgeführten Prozesse und Verknüpfungen schnell an Aufmerksamkeit gewinnen.
Was ist nun der Medientenor gemäß Stufe acht? Anfangs wurde vor allem berichtet, wie sich die Verbreitung des Virus' entwickelt, es gab zahlreiche Statistiken, Karten und Infektionszahlen. Allmählich wurde auch in Talkshows darüber diskutiert, es erschienen meinungsgeprägte Zeitungs- und Onlineartikel. Und schließlich, als die Demonstrationen aufkamen, wurde auch darüber berichtet - zuerst vorrangig beschreibend, dann kritisch - welche politische Gruppierung könnte dahinterstehen? - und schließlich kaum mehr, bestimmt auch, weil die Black-Li- ves-Matter-Demos inzwischen weit mehr Teilnehmer aufweisen und jedes Phänomen nach einiger Zeit an Brisanz einbüßt und nicht mehr darüber berichtet wird. Wie lässt sich dieser Tenor nun zusammenfassen, was ist „die“ öffentliche Meinung? In den öffentlich-rechtlichen Nachrichtenkanälen wird noch immer vorrangig nach diesem Schema informiert, es wird sich an Aussagen führender Politiker und Forscher des RKI orientiert. Eine nähere Beschäftigung mit den Hintergründen solcher gesellschaftlicher Formationen ist nur von sozialwissenschaftlicher Seite zu erwarten; dazu gibt es auch bereits Calls for Papers (z.B. von der Zeitschrift für Soziologie), jedoch schaffen es solche fachspezifischen Publikationen selten in die Mainstreammedien. Einen weitreichenden Einfluss üben zudem soziale Medien und Onlineplattformen aus, über die je nach Interessensverfolgung und Filterblase durch den Konsumenten ganz unterschiedliche Nachrichten und Meinungen dazu publiziert werden. Insofern ist gerade dort die Feststellung eines einzelnen Medientenors schwierig bis unmöglich.
Da nun die Wahrscheinlichkeit, einen an Corona erkrankten Menschen zu kennen, angesichts der Zahlen relativ niedrig ist, fällt es vielen Leuten vermutlich recht leicht, zumindest einmal in Berührung mit diversen Theorien oder Abwehrmechanismen zu kommen. Und sind diese einmal thematisiert, tragen gerade Online-Algorithmen zu einer vermehrten Konfrontation mit diesen Thematiken bei. Hinzu kommt: „Algorithmen stehen in einem unauflöslichen Zusammenhang mit sozialen Formen der Zuschreibung von Wertigkeit, und in diesem Sinne produzieren und repräsentieren sie das, was für relevant oder wertvoll gehalten werden soll“ (Mau 2017, S. 205 nach Lupton 2015). Das bedeutet einerseits eine Filterung durch das Nutzerverhalten, das von Algorithmen verstärkt wird, und andererseits eine Meinungsverstärkung mit dem größtmöglichen Nutzen für den Produzenten dieser Nachrichten. Dieser braucht natürlich möglichst viele Klicks, was vor allem durch aufrührende Nachrichten nach BILDSchema und Clickbait erreicht werden kann. Demzufolge sind gerade Verschwörungstheoretiker online für Verstärkungseffekte anfällig.
Dadurch entsteht ein zumindest gefühlter Medientenor - während der der kommerziellen Medien zunehmend kritischer wird, je „radikaler“ die „Randgruppen“ sich präsentieren. Durch diesen Mechanismus fühlen diese sich noch weniger beachtet, radikalisieren sich tatsächlich mehr und so weiter. Der Medientenor passt seine Berichterstattung entsprechend an und das Phänomen verschwindet zunehmend aus den Massenmedien, da es erstens nicht mehr die Aufmerksamkeit des Anfangs auf sich zieht und zweitens die breite Masse sich - ein selbstverstärkender Effekt - von den Gruppierungen abwendet.
So ist der typische Werdegang bei emotional aufgeladenen Themen. Dass die Auswirkungen der Coronakrise die Gesellschaft emotional erschüttern, ist wohl unumstritten. Eine Verfolgung der Berichterstattung in den vergangenen Wochen unterstreicht zudem diese Anwendung der Theorie. Empirische Untersuchungen dazu wären von höchster Brisanz und sehr interessant, auch und gerade von soziologischer Seite her.
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- Arbeit zitieren
- Anonym,, 2020, Verschwörungstheorien in der Coronakrise. Erklärung anhand der Schweigespirale von Elisabeth Noelle-Neumann, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/918992
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