Die Arbeit befasst sich mit der Reproduktion sozialer Ungleichheit im deutschen Bildungssystem. Diese wird anhand der Kapital- und Habitustheorie von Pierre Bourdieu erklärt. Zusätzlich wird die meritokratische Begabungsideologie als ein weiterer verborgener Mechanismus identifiziert. Auf dieser Basis werden die Auswirkungen der Bildungsexpansion und mögliche bildungspolitische Maßnahmen diskutiert. Die enorme Signifikanz von Bildung in der heutigen Gesellschaft ist unbestreitbar. Für die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft eröffnet Bildung Chancen zu einer höheren Lebensqualität (vgl. Geißler 2006: 34f.), was sich wiederum positiv auf die gesamte Gesellschaft auswirkt. Gleichzeitig ist das Bildungsniveau der Gesellschaft auch für das Wirtschaftswachstum relevant, da z.B. der Einsatz neuer Technologien von der Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte abhängt. Die Verbesserung der Bildung ist daher für den Erhalt der globalen Konkurrenzfähigkeit eines Landes unerlässlich (vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 192). Ebenso darf zur Bewahrung der wirtschaftlichen Innovationsfähigkeit auf die bestmögliche Ausschöpfung von Begabungsreserven angesichts einer durch die demographischen Entwicklung sinkenden Zahl von Erwerbstätigen in Deutschland nicht verzichtet werden (vgl. ebd.: 5). Alarmierend wirkt vor allem in diesem Kontext die im internationalen Vergleich hierzulande relativ niedrige Akademikerquote (vgl. ebd.: 30).
Demnach spiegelt der „PISA-Schock“ verständlicherweise die wachsende Befürchtung wider, die für den internationalen Wettbewerb nötigen Voraussetzungen nicht mehr erfüllen zu können (vgl. Loeber/Scholz 2003: 273). Besondere Brisanz weist dabei nicht die Platzierung Deutschlands im mittleren Leistungsbereich auf, sondern die hier am höchsten ausgeprägte Benachteiligung von Jugendlichen aufgrund ihrer sozialen Herkunft (vgl. ebd.: 245). Wenn der Zugang zu gleich guten Bildungschancen für alle Mitglieder der Gesellschaft nicht gewährleistet ist, wird gegen eins der „zentralen bildungspolitischen Ziel[e] sozialstaatlich verfasster demokratischer Gesellschaften“ (ebd.) verstoßen.
Dabei ist die Herstellung sozialer Gerechtigkeit im Bildungssystem keine neue Forderung. Seit Mitte der sechziger Jahre beschäftigt die herkunftsbedingte Ungleichheit der Bildungschancen die Bildungssoziologie.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Soziale Ungleichheit und Bildung
1.1 Soziale Ungleichheit
1.2 Bildung
1.3 Bildungsbenachteiligung trotz Bildungsexpansion
2 Erklärungsmodelle
2.1 Meritokratische Leitfigur sozialer Ungleichheit
2.2 Kapital
2.2.1 Ökonomisches Kapital
2.2.2 Kulturelles Kapital
2.2.2.1 Inkorporiertes Kulturkapital
2.2.2.2 Objektiviertes Kulturkapital
2.2.2.3 Institutionalisiertes Kulturkapital
2.2.3 Soziales Kapital
2.2.4 Kapitalumwandlungen
2.2.5 Symbolisches Kapital
2.3 Habitus
2.4 Erklärung der Reproduktion sozialer Ungleichheit durch Kapital und Habitus
3 Folgerungen
3.1 Auswirkungen der Bildungsexpansion
3.2 Bildungspolitische Maßnahmen
4 Fazit
Literatur
Einleitung
Die enorme Signifikanz von Bildung in der heutigen Gesellschaft ist unbestreitbar. Für die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft eröffnet Bildung Chancen zu einer höheren Lebensqualität (vgl. Geißler 2006: 34f.), was sich wiederum positiv auf die gesamte Gesellschaft auswirkt. Gleichzeitig ist das Bildungsniveau der Gesellschaft auch für das Wirtschaftswachstum relevant, da z.B. der Einsatz neuer Technologien von der Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte abhängt. Die Verbesserung der Bildung ist daher für den Erhalt der globalen Konkurrenzfähigkeit eines Landes unerlässlich (vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 192). Ebenso darf zur Bewahrung der wirtschaftlichen Innovationsfähigkeit auf die bestmögliche Ausschöpfung von Begabungsreserven angesichts einer durch die demographischen Entwicklung sinkenden Zahl von Erwerbstätigen in Deutschland nicht verzichtet werden (vgl. ebd.: 5). Alarmierend wirkt vor allem in diesem Kontext die im internationalen Vergleich hierzulande relativ niedrige Akademikerquote (vgl. ebd.: 30).
Demnach spiegelt der „PISA-Schock“ verständlicherweise die wachsende Befürchtung wider, die für den internationalen Wettbewerb nötigen Voraussetzungen nicht mehr erfüllen zu können (vgl. Loeber/Scholz 2003: 273). Besondere Brisanz weist dabei nicht die Platzierung Deutschlands im mittleren Leistungsbereich auf, sondern die hier am höchsten ausgeprägte Benachteiligung von Jugendlichen aufgrund ihrer sozialen Herkunft[1] (vgl. ebd.: 245). Wenn der Zugang zu gleich guten Bildungschancen für alle Mitglieder der Gesellschaft nicht gewährleistet ist, wird gegen eins der „zentralen bildungspolitischen Ziel[e] sozialstaatlich verfasster demokratischer Gesellschaften“ (ebd.) verstoßen.
Dabei ist die Herstellung sozialer Gerechtigkeit im Bildungssystem keine neue Forderung. Seit Mitte der sechziger Jahre beschäftigt die herkunftsbedingte Ungleichheit der Bildungschancen die Bildungssoziologie. Die bereits zuvor einsetzende Bildungsexpansion hat trotz einer allgemeinen Anhebung des Bildungsniveaus dennoch nicht zu einer Auflösung der Strukturen sozialer Ungleichheit geführt (vgl. Büchner 2003: 6f.). Zu deren Reproduktion tragen hingegen die formalen Bildungsprozesse durch ihre Funktion der materiellen, kulturellen und sozialen Reproduktion sogar selbst bei (vgl. Müller-Rolli 2004: 135). Zwischen dieser Situation und ihrer Wahrnehmung in der (politischen) Öffentlichkeit herrschen jedoch erhebliche Diskrepanzen, die dazu führen, dass bildungspolitische Maßnahmen zur Verbesserung der Bildungssituation zu kurz greifen oder sogar kontraproduktiv sind (vgl. Vester 2005: 39f.).
Die vorliegende Arbeit befasst sich daher mit den Ursachen der Reproduktion sozialer Ungleichheit durch das Bildungssystem unter besonderer Berücksichtigung der Faktoren, die diese Mechanismen verschleiern und damit zur gegenwärtigen Situation in Deutschland in fundamentaler Art und Weise beitragen. Hierzu wird zunächst die meritokratische Leitfigur sozialer Ungleichheit erläutert, welche das öffentliche Bildungsverständnis prägt. Auf diese sogenannte Begabungsideologie nimmt auch Bourdieu Bezug, der sich mit der Reproduktion sozialer Ungleichheit durch das Bildungssystem am Beispiel von Frankreich auseinandergesetzt hat. Als maßgebliche Erklärung dafür fungieren bei ihm aber die schichtspezifischen Habitusformen und Kapitalausstattungen, denen ebenfalls unbewusste Mechanismen zu Grunde liegen. Seine Habitus- und Kapitaltheorie stehen im Zentrum der Arbeit, zumal sie die Herstellung mehrdimensionaler Zusammenhänge zwischen sozialer Klasse und Bildungsbeteiligung erlauben. Auf dieser Basis lassen sich die Auswirkungen der Bildungsexpansion differenziert betrachten. Abschließend werden diverse bildungspolitische Maßnahmen erörtert, welche den unbewusst wirkenden Mechanismen entgegengesetzt werden können. Zunächst folgen jedoch grundlegende Ausführungen zur Bedeutung von Bildung und sozialer Ungleichheit.
1 Soziale Ungleichheit und Bildung
Um die Tragweite der sozialen Ungleichheit im Bildungswesen angemessen beurteilen zu können, wird nach einer Definition des Begriffs der sozialen Ungleichheit die Bedeutung von Bildung für Individuen in der heutigen Gesellschaft dargelegt. Sodann folgt eine Skizzierung der trotz Bildungsexpansion vorhandenen Benachteiligung sozialer Gruppen im Bildungswesen.
1.1 Soziale Ungleichheit
Der Begriff der sozialen Ungleichheit bezeichnet die unterschiedlichen Möglichkeiten der Teilhabe an gesellschaftlich relevanten Ressourcen, welche die Lebensbedingungen der Individuen weitreichend bestimmen. Je nach besseren oder schlechteren Teilhabechancen nehmen die Mitglieder der Gesellschaft eine soziale Position innerhalb der Sozialstruktur der Gesellschaft ein. Soziale Ungleichheit lässt sich an Faktoren wie Beschäftigung, Arbeits- und Wohnbedingungen, Familiensituation, Gesundheitsbedingungen u.ä. ablesen. Kriterien wie Alter, Geschlecht und Ethnie können zudem darauf Einfluss nehmen, ob und in welcher Form das Individuum von sozialer Ungleichheit bedroht oder betroffen ist (vgl. Büchner 2003: 10).
Die Relevanz gesellschaftlicher Ressourcen ist dem historischen Wandel unterworfen, so dass sich soziale Ungleichheit als veränderbares Konstrukt darstellt. Diese Sichtweise war nicht immer selbstverständlich, wie ein Überblick über die Geschichte der Legitimation sozialer Ungleichheit zeigt. So wurde im antiken Griechenland Ungleichheit als natürlich und nützlich betrachtet, während in späteren hierarchisch strukturierten Gesellschaften Ungleichheit als gottgegeben oder aufgrund von Geburt und Herkunft legitimiert wurde. Als menschliches Konstrukt wurde Ungleichheit erstmals mit dem Gleichheitspostulat der Aufklärung gesehen, woraus die Frage nach ihren Ursachen und Mechanismen erwuchs. Obwohl heutzutage immer noch angeborene Merkmale wie Rasse oder Geschlecht die Lebenschancen beeinflussen können, werden sie nicht mehr zur Legitimation sozialer Ungleichheit herangezogen (vgl. Burzan 2004: 8ff.).
Um die Komplexität der sozialen Ungleichheit in der modernen Gesellschaft erfassen, müssen vielfältige Faktoren berücksichtigt werden. In der neueren sozialwissenschaftlich ausgerichteten erziehungswissenschaftlichen Forschung werden höher- und tiefergestellte Statusgruppen ausgehend von Bildungsniveau und Beruf unterschieden, wobei aber Probleme der Zuordnung entstehen können, wenn z.B. Bildungsniveau und Einkommen sich nicht entsprechen. In älteren Klassen- und Schichtmodellen hängt der soziale Status ebenfalls meist von einem Merkmal wie Besitz oder Beruf ab. Differenzierter lassen sich Ungleichheiten an der Teilhabe gesellschaftlicher Ressourcen hingegen erfassen, wenn wie bei Bourdieu neben ökonomischem Kapital auch kulturelles und soziales Kapital berücksichtigt werden (vgl. Büchner 2003: 10f.). Auf die Mehrdimensionalität seines Modells wird im weiteren Verlauf genauer eingegangen.
Auf besonderes Forschungsinteresse stoßen soziale Ungleichheiten, wenn sie sich dauerhaft und regelmäßig in gesellschaftlichen Strukturen wiederfinden lassen, wie es im vorherrschenden Bildungswesen der Fall ist. Da Bildung für die Zuweisung der sozialen Position ein entscheidender Faktor ist, kommt dem Bildungssystem für die (Re-)Produktion und Legitimation sozialer Ungleichheit eine bedeutsame Rolle zu, wobei es als gesellschaftliche Institution gleichzeitig auch ein Produkt sozialer Ungleichheit ist (vgl. Berger/Kahlert 2005: 7).
1.2 Bildung
Bildung (im Sinne von elementarer Schulbildung) gilt in der modernen Gesellschaft als minimaler Standard, der zur Teilhabe am kulturellen und sozialen Leben notwendig ist. Durch Bildung werden demnach allgemeine Kompetenzen der Lebensführung erworben, die für alle Menschen für die Gestaltung des persönlichen Lebenslaufs gleichermaßen von Bedeutung sind. Der Auftrag der Gesellschaft liegt dabei in der Schaffung von Rahmenbedingungen, unter denen alle Mitglieder der Gesellschaft die Möglichkeit erhalten, individuelle Bildungsleistungen zu erbringen (vgl. Büchner 2003: 9).
Bildung in diesem Sinne ist im Rahmen der menschlichen Lebensbewältigung somit ein Erfordernis, das auf die individuelle und gesellschaftliche Entwicklung von menschlichem Humanvermögen mit dem Ziel gerichtet ist, unter den gegebenen und sich ständig wandelnden biographischen und gesellschaftlichen Bedingungen ein den menschlichen Entfaltungsmöglichkeiten angemessenes und gemeinsam mit anderen Menschen verantwortbares Leben zu führen […]. (ebd.)
Bedeutungen und Funktionen, die Bildung darüber hinaus innewohnen, hängen teilweise mit der historischen Entwicklung des Bildungsbegriffs zusammen, wie Büchner (2003: 8f.) verdeutlicht. So setzt im 18. Jahrhundert ein naturalistisches Bildungsverständnis ein, das den Menschen als befähigt ansieht, Bildung im Sinne von Menschwerdung selbst zu betreiben. Im weiteren geschichtlichen Verlauf wird Bildung dadurch zum „Inbegriff menschlicher Selbstentfaltung und Selbstvollendung“ (ebd.: 8). Im Zuge des entstehenden Standesbewusstseins der Gebildeten wird Bildung in dieser Bedeutung immer mehr dem bürgerlichen Emanzipationsstreben im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert zugeordnet. Bildung hält damit einen elitären Zug, der auch im heutigen Verständnis weiterhin mitschwingt. Gleichzeitig kristallisieren sich im damaligen Sprachgebrauch zwei Bedeutungen von Bildung heraus: die zweckfreie gymnasiale Bildung, die den höheren Ständen zukommt, und die niedere berufliche Ausbildung, welche die Menschen für wirtschaftliche Prozesse ausstattet. Im 19. Jahrhundert entwickelt sich daraus eine bildungspolitische Programmatik mit dem Ziel, allen Mitgliedern der Gesellschaft eine allgemeine Menschenbildung zu vermitteln. Im Interesse der Bewahrung der gesellschaftlichen Machtstrukturen wird dieses Programm aber nicht realisiert. Stattdessen entsteht ein immer weiter ausdifferenzierendes Unterrichts- und Berichtigungswesen[2], welches an die Stelle geburtsständischer Privilegien neue Hierarchien setzt. Diese werden durch „ein Konzept der natürlichen Verschiedenheit der Menschen und der bedarfsangemessenen Begrenzung höherer Bildung“ (ebd.: 9) begründet. In der Folge richtet sich die Organisation der Bildungsinstitutionen immer mehr nach dem Prinzip des privilegierten Zugangs zu höheren beruflichen Position aus, wobei die gestuften Bildungsabschlüsse als Zugangsberechtigung immer größere Bedeutung erlangen. Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind formale Bildungsnachweise „von einer vormals nicht absolut notwendigen, aber hilfreichen zur absolut notwendigen, aber dennoch nicht immer zureichenden Voraussetzung geworden, um einträgliche und ansehnliche gesellschaftliche Stellungen zu erreichen“ (ebd.).
Somit erhält Bildung ihre heutzutage bestehende Doppelfunktion des Kompetenz- und Statuserwerbs, wodurch das Bildungswesen hinsichtlich der Reproduktion und Legitimation sozialer Ungleichheit eine entscheidende Stellung einnimmt (vgl. Loeber/Scholz 2003: 243f.). Die Zuteilung von gesellschaftlichem Status durch Berechtigungen weist Bildung zudem einen zentralen Stellenwert für die Gestaltung des beruflichen, aber auch privaten Lebenslaufs zu, da beide durch die bildungsbedingte Akkumulation von Handlungsressourcen entschieden geprägt werden (vgl. Büchner 2003: 9).
Welchen Einfluss Bildung auf verschiedene Lebensbereiche hat, stellt Geißler (2006: 34f.) dar. So können höhere berufliche Positionen immer häufiger nur mit einem Hochschulabschluss erreicht werden. Von dieser Akademisierung ist neben zahlreichen Berufsfeldern ferner der politische Bereich betroffen. Aus den höheren Berufspositionen folgen in der Regel Einkommen und Lebensstandard in entsprechender Höhe. Des Weiteren hängen Bildungsniveau und Gesundheitszustand zusammen, da Besserqualifizierte tendenziell eine gesündere Lebensführung haben als Niedrigqualifizierte, so dass sie seltener von bestimmten Krankheiten betroffen sind und länger leben. Überdies werden durch eine gute Ausbildung die Risiken, arbeitslos zu werden und unter die Sozialhilfegrenze zu rutschen, gesenkt. Auch die Gefahr, kriminell zu werden, ist für Abiturienten äußerst gering. Darüber hinaus ermöglicht ein hohes Bildungsniveau schließlich die Individualisierung des Lebens, indem es die psychischen Voraussetzungen für ein Herauslösen aus überkommenen Traditionen und eine Lebensführung nach eigenen Vorstellungen schafft.
Diese signifikanten Einflussmöglichkeiten von Bildung auf die Lebensgestaltung spiegeln sich im fortbestehenden sozialen Prestige höherer Bildung wider. Indem Bildung in unterschiedlichem Maße für die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft verfügbar ist und von ihnen genutzt wird, werden Ungleichheiten, auch im Sinne sozialer Anerkennung, festgeschrieben (vgl. Büchner 2003: 9f.).
1.3 Bildungsbenachteiligung trotz Bildungsexpansion
An dieser Stelle soll kurz skizziert werden, wie sich die Bildungsbeteiligung infolge der Bildungsexpansion in Deutschland entwickelt hat und welche Ungleichheiten heute noch vorherrschen. Als Bildungsexpansion wird die Ausdehnung des Bildungssystems, vor allem der Ausbau von Realschulen, Gymnasien und Hochschulen, bezeichnet, infolge derer immer mehr junge Menschen länger im Bildungssystem verweilen und mittlere bzw. höhere Bildungsabschlüsse erwerben. Ein Vergleich der Verteilung auf die verschiedenen Schularten in den Jahren 1952 und 2002/03 macht diese Entwicklung deutlich. So stieg der Besuch der Realschule von 6% auf 25% und des Gymnasiums von 13% auf 33%. Die Volksschule als damalige ‚Hauptschule‛ wurde von 79% der SchülerInnen besucht, während 2002/03 lediglich 23% die Hauptschule besuchten und sich weitere 19% auf integrierte Schulen verteilten. Mit dieser Entwicklung ging ein Anstieg der Abiturientenquote einher von 6% im Jahr 1960 auf 25% in 2002. Enorm weist sich auch der Anstieg der Studierenden aus. Während 1960 nur 6% ein Universitäts- und nur 2% ein Fachhochschulstudium begannen, wuchsen diese Zahlen bis 2002 auf 25% bzw. 13% an. Der Anteil der Jugendlichen ohne Schulabschluss konnte hingegen lediglich von 17% (1960) auf ca. 10% gesenkt werden, eine Zahl, die seit den 1980er Jahren stagniert (vgl. Geißler 2004).
Die Bildungsexpansion in der Bundesrepublik Deutschland setzt bereits in den 1950er Jahren ein und erfährt weitere Schubkraft durch die bildungspolitischen Debatten in den 1960er Jahren (vgl. ebd.). Darin wird die Relevanz von Bildung zur Bewahrung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands, aber auch der Einfluss von Bildung auf die sozialen Chancen jedes Einzelnen thematisiert. Die Reformbemühungen gelten daher neben der Sicherung der ökonomischen Leistungsfähigkeit der Gesellschaft vor allem der Erhöhung von Bildungschancen sozial benachteiligter Gruppen. Konfession, Geschlecht, soziale Herkunft und Region sind die sozialen Determinanten der damaligen Bildungsbenachteiligung (vgl. Loeber/Scholz 2003: 247f.). In den 1970er Jahren verebbt die Diskussion um gerechtere Bildungschancen; hingegen wird seitdem oft vor einer Inflation und Abwertung höherer Bildungsabschlüsse gewarnt (vgl. Geißler 2004). Seit den 1990er Jahren gewinnt die Diskussion über die Bildungsbenachteiligung sozialer Gruppen langsam erneut an Resonanz, da angesichts eines zusammenwachsenden Europas und der Globalisierung die ökonomische Konkurrenzfähigkeit Deutschlands nun in weltwirtschaftlichem Maßstab zur Debatte steht (vgl. Loeber/Scholz 2003: 249). Erst die PISA-Ergebnisse haben jedoch die vorherrschenden Disparitäten im deutschen Bildungssystem mit Nachdruck in den Fokus des wissenschaftlichen und politischen Bewusstseins gerückt. Demnach hat die Bildungsexpansion zum paradoxen Resultat geführt, dass sich die Bildungschancen aller Schichten verbessert haben, während gravierende schichttypische Ungleichheiten nicht beseitigt werden konnten (vgl. Geißler 2006: 36ff.). Zwar konnte die Benachteiligung durch Konfession, Region und Geschlecht abgeschwächt bzw. ganz abgeschafft werden, die soziale Herkunft prägt allerdings weiterhin die Bildungschancen in hohem Maße (vgl. Büchner 2003: 16).
Geißler (2006: 36ff.) verdeutlicht anhand verschiedener Datenbestände die Verschiebungen auf den verschiedenen Bildungsniveaus für die Jahre 1950 bis 1989. Auf der mittleren Ebene wuchsen die Chancen zugunsten von Kindern der Arbeiter, Landwirte und ausführenden Dienstleistern, welche vor allem vom Ausbau der Realschulen zwischen 1970 und 1989 profitierten. Nutznießer der gymnasialen Expansion sind hingegen „die Kinder – insbesondere die Töchter – des nichtlandwirtschaftlichen Mittelstands sowie der höheren Dienstleistungsschicht, die bereits 1950 die besten Bildungschancen hatten“ (ebd.: 38). Geringere, dennoch recht gute Chancen auf einen Gymnasialbesuch haben Kinder der mittleren Angestellten und Beamten, während die Kinder der einfachen Dienstleister, der Arbeiterelite und der einfachen Arbeiter weiter stark benachteiligt bleiben. „Beim Wettlauf um die höheren Bildungsabschlüsse haben sich also die Chancenabstände zwischen privilegierten und benachteiligten Gruppen vergrößert“ (ebd.). Dazu trugen ferner seit den 1990er Jahren die Stagnation der Chancen von Kindern Un- und Angelernter auf einen Besuch der Realschule oder des Gymnasiums ebenso wie die nur geringen Chancenzuwächse für Facharbeiterkinder bei. Im Hochschulbereich werden sogar größere Abstände sichtbar, da vor allem diejenigen Gruppen von der Bildungsexpansion profitierten, deren Studienchancen bereits 1969 gut waren. So wuchs der Anteil der Kinder von Selbständigen an den Studienanfängern von 1969 bis 2000 um 30%, von Beamten um 26% und von Angestellten um 11%. Der Anteil der Arbeiterkinder betrug 2000 jedoch lediglich 7% (4% Zuwachs). Besonders drastisch werden die niedrigen Chancen der unteren Schicht, ein Hochschulstudium aufzunehmen, angesichts von Zahlen deutlich, die belegen, dass Kinder von Un- und Angelernten häufiger Sonderschulen (7% der Kinder) als Fachhochschulen oder Universitäten (jeweils 2%) besuchen. Die Bildungsexpansion hat also zu einem Abbau der Chancenunterschiede lediglich bei den mittleren Abschlüssen geführt, während die ungleiche Chancenverteilung bei höheren Bildungswegen weiterhin vorhanden ist.
Als Ursachen identifiziert Geißler (2006: 40ff.) diverse Faktoren. Dazu gehören schichttypische Kompetenz- und Leistungsunterschiede bei Kindern und Jugendlichen, welche aus der Sozialisation in schichttypischen Familienmilieus erwachsen. In den mittleren und höheren Schichten wird die Entwicklung von Fähigkeiten und Motivationen, die eine erfolgreiche Bildungslaufbahn begünstigen, eher gefördert. Des Weiteren werden Leistungen in ungleichem Maße in Bildungskapital umgesetzt, so dass die Chancen von Kindern und Jugendlichen aus höheren Schichten auf einen Gymnasialbesuch um ein Vielfaches höher sind als für SchülerInnen aus unteren Schichten. Dies liegt zum einen an einer schichttypischen Auslese in den Familien, die dazu führt, dass die Bildungsentscheidungen der Eltern nur bedingt an die Leistungen der Kinder gekoppelt sind. So entscheiden sich bildungsnahe Familien eher für einen Gymnasialbesuch ihrer Kinder, auch entgegen der Lehrerempfehlungen, während es sich bei bildungsfernen Familien genau umgekehrt verhält. Diese Effekte werden durch die Schule noch verstärkt, da die dortige Auslese ebenfalls von leistungsfremden sozialen Kriterien beeinflusst wird. Demnach werden Kinder der unteren Schichten in Bezug auf ihre tatsächlichen Leistungen zu schlecht, Kinder der mittleren und vor allem der oberen Schichten hingegen zu gut benotet. Entsprechend fallen auch die Grundschulempfehlungen für die weiterführenden Schulen aus. Die starke soziale Selektivität setzt sich in der Sekundarstufe fort, da die verschiedenen Schulformen unterschiedliche Entwicklungsmilieus darstellen. So sind bei gleicher Ausgangslage die Lernfortschritte in Gymnasien größer als in Realschulen und in Realschulen größer als in Hauptschulen, was ein Indikator für die mangelnde Durchlässigkeit des Bildungssystems ‚nach oben‛ ist. Die frühe Selektion nach vier gemeinsamen Grundschuljahren, durch die die Weichen für die gesamte spätere Bildungslaufbahn gestellt werden, stellt daher eine besondere Problematik dar.
[...]
[1] Die PISA-Studien 2000 und 2003 belegen die Bedeutsamkeit der sozialen Herkunft als Faktor für Leistungsunterschiede zwischen Individuen und zwischen Schulen in allen Teilnehmerstaaten, jedoch mit substantiellen Unterschieden zwischen den einzelnen Staaten (vgl. OECD 2004b: 20; vgl. OECD 2004a: 188ff.).
[2] Vgl. Loeber/Scholz 2003, S. 260-267 für eine aufschlussreiche Darstellung der historischen Entwicklung des gegliederten Schulsystems und seiner wiederholten politischen Verteidigung unter Berufung auf eine biologisch fundierte Dreiteilung der Begabungen trotz zahlreicher entgegenlaufender Forschungsbelege.
- Arbeit zitieren
- Eleni Stefanidou (Autor:in), 2008, Die Reproduktion sozialer Ungleichheit im Bildungssystem und ihre verborgenen Mechanismen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/91717
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