Diese Arbeit untersucht Stigmatisierungsprozesse in der Schule und die eventuellen Auswirkungen auf die Identitätsentwicklung. Aufgrund der Neuausrichtung der Realschulen in Baden-Württemberg fokussiert sich die Forschung auf das "G-Niveau". Da der Einfluss formeller Institutionen für die Identitätsentwicklung der Kinder und Jugendlichen eine tragende Rolle spielt, werden vor der empirischen Forschung die Schule und die Einflüsse der Beteiligten beschrieben.
Nach der Zusammenfassung der theoretischen Grundlagen ergeben sich drei vertiefende forschungsleitendende Fragestellungen:
- „Inwieweit finden Stigmatisierungsprozesse in und durch die Schule statt?“
- „Wie wirken sich Etikettierungen und Stigmatisierungen auf die sozialen Rollen und die Identität von Betroffenen aus?“
- „Welche Möglichkeiten gibt es, um bestehende Stigmata abzubauen?“
Der empirische Teil beginnt mit der Beschreibung der methodischen Vorgehensweise, bis dann im darauffolgenden Kapitel eine (Einzel-)Auswertung der Interviews erfolgt. Für die Beantwortung der Forschungsfragen werden die Ergebnisse aus den Fragebögen der Lehrkräfte miteinbezogen. Anknüpfend an die Forschungsergebnisse werden Möglichkeiten zum Abbau von Vorurteilen und Präventionsmaßnahmen gebildet und dargestellt um abschließend im letzten Kapitel ein Resümee zu ziehen.
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1 Problemstellung, Zielsetzung und Gang der Untersuchung
2 Begriffsdefinitionen
2.1 Etikettierung
2.2 Stigmatisierung
2.3 Der Stigma- und Etikettierungsansatz
3 Stigmatisierung – vom Makel zum sozialen Prozess
3.1 Zur Entstehung von Stigmata
3.2 Unterteilung von Stigmata (nach Goffmann)
3.3 Mögliche Ursachen und Funktionen von Stigmatisierung
3.4 Stufen der Stigmatisierung
3.4.1 Darstellung nach Hensle
3.4.2 Darstellung nach Link und Phelan
4 Auftretende Probleme bei Betroffenen
4.1 Auswirkung der Stigmatisierung auf die sozialen Rollen und die Identität
4.2 Störungen der Interaktion nach Goffmann
4.3 Selbstkonzept, Selbstwertgefühl und Identität
4.3.1 Die beschädigte Identität
5 Vom Makel zum sozialen Prozess
5.1 Die Schule als Instanz sozialer Kontrolle und als anomische Struktur
5.2 Etikettierungs- und Stigmatisierungsprozesse in der Schule
5.3 Erwartungen der Lehrkräfte
5.4 Stereotypbildung – Einteilung der Lernenden durch Lehrkräfte
5.5 Zuschreibungen durch die Klassengemeinschaft
6 Zusammenfassung der Ergebnisse
6.1 Forschungsleitende Fragestellungen
7 Empirische Untersuchung
7.1 Forschungsmethodisches Vorgehen
7.2 Forschungszielgruppe, Feldzugang und Interviewte
7.3 Befragung der Lehrkräfte
7.4 Befragung der Schülerinnen und Schüler
7.4.1 Auswertungsmethode: Qualitative Inhaltsanalyse
7.4.2 Möglichkeiten und Grenzen des Interviews
8 Einschätzung der Situation der Schülerinnen und Schüler im G-Niveau
8.1 Die Transkription
8.1.1 Sprachliche Deutung
8.2 Bildung des Kategorienschemas
8.2.1 Anwendung des Kategorienschemas
8.2.2 Folgen der Stigmatisierung für den Einzelnen
8.3 Analyse des Datenmaterials
8.3.1 Die Analyse der Interviews
8.4 Beantwortung der forschungsleitenden Fragestellungen
8.4.1 Inwieweit finden Stigmatisierungsprozesse in und durch die Schule statt?
8.4.2 Wie wirken sich Stigmatisierungen auf die sozialen Rollen und die Identität von Betroffenen aus?
8.4.3 Welche Unterstützungsmöglichkeiten gibt es um bestehende Stigmata abzubauen?
8.4.4 Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse
8.4.5 Weitere mögliche Forschungsfelder
9 Abbau von Vorurteilen und Präventionsmaßnahmen
9.1 Haltung der Lehrkräfte
9.2 Aufklärung und Thematisierung in den Klassen
9.2.1 Soziales Lernen im Rollenspiel
9.2.2 Klassenübergreifende Projekte
9.3 Wegweiser Schulprogramm
10 Abschlussdiskussion und Ausblick
11 Literaturverzeichnis
Anhang
A Befragung der Lehrkräfte
B Interviews der Schülerinnen und Schüler
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Der Stigmatisierungsprozess nach Hensle
Abb. 2: Der Stigmatisierungsprozess nach Link und Phelan
Abb. 3: Dimensionsraster: „Stigmatisierung als Störfaktor in der Identitätsentwicklung“
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1 Überblick der Befragten
Tabelle 2 Begriffsdefinitionen aus den Interviews
Tabelle 3 Stigmatisierungserlebnisse
Tabelle 4 Auswirkungen auf das Verhalten
Tabelle 5 Einfluss durch schulische Rahmenbedingungen
„Abweichendes Verhalten … ist keine Qualität der Handlung, die eine Person begeht, sondern vielmehr eine Konsequenz der Anwendung von Regeln durch andere und der Sanktionen gegenüber einem Missetäter.“ (Howard S. Becker 1973).
1. Problemstellung, Zielsetzung und Gang der Untersuchung
„Die denken oft, dass wir sehr chaotisch sind, nervige Klasse und wild sind. Uns wie Tiere verhalten. Manche! Manche denken auch, dass wir einfach nur blöd sind.“
Antwort von Steven (Z. 11-13) auf die Frage: „Was sagen andere Schülerinnen und Schüler über deine Klasse?“„…die stufen sich gegenseitig auch mega runter und dann sagen sie:
Wir sind die G-Niveau Klasse und wir müssen laut sein! Und das stimmt gar nicht, denn Hauptschule und Realschule ist ja Schule und da wird nicht nach so was beurteilt.“
Antwort von Miriam (Z. 40-42) auf die Frage: „Hältst du es für denkbar, dass sich Klassenkameraden in der Schule anders verhalten, als sie normalerweise sind?“
Die beiden angeführten Zitate sind aus dem Interaktionsprozess zwischen Schülerinnen und Schülern, die gemeinsam in einer Schule unterrichtet werden, aber in G1 - und M2 - Niveau Klassen unterteilt sind. Beide Aussagen können dem gesellschaftlichen Phänomen der Stigmatisierung zugeordnet werden.
Entstanden durch die Festlegung von gesellschaftlichen Werten und Normen und umgesetzt durch formelle und informelle Instanzen, bedeutet für die von Stigmatisierung Betroffener Diskriminierung, eine Einschränkung der Lebensqualität und der Lebenschancen und kann bis hin zu einer geschädigten Identität führen. Aufgrund von sichtbaren und unsichtbaren Merkmalen etikettiert und stigmatisiert unsere Gesellschaft Menschen und ordnen diese dadurch diskreditierten3 Personengruppen zu.
Demnach tragen Menschen z.B. Psychatrieerfahrene, deliquente4 Jugendliche, Geflüchtete, Alkoholiker, Obdachlose, Beeinträchtigte, Drogenabhängige und z.T. auch noch homosexuelle Menschen, die sich solchen (Rand-)Gruppen zuordnen lassen, ein sichtbares oder unsichtbares Stigma, das sie von vollständiger Akzeptanz ausschließt. Zuschreibungen können als wirkmächtiges Phänomen, das die Identitätsentwicklung beeinflusst, bezeichnet werden. Gerade bei Kindern und Jugendlichen steht das emotionale und seelische Gebilde auf einem sensiblen Gerüst, das sich durch Interaktionserfahrungen stark formen und bilden lässt. Vorurteile und Zuschreibungen, die durch Erziehende, Lehrende oder durch Institutionen verliehen werden, sind somit prägend und können das Verhalten ein Leben lang beeinflussen.
Von diesem Standpunkt aus bildet der erste Teil der Ausarbeitung die theoretische Grundlage und definiert zu Beginn die Begriffe Etikettierung und Stigmatisierung. Darauffolgend wird der soziale Prozess der Stigmatisierung (Kap. 3), unter der Einbeziehung der Forschungsergebnisse Goffmanns, beschrieben. Angefangen von der Entstehung (Kap. 3.1), der Unterteilung (Kap. 3.2) und den möglichen Ursachen und Funktionen (Kap. 3.3) von Stigmatisierung werden im Anschluss die Stufen nach Hensle und Link/Phelan, in den Unterkapiteln 3.4.1 und 3.4.2, dargestellt und interpretiert. Die daraus gewonnen Erkenntnisse werden im vierten Kapitel (4. – 4.3.1) vertieft betrachtet und zeigen auf, welche Probleme bei Betroffenen auftreten können.
Da der Einfluss formeller Institutionen für die Identitätsentwicklung der Kinder und Jugendlichen eine tragende Rolle spielt, werden vor der empirischen Forschung die Schule und die Einflüsse der Beteiligten beschrieben.
Hierbei steht die Schule als soziale Kontroll- und Sozialisationsinstanz im Vordergrund (Kap.5), da sie gesellschaftsspezifische Normen und Werte festlegt und vermittelt. Diese Vermittlung bedingt auch die Entstehung von Vorurteilen und bildet demnach auch die Basis für den Prozess der Stigmatisierung. Somit hat die Schule, als Lebens- und Lernraum, einen beträchtlichen Einfluss auf die Entwicklung von Heranwachsenden. Hier lernen Kinder- und Jugendliche unter anderem den Umgang mit dem Rollenhaushalt und können ihn in der Interaktion mit Gleichaltrigen experimentierend erweitern. Der Rollenhaushalt wird durch die Etikettierung und Stigmatisierung gefährdet. Wird ein Jugendlicher von seinen Mitschülerinnen und Mitschülern stigmatisiert, so ist er prädestiniert, auch viktimisiert5 zu werden. In diesem Zusammenhang wird im Kapitel 5.3 auf die Stereotypbildung und auf die Zuschreibungen durch die Klassengemeinschaft (Kap. 5.4) eingegangen.
Nach der Zusammenfassung der theoretischen Grundlagen ergeben sich drei vertiefende forschungsleitendende Fragestellungen (Kap. 6 und 6.1), die sich aufgrund der Neuausrichtung der Realschulen in Baden-Württemberg bilden lassen. Die erste: „Inwieweit finden Stigmatisierungsprozesse in und durch die Schule statt?“ bezieht sich unter anderem auf die Rahmenbedingungen und welche Auswirkungen es hat, wenn Klassen das Etikett „G-Niveau“ erhalten. Die zweite Forschungsfrage: „Wie wirken sich Etikettierungen und Stigmatisierungen auf die sozialen Rollen und die Identität von Betroffenen aus?“ hat das Ziel das Erleben und die Auswirkungen auf die Betroffenen beschreibbar zu machen.
Die dritte und letzte forschungsleitende Fragestellung: „Welche Möglichkeiten gibt es, um bestehende Stigmata abzubauen?“ soll Hinweise liefern, wie Rahmenbedingungen verändert werden und Betroffene im Schulalltag geschützt werden können. Um diese Forschungsfragen beantworten zu können, wurden Interviews mit betroffenen Schülerinnen und Schülern geführt und Lehrkräfte anhand eines Fragebogens befragt.
Der empirische Teil beginnt mit der Beschreibung der methodischen Vorgehensweise in Kapitel sieben, bis dann im darauffolgenden Kapitel (8) eine (Einzel-)Auswertung der Interviews erfolgt. Für die Beantwortung der Forschungsfragen (Kap. 8.2.1.1ff) werden die Ergebnisse aus den Fragebögen der Lehrkräfte miteinbezogen. Anknüpfend an die Forschungsergebnisse werden im Kapitel 9 Möglichkeiten zum Abbau von Vorurteilen und Präventionsmaßnahmen gebildet und dargestellt um abschließend im Kapitel zehn ein Resümee zu ziehen.
Gesellschaftlich und bildungspolitisch ist diese Forschung von bedeutender Relevanz, da durch den Bildungsplan 2016 alle Realschulen in Baden-Württemberg Unterricht auf verschiedenen Niveaustufen (G- und M-Niveau) anbieten müssen. Deshalb muss sich jede Realschule mit dieser neuen Gegebenheit und deren Auswirkungen auf den schulischen Bildungsauftrag auseinandersetzen.
An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass in direkten Zitaten, Zitaten aus den Interviews die Grammatik und Rechtschreibung der jeweiligen Befragten und Autoren beibehalten wurde. Ohne diese extra zu bezeichnen. Werden in dieser Ausarbeitung die Begriffe „normal“ oder „Normalität“ benutzt, so bezeichnen diese ein den Normen unserer Gesellschaft entsprechenden Verhalten oder den Zustand von Abwesenheit von Krankheit oder Stigmatisierung.
2. Begriffsdefinitionen
Die Begriffe der „Etikettierung“ und der „Stigmatisierung“ werden im Sprachgebrauch oft synonym verwendet, da sie in ihrer Bedeutung nur geringfügig auseinanderliegen (Hensle et al. 1982, S.210). Beide Begriffe werden in den nachfolgenden Unterkapiteln (2.1 und 2.2) definiert und im Kapitel 2.3 voneinander unterschieden, können aber nicht nur isoliert voneinander behandelt werden. Denn beide Phänomene entstehen durch die Interaktion mit formellen6 oder informellen7 Partnern und begünstigen sich gegenseitig.
2.1 Etikettierung
Tannenbaum (1939) gilt als Urvater des Etikettierungs- und Reaktionsansatzes und benennt diesen als „Labeling Approach“. Die Theorien sind nicht ätiologisch orientiert und suchen nicht nach Ursachen, die vor dem Auftreten des abweichenden Verhaltens liegen, sondern die Abweichung wird als Zuschreibungsprozess des Attributes der Devianz zu bestimmten Verhaltensweisen im Rahmen von Interaktionen verstanden (vgl. Lamnek, 1996, S. 223).
Der Etikettierungsansatz betrachtet abweichendes Verhalten nicht als ein feststehendes Merkmal aufgrund von personenbezogenen Eigenschaften oder als feststehende Handlungsqualität einer Person, sondern alle Handlungen einer Person oder Gruppe werden nach Vorurteilen, die das auferlegte Etikett mit sich bringt, negativ bewertet. Der Etikettierungsansatz reduziert die Merkmale einer Person auf ein von ihr gezeigtes und von der Gesellschaft als abweichend und negativ bewertetes Verhalten. Diese Personen werden als Abweichler etikettiert und von der Gesellschaft gemieden und leben oft sozial isoliert. Sie nehmen nicht am Gruppengeschehen teil und werden gemäß ihres Etiketts behandelt. Das Umfeld des Etikettierten erwartet weitere Verhaltensweisen, welche als abweichend definiert sind oder werden können.
Somit liegt das Augenmerk nicht auf der Suche nach primär personenbezogenen oder umweltbedingten Ursachen für normabweichendes Verhalten, sondern die Betrachtung richtet sich darauf, auf welche Weise bestimmten Personen(gruppen) das Attribut „abweichend“ oder „delinquent“ zugeschrieben wird, welche soziale Reaktionsweise damit verbunden ist und welche Bedeutung das für die Herausbildung abweichender oder delinquenter Entwicklungsverläufe für die so etikettierten Personen hat. Der Labeling Approach folgt damit einer interaktiven Betrachtungslogik gegenüber dem Phänomen abweichenden Verhaltens. Abweichendes Verhalten ist vom Standpunkt des Labeling Approach aus nicht einfach da, sondern wird erst durch die Anwendung von Regeln und Sanktionen auf bestimmte Personengruppen zu deviantem Verhalten gemacht. In diesen Vorgang der „Etikettierung“ eines Verhaltens als „abweichend“ gehen gleichzeitig gesellschaftliche Interessen und Machtverhältnisse ein (vgl. Serafin, 2017, S. 137). Etikettierungen können informell und formell (z.B. durch die Instanz Schule, Kapitel 5) definiert werden, wobei Letztere im Hinblick auf deren Auswirkungen größeres Gewicht beizumessen ist. Festzuhalten ist, dass eine Etikettierung großen Einfluss auf das Verhalten einer Person nehmen kann. Somit kann ein zugeschriebenes Etikett auch als ein schwerwiegender Startpunkt im Stigmatisierungsprozess gesehen werden.
2.2 Stigmatisierung
Ein Stigma bezeichnet eine Eigenschaft einer Person, „die zutiefst diskreditierend8 ist“ (Goffman 1998, S.11). Goffman legt dar, dass es sich bei Stigma um einen relationalen Begriff handelt. Eine bestimmte Eigenschaft an sich ist noch kein Stigma. Sie ist zunächst neutral, d.h. weder kreditierend noch diskreditierend (vgl. Goffman 1998, S.11).
Letzteren Status erhält sie erst durch eine negative Wertung. Ob ein Merkmal negativ bewertet und damit zum Stigma wird, ist abhängig von dem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext. Die Majorität einer Gesellschaft legt fest, welche Eigenschaften bzw. Merkmale als normal angesehen und welche als abweichend gewertet werden. Eine bestimmte Eigenschaft wird zu dieser gesellschaftlich definierten Normalität in Relation gesetzt und durch diese als normal anerkannt oder als abweichend charakterisiert und zu einem Stigma degradiert (vgl. Hohmeier 1975, S. 7f). Erst wenn ein Merkmal in Bezug auf eine soziale Gemeinschaft betrachtet wird, erhält es eine negative oder positive Wertung. Stigmatisierung kann sich also prinzipiell auf jedes durch die Wahrnehmung betroffene Merkmal beziehen, sie ist jedoch abhängig von den Werten und Normen der jeweiligen Gesellschaft. Es geht also nicht um das Merkmal an sich, sondern um die „negative Definition des Merkmals bzw. dessen Zuschreibung“ (Hohmeier 1975, S.7).
Demnach ist Stigma ein doppeldeutiger Begriff, d.h. es kann zur Ausgrenzung führen und dennoch einen besonderen Schutz des Stigmatisierten bedeuten.
Ein Stigma kann sichtbar oder unsichtbar sein und ist ein körperliches, charakterliches oder phylogenetisches9 Merkmal, das durch die Gesellschaft negativ definiert wird und dadurch diskreditierend wirkt. Dies geschieht nach den jeweiligen gesellschaftlichen Normen und Werten und durch die Instanzen sozialer Kontrolle (formelle und informelle), die ein Merkmal nicht nur negativ definieren, sondern diese Definition auch durch Sanktionen aufrechterhalten. Die Bezeichnung als ein soziales Vorurteil ist hier treffend. Zudem kann zwischen Selbststigmatisierung und die Stigmatisierung durch Andere unterschieden werden. Im weiteren Verlauf der Ausarbeitung wird Stigma als ein diskreditierendes charakterliches Merkmal behandelt, das durch die negative Zuschreibung durch die Gesellschaft erst entsteht.
2.3 Der Stigma- und Etikettierungsansatz
Der Etikettierungs- (auch Labeling Approach genannt) zeigt nur eine geringfügige Abweichung vom Stigmatisierungsansatz (vgl. Hensle et al. 1982, S. 210).
Letzterer Ansatz geht nach Goffmann davon aus, dass Stigmatisierung an sichtbaren und unsichtbaren Stigmata anknüpft, d.h. Stigmatisierung wird durch das Vorhandensein eines Stigmas ausgelöst. Ein weiterer Ansatz von Gerke besagt, dass ein Stigma auch erst durch Stigmatisierung entstehen kann.
Dies entspricht der Auffassung des Labeling Approach: „Nicht das […] Verhalten selbst, sondern dessen negative Bewertung, das Label lässt die Abweichung erst entstehen.“ (Dietrich/Rietz 1996, S. 417). Im Gegensatz zum Stigma-Ansatz bezieht sich der Labeling Approach ausschließlich auf deviantes Verhalten. Ein in der Jugend zeitweilig primäres abweichendes Verhalten stuft dieser als normal ein. Erst durch das Eingreifen gesellschaftlicher Kontrollinstanzen und den damit verbundenen Zuschreibungsprozessen kann dieses zu einer sekundären Abweichung führen (vgl. Dieterich/Rietz 1996, S. 417).
Nach Karstedt stellt der Labeling Approach die Legitimation der „gültigen Normen und der herrschenden Moral [in Frage], zum anderen kritisiert er die Instanzen sozialer Kontrolle wie Polizei, Justiz und Sozialarbeit, die diese Normen und Moral durchsetzen“ (Karstedt 1975, S. 178). Die Unterscheidung primärer und sekundärer Devianz geht auf Lemert zurück. Primäre Devianz tritt zwar in vielen Varianten auf, ist aber nach Lemert unbedeutend, da diese nur ein zeitweiliger Ausdruck von Identitätssuche ist. Wird sie als nicht relevant angesehen, kommt es nicht zu Zuschreibungsprozessen, die eine Reorganisation von Rolle, Status und Selbstdefinition des Betreffenden erfordern würden. Folgen der primären Devianz gesellschaftliche Reaktionen in Form von Etikettierungen, so führt dies zu „einem eingeengten Handlungsspielraum, [...] was erhebliche Auswirkungen auf Sozialisationsvorgänge, soziale Rollen und Selbstkonzept der betreffenden Person hat, die sich nun selbst als Abweichler begreift“ (Lemert 1967 zit. n. Lamnek 1996, S. 222). Sekundär abweichendes Verhalten wird also durch gesellschaftliche Reaktionen verursacht. Durch die Anheftung eines Labels bzw. Etiketts wird eine vorübergehende Verhaltensabweichung manifestiert und es entsteht sekundäre Devianz (vgl. Lamnek 1996, S.216 – 219).
Zusammengefasst bedeutet es, dass ein Stigma erst durch die gesellschaftliche Bewertung eines (Fehl-)Verhaltens einer Person erschaffen wird. Also erst, wenn Etikettierung, Stereotypisierung, soziale Ausgrenzung, Statusverlust und Diskriminierung gemeinsam in einer Situation auftreten, in der ein Machtverhältnis besteht. Denn erst die Ungleichheit an Macht führt dazu, dass diese Komponenten ihre negative Wirkung entfalten (vgl. Link u. Phelan 2001). Aus diesem Grund ist die soziale Interaktion grundlegend für den Prozess der Stigmatisierung und wird im folgenden Kapitel ausführlich beschrieben.
3. Stigmatisierung – vom Makel zum sozialen Prozess
Gesellschaftlich hat sich der Begriff der Stigmatisierung durchgesetzt und in der Grundlagenliteratur wird diesem eine besondere Wichtigkeit zugeordnet. Deshalb befasst sich das dritte Kapitel ausschließlich damit und beginnt mit der Beschreibung der Entstehung von Stigmatisierung nach Goffman, um im darauffolgenden Unterkapiteln auf die Unterteilung (Kap. 3.2) und mögliche Ursachen und Funktionen von Stigmatisierung (Kap. 3.3) nach Goffmann einzugehen. Weiterführend und um die Stufen der Stigmatisierung skizzieren zu können, werden im Kapitel 3.4 die Darstellungen nach Hensle und Link/Phelan herangezogen.
3.1 Zur Entstehung von Stigmata
Um Stigmatisierungsprozesse zu erklären, bietet sich Goffmans Auslegung von Stigmatisierungsprozessen an, die den Gesetzmäßigkeiten der Attributionstheorie folgt (vgl. Groß 2000, S.18). In Abgrenzung zu dieser ist es sinnvoll, auch auf einige Aspekte des Labeling Approach einzugehen. Die Attributionstheorie kann den kognitiven Theorien zugeordnet werden, da sie das Verhalten der Menschen in Situationen als Produkt von Kognitionen sieht. Groß führt aus, dass Kognitionen wie Denken, Sprache und Problemlöseverhalten den Menschen befähigen, seine Innen- und Außenwelt zu strukturieren. Der Mensch nimmt Situationen subjektiv wahr, definiert sie und richtet an seiner Einschätzung der Situation sein Verhalten aus. Diese Deutungsprozesse von Situationen, die das Verhalten des Menschen beeinflussen, sind Teil der Attributionstheorie. Die Zuschreibung von Attributen (Eigenschaften) ist ein fester Bestandteil des täglichen Lebens. Attribute dienen der Vereinfachung der Wahrnehmung und ermöglichen eine Vorhersage über Verhaltensweisen anderer Personen.
Wie diese Hypothesen und Urteile über die Umwelt und andere Menschen entstehen bzw. wie es zur Zuschreibung internaler Attribute wie Eigenschaften, Motiven oder Wertehaltungen kommt, wird durch Goffman, dessen Stigmatisierungsansatz auf dem symbolischen Interaktionismus10 basiert, erklärt (vgl. Groß 2000, S. 18ff). Goffman stellt den Interaktionsprozess folgendermaßen dar: Treten zwei sich fremde Menschen miteinander in Interaktion, so machen sie sich in den ersten Sekunden bereits ein Bild bzw. formen die „virtuale soziale Identität“ ihres Interaktionspartners (vgl. Goffman 1998, S. 10).
Die virtuale soziale Identität bzw. das Bild entsteht durch die Wahrnehmung weniger, herausstechender, oberflächlicher Merkmale, die es ermöglichen, das Gegenüber, ohne es näher zu kennen, einem bestimmten Typ Mensch zuzuordnen (Typifikation11 ). Auf Basis der Typifikation werden einer Person bestimmte Attribute zugeschrieben (vgl. Goffman 1998, S. 10f). Diese Attribute sind mit positiven oder negativen Wertungen verbunden und führen im Falle einer negativen Wertung zu einer Zuordnung zu nicht akzeptablen Gruppen bzw. zu einer Etikettierung der Person (z.B. als Beeinträchtigten, Geizhals, Kriminellem oder Perversem). Mit einer solchen Etikettierung wird eine soziale Distanz zu dem anderen aufgebaut (vgl. Groß 2000, S.19f).
Hat das Gegenüber nun z.B. ein sichtbares Stigma, d.h. ein Merkmal, das negativ besetzt ist, so nimmt die vermeintlich normale Person den Stigmatisierten bzw. Diskreditierten hauptsächlich von diesem Merkmal aus wahr und ordnet ihm ein Etikett, z.B. Beeinträchtigter und damit gleichzeitig auch bestimmte Attribute zu.
Nach Goffman ist für den Prozess der Stigmatisierung bezeichnend, dass nicht nur ein Merkmal erkannt und negativ definiert wird (z.B., dass jemand blind ist), sondern darüber hinaus dem Merkmalsträger weitere meist negative Merkmale zugeschrieben werden, die objektiv nichts mehr mit dem ursprünglichen Merkmal zu tun haben (z.B. ein Blinder ist hilflos und unbeholfen). Ausgehend von diesem einen Merkmal werden die negativen Zuschreibungen auf die ganze Person übertragen und nicht nur auf diejenigen sozialen Rollen, die mit dem Merkmal im direkten Zusammenhang stehen (ein Blinder darf z.B. kein Fahrzeug führen).
Diesen Prozess kann man auch als Generalisierung oder Hof-Effekt12 bezeichnen (vgl. Goffman 1998, S. 14, 66; Hohmeier 1975, S. 13). Das Stigma wird zum „master status“ (Hensle et al. 1994, S. 212). Die Person wird auf ein von der Norm abweichendes Merkmal reduziert und alle anderen Merkmale und Eigenschaften werden diesem untergeordnet oder als peripher13 angesehen. Das Stigma und dessen Bewertung durch andere bestimmt die Stellung der Person in der Gesellschaft, sowie den Umgang der anderen Menschen mit ihr (vgl. Hohmeier 1975, S. 7ff, 13). Hat die Person ein unsichtbares Stigma bzw. ist sie diskreditierbar, so wird ein fremder Interaktionspartner ihr zunächst eine positivere virtuale soziale Identität zusprechen. Im Verlauf der Interaktion kann es jedoch passieren, dass eine unerwünschte Eigenschaft und damit die Diskrepanz zwischen der virtualen und der aktualen Identität entdeckt wird (vgl. Goffman 1998, S. 10f).
„Während der Fremde vor uns anwesend ist, kann es evident werden, daß er eine Eigenschaft besitzt, die ihn von anderen in der Personenkategorie, die für ihn zur Verfügung steht, unterscheidet; und diese Eigenschaft kann von weniger wünschenswerter Art sein ... . In unseren Vorstellungen wird sie [die Person] so von einer ... gewöhnlichen Person zu einer befleckten, beeinträchtigten herabgemindert. Ein solches Attribut ist ein Stigma“ (Goffman 1998, S. 10f).
Trifft eine normale Person mit einer Stigmatisierten zusammen, hat sie also bereits eine Vorstellung von den Eigenschaften der anderen Person entwickelt, wo deren Schwächen liegen bzw. was diese leisten und welche Dinge sie nicht tun kann.
Die auf Basis der Typifikation entstanden Vorurteile, die u.a. der Vereinfachung der Wahrnehmung von Situationen dienen, führen zu einem verzerrten Fremdbild. Das Stigma bewirkt, dass die Mitmenschen den Stigmatisierten primär von dessen Stigma aus wahrnehmen. Ein vorhandenes oder lediglich zugeschriebenes Merkmal wird zu einem zentralen Bezugspunkt für andere.
Es kommt zu einer Verzerrung in der Wahrnehmung des Stigmatisierenden, so dass jene Merkmale verstärkt wahrgenommen werden, die zu dem Stigma passen, wohingegen Neutrale oder nicht Passende entweder uminterpretiert oder nicht berücksichtigt werden (vgl. Groß 2000, S. 20).
Das von Typisierungen geprägte, verzerrte Fremdbild, wird dem Stigmatisierten über verbale und nonverbale Kommunikation vermittelt. Trifft der Stigmatisierte immer wieder auf diese meist sehr ähnlichen Erwartungshaltungen durch andere in Bezug auf seine Person, so kann dies zur Folge haben, dass er sie in sein Selbstkonzept übernimmt (self-fulfilling-prophecy) und diese Eigenschaften dann tatsächlich zeigt, auch wenn sie ihm eigentlich nicht zu eigen waren (vgl. Hensle et al. 1982, S. 211; Gerke 1975, S. 65).
3.2 Unterteilung von Stigmata (nach Goffmann)
Goffmann (1998, S. 12f), der sich maßgeblich mit Stigmata befasst hat, unterscheidet drei Arten von Stigmata:
- Abscheulichkeiten des Körpers (physische Deformation, wie z.B. Beeinträchtigungen oder Missbildungen),
- individuelle Charakterfehler (geistige Verwirrung, unerwünschtes Verhalten wie Unehrenhaftigkeit z.B. bei Sucht, Gefängnisaufenthalt, Diebstahl) und
- phylogenetische Stigmata (Gruppenzugehörigkeit, Rasse, Nation, Religion).
Auch wenn die ersten beiden Kategorien aufgrund der Formulierung den Anschein einer Stigmatisierung erwecken, so ist dies von Goffmann nicht beabsichtigt.
Er schreibt nicht von tatsächlichen „Abscheulichkeiten des Körpers“ oder „individuellen Charakterfehlern“, vielmehr bringt er zum Ausdruck, dass Personen nach diesen Kategorien beurteilt werden können (vgl. Klingmüller zit. N. Schmid-Ott 1999, S.160).
Des Weiteren unterteilt er in sichtbare und unsichtbare Stigmata. Personen mit sichtbaren Stigmata bezeichnet er als Diskreditierte. Ihr Merkmal wertet diese Menschen in der Wahrnehmung Anderer ab. Personen mit sichtbaren Stigmata nehmen an, dass ihr Stigma bekannt und offenbar ist. Ein sichtbares Stigma ist etwas Abwertendes, Negatives und Zeichnendes, das diskreditierend wirkt. Es drängt sich der Aufmerksamkeit auf und kann dazu führen, dass andere sich abwenden, da der Träger eines Stigmas in unerwünschter Weise anders ist, als es antizipiert wurde (vgl. Goffman 1998, S. 12f).
Eine Begegnung mit dem Träger eines Stigmas löst daher Unbehagen und Beklemmungen bei den Normalen aus. Sowie der Defekt erkennbar ist, stellt er eine Gefahr für das zerbrechliche, irritierbare normale Ich des Gesunden dar (Vorwort von Moser in Goffman 1998, S. 13).
In Abgrenzung zu den sichtbaren unterscheidet Goffmann unsichtbare Stigmata.
Personen mit unsichtbaren Stigmata sind der Überzeugung, dass ihr Stigmata noch nicht bekannt oder wahrnehmbar ist. Um weiterhin als normal zu gelten, müssen sie verleugnen, täuschen und schauspielern, damit ihr Stigma nicht erkannt wird. Aufgrund ihres geheimen Stigmas sind sie diskreditierbar und leben in ständiger Angst vor Entdeckung und Isolierung (vgl. Goffmann 1998, S. 12f).
Bei unsichtbaren Stigmata können Verdachtsmomente wie der Kontakte zu psychiatrischen Kliniken, der Aufenthalt an bestimmten Plätzen oder z.B. ein bestimmtes Auftreten Stigmatisierungsprozesse auslösen (vgl. Feest 1971 zit. n. Hohmeier 1975, S. 7).
3.3 Mögliche Ursachen und Funktionen von Stigmatisierung
Die Ursachen von Stigmatisierung sind vielfältig. Sie können zum einen in den Funktionen liegen, die sie für das Individuum haben, so wie in denen für die Gesellschaft. Nach Hohmeiers Darstellung kann man folgende Funktionen für das Individuum unterscheiden:
(a) Orientierungs- und Entlastungsfunktion,
(b) Projektion verdrängter Triebansprüche und
(c) Stigmatisierung als Identitätsstrategie.
Stigmatisierung bietet für ein Individuum eine Orientierungsfunktion (a).
Durch die Typifikation, Einordnung der jeweiligen Interaktionspartner in bestimmte Kategorien ist eine Vorausstrukturierung sozialer Situationen möglich und verringert dadurch die Verhaltensunsicherheit in Interaktionen.
Diese Entlastung (a) in Situationen beinhaltet jedoch zugleich, dass an einem bereits gefassten Urteil (Vorurteil) festgehalten wird. Da die Wahrnehmung selektiv und verzerrt ist (vgl. 3.1), nimmt die urteilende Person nur das wahr, was in ihr bisheriges Bild passt und hält an einem Stereotyp fest, solange die Diskrepanz zwischen dem Stereotyp und neuen Erfahrungen nicht zu groß wird.
Stigmatisierung ermöglicht außerdem, dass das Individuum verdrängte Triebansprüche auf den Stigmatisierten projizieren (b) und Aggressionen an diesem ausleben kann (Sündenbockfunktion).
Des Weiteren kann man Stigmatisierungsprozesse auch als eine Art Identitätsstrategie (c) bezeichnen, die der Wiederherstellung des gefährdeten seelischen Gleichgewichts durch betonte Abgrenzung gegenüber der Andersartigkeit dient (vgl. Hohmeier 1975, S. 10ff; Cloerkes 2001, S. 138ff).
Auf der gesellschaftlichen Ebene bewirkt Stigmatisierung eine Systemstabilisierung durch Regelung des Umgangs zwischen gesellschaftlichen Gruppen, des Zugangs zu knappen Gütern wie z.B. Status und Berufschancen, eine Kanalisierung von Aggressionen auf schwache Sündenböcke und durch die Schaffung einer Kontrastgruppe, durch die das „Wir-Gefühl“ der Konformen verstärkt wird (vgl. Hohmeier 1975, S. 12). Es ist nur dann ein Vorteil konform bzw. normal zu sein, wenn es auch Stigmatisierte gibt (vgl. Bergler 1966, Shoman 1970 zit. n. Hohmeier 1975, S. 12).
3.4 Stufen der Stigmatisierung
Ist ein Stigma angeboren, so weiß der Stigmatisierte vielleicht zunächst noch nichts davon. Er erkennt jedoch im Verlauf der Sozialisation bzw. lernt durch die Interaktionen früher oder später, dass ihm etwas zu eigen ist, das von anderen Menschen negativ bewertet wird.
Zu welchem Zeitpunkt ein Kind dies entdeckt und sich dessen bewusst wird, ist auch von den Eltern und dem Umgang mit dem Stigma abhängig.
Findet eine Informationskontrolle durch Abschottung oder Schutz statt, so kann es sein, dass das Kind erst im Kindergarten oder in der Schule von seinem Stigma erfährt (vgl. Goffmann, 1998, S. 45-50).
Ein nicht angeborenes Stigma wird erst im Laufe des Lebens erworben, z.B. durch einen Unfall (Entstellung) oder durch starke Belastungen (psychischer Defekt). So entwickelt sich der später Stigmatisierte zunächst normal (vgl. Link 1982 zit. n. Groß, S. 23). Er unterscheidet sich noch nicht von den Normalen und verinnerlicht die im Sozialprozess vermittelten gesellschaftseigenen Überzeugungen, Wertehaltungen und Verhaltensnormen (vgl. Link 1982 zit. n. Groß 2000, S. 23; Goffmann 1998, S. 45).
Wird eine Person zum ersten Mal mit einem eigenen Stigma konfrontiert, gewinnen die gesellschaftlichen Konzepte über normal und abweichend für sie selbst an Bedeutung (vgl. Link zit. n. Groß 2000, S. 24). Da der Prozess sehr komplex und vielen Einflussfaktoren unterliegt, wird anhand der Darstellungen in den folgenden Unterkapiteln eine Systematik aufgezeigt, ohne den Faktor Zeit mit einbeziehen zu können.
3.4.1 Darstellung nach Hensle
Hensle et al. (1982, S. 214) bilden den Prozess in folgenden Stufen ab:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1 : Der Stigmatisierungsprozess nach Hensle
1. Eine Person zeigt eine nicht der Norm entsprechende Eigenschaft oder eine Abweichung in ihrem Verhalten.
2. Die Gesellschaft definiert diese Eigenschaft negativ und diskreditierend.
3. Die Definition wird auf das Individuum bezogen: aus der Eigenschaft wird ein Stigma, aus der Abweichung ein Etikett.
4. Das Stigma wird generalisiert, weitere negative Eigenschaften werden zugeschrieben.
5. Der Stigmatisierte ist gezwungen, sich mit dem Stigma auseinander zu setzen. Goffmann beschreibt in diesem Zusammenhang die verschiedenen Möglichkeiten mit dem Umgang eines Stigmas, das Stigma-Management.
6. Die sozialen Kontrollmechanismen versuchen das Stigma durchzusetzen.
In vielen Fällen wird der Stigmatisierte die ihm zugeschriebene und somit eine beschädigte Identität als neue Rolle akzeptieren.
3.4.2 Darstellung nach Link und Phelan
Die Ausführungen des Stigmatisierungsprozesses nach Link und Phelan (2001) stimmen im weitesten Sinne mit der nach Hensle überein. Die Autoren bezeichnen einen relationalen Prozess (vgl. Grausgruber 2005) und beziehen sich darauf, dass dieser mit der Wahrnehmung und Benennung von Normabweichungen beginnt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2 : Der Stigmatisierungsprozess nach Link und Phelan
Der nächste Schritt „die Aktivierung negativer Stereotype“ zeigt klar, dass dieser Prozess nur durch das Einwirken von Außen möglich ist. Die gesammelten Informationen bilden einen Stereotyp und werden bei passenden Vorkommnissen abgerufen. Das Repertoire an Vorurteilen und die damit verbundene Stereotypenbildung nimmt mit steigendem Alter zu.
Im nächsten Schritt der Darstellung kommt es nach Link und Phelan zur Diskriminierung des Stigma-Trägers, was die darauffolgenden negativen Konsequenzen für die Person nur erahnen lässt.
Nach der Betrachtung beider Schaubilder kann festgehalten werden, dass nur durch die gesellschaftliche Festlegung ein Stigma entstehen kann. Durch die negative Konnotation werden dem Stigma-Träger weitere Eigenschaften zugeschrieben. Die Umwelt reagiert mit Ausgrenzung und die Trägerin bzw. der Träger des Stigmas zieht sich zurück. Es kommt zur Diskriminierung und somit zu negativen Konsequenzen für die betreffende Person (vgl. Schulze 2005, S.122f). Welche Probleme bei Betroffenen auftreten können, wird im folgenden Kapitel genauer erläutert. Die entstehende theoretische Grundlage wird für die spätere Analyse (Kap. 8) benötigt, um die Auswirkungen auf das Verhalten von Schülerinnen und Schülern kategorisierbar und einschätzbar machen zu können.
4. Auftretende Probleme bei Betroffenen
Der Charakter eines Menschen wird durch viele Faktoren gebildet. Durch Erlebnisse, Erinnerungen und den Umgang mit anderen Menschen wird die genetische Anlage von außen beständig geformt. Sind diese Faktoren negativ geprägt (z.B. negative Zuschreibungen, falsche Erwartungshaltungen, Ausgrenzungen oder Diskriminierungen), kann das Selbstbild und die eigene Identität gestört sein und zu Interaktionsproblemen führen.
4.1 Auswirkung der Stigmatisierung auf die sozialen Rollen und die Identität
Wird ein vorerst unsichtbares Stigma bekannt, verändert sich das Verhalten der Mitmenschen gegenüber dem Stigmatisierten. Er wird anders wahrgenommen und es kann dazu führen, dass ihm zugesprochene Fähigkeiten, bestimmte soziale Rollen zu erfüllen, nun abgesprochen werden. Dieser Rollenverlust kann den formellen und den informellen Bereich betreffen, wobei er nicht nur auf die direkt vom Stigma betroffenen Rollen beschränkt ist.
Oft werden den Personen dann auch in anderen Bereichen erworbene Kompetenzen abgesprochen (vgl. Hohmeier 1975, S. 13; Goffmann 1998, S. 66).
Des Weiteren kommt es zu einer Umdefinierung des Verhaltens bzw. zu einer Rekonstruktion des Lebenslaufes des Stigmatisierten. Gegenwärtiges und Vergangenes wird im Zusammenhang mit dem Stigma gesehen (vgl. Hohmeier 1975, S. 13f).
Es besteht die Gefahr, dass die Interaktionen des Stigmatisierten von Spannungen, Unsicherheiten und Angst geprägt sind. Durch die widersprüchlichen Erwartungen der Umwelt an die Person und seine Identifikation kommt es zu Diskrepanzen, die eine Identitätsverunsicherung bewirken können. Groß führt aus, dass die Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl, die Selbst-Akzeptanz und die Ich-Identität nicht gezwungenermaßen durch andere hervorgerufen werden müssen. Nicht nur die Gegenwart durch Andere bzw. Normalen verstärkt das Gefühl der Entwertung und Diskreditierung (vgl. Groß 2000, S. 12).
Demnach kann auch schon allein durch die Zuteilung zu einer bestimmten Gruppe- bzw. einer Klasse ein solches Gefühl ausgelöst werden. Das kann weitere Probleme (Kap. 4.2 und 4.3) mit sich bringen und bis zur Selbststigmatisierung führen bzw. als Endresultat eine beschädigte Ich-Identität (Kap. 4.3.1) hinterlassen.
4.2 Störungen der Interaktion nach Goffmann
Sowohl beim Diskreditierten als auch beim Diskreditierbaren entstehen nicht nur durch die Erwartungshaltung des Interaktionspartners Schwierigkeiten. Aufgrund der subtilen Trennung zwischen den zwei Personen, der eine scheint „normal“, der andere gehört offensichtlich (sichtbares Stigma) oder bisher unbemerkt (unsichtbares Stigma) einer bestimmten diskreditierenden Kategorie an, kommt es zu Spannungen und Unsicherheiten in der Interaktion.
Gerke weist darauf hin, dass das für die Interaktion wichtige Sich-in-den-anderen-Hineinversetzen, um so dessen Reaktionen auf das eigene Verhalten voraussagen zu können, kaum möglich ist, da es nur geleistet werden kann, wenn die Personen ähnliche eigene Erfahrungen und Vorstellungen haben. Ist ein Interaktionspartner offensichtlich stigmatisiert, so ist es für seinen Gegenüber (dem Normalen) schwer sich in ihn hineinzufühlen und ihn als gleichwertigen Kommunikationspartner zu betrachten (Gerke 1975, S. 56f). Die Machtverhältnisse verschieben sich und die Unterordnung des Betroffenen ist die Folge, was zu einer Verhaltensveränderung führt.
4.3 Selbstkonzept, Selbstwertgefühl und Identität
Hurrelmann stellt den Zusammenhang von Selbstkonzept, Selbstwertgefühl und Identität dar und definiert Identität als einen Zustand, in dem „ein Mensch über verschiedene Handlungssituationen und über unterschiedliche lebensgeschichtliche Phasen hinweg eine Kontinuität des Selbsterlebens auf der Grundlage eines bewusst verfügbaren Selbstbildes wahrt“ (Hurrelmann 1993, S. 169). Die Kontinuität des Selbsterlebens kann als ein Sich-Selbst-Gleichsein in verschiedenen Situationen und Lebensabschnitten verstanden werden (vgl. Hurrelmann 1993, S. 169f). Hurrelmann unterscheidet das Selbstbild (auch Selbstkonzept genannt) von der Identität. Das Selbstbild entsteht aus den Ergebnissen der Selbstwahrnehmung, der Selbstbewertung und der Selbstreflexion (vgl. Hurrelmann 1993, S. 167- 179).
Es resultiert aus der „Verarbeitung selbstbezogener Informationen, die durch Wahrnehmung und Beobachtung eigener Tätigkeiten während [...] der Auseinandersetzung mit der sozialen und dinglich-materiellen Umwelt sowie mit der eigenen Körperlichkeit und den Bedürfnissen und Interessen gewonnen werden“ (Hurrelmann 1993, S. 167).
Selbstbild und Identität entwickeln sich im Laufe der Sozialisation durch Interaktionen mit den Mitmenschen, zunächst beginnend mit der Erkenntnis (Ende des ersten Lebensjahres) des eigenen Körperbildes und der darauf folgenden Unterscheidung der eigenen Person von Anderen. In der Kindheit sind die Dimensionen des Selbstbildes noch wenig verknüpft, sie werden im Verlauf der Persönlichkeitsentwicklung jedoch zunehmend stärker aufeinander bezogen.
Vorerst bestehen für das Kind keine Zusammenhänge zwischen den Selbstbildern in einzelnen Situationen. Die bereits vorhandenen Informationen bzw. Selbstbilder beeinflussen die weitere Entwicklung insofern, als sie neue Informationen aus der Umwelt auf Basis der bereits vorhandenen bearbeiten und selektieren. Die Selektion der neuen Informationen bedeutet meist eine Bestätigung der alten. Hat das Kind ein negatives Selbstbild entwickelt, so wird es weiterhin daran festhalten und die Erlebnisse im Umgang mit anderen Menschen immer im Sinne dieses Selbstbildes erklären (Hurrelmann 1993, S. 167f). Dies ist möglich aufgrund der Attribuierungstechnik, die sich das Kind bereits früh aneignet und mit deren Hilfe es sich die Ursachen für Erfolg oder Misserfolg erklärt. Bereits in der Kindheit beginnt der Prozess, in dem sich das Selbstbild durch die Synthese von Prozessen der Selbstwahrnehmung und Selbstbewertung entwickelt (Hurrelmann 1993, S. 175). Es kann festgehalten werden, dass die Ausbildung der Persönlichkeit ein fortlaufender Prozess ist und umso jünger ein Mensch ist, desto sensibler und formbarer ist seine Identität.
4.3.1 Die beschädigte Identität
Nach Goffmanns Hauptthese wird die soziale Identität eines Menschen durch ein Stigma beschädigt. Hierbei bezieht er sich eher auf die sozialwissenschaftliche Ebene und nur weniger auf den psychologischen Ansatz. Demnach leidet der soziale Status oder das Ansehen einer Person unter einem Stigma. Dennoch kann (unter Bezugnahme von Krappmann, Frey etc.) auch die psychologische Seite gedeutet werden.
Erfährt ein Individuum keine Kontinuität des Selbsterlebens oder eine Konsistenz des eigenen Verhaltens in verschiedenen Situationen und kann es keine Balance zwischen Selbst- und Fremdbild herstellen, so kann es zu einer Schädigung der Identität kommen.
Der Diskreditierte erlebt im Umgang mit normalen Personen immer wieder Verhaltensunsicherheiten und Unwissenheit in Bezug auf die Erwartungshaltungen des Interaktionspartners (Statusunsicherheit).
Goffmann weist auf die schwierige Situation des Diskreditierten hin, da dieser sich der jeweiligen Situation anpassen muss, um den Normalen zu helfen, indem er deren Rollenerwartungen an ihn erfüllt. Er erleichtert ihnen durch Wertschätzung und Annahme von Hilfsangeboten, auch wenn er sie nicht benötigt, den Kontakt (vgl. Goffmann, 1998, S. 148ff).
Ein Diskreditierter ist nicht nur dem Konflikt ausgesetzt, sich den verschiedenen, unvorhersehbaren Anforderungen im Umgang mit Normalen anzupassen. Besonders bei einem erworbenen Stigma hat er oft zu kämpfen mit der Diskrepanz zwischen dem eigenen Selbstbild und dem Fremdbild, das ihm durch die Umwelt vermittelt wird. Wird diese Diskrepanz zu groß, muss er sein Selbstbild entweder dem Fremdbild anpassen und eine negative Färbung seiner Selbstwahrnehmung zulassen oder er erhält die Diskrepanz aufrecht und versucht durch Techniken des Stigma-Managements den Anforderungen (durch Andere) an seine soziale Identität zu entsprechen, ohne dass er von seiner Selbstdarstellung überzeugt ist.
Übernimmt sein persönliches Selbst die Wahrnehmung des sozialen Selbst nicht, führt diese Widersprüchlichkeit zu einer beschädigten Identität. Ein Diskreditierter hat wenig Chancen, ein Gleichgewicht zwischen sozialer Identität und persönlicher Identität herzustellen und sich in den verschiedenen Situationen konsistent zu verhalten, was für eine intakte Identität jedoch unabdingbar ist. Ähnlich verhält es sich beim Diskreditierbaren, der durch sein stetiges Täuschen eine Distanzierungsstörung entwickeln kann.
Da er die Information des Stigmas verbergen will (Stigma-Informations-Management), ist er gezwungen, bestimmte Informationen über seine Person zu verheimlichen. Dies wird durch eine starke Anpassung an normierte Rollenerwartungen erleichtert. Hier besteht die Tendenz, die virtuale soziale Identität durch Anpassung an die sozialen Anforderungen aufrecht zu erhalten, die persönliche Identität zu verschleiern, um so weiterhin Akzeptanz zu erfahren. Dieses Verhalten ist schädlich für die Ich-Identität, da die Person eine Spaltung der Identität erfährt und sich nicht von der persönlichen Seite zeigen kann.
Durch die Darstellung des Phänomens der Stigmatisierung wird deutlich, dass Stigmatisierung zwar oft unbewusst geschieht, aber dennoch weitreichende Folgen haben kann. Diese können unterschiedliche Ausmaße annehmen, sie „reichen vom ungünstigen öffentlichen Ansehen, über Kontaktverlust, den Verlust von Berufsrollen, den Verlust von Daseinschancen, der mehr oder weniger vollständigen Ausgliederung aus der Gesellschaft bis hin zur physischen Vernichtung“ (Hohmeier 1975, S. 13) und können eine Störung der Identitätsentwicklung bedeuten.
Festgehalten werden kann, dass die Stigmatisierung ein sozialer und anhand eines Makels (sichtbar oder unsichtbar) ausgelöster Prozess ist, der eine beschädigte Identität zur Folge haben kann.
5. Vom Makel zum sozialen Prozess
„Stigmatisierung ist ein negatives verbales oder nonverbales Verhalten, das jemandem aufgrund eines Merkmals entgegengebracht wird und basiert auf einem gesellschaftlichen Definitionsprozess“ (Hohmeier 1975, S. 7f).
Die Mehrheit der Mitgliederinnen und Miglieder einer Gesellschaft legt fest, welche Merkmale normal sind und welche als abweichend gelten (vgl. Gerke 1975, S. 61f). Die jeweiligen Normen einer Gesellschaft, die zur Personenbeurteilung herangezogen werden, differieren in den verschiedenen Gesellschaften und sind abhängig vom jeweiligen Zeitalter.
Stigmata sind also in historischer und interkultureller Hinsicht außerordentlich variabel, je nach Gesellschaft und Zeitalter werden andere Merkmale als solche definiert (vgl. Hohmeier 1975, S. 8). Die Aufrechterhaltung dieser Normen geschieht nicht nur durch formelle Kontrollinstanzen wie Polizei, Schule, Gefängnis, psychiatrische Klinken, auch informelle Instanzen wie Eltern, Nachbarn oder Gleichaltrige definieren und bestrafen unerwünschtes Verhalten oder Merkmale (vgl. Abele & Nowack 1975, S.149). Institutionen wie psychiatrische Klinken oder Obdachlosenheime definieren, für welche Menschen sie geschaffen sind und legen damit bestimmte Eigenschaften ihrer Kundschaft bzw. deren „soziale Identität“ fest, die als eine krankhafte bzw. beschädigte dargestellt wird (vgl. Hohmeier 1975, S. 16-20).
Durch die Pathologisierung wird die durch Institutionen definierte Devianz weniger als selbstverschuldet angesehen und dem betroffenen Individuum die Verantwortung für diese teilweise oder gänzlich abgesprochen. Informelle Instanzen hingegen wie Nachbarn, Eltern, Lehrer etc. sehen die Schuld meist beim Individuum selbst (vgl. Peters 1973 zit. n. Hohmeier 1975, S. 18f).
Das Wissen über wünschenswerte Eigenschaften und solche, die in einer Gesellschaft nicht erwünscht sind, wird im Sozialisationsprozess durch formelle und informelle Sozialisationsinstanzen vermittelt (vgl. Lamnek 1996, S. 127ff, 232). Dabei lernen bereits die Heranwachsenden, die Mitglieder einer Gesellschaft in Kategorien einzuordnen.
Je nach Zugehörigkeit zu einer Kategorie werden den jeweiligen Personen bestimmte Eigenschaften nachgesagt (vgl. Goffman 1998, S. 9f; Gerke 1975, S. 58).
Oberflächliche Merkmale, wie z.B. Kleidung, Aufenthaltsort oder auch Alter, dienen dabei einer ersten Einordnung der Person und beeinflussen die Interaktion mit dieser. Der erste Eindruck ist prägend, das jeweilige Gegenüber wird einem bestimmten Typ Mensch zugeordnet. Gerke bezeichnet diesen Prozess als Typisierung, wodurch die Kommunikation an sich und die Erwartungen an das Gegenüber beeinflusst werden. Oft beruhen Typisierungen nicht auf eigenen Erfahrungen, sondern werden vielfach durch Handlungssituationen von Eltern, Lehrern oder Freunden vermittelt (vgl. Gerke 1975, S. 58ff). Mit zunehmendem Alter wird das Repertoire an Typisierungsmustern größer, die einerseits die Ersteinschätzung einer Situation erleichtern und somit spontane zwischenmenschliche Handlungsfähigkeit ermöglichen, aber gleichzeitig als soziale Vorurteile bezeichnet werden können, nach denen Menschen in bestimmte Muster gezwungen werden. Da die Schule, als soziale Instanz, prägend für den Interaktionsprozess mit anderen Menschen ist, wird sie aus Sicht der verschiedenen Akteurinnen und Akteure im Schulalltag betrachtet.
5.1 Die Schule als Instanz sozialer Kontrolle und als anomische Struktur
Die deutsche Schulpflicht hat zur Folge,14 dass alle Bürgerinnen und Bürger, außer eingewanderte Erwachsene, das Raster der formellen sozialen Kontrolle der Instanz Schule gerade durchlaufen oder dieses durchlaufen haben.
Demnach ist sie eine durch die Gesellschaft legitimierte, hoheitliche Institution mit Zwangsmitgliedschaft und schreibt rigide Verhaltensmodelle vor und hat den (impliziten) sozialerzieherischen Auftrag, die kognitiven Voraussetzungen für Verhaltenskonformität zu schaffen.
Ihre Kontrollstile sind sowohl unmittelbar punitiv15 – Strafen und Ausschluss – als auch sozial mittelbar: Sie kann Sozialchancen verteilen, chancenfördernd oder – verwehrend wirken (vgl. Böhnisch, 2010, S. 175).
Dabei orientiert sie sich implizit, d.h. die Lehrkräfte handeln oft nicht bewusst – an herrschenden Normalitätskonstruktionen. Demnach werden Kinder und Jugendliche nach ihrem Verhalten beurteilt, typisiert und etikettiert. Sozialisatorisch betrachtet geht vom Kontrollcharakter der Schule eine tiefgreifende alltagskulturelle und biografische Wirkung aus. Die Schule strukturiert den Alltag als Schulalltag, die Kindheit als Schulkindheit und die Jugendphase als Bildungsjugend. Scheitern am Schulalltag, wie es sich z.B. im notorischen Schulschwänzen äußert, bedeutet daher in letzter Konsequenz für manche Kinder und Jugendliche eine deviante Etikettierung und Zuweisung zu Institutionen, die um abweichendes Verhalten gruppiert sind. Scheitern am Schulalltag gehört zu den zentralen Indikatoren der Zuweisung zur Jugendhilfe. Biografisches Scheitern an Schule wiederum – Abbrechen, Abgang ohne Abschluss – verweist in der öffentlichen Meinung auf die Potentialität einer von der Normbiografie abweichende Karriere (vgl. Böhnisch, 2010, S. 176).
5.2 Etikettierungs- und Stigmatisierungsprozesse in der Schule
Unabhängig von der Eingliederung zu den verschiedenen Schulformen kommt es in Schulklassen zu Gruppenbildungen und Ausgrenzungen. Lehrkräfte stellen immer wieder fest, dass vereinzelte Kinder in der Klasse oder kleinere Gruppen ausgegrenzt werden oder sich auszugrenzen scheinen.
Kein Kind strebt diesen Status freiwillig an. Vielmehr geschieht dies durch Stigmatisierungsprozesse unterschiedlichen Ausmaßes. Zeigen Schülerinnen und Schüler ein unerwünschtes Verhalten, so wird dies insbesondere durch die Lehrpersonen, teilweise jedoch auch durch die Klassenmitglieder bewusst oder unbewusst sanktioniert.
Lösel erklärt, dass ein bestimmtes Verhalten, abhängig von den schulischen Normen, die sich an den Anforderungen der Mittelschicht orientieren, als abweichend beurteilt wird (vgl. Lösel, 1975, S. 10ff). Die Erwartungen der Lehrkräfte an die Schülerinnen- und Schülerrolle ist vorgegeben und lässt nur geringfügig Abweichungen zu (vgl. Kap. 5.1). Die Leistungskonkurrenz und Auslese in der Schule setzen vergleichbare Lernende voraus. Dieser strukturelle Hintergrund begünstigt Typisierungs-, Etikettierungs- und letztendlich Stigmatisierungsprozesse in der Schule, da nicht die einzelne Persönlichkeit im Vordergrund, sondern die Schüler- und Schülerinnenrolle als Set von Verhaltenserwartungen und -zumutungen bestehen. Die Erfordernisse des Lehr- und Lernprogramms und der Unterrichtsorganisation haben einen erheblichen Anteil daran.
Dies hat zur Folge, dass die persönlichen Eigenschaften nur selten zur Geltung kommen können (vgl. Böhnisch, 2010, S. 176).
Die Schule nimmt mit der Schülerrolle also nur einen Teil, ein Segment der Schülerpersönlichkeit wahr. Über die Schülerrolle werden die sonst unterschiedlichen, aus verschiedenen Elternhäusern stammenden Schülerinnen und Schüler bewertbar im Sinne des Leistungsvergleichs. Demnach wird alles, was nicht in dieses Segment passt, als tendenziell (schulisch) abweichendes Verhalten bewertet.
Auch die Lehrerschaft muss einen Teil ihrer Persönlichkeit aus der Schule herauslassen, denn die Schülerschaft können ihre standardisierten Rollen nur entsprechend spielen, wenn die an sie gesetzten Erwartungen auch im Schulalltag funktional und institutionell kalkulierbar vermittelt werden. Die institutionell verlangte Orientierung an den Rollen der Schulbeteiligten ist den meisten Lehrkräften nicht bewusst, dass sie eine Etikettierung und Stigmatisierung begünstigen. In der klassischen Studie von Hargreaves u.a. (1981) heißt es dazu:
„Deviante Schüler kristallisieren sich als unterschiedliche Individuen heraus […]. Dennoch sind sie alle Störenfriede“ (S.201).
Oft werden die unterschiedlichen Bewältigungsbotschaften nicht erkannt und übersehen, weil die Lehrkräfte zu sehr damit bemüht sind, dass der Schulalltag funktioniert (vgl. Böhnisch, 2010, S. 177).
Ein „normaler Schulbetrieb“ ist das oberste Ziel und die Beachtung eines Einzelnen rückt in den Hintergrund. Typisierungen machen die Schule funktions-, die Lehrerinnen und Lehrer handlungs- und die Kinder und Jugendlichen schulfähig.
Dieser Umstand trägt dazu bei, dass Etikettierung und spätere Stigmatisierungen auch unterschwellig geschehen bzw. nicht erkannt werden. Um diese Verhaltensmuster abbauen zu können, reicht es nicht, dass das Kollegium über mehr Wissen darüber verfügt und somit Kompetenzen im Umgang damit vermittelt, sondern dass sich an den Struktur- und Funktionsprinzipien von Schule etwas ändert.
Die weitere Ausführung über die Erwartungshaltung der Lehrkräfte folgt im nächsten Kapitel und wird im empirischen Teil der Ausarbeitung unter Einbeziehung der Erkenntnisse aus den durchgeführten Interviews (Kap. 8) und mit Unterstützung der Hinweise der Lehrkräfte vertieft.
5.3 Erwartungen der Lehrkräfte
Das Schulsystem ist nach bestimmten Bewertungskriterien aufgebaut und demnach werden Lernende nach ihrem Leistungs-, Arbeits- und Sozialverhalten bewertet und beurteilt. Lösel stellt in Anlehnung an verschiedene Studien fest, dass die Erwartungen an das Verhalten vorstrukturiert sind und sich an Konformität und dem Leistungsprinzip orientieren.
Der erwünschte Schülertyp ist strebsam, höflich, fröhlich, ruhig und konform. Weniger wünschenswert sind flexible, aktive, selbstbewusste, nicht-konforme und unabhängige Charaktere.
Der unerwünschte Lernende wiederum zeichnet sich durch Ungezogenheit, Unehrlichkeit, Unpünktlichkeit, Betrügereien, Diebstähle, Zerstörung von Schuleigentum, sexuelle Kontakte, Aggressivität und affektbetontes Handeln aus. Hauptsächlich Störungen des Unterrichtsgeschehens werden als auffällig und abweichend deklariert.
Im Vergleich hierzu, finden charakterliche Eigenschaften, die den Unterrichtsablauf nicht direkt beeinflussen, weniger Beachtung. Hierzu zählen z.B. emotionale Störungen wie Depressionen, Ängstlichkeit und sozialer Rückzug, soziale Isolierung und Entmutigung (vgl. Lösel 1975, S. 8f.). Auch wenn die zuletzt aufgeführten Persönlichkeitsstörungen den Unterricht nicht primär beeinflussen, sollten diese jedoch mindestens genauso viel Berücksichtigung im Schulalltag finden wie die direkten Unterrichtsstörungen.
Nach Brusten und Hurrelmann (1973, S.22) „ist ein solches Verhalten Ausdruck von Problemen und ein Hilferuf der betroffenen Person“. Sie benötigen Unterstützung, um eine Etikettierung als Abweichler und damit verbundene weitere negative Eigenschaftszuschreibungen zu vermeiden. Deshalb ist es für jede Lehrkraft wichtig, die Erwartungen zu überdenken und sich neben den fachlichen und inhaltlichen Themen auch mit den unterschiedlichen Charakteren in ihrer Klasse zu beschäftigen. Nur dadurch können Kategorisierungen und Stereotypbildungen, die den Stigmatisierungsprozess begünstigen, reduziert werden.
5.4 Stereotypbildung – Einteilung der Lernenden durch Lehrkräfte
Der Prozess der Stigmatisierung wird in der Schule, anhand der Stereotypbildung der Lehrerinnen und Lehrer in Bezug auf gute und schlechte Schülerinnen und Schüler, deutlich.
Lösel macht in seiner Ausarbeitung deutlich, dass bereits durch die Typisierungen der Lehrerschaft entscheidende Weichen im Leben des Kindes gestellt werden.
Die Einordnung zu verschiedenen Gruppen und die Bildung von Stereotypen, die ihnen eine schnelle Beurteilung ermöglichen, erleichtern den Schulalltag (vgl. Lösel 1975, S. 7).
Grundlagen dieser Typisierungen sind implizite Persönlichkeitstheorien, die jedem Menschen zu eigen sind. Die Lehrperson hat Vorstellungen darüber, wie Personen bestimmter Lerngruppen sind. Macht er sich ein erstes Bild von den Lernenden, so ist dieses von Faktoren wie dem äußeren Erscheinungsbild, den sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten, den Familienverhältnissen, den Vorinformationen aus der Schülerakte sowie durch die Wahrnehmung älterer Geschwister beeinflusst und nur schwer revidierbar (vgl. Lösel 1975, S. 14).
Nach der ersten Eindrucksbildung erfolgt die Zuordnung bzw. die Typisierung. Diese ist verbunden mit anderen Merkmalen und wird als Hof-Effekt bezeichnet.
Bei einer Befragung von Lehrkräften wurde deutlich, dass leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern neben Faulheit und Interesselosigkeit nicht nur generalisierend auch Unvermögen oder Minderbegabung, sondern auch nicht leistungsbezogene negative Merkmale wie Unordentlichkeit, Langsamkeit, Lügen oder Stehlen zugeschrieben werden (vgl. Höhn 1967 zit. n. Lösel 1975, S. 12).
Ein ähnliches Beispiel bei Lösel betrifft die Unordentlichkeit, die häufig mit Merkmalen wie Faulheit, Unehrlichkeit, oder Unpünktlichkeit verknüpft wird.
Die Beschreibung von Kindern und Jugendliche als gut oder schlecht in der Schule, kommt einer Etikettierung gleich, da sie mit Eigenschaftszuschreibung verbunden ist. Auch wenn es so scheint, als würde die Häufung der ungünstigen Merkmale bei schlechten Schülerinnen und Schülern die impliziten Persönlichkeitstheorien bestätigen, so verhält es sich jedoch vielmehr folgendermaßen:
Der Lernende entspricht den auf den Persönlichkeitstheorien beruhenden Erwartungen an sein Rollenverhalten. Die Lehrenden nehmen aufgrund der impliziten Theorie eine entsprechende Erwartungshaltung gegenüber dem Lernenden ein und nimmt nur die Merkmale wahr, die seine Meinung bestätigen. Betroffenen vermittelt er, zumeist unbewusst, ein Fremdbild, das sich stetig in der Interaktion zeigt. Das kann zur Folge haben, dass ein Streich von Kindern mit dem Etikett „gut“, als ein netter Scherz angesehen wird, aber bei einem mit dem Etikett „schlecht“ versehenen, nur als Bestätigung seiner negativen Arbeitshaltung (vgl. Lösel, 1975, S.17).
Festzuhalten bleibt, dass die Einstellung der Lehrkräfte ihre Reaktionen prägen und somit das Bild, dass sie von Lernenden haben, widerspiegeln.
Durch die Selektion der wahrgenommenen Informationen werden die Erwartungen der Lehrkräfte an die Schülerinnen und Schüler erfüllt. Dies geschieht auch bei der Korrektur von Arbeiten, wie Zillig feststellte. Es wurde deutlich, dass Lehrpersonen (unbewusst) dazu neigen, in der Arbeit eines guten Lernenden mehr Fehler zu übersehen als bei der eines weniger guten Klassenmitglieds. Auch hier zeigt sich, dass sich die Erwartungen der Lehrperson aufgrund selektiver Wahrnehmung immer wieder erfüllen (selffulfilling-prophecy) (vgl. Zillig 1928 zit. n. Tornow 1978, S. 87f). Vielversprechenden und Normalen gegenüber verhalten sich Lehrkräfte freundlicher, aufmerksamer und geben mehr Rückmeldung, andererseits können sich ihre negativen Verhaltenserwartungen gegenüber weniger geschätzten Klassenmitgliedern in nonverbalen Interaktionselementen ausdrücken, die den Effekt des Eintreffens dieser ungünstigen Erwartungen zeitigen. Delinquentes Verhalten eines Jugendlichen kann dadurch verfestigt werden, dass seine Umgebung gar nichts anderes mehr erwartet (vgl. Hensle et al. 1982, S. 212). Das vereinfachte Bild, das sich verfestigt hat, fließt in die Interaktionen mit ein. Betroffene nehmen die Erwartungshaltung der Lehrkraft wahr und werden für die erwarteten Verhaltensweisen sensibilisiert und übernehmen diese (vgl. Lösel 1975, S. 17).
Deshalb ist bei einem Andauern ausgeprägter Verhaltensstörungen immer nachzuprüfen, ob nicht negative Erwartungshaltungen zu einer Verfestigung dieser beigetragen haben. Denn die Typisierung von Schülerinnen und Schülern durch Lehrerinnen und Lehrer bezieht sich oftmals auf das Leistungsvermögen und begünstigt die Rollenzuschreibung durch die Klassengemeinschaft.
5.5 Zuschreibungen durch die Klassengemeinschaft
In einer Untersuchung von Morison/Masten wurde deutlich, dass bereits Kinder dazu in der Lage sind, Klassenkameradinnen und Klassenkameraden bestimmte soziale Rollen zuzuordnen. Dies geschieht nach folgenden Typen:
- dem / der Gesellig- führenden
- dem / der Aggressiv- störenden
- und dem / der Isoliert-empfindsamen.
Die Studie verdeutlicht, dass die Einschätzung der Klasse mit dem zu einem späteren Zeitpunkt ermittelten Verhalten der jeweiligen Schülerin bzw. des Schülers korreliert (vgl. Morison / Masten 1991 zit. n. Stöckli 1997, S.119f).
Dies bestätigten die Ergebnisse von Parker und Asher, die herausfanden, dass zwischen späterem Problemverhalten und der früheren Akzeptanz bei Gleichaltrigen ein Zusammenhand besteht (vgl. Parker / Asher 1987 zit. n. Stöckli 1997, S. 117). An diesem Ergebnis ist der Mechanismus der self-fulfilling-prophecy wahrscheinlich nicht ganz unbeteiligt.
Es wird deutlich, dass Kinder und Jugendliche bereits Typisierungen vornehmen, die sich in den sozialen Interaktionen widerspiegeln. Wird ein Kind oder Jugendlicher von Klassenmitgliedern negativ eingeordnet, z.B. als störend oder aggressiv, so erhält er weniger Akzeptanz bzw. positive Resonanz. Er wird als aggressiv stigmatisiert und sein Verhalten wird von diesem Stigma aus gedeutet.
Es kommt dazu, dass er irgendwann die Erwartungen der Anderen befolgt und sein Verhalten und Selbstbild an diese anpasst. Brusten und Hurrelmann vertreten den Standpunkt, dass auch Schülerinnen und Schüler das Kriterium Leistung zur Kategorisierung übernehmen und ihre Mitschülerinnen und Mitschüler nach dem jeweiligen Leistungsstatus verschiedene Eigenschaften zuschreiben (vgl. Brusten & Hurrelmann 1973, S. 19).
Schilling unterscheidet hier zwischen Grundschülern und Jugendlichen, indem sie zum Ausdruck bringt, dass „in der Grundschule [...] die informellen Normen der Schulklasse noch weitgehend deckungsgleich mit den formellen Anforderungen“ sind (zit. n. Schilling 2002, S. 20). Die informellen Normen der Peers16 decken sich mit denen der Eltern und Lehrkräfte, indem sie gute Leistungen und Anstrengungen favorisieren bzw. als positives Merkmal ansehen.
Mit dem Jugendalter verändern sich jedoch diese Normen oft ins Gegenteilige (vgl. Petillon 1987 zit. n. Schilling 2002, S. 20) und Anstrengung ist eher verpönt und kann bei bestimmten Ausprägungen auch schnell als „Schleimen“ gedeutet werdend.
Die Konstanzer Untersuchungen ergaben, dass es auch bei guten Leistungen zu Ausgrenzungen aus der Peer Group kommen kann, z.B. dann, wenn ein Lernender sich durch eine leistungsbezogene Arbeitshaltung auszeichnet, dabei jedoch unsportlich ist (vgl. Schilling 2002, S. 20).
Auch andere Autoren konnten bestätigen, dass neben dem Kriterium Leistung in der Peer Group noch andere Faktoren wie Persönlichkeit, guter Ruf, die sportliche Leistung, das Aussehen und die Kleidung je nach Gruppe mehr oder minder von Bedeutung sind (vgl. Hollingshead 1949, Gordon 1957, Coleman 1961 zit. n. Brusten/Hurrelmann 1973, S. 18).
Dennoch zählen Jugendliche mit guten Schulleistungen zu den Beliebteren. Dies ist mit einer anderen Haltung zu erklären, die sich durch folgende Maxime auszeichnet: „zeige gute Leistungen, demonstriere darüber aber nicht allzu viel Anstrengung“ (zit. n. Fend 1998 zit. n. Schilling 2002, S. 22).
Robinson/Noble fassen dies ähnlich zusammen: „In der jugendlichen Gesellschaft ist es wichtig, kein „Streber“ oder „Bücherwurm“ zu sein, sondern eher eine Person, die scheinbar mühelos schulische Erfolge erzielt“ (zit. n. Robinson/Noble 1991, S.64 zit. n. Schilling 2002, S. 21).
Diese Bewertungen sind das Ergebnis von Gruppenprozessen und führen zu Status- und Rollenzuschreibungen. In Anlehnung an In- und Out-Group können Gruppenprozesse und ihre Auswirkungen diskutiert werden. Gruppen bilden sich auf ähnliche Weise, wie Freundschaften geschlossen werden, auch wenn sie nicht dieselbe Intimität erreichen. Je nach Altersstufe haben Freundschaften unterschiedliche Qualität und welche Merkmale dabei im Zentrum stehen, ist vom Alter abhängig.
Nach Epstein (1989) „steigt die Bedeutung äußerer Ähnlichkeiten ab dem Vorschulalter an, erreicht in der späteren Kindheit ihren Höhepunkt und geht in der Adoleszenz wieder zurück“ (Epstein 1989 zit. n. Stöckli 1997, S. 28), die psychische Ähnlichkeit hingegen bleibt als Kriterium erhalten (vgl. Stöckli 1997, S. 28).
Freunde entdecken, dass sie sich ähnlich sind in Bezug auf Faktoren wie den sozioökonomischen Hintergrund des Elternhauses, die Einstellungen, Interessen und Verhaltensweisen (Schilling 2002, S. 7f). Gruppen bilden sich aufgrund von Ähnlichkeit, Sympathie oder gemeinschaftlichen Interessen, wobei Faktoren wie soziale Herkunft, das Aussehen wie z.B. Kleidung oder Gesichtszüge eine Rolle spielen können. Auch in Schulklassen bilden sich Gruppen. Bierhoff sieht in einer Abgrenzung der Eigen- zur Fremdgruppe eine stabilisierende und selbstwertsteigernde Funktion. Erfolge der eigenen Gruppe werden intern, solche der Fremdgruppe extern attribuiert. Durch die Abwertung der Fremdgruppe wird die Eigengruppe im Vergleich zur Fremdgruppe aufgewertet (vgl. Bierhoff 2000, S. 201-203).
Schuster stellt die These auf, dass es in der Schule auch zur Viktimisierung einzelner Schülerinnen und Schülern kommt. Eine Schulklasse besteht aus einer großen Gruppe oder kann sich in kleinere Gruppen teilen. Diese Gruppen grenzen sich immer gegen Einzelne in der Klasse ab. Für Außenseiter besteht ein erhöhtes Risiko, dass sie in die Rolle des Opfers gedrängt (viktimisiert) werden.
Gruppendynamisch besteht ihre Funktion darin, die Gruppe zu stabilisieren. Durch die Abwertung anderer wird das Selbstwertgefühl der Gruppenmitglieder und der Gruppenzusammenhalt gestärkt (vgl. Schuster 1997, S. 260f). Einer Norm nicht zu entsprechen, im Leistungsvermögen, herkunfts- und sozialisations- oder krankheitsbedingt (körperlich oder psychisch) anders zu sein, ist selten frei gewählt, es führt zu einem niedrigeren Status in der Gruppe und kann Ausgrenzung und Isolierung, schlimmstenfalls Stigmatisierung oder Viktimisierung zur Folge haben. Ist ein Individuum durch eine „Andersartigkeit“ bzw. eine unerwünschte Eigenschaft stigmatisiert, so gelangt es eher in eine Außenseiterposition und die Gefahr, viktimisiert zu werden, steigt.
Dabei spielt die Lehrkraft für Kinder aus verschiedenen Schichten eine unterschiedliche Rolle.
Für Kinder aus höheren Schichten wird die schulische Laufbahn weitgehend durch die Planung und Unterstützung der Eltern mitbestimmt (vgl. Kob, 1963, S. 53ff).
Im Gegensatz dazu kann die Lehrkraft für die Kinder und Jugendlichen aus der unteren Niveaustufe eine wichtige Lenkungsfunktion einnehmen, um z.B. geringere Informiertheit und affektive Hemmungen durch Unterstützungs- und Motivationsmaßnahmen zu verringern. Fühlt sich ein Lernender angenommen, so steigen seine Bildungschancen und die Wahrscheinlichkeit einen höheren Schulabschluss oder einen qualifizierten Ausbildungsplatz zu erlangen, steigt.
[...]
1 Grundniveau = führt zum Hauptschulabschluss in Klasse 9
2 Mittlerem Niveau = führt zum mittleren Bildungsabschluss in Klasse 10
3 jemanden, etwas in Verruf bringen; jemandes Ruf, Ansehen schaden, abträglich sein
4 straffällig, verbrecherisch
5 jemandem oder einer Personengruppe einen Opferstatus oder die Opferrolle zuzuschreiben, sowie entsprechende Selbstzuschreibungen
6 Soziale Instanzen wie z.B. die Schule, Krankenhäuser, Arbeitgeber und andere Institutionen.
7 Soziale Instanzen wie z.B. dem Freundeskreis, der Familie, der Freizeit und andere private Interaktionspartner.
8 jemanden oder auch sich selbst in üblen Ruf zu bringen, d.h. dem Ansehen einer Person oder einer Sache zu schaden. Dies kann mutwillig oder auch unabsichtlich geschehen.
9 Die phylogenetischen Stigmata werden im weiteren Verlauf der Arbeit weitestgehend vernachlässigt.
10 Wichtigste Vertreter des symbolischen Interaktionismus sind George Herbert Mead und Erving Goffman (Lexikon der Psychologie 2001a, S. 284). Der Kommunikationsprozess zwischen Personen wird im Symbolischen Interaktionismus als ein gesellschaftlicher Prozess beschrieben, aus dem sich die Identität entwickelt (Mead 1968 zit. n. Tillmann 2000, S. 137).
11 Entlehnung des Begriffs Typifikation aus dem Beitrag von Gerke (1975): Goffman selbst benutzt diesen Begriff nicht, aber er kann als Grundlage für die Bildung und Zuschreibung von Attributen betrachtet werden. Goffman spricht in diesem Zusammenhang von der Zuschreibung einer virtualen sozialen Identität, die eine Einordnung in Kategorien bedeutet. Diese bezeichnet Gerke mit „Typifikation“.
12 Ein Merkmal überstrahlt alle anderen Eigenschaften. Dadurch entstehen Fehler in der Wahrnehmung und Beurteilung einer Person.
13 Etwas nur als Randerscheinung wahrnehmen.
14 zeigend, aufweisend
15 strafend
16 Ebenbürtiger, Gleichgestellter oder -altriger
- Citation du texte
- Tobias Ochs (Auteur), 2020, "G-Niveau". Etikettierung und Stigmatisierung in und durch die Schule?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/914138
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