In der POETIK des Aristoteles, die wohl nach 335 v. Chr. entstand, können wir erfahren, was Aristoteles unter Dichtkunst versteht und wann eine Tragödie als eine gelungene Tragödie bezeichnet werden kann. Für Aristoteles ist die Tragödie Nachahmung: eine spezifische Nachahmung von Handlungen und Lebenswirklichkeit. Hierbei darf selbstverständlich nicht daran gedacht werden, dass Aristoteles an eine zwingend original getreue Nachahmung des natürlich Gegebenen denkt. Vielmehr muss berücksichtigt werden, dass der Begriff der Nachahmung lediglich der Versuch einer Übersetzung des griechischen „μίμησις“ (mimesis) darstellt und im deutschen nur unzureichend mit „Nachahmung“ wiedergegeben wird. Trefflicher ließe sich von Gestaltung, Bildung, Werk, oder vielleicht am Besten, von Darstellung sprechen. In diesem Sinne zeigt sich die Tragödie für Aristoteles als schöpferische Nachahmung oder eben als Darstellung. Und „daher sind die Geschehnisse und der Mythos das Ziel der Tragödie; das Ziel aber ist das Wichtigste von allem.“ (POETIK. [1450a 22]). „Das Fundament und gewissermaßen die Seele der Tragödie ist also der Mythos.“ ([1450a 38])
Fast unbemerkt schleicht sich an dieser Stelle ein Begriff mit in die Diskussion ein, der so ohne weiteres in seiner Bedeutung nicht auf unmittelbares Verständnis stößt: „der Mythos“.
Wir wollen daher im Folgenden der Frage nachgehen, was der „mythos“ (μῦθος) für Aristoteles bedeutet und welchen Stellenwert er in der POETIK in Bezug auf die Tragödie einnimmt. Hierzu nähern wir uns anfänglich dem Begriff des mythos, was ihn bezeichnet und beschreibt, um im weiteren ein Verständnis von dem zu gewinnen, was der mythos fasst.
Inhaltsverzeichnis
Vorhang auf!
Μυθος. Über einen Begriff und dessen Verwendung
Die Beschaffenheit des mythos in seinen unterschiedlichen Bedeutungszusammenhängen
Über die Größe des mythos. Oder: das Gesetz des Schönen
Der unteilbare mythos – die Teile des Ganzen
Der Charakter des Wunderbaren & des Leids. Die 3 tragischen Momente des mythos
Die Komposition des tragischen mythos [1454a 14]. Oder: ein Schlusswort
Literaturverzeichnis
Vorhang auf!
Langsam füllen sich die Ränge in Epidaurus. Nur noch wenige Minuten bis zum offiziellen Beginn der Trilogie „Orestie“ von Aischylos. Die Menschen, die an diesem Abend in das Theater bei Athen strömen, werden Zeugen einer einmaligen Inszenierung. Diese Aufführung sei „sicherlich die monumentalste, bildmächtigste, ästhetisch und pathetisch opulenteste – die mit dem entschiedensten Zug zum Großen und Ganzen“ mit Bildern, „die nicht nur illustrieren und demonstrieren, sondern erzählen“ – „am Ende eine regelrechte Show“, „so gewaltig und großformatig“ und dazu „die dramatische, (...), sehr filmische Musik – das hat im Freilichttheater eine bombastische Wirkung“.[1] So sieht es zumindest die Süddeutsche Zeitung.
Liegen auch fast 2500 Jahre zwischen der eigentlichen Uraufführung der „Orestie“ und der Neu-Interpretation des Schauspielhauses Frankfurt im Sommer des Jahres 2007 in Epidaurus, wäre sich die Süddeutsche Zeitung mit ihrer Berichterstattung über dieses Ereignisses eines Kritikers sicherlich gewiss: dem antiken Philosophen Aristoteles. Zumindest hätte ihn dieser Artikel nicht überzeugen können, dass es sich bei der Aufführung um eine gelungene Tragödie handelt. Denn diese käme nach Aristoteles auch ohne die in der Süddeutschen Zeitung gepriesene „bombastische Wirkung“ der Inszenierung aus. Und vielleicht hätten wir in der Süddeutschen Zeitung wenige Tage später einen Leserbrief vernehmen können, in dem Aristoteles Stellung bezieht: „Die Inszenierung vermag zwar die Zuschauer zu ergreifen; sie ist jedoch das Kunstloseste und hat am wenigsten etwas mit der Dichtkunst zu tun. Denn die Wirkung der Tragödie kommt auch ohne Aufführung und Schauspieler zustande.“[2]
So schrieb er es zumindest in seinem Werk „Über die Poetik“. In der POETIK des Aristoteles, die wohl nach 335 v. Chr. entstand, können wir erfahren, was er unter Dichtkunst versteht und wann eine Tragödie als eine gelungene Tragödie bezeichnet werden kann. Für Aristoteles ist die Tragödie Nachahmung: eine spezifische Nachahmung von Handlungen und Lebenswirklichkeit. Hierbei darf selbstverständlich nicht daran gedacht werden, dass Aristoteles an eine zwingend original getreue Nachahmung des natürlich Gegebenen denkt. Vielmehr muss berücksichtigt werden, dass der Begriff der Nachahmung lediglich der Versuch einer Übersetzung des griechischen „μίμησις“ (mimesis) darstellt und wie VON RAUMER bemerkt im deutschen nur unzureichend mit „Nachahmung“ wiedergegeben wird „und der Sinn nicht selten besser getroffen wird, wenn man sagt: Gestaltung, Bildung, Werk, oder vielleicht am Besten, Darstellung.“[3] In diesem Sinne zeigt sich also die Tragödie für Aristoteles als schöpferische Nachahmung oder eben als Darstellung. Und „daher sind die Geschehnisse und der Mythos das Ziel der Tragödie; das Ziel aber ist das Wichtigste von allem.“[4] „Das Fundament und gewissermaßen die Seele der Tragödie ist also der Mythos.“[5] Fast unbemerkt schleicht sich an dieser Stelle ein Begriff mit in die Diskussion ein, der so ohne weiteres in seiner Bedeutung nicht auf unmittelbares Verständnis stößt: „der Mythos“.
Wir wollen daher im Folgenden der Frage nachgehen, was der „ mythos “ (μῦθος) für Aristoteles bedeutet und welchen Stellenwert er in der POETIK in Bezug auf die Tragödie einnimmt. Hierzu nähern wir uns anfänglich dem Begriff des mythos, was ihn bezeichnet und beschreibt, um im weiteren ein Verständnis von dem zu gewinnen, was der mythos fasst.
Wohl wissend, dass sich viele Aspekte der Dichtung, die Aristoteles anspricht, nicht nur auf die Tragödie beziehen, sondern auf alle der Dichtung spezifischen Ausprägungen, wie z.B. auf den Epos oder auch die Komödie, werden wir uns im Folgenden auf die Tragödie konzentrieren.[6] Denn „die Teile sind teils bei Epos und Tragödie dieselben, teils Eigentümlichkeiten der Tragödie. Daher vermag, wer eine gute von einer schlechten Tragödie unterscheiden kann, dasselbe auch bei den Epen. Denn was die Epik enthält, ist auch in der Tragödie vorhanden, doch was die Tragödie enthält, ist nicht alles in der Epik vorhanden.“[7] Demnach scheint uns in der Tragödie der eigentliche Kern der Dichtung am deutlichsten zu Tage zu treten: die Seele - der sogenannte „ mythos “.
Falls nicht anders erwähnt, beziehen wir uns in dieser Abhandlung auf die Reclam-Übersetzung von Manfred FUHRMANN.
Tübingen im Oktober 2007
Μυθος. Über einen Begriff und dessen Verwendung
Der Begriff des „ mythos “ nimmt ohne Frage eine gewisse Sonderstellung in der POETIK ein. So weist Aristoteles dem mythos gleich zu Beginn in den einleitenden Worten der POETIK eine besondere Rolle zu, in dem er diesen explizit von den anderen Teilen der Dichtung abhebt. Dies wird vor allem dadurch sichtbar, wenn wir seine einführenden Worte des 1. Kapitels mit den Ausführungen des 6. Kapitels der POETIK in Beziehung setzen. In dem 6. Kapitel möchte Aristoteles nämlich insgesamt 6 Teile der Tragödie unterscheidet wissen, die er auch als Elemente des Tragischen bezeichnet. Als einen dieser Teile zählt er u.a. den mythos.[8]
Mit dem Wissen, dass der mythos als eben ein Teil der Dichtung gilt, schauen wir uns an, wie Aristoteles seine Struktur der POETIK im ersten Kapitel erklärt: „Von der Dichtkunst selbst und ihren Gattungen, welche Wirkungen eine jede hat und wie man die Handlungen zusammenfügen muß, wenn die Dichtung gut sein soll, ferner aus wie vielen und was für Teilen eine Dichtung besteht, [...] wollen wir hier handeln, [...].[9] Nach dem oben Gesagten würden wir zunächst den „ mythos “ als einen Teil der Dichtung ansehen und dessen Abhandlung eben dort suchen, in dem Aristoteles untersucht, „aus wie vielen und was für Teilen eine Dichtung besteht“. Dies wird auch ohne Einschränkung geschehen. Bemerkenswert erscheint hier nur, dass eben bereits im Vorfeld explizit vom „ mythos “ gesprochen wird: Denn für „Handlungen“ in der obigen Übersetzung von FUHRMANN steht in der griechischen Ausgabe „ mythos “.
In diesem Sinne möchte Aristoteles also nach seinen Worten sowohl von der Dichtkunst selbst, von ihren Gattungen und ihren Wirkungen sowie eben von der Zusammenfügung des mythos sprechen, wie aber auch („ferner“) von den Teilen einer Dichtung, zu denen jedoch nach seinem Verständnis ebenfalls der mythos gehört. Dies erscheint auf den ersten Blick verwunderlich. Zumindest fragt sich der Leser, warum Aristoteles mit seiner sonst sehr klar strukturierenden, kein Wort zu viel ansetzenden, analytischen Art, in seiner Bestimmung der POETIK gleich zweimal den mythos behandelt wissen will. Dies sollte zumindest Anlass bieten, sich dem Verständnis des Begriffs „ mythos “ anzunähern.
Nähmen wir ein Fremdwörterlexikon zur Hand und schlügen in eben diesem den Begriff „ mythos “ nach, erhielten wir eine Fülle von Informationen, die uns jedoch für ein besseres Verständnis der POETIK wenig dienlich wären. Der Begriff des „ mythos “ muss daher losgelöst von unserem Alltagsverständnisses eines Mythos im Sinne einer geheimnisvoll umwogenen Sage oder Ähnlichem verstanden werden. Vielmehr müssen versuchen, den Begriff in seiner ursprünglichen Bedeutung, will heißen altgriechischen Bedeutung, zu fassen.
Im Altgriechischen können wir μῦθος (mythos) mit zwei Grundbedeutungen übersetzen[10]:
1. Rede, Wort, Erzählung, Nachricht, Gedanke
2. Gegenstand der Rede, Sache, Begebenheit, Geschichte, Hergang
Frank PREßLER lässt insgesamt zwei Grundbedeutungen für mythos erkennen: „Handlungsorganisation“ und „Zusammensetzung der Geschehnisse“.[11] Und in der Übersetzung von FUHRMANN finden wir des weiteren für μῦθος deutsche Ausdrücke wie „Handlungen“, „Handlung“, „Geschichte“, „Fabel“, oder auch einfach „Mythos“. Anhand der Tatsache, dass auch FUHRMANN in der Reclam-Ausgabe der POETIK sich nicht auf eine Übersetzung festgelegt hat, wird nochmals deutlich, dass der Begriff des μῦθος vielseitig verstanden werden muss und nicht lediglich mit einem einzigen deutschen Ausdruck wiedergegeben und verstanden werden kann. Vielmehr drängt sich die Vermutung auf, dass μῦθος in seiner Bedeutung nur im gesamten Textverständnis erfasst werden kann und an unterschiedlichen Textpassagen unterschiedliche Bedeutungen annimmt.
Ich schreibe daher (anders als FUHRMANN) im Folgenden „ mythos “ klein und kursiv, um nochmals zu verdeutlichen, dass es sich hierbei um eine (noch näher zu bestimmenden) Vokabel handelt und eine bewusste Abgrenzung zum Mythos im Alltagsverständnis darzustellen.
Nach Aristoteles ist der μῦθος in der POETIK zunächst einmal „die Zusammensetzung der Geschehnisse“, eine Synthese der Handlungen: „σύνθεσις τῶν πραγμάτων“. Der Begriff „μῦθος“ umschreibt somit eine noch näher auszuführende Zusammensetzung einzelner Handlungen (πράγματα) oder „Geschehnisse“ der Tragödie. So stellt es Aristoteles selbst in 1450a 5 da: „Ich verstehe hier unter Mythos die Zusammensetzung der Geschehnisse, (...).“
Johannes VAHLEN spricht in diesem Bedeutungszusammenhang des mythos von „Komposition“. Es lassen sich durchaus unterschiedliche Textpassagen finden, aus denen deutlich wird, dass Aristoteles die σύνθεσις τῶν πραγμάτων sogar oft synonym für μῦθος setzt. Spricht Aristoteles, wie in 1450a 14, im ersten Satz noch ausdrücklich von mythos, nutzt er nur einen Satz später, um den gleichen Sachverhalt zu bezeichnen, die synonyme Umschreibung „Zusammenfügung der Geschehnisse“: „(...) jedes Stück (besteht) in gleicher Weise aus Inszenierung, Charakteren, Mythos, Sprache, Melodik und Erkenntnisfähigkeit. Der wichtigste Teil (von diesen 6 – T.N.) ist die Zusammenfügung der Geschehnisse.“[12] Diesem Verständnis von mythos folgt auch FUHRMANN in seiner Übersetzung der POETIK. Lässt sich beispielsweise im griechischen Originaltext in 1450a 32 erkennen, dass Aristoteles zwischen dem mythos und der Zusammenfügung von Handlungen eine Gleichartigkeit herstellen möchte, in dem er zwischen den beiden Begriffen „μῦθος“ und „σύστασις τῶν πραγμάτων“ (Zusammenfügung von Handlungen) ein griechisches „καί“ (und) setzt, das i.d.R. Gleiches mit Gleichen verknüpft und das ein wesentlich stärkeres „und“ bezeichnet als in unserem alltäglichen Sprachgebrauch, spricht FUHRMANN hingegen in dieser Passage schon gar nicht mehr von einem „und“, sondern davon, dass die Tragödie „einen Mythos, d.h. (!) eine Zusammenfügung von Geschehnissen, enthält.“ Wir sehen also, dass auch für FUHRMANN die „Zusammenfügung von Geschehnissen“ die eigentliche Bestimmung für den mythos zu sein scheint. „Unter Mythos versteht Aristoteles ein bestimmtes Arrangement solcher Geschehnisse, die Handlungsstruktur, die Fabel, den Plot.“[13]
[...]
[1] Dössel, Christine. Blutlache der Zivilisation. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 193 vom 23. August 2007. Seite 13
[2] [1450b 16]
[3] Von Raumer. (1831). S.118. Als weiterer Beleg kann der Tatbestand dienen, dass Aristoteles im Kapitel 14 davon spricht, dass es die Aufgabe des Dichters sei, sich an dem Gegebenen angemessen zu orientieren, aber eben auch zu erfinden („ἑυρίσκειν“ !)
[4] [1450a 22]
[5] [1450a 38]
[6] Obwohl in der Poetik nur die Theorie der Tragödie und der epischen Dichtung erhalten geblieben ist und wir somit keine spezielle Abhandlung zur Komödie mehr ausfindig machen können, weist beispielsweise Guido Frank Preßler in seiner Dissertation „Aristoteles und Aristophanes“ nach, dass sich allein über die Untersuchung des mythos in der Tragödie und des Epos klare Rückschlüsse auf die speziellen Elemente der Komödie ziehen lassen. (Preßler. 1999.)
[7] [1449b 16 – b 20]
[8] die 6 Teile einer Tragödie: 1. μῦθος , 2. ἦθος (Gesinnung/Charakter), 3. διάνοια (Denkvermögen), 4. μελοποιία (musikalische Gestaltung), 5. λέξις (sprachliche Gestaltung), 6. ὂψις (Inszenierung). siehe: [1450a 8]
[9] [1447a]
[10] entnommen aus: Menge-Güthling (1981).
[11] Preßler (1998). S.70
[12] siehe für weitere Belege auch: [1450a 22], [1450a 37], [1453b 22]
[13] Fuhrmann (2005). S. 110. Anmerkung 8.
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