Zusammenfassung / Abstract: Deutsch / Englisch:
Es wurde eine retrograde Analyse von Patientenakten der Schmerzambulanz der Klinik für Anästhesiologie der Universitätsklinik Mainz durchgeführt, in die alle Patienten mit bestimmten Einschlußkriterien der Behandlungsjahrgänge 1996 und 1997 aufgenommen wurden. Dies waren die vier Diagnosegruppen multilokuläre Schmerzen, Rückenschmerzen, Phantomschmerz und Morbus Sudeck (SRD). Das Ziel der vorliegenden Arbeit war die Frage nach der Häufigkeit von Psychotherapie als ergänzende Therapieempfehlung seitens der Schmerzambulanz herauszuarbeiten. Psychotherapie (ambulant, stationär, Bestandteil von Rehabilitationsaufenthalten) in vielgestaltiger Weise wurde häufiger empfohlen, 1. je länger die Schmerzerkrankung bestand, 2. je jünger die Patienten waren, 3. je länger sie arbeitsunfähig waren, 4. wenn belastende biographische Ereignisse festgestellt werden konnten 5. je höher das Chronifizierungsstadium nach Gerbershagen war. Im Einzelnen spielten die zeitlichen Aspekte der Erkrankung, Lokalisationseinflüsse sowie Aspekte vorheriger Behandlungen und schmerzbedingter Krankenhausaufenthalte eine besondere Rolle. 6. wenn Patienten nicht berentet waren.
A retrograde analysis of patient files from the out-patient pain department of the clinic for anaesthesiology of the university clinic in Mainz was carried out, whereby all patients from the treatment years 1996 and 1997 who fulfilled certain criteria were included in this study. These were the four diagnostic groups of multilocular pain, dorsalgia, phantom pain and Sudeck's disease (sympathetic reflex dystrophy SRD). The goal of this study was to investigate the frequency of psychotherapy as recommended supplementary treatment on the part of the out-patient pain department. Psychotherapy (on an in- or out-patient basis as well as part of rehabilitation courses) was frequently recommended in diversified forms: 1. the longer the state of pain persisted; 2. the younger the patients were; 3. the longer the patients were unable to work; 4. when burdening biographic incidents were found; 5. the greater the chronification status according to Gerbershagen, whereby in detail the temporal aspects of the disorder, localising influences as well as aspects of previous therapy and pain-conditioned periods of hospitalisation played a special role; 6. if the patients were not pensioned.
Inhalt
1. Einleitung
1.1. Schmerz: Geschichte, Ätiologie und Diagnose
1.2. Neure Konzepte
1.3. Epidemiologie
1.4. Prädiktoren
1.5. Komorbidität
1.6. Biopsychosocial model (Engel)
2. Untersuchte Krankheitsbilder
2.1. Rückenschmerzen
2.1.1. Definition
2.1.2. Epidemiologie
2.1.3. Prävalenz
2.1.4. Psychosomatische Faktoren bei Rückenschmerzen
2.1.5. Behandlung
2.2. Multilokuläre Schmerzen
2.2.1. Definition
2.2.2. Fibromyalgie und deren Begleitsymptome
2.2.2.1. Komorbidität
2.2.2.2. Epidemiologie
2.2.2.3. Psychosoziale Faktoren bei Fibromyalgie
2.2.3. Somatoforme Schmerzstörung
2.2.3.1. Definition
2.2.3.2. Epidemiologie
2.2.3.3. Anamnese und klinischer Befund
2.2.3.4. Differenzialdiagnose
2.2.3.5. Psychosoziale Faktoren bei der Somatoformen Schmerzstörung
2.2.3.6. Psychotherapeutische Behandlung der Fibromyalgie
2.3. Phantomschmerz
2.3.1. Geschichte
2.3.2. Ätiologie, Pathogenese
2.3.3. Epidemiologie
2.3.4. Prophylaxe und Behandlung
2.4. Morbus Sudeck
2.4.1. Definition
2.4.2. Epidemiologie
2.4.3. Psychosoziale Faktoren bei M. Sudeck
3. Therapie
3.1. Stimulationsverfahren und naturheilkundliche Verfahren
3.1.1. Akupunktur
3.1.2. Neuraltherapie und Homöopathie
3.1.3. Naturheilverfahren
3.1.4. Chirotherapie
3.1.5. TENS
3.2. Analgetika und Koanalgetika
3.2.1. Antipyretische Analgetika
3.2.2. Opioide
3.2.3. Koanalgetika
3.2.3.1. Antidepressiva
3.2.3.2. Antikonvulsiva
3.3. Psychotherapeutische Behandlungsverfahren
3.3.1. Psychologische Ansätze bei chronischen Schmerzen
3.3.2. Psychologische Faktoren
3.3.3. Entspannungsverfahren
3.3.4. Biofeedback
3.3.5. Hypnose
3.3.6. Schmerzbewältigungsverfahren und Verhaltenstherapie
3.3.7. Psychoanalytisch fundierte Psychotherapie
4. Problemstellung
5. Methoden
5.1. Patienten
5.2. Ablauf der Auswertungen
5.3. Instrumente
5.3.1. Fragebögen
5.3.1.1. SBAS
5.3.1.2. SVOR
5.3.1.3. Untersuchungsbogen A2915V+R
5.3.2. IASP Klassifikation
5.3.3. Mainzer Stadienmodell (Gerbershagen)
5.3.4. Biographische Anamnese
5.4. Statistische Auswertung
5.5. Erläuterung von verwendeten Diagrammtypen
6. Ergebnisse
6.1. Demographie
6.2. Schmerzanamnese
6.3. Diagnosen und Beschwerdebild
6.3.1. IASP
6.3.2. Einteilung nach Gerbershagen
6.4. Vorbehandlung
6.4.1. Medikamentöse Vorbehandlung
6.4.2. Psychotherapie und Entspannungsverfahren
6.4.3. Weitere
6.5. Ausbildung und berufliche Situation
6.6. Hinweise auf besondere biographische Ereignisse
6.7. Empfehlung zur Psychotherapie oder Entspannungsverfahren nach Aufnah- me in die Schmerzambulanz
6.7.1. Zusammenfassung
6.7.2. Empfehlung zur Psychotherapie oder Entspannungsverfahren in Ab- hängigkeit von der Stadieneinteilung nach Gerbershagen
6.7.3. Empfehlung zur Psychotherapie oder Entspannungsverfahren in Ab- hängigkeit von der Patienten-Biographie
6.8. Eingangs- und Ausgangsdiagnosen
6.9. Korrelationen und Logistische Regressionsanalyse
7. Diskussion
8. Zusammenfassung
9. Kasuistiken
10. Literatur
11. Lebenslauf
12. Anhang
12.1. Klassifikation chronischer Schmerzen (IASP)
12.2. Sozio-Demographischer Fragebogen (SVOR)
12.3. Strukturierte Biographische Anamnese für Schmerzpatienten (SBAS)
12.4. Untersuchungsbogen A2915V+R
12.5. Fragebogen für Schmerzpatienten
12.6. Aufbereitete Daten in Tabellenform
Einleitung
Schmerz: Geschichte, Definition, Ätiologie und Diagnose
Die Frage, was Schmerz eigentlich ist, beschäftigt die Menschheit schon lange. Aristote- les hielt Schmerz für ein Leiden der Seele und glaubte, daß Schmerz als Folge intensiver Aktivitäten in einem der fünf Sinne auftritt und innerhalb der Seele erfahren wird. Der Na- turalismus endete mit dem Tode Aristoteles und die vorherrschende Interpretation der Psyche oder der Seele bewegte sich zum subjektiven Spiritualismus, die Seele wurde als vollständig unabhängig vom Körper gesehen. Nicht mehr körperlichen Vorgängen wurde die Ursache von Schmerz zugeschrieben, sondern dieser wurde in erster Linie als Be- strafung für falsches Handeln gesehen. Konsequenterweise wurde Beten als Schmerz- therapie empfohlen und praktiziert. Im Mittelalter (11. bis 15. Jh.) lehrte Thomas von A- quin (1225-1274), daß die Seele nicht Teil des Körpers sei, sondern eine unabhängige Einheit. Der Mensch bestand seiner Meinung nach aus Körper und Seele und dieser Dualismus spiegelt sich bis heute in Medizin und Psychologie wider. Im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert entwickelten europäische Philosophen Konzepte zur Beziehung zwischen Körper und Seele. Descartes (1596-1650) ging davon aus, daß Körper und Seele getrennt seien, aber über eine direkte physische Verbindung interagieren. Er schlug das Vorhandensein einer Leitungsbahn für Schmerz aus verschiedenen Körperbe- reichen zum Gehirn vor. Der zweite Ansatz stammte von Spinoza (1632-1677), der einer Trennung zwischen Körper und Seele widersprach und beide als verschiedene Anteile der gleichen Substanz sah. Er hielt physiologische, ebenso wie psychische Aktivitäten für verschiedene Anteile von Schmerz. Die dritte Lösung wurde von Leibnitz (1646-1716) vorgeschlagen, dessen psychophysischer Parallelismus das dualistische Konzept akzep- tierte und Körper und Seele als vollständig voneinander unabhängig sah. Im Rahmen einer vorbestehenden, von Gott festgelegten Harmonie, seien sie aber aufs engste mit- einander verknüpft im Sinne einer 1:1 Beziehung zwischen körperlicher Empfindung und der seelischen Wahrnehmung dieser Empfindung (Egle, 1993a).
Kant (1724-1804) übernahm die Annahme einer solchen 1:1 Verknüpfung, schrieb diese aber nicht göttlichen Harmonien zu, sondern physiologischen Mechanismen. Die Wahr- nehmung hänge dabei nicht gänzlich von der Erfahrung ab, sondern sei teilweise ange- boren (Nativismus). Seine Vorstellung von einer Einheit der Wahrnehmung wurde später das Herzstück der Gestalttheorie. Fortschritte der Neurophysiologie und Psychophysik am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts übten starken Einfluß auf Schmerztheorien aus. Mueller stellte 1840 die „Lehre von den spezifischen Nervenener- gien“ auf und sah Schmerz ausschließlich auf neurophysiologischen Mechanismen basie- rend. In diesem Konzept empfing das Gehirn in einer reaktiv-passiven Weise Reize von spezifischen Nervenfasern. Von Frey entwickelte Muellers Theorie 1895 weiter und ging vom Vorhandensein spezifischer Rezeptor-Typen aus, von denen die Schmerzimpulse über spezifische Nervenbahnen zu einem speziellen Schmerzzentrum im Gehirn gelang- ten. Dieser Ansatz konnte allerdings bestimmte Schmerzsyndrome wie Phantomschmer- zen, Kausalgie oder Neuralgie nicht erklären. Auch das Auftreten von Schmerz nur als Folge einer Aktivität des sympathischen Nervensystems oder akustischer oder visueller Reize konnte so nicht erklärt werden. Fast zur gleichen Zeit (1894) legte Goldscheider ein zu von Frey abweichendes Schmerzkonzept vor, das davon ausging, daß Schmerz dann wahrgenommen wird, wenn die Summe der im Hinterhorn des Rückenmarks einlaufen- den peripheren Reize eine bestimmte Schwelle überschreitet. Die Vorstellung spezifi- scher Schmerzrezeptoren oder Nervenbahnen wurde nicht aufrechterhalten. 1943 entwi- ckelte Livingstone Goldscheiders Ansatz weiter zur zentralen Summationstheorie. Auch Nordenbos legte 1959 die mit der zentralen Summationstheorie verwandte sensorische Interaktionstheorie vor, die ein spezielles Reiz-Kontrollsystem annimmt, das normalerwei- se die Summation sensorischer Reize verhindert. Fast zeitgleich mit Goldscheider legte Marshall 1894 seine Affekt-Theorie des Schmerzes vor, die von zwei parallelen Systemen ausging, durch die ein Reiz in Aktion treten kann: Einem affektiven und einem sensori- schen System (Egle, 1993a).
1965 stellten Melzack und Wall ihre gate-control-Theorie vor und nahmen an, daß körper- liche und seelische Prozesse bei Schmerz als integrierende dualistische Einheit verstan- den werden können. Sie unterscheiden zwei Kategorien afferenter sensorischer Fasern mit unterschiedlichen Funktionen: dicke A-Beta-Fasern, die einen hemmenden Effekt auf Effekt auf die Impulsübertragung in der Substantia gelatinosa des Hinterhorns haben und dünne A-Delta und C-Fasern, die einen verstärkenden Effekt auf den Schmerzprozess haben. Efferente Fasern sollen zum gate-control-System im Rückenmark zurückführen, wodurch das zentrale Kontrollsystem das spinale Tor beeinflussen könne. Melzack entwickelte 1978 die Vorstellung, daß so zum Beispiel selektives Schmerzerleben erklärt werden könne, wie es unter anderem Beecher 1946 bei Soldaten mit Verwundungen oder Pawlow 1927 bei konditionierten Hunden beschrieben hatten (Egle, 1993a).
Gegenwärtig wird die Gate-Control-Theorie (Melzack, 1965, 1968) und ihre moderne Weiterführung zur Neuromatrix-Theorie (Melzack, 1999) am ehesten den multifaktoriellen Schmerz-Ursachen gerecht, wenngleich es individuell weit differente Auslegungen gibt. Die Gate-Control-Theorie postuliert ein neurophysiologisch-psychologisches Mehrkom- ponentensystem, in dem sowohl die Verarbeitung als auch die Kontrolle der Schmerzrei- ze berücksichtigt wurden. In Bezug auf die Schmerzkontrolle wurden dabei 2 Aspekte hervorgehoben:
1. Die Interaktion antagonistischer neuronaler Fasersysteme (die Fasergruppen C und A-Delta auf der einen und A-Beta auf der anderen Seite) könne einen redu- zierten Input von Schmerzreizen bewirken,
2. Absteigende Hemmungen, die aus spezifischen kortikalen Regionen zur Erfas- sung und Bewertung von Schmerz stammen, sorgten für eine Unterbrechung des nozizeptiven Einstroms aus der Peripherie.
Beide Mechanismen üben Kontrolle über ankommende Schmerzreize aus. Sie stellten die „Türkontrolle“ (Gate-Control) dar und seien regulär an jeder Form der Schmerzverarbeitung beteiligt. (Melzack, 1965, 1968, 1978)
In die Neuromatrix-Theorie sind wichtige Erkenntnisse zu sensorischen, genetischen, endokrinologischen, immunologischen und kognitiven Einflüssen integriert, um den viel- fältigen Faktoren zur Chronifizierung von Schmerzen gerecht zu werden. (Melzack, 1999) Bildgebende Verfahren wie PET oder EEG-Mapping ermöglichen die Darstellung der Hirnaktivität bei Schmerz. Unterschieden wird ein neuronales Netzwerk, in dem primär- sensorische Schmerzanteile wie der Ort, die Intensität und Qualität des Schmerzes ver- mittelt werden. Dazu gehören der primäre und sekundäre somatosensorische Kortex, die nozizeptiven Informationen aus lateralen Thalamuskernen erhalten. Dagegen gelangen Informationen, welche die affektive Schmerzkomponente bestimmen, von medialen Tha- lamuskernen in den anterioren cingulären Kortex, Inselkortex und Präfrontalkortex. Chro- nische Schmerzen führen zu einer dauerhaften Veränderung der kortikalen und subkorti- kalen Verarbeitung nozizeptiver Reize. Verantwortlich hierfür sind Prozesse neuronaler Plastizität, die am Beispiel des primären somatosensorischen Kortex dargestellt werden. (Wiech et al., 2001)
Neuere Konzepte
Der Schmerz ist eine elementare Erscheinung, ein Urphänomen des Lebens. Als eine früh beginnende Erfahrung hat der Schmerz prägenden Einfluß auf die Entwicklung und Gestaltung jedes lebendigen Wesens. (Broniewicz, 1993)
So begleitet der Schmerz den Menschen in allen Lebensphasen (von den äußerst seltenen Fällen angeborener Schmerzunempfindlichkeit einmal abgesehen), wobei allerdings auch die Schmerzvariablen der genetischen Ausstattung, der prägenden kulturellen Einflüsse eine erhebliche Rolle spielen. Schmerz und Leben sind in solchen Fällen als untrennbare Einheit zu verstehen. (Broniewicz, 1993) Jeder Einzelne von uns hat schon Schmerzen erlebt, seien es Bauchschmerzen, Schmerzen bei Prellungen, Kopf- oder Zahnschmerzen. Diese verschwanden in der Regel bald wieder, waren zeitlich limitiert, akut.
Einen anderen Charakter bekommen Schmerzen, wenn sie längere Zeit, vielleicht Mona- te oder Jahre, anhalten. Anders als akute Schmerzen können sie dann nicht nur den Moment, sondern vielleicht das ganze Leben und Erleben dominieren. Als chronisch werden Schmerzen bezeichnet, wenn sie länger als sechs Monate bestehen: Nach Kon- sensusbildung des Komitees für Taxonomie der IASP (International Association for the Study of Pain) wurde der Zeitraum von sechs Monaten als Grenze für die Unterscheidung zwischen akuten und chronischen Schmerzzuständen festgelegt. (nach Merskey, 1986; Wörz, 1990).
Die meisten Patienten mit akuten Schmerzen werden durch adäquate, kausale Thera- piemaßnahmen gesund und nicht chronisch schmerzkrank. Unter den Patienten mit chronischen Schmerzen lassen sich solche mit überwiegend biologischen Ursachen bis hin zu solchen mit alleinigen psychischen Ursachen finden. (Geissner & Würtele, 1990)
Die Internationale Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (IASP) definiert diesen so:
„Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potentieller Gewebsschädigung verknüpft ist oder mit begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.“ (nach Merskey, 1986)
Daraus gehen einige Aspekte des heutigen bio-psycho-sozialen Schmerzverständnisses hervor:
1. Objektivierbare periphere Läsionen im Sinne einer organischen Reizauslösung können fehlen, Schmerz ist eine subjektive Empfindung;
2. Emotionale und organische Komponenten beim Schmerz werden gleichberechtigt nebeneinander gestellt;
3. Darüber hinaus ist der Nachweis einer Gewebsschädigung nicht nötig, um zu chronischen Schmerzen zu führen. (Egle & Nickel, 1998)
Eine wichtige, vor allem von Bonica betonte Grunderkenntnis algesiologischer Forschung ist, daß sich akute und chronische Schmerzzustände voneinander weitgehend unterscheiden: Während akuter Schmerz meist monokausal verursacht wird, mit dem Modell der Nozizeption zu erklären und syndromal gewöhnlich leicht zu erfassen ist, sind chronische Schmerzzustände oft multifaktoriell bedingt, in ihrer Entstehung ungleich komplexer und in der Symptomatik vielschichtig. (Geissner & Würtele, 1990)
Damit soll nicht gesagt werden, daß bei Patienten mit akuten Schmerzen die emotionalaffektive Seite keinen Einfluß auf die Schmerzsituation haben könnte. Es ist allerdings offenbar, daß bei chronischen Schmerzen diese Seite einen dominierenden Charakter bekommen kann. (Geissner & Würtele, 1990)
Da bei chronischen Schmerzsyndromen Persönlichkeitsfaktoren, psychische Prozesse, psychosoziale Bezüge und kulturelle Einflüsse sehr viel bedeutsamer als bei Akutschmerz sind, befassen sich die aktuellen Analysen zunehmend mit bio-psycho-sozialen Aspekten der Ätiologie und Therapie chronischer Schmerzen. (Wörz, 1990).
Man ist sich gegenwärtig einig, bei Patienten mit chronischen Schmerzen die biologi- schen, psychischen und sozialen Ursachen abzuklären und gegebenenfalls therapeutisch anzugehen. Das bedeutet, daß das bio-psycho-soziale Verständnis nicht nur den Raum zu Diagnostik und Therapie gibt. Darüber hinaus gibt es zunehmend Hinweise, daß die bio-psycho-sozialen Komponenten in individuell wechselndem Ausmaß auch als Chroni- fizierungsfaktoren eines initial akuten Schmerzsyndroms angesehen werden können. In- sofern ist die frühere monokausale Sicht biologischer Einflüsse zur Chronifizierung schon seit längerem einem multifaktoriellen Modell gewichen, das zweifellos die Grundlage von Diagnostik und Therapie chronischer Schmerzen ist. Mit anderen Worten ist es unum- gänglich, vor die Therapie chronischer Schmerzen eine ausreichende organische, psy- chische und soziale Diagnostik zu stellen. Aus dem Ergebnis, das kaum anders als inter- disziplinär lösbar ist, resultieren Therapieschwerpunkte, sei es in organischer, psychi- scher, sozialer Hinsicht oder in einer Kombination dieser. Es ist gegenwärtig ungeklärt, in welchem Zeitablauf die differentialdiagnostische Kausalitätsklärung mit adäquater Thera- pieschlußfolgerung stattfinden muß. Von einer Gleichzeitigkeit ist auszugehen. (Geissner & Würtele, 1990)
Zur Klärung können letztlich nur kontrollierte Verlaufsstudien beitragen, die die unterschiedlichen fachlichen Standards bio-psycho-sozialer Diagnostik und Therapie in gleichrangiger Form berücksichtigen. An internationalen und nationalen Therapiezentren hat sich diese multifaktorielle Sicht meistens schon länger etabliert, aus wissenschaftlicher Sicht ist sie allerdings noch nicht ausreichend geklärt.
Die hohe Zahl chronischer Schmerzkranker - man schätzt ihre Zahl in Deutschland auf über 3 Millionen (Zimmermann & Seemann, 1986) - ist gleichbedeutend mit hohem sub- jektivem Leidensdruck, herabgesetzter psychischer und körperlicher Leistungsfähigkeit, langen Arbeitsunfähigkeitszeiten, vielfältigen und über Jahre wiederholten diagnostischen und therapeutischen Prozeduren, Krankenhausaufenthalten, Operationen, Medikamen- tenverbrauch bis -mißbrauch, häufigem Arztwechsel und häufigen Frühberentungen.
häufigen Frühberentungen. (Egle, 2000) Hieraus resultiert eine erhebliche ökonomische Belastung - Schmerzkranke kosten viel Geld. Frühdiagnostik und -therapie sind deshalb von hohem Stellenwert.
Offenbar gibt es einen großen Anteil von Patienten mit chronischen Schmerzen, denen auf der organischen Ebene nicht oder nicht ausreichend geholfen werden kann. Dies legt nahe, daß außer dem Einsatz organisch orientierter Behandlungsverfahren auch andere therapeutische Verfahren (Entspannungstherapie, Psychotherapie u.a.) zum Einsatz kommen müssen. (Geissner & Würtele, 1990)
Egle & Nickel (1998) gibt folgende psychische und soziale Faktoren an, die im Rahmen einer bio-psycho-sozialen Vernetzung Einfluß auf das individuelle Schmerzerleben neh- men können:
1. Aufmerksamkeit und Ablenkung. Dies kann zu einem Circulus vitiosus führen: Schmerz - Aufmerksamkeit - verstärkter Schmerz - erhöhte Aufmerksamkeit;
2. Angst und Depression. Angst oder Depression können die Schmerzschwelle sen- ken und damit das Schmerzempfinden verstärken;
3. Sekundärer Gewinn / Verstärker. Wenn der Schmerzpatient schon vor Einsetzen der Schmerzen als unangenehm erlebte Tätigkeiten abgenommen bekommt oder ein vorher nicht gekanntes Ausmaß an Zuwendung oder Aufmerksamkeit erhält, dann kann dies zur Schmerzaufrechterhaltung und -verstärkung beitragen;
4. Krankheitsattributierung und Bewältigungsmechanismen. Fühlt der Patient sich zum Beispiel seinen Schmerzen schicksalshaft ausgeliefert, so stellt diese Art der Krankheitsattributierung eine Voraussetzung für Chronifizierung dar. Prognostisch ungünstig ist auch eine Neigung des Patienten zu Katastrophengedanken (Katastrophisierung), dies stellt einen ungünstigen Konflikt- oder Krankheitsbewältigungsmechanismus dar;
5. Schmerzerfahrungen in Kindheit und Jugend können mit spezifischen Affekten konnotiert sein und später im Leben zu rein psychisch bedingten oder psychisch mitbedingten Schmerzen führen.
Bei der organischen und psychosozialen Diagnostik ist eine Begrenzung auf die notwen- digen Maßnahmen sinnvoll. Dies erfordert Standfestigkeit gegenüber weiteren unbe- gründeten Forderungen der Patienten nach Wiederholung und Erweiterung der Diagnos- tik. Ein solches Vorgehen kann nur auf dem Hintergrund eines tragfähigen Kontaktes ge- lingen, in dem der Patient sich angenommen und als Kranker akzeptiert fühlt. Übersehen oder Unterbewertung psychosozialer Aspekte der Schmerzerkrankung führt zu häufigem Arztwechsel („medical shopping“, „doctor hopping“) und Chronifizierung durch wiederhol- te invasive diagnostische und therapeutische Maßnahmen, einschließlich operativer Ver- suche, Wiederholung von Hoffnung und Enttäuschung, Idealisierung und Entwertung. Gemeinsames Problem von Arzt und Patient ist oft die einseitige Suche nach der Schmerzursache im Körper, der multikausalen Diagnostik und Therapie wird zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.
Epidemiologie
Zimmermann und Seemann geben 1986 für die alten Bundesländer Deutschlands rund drei Millionen Schmerzpatienten, die jährliche Analgetikakosten von 373,5 Millionen Mark verursachen, an. (Zimmermann & Seemann, 1986)
Zahlreiche dieser Schmerzkranken hatten bereits seit mehr als 10 Jahren Schmerzen und waren in dieser Zeit zum Teil bei 10 und mehr Ärzten in Behandlung, letztendlich a- ber ohne Erfolg. (Zimmermann & Seemann, 1986)
Eine jüngste Befragung in 5 Facharztpraxen in Bochum ergab, daß 36% aller Patienten an chronischen Schmerzen litten, wobei Frauen doppelt so häufig betroffen waren wie Männer und die 4 häufigsten Schmerzlokalisationen der Rücken, der Kopf, die Gelenke und die Beine waren. 15% der Patienten mit chronischen Schmerzen waren aufgrund der Schmerzen berentet oder hatten einen Rentenantrag gestellt. Psychologische Therapie hatten nur 5% der Patienten erhalten. Die bisherige Therapie der Schmerzen bestand überwiegend aus physikalischer und / oder medikamentöser Therapie. 30% der Patienten gaben an, daß bisher keine der durchgeführten Therapien ihre Schmerzen zufrieden stellend hätte lindern können. (Willweber-Strumpf et al., 2000)
François schreibt 1997, daß chronischer Schmerz verbreitet ist und bei bis zu 15% aller Personen einer zufällig ausgewählten Bevölkerungsstichprobe vorkommt. Dabei seien psychosoziale Faktoren häufig involviert und auch Faktoren, die mit Verletzungen durch Berufs- oder Verkehrsunfälle assoziiert seien. Eine interdisziplinäre Schmerzambulanz oder -klinik sei sehr hilfreich in der Behandlung komplexer Fälle, insbesondere wenn auch Psychologen, Sozialarbeiter, Ergo- und Physiotherapeuten bei der Behandlung mit herangezogen würden. (François, 1997)
Eine Zufallsstichprobe (n=10.000) der schwedischen Bevölkerung (Altersgruppe 18-58 Jahre) zeigte bei einer Fragebogenerhebung (Rücklaufquote: 77.1%) eine Prävalenz chronischer Schmerzen von 26%. (Mullersdorf & Soderback, 2000)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Angaben zur Zahl chronischer Schmerzpatienten in Deutschland.
In den USA lagen die Kosten chronischer Schmerzen für die Volkswirtschaft schon 1981 zwischen 85 und 90 Milliarden US $. (Seres et al., 1981)
Egle (1999) nennt für 1986 im Bereich der alten Bundesländer Deutschlands volkswirtschaftliche Kosten von ca. 30 bis 40 Milliarden DM für Schmerzpatienten und jährliche Verordnungen von mehr als 1.000.000 Kilogramm Schmerzmittel und rund 86.000.000 Schmerzmittelrezepte.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 2: Kosten chronischer Schmerzen in Deutschland
Prädiktoren
Das Schmerzausmaß während Verletzungen oder Infekten ist ein wichtiger Prädiktor für das Ausmaß chronischer Schmerzen (Melzack, 1999)
Auch andere Faktoren, vor allem psycho-soziale, beeinflussen das Entstehen chronischer Schmerzen, z. B. von Rückenschmerzen (Egle, 1999):
1. Patientenalter, weibliches Geschlecht, Arbeitslosigkeit;
2. Schwere der körperlichen Arbeit und Art der erforderlichen Körperhaltung;
3. Unterstützung durch die Familie und Krankheitsgewinn;
4. Schmerzverhalten, Krankheitsattribution, psychopathologische Komorbidität;
5. Schmerzdauer, Therapieerfahrungen, Operationen, Informationsstand zum Krankheitsbild,
6. Länge der Krankschreibung, Verordnung von Schonung,
7. Biographische Risikofaktoren wie Mißbrauch, Mißhandlung, Vergewaltigung.
Der Zusammenhang mit sexuellem Mißbrauch im Kindesalter ist zunächst überraschend und gilt als empirischer Beleg zur Bedeutung psycho-sozialer Belastungsfaktoren (Egle & Nickel, 1998)
Vor einer Überbewertung nur dieses einen Faktors wird abgeraten, das Hinzutreten weiterer Risikofaktoren scheint wichtig zu sein. (Egle, 1999)
Linton berichtet 1997 von einer Untersuchung von zufällig ausgewählten Personen der Altersgruppe 35 bis 45 Jahre. Diese wurden eingeteilt in Personen ohne Schmerzen, Personen mit milden Schmerzen und Personen mit ausgeprägten Schmerzen. Mittels Fragebogen wurden Daten zu physischer Mißhandlung und sexuellem Mißbrauch in der Patientenvorgeschichte erhoben. 2% der Frauen in der Gruppe ohne Schmerzen und 8% der Frauen in der Gruppe mit ausgeprägten Schmerzen berichteten von physischer Miß- handlung. 23% der Frauen in der Gruppe ohne Schmerzen und 46% der Frauen in der Gruppe mit ausgeprägten Schmerzen berichteten von sexuellem Mißbrauch. Für Frauen konnte festgestellt werden, daß physische Mißhandlung das Risiko ausgeprägte Schmer- zen zu entwickeln um den Faktor fünf erhöhte und daß sexueller Mißbrauch dieses Risiko um den Faktor vier erhöhte. Bei Männern war dieser Zusammenhang nur gering ausge- prägt. (Linton, 1997)
Psychische Komorbidität
Unter psychischer Komorbidität versteht man Depression, Angst, Persönlichkeitsstörungen und Abhängigkeit. Das Vorhandensein einer oder mehrerer dieser Erkrankungen beeinflußt die Prognose chronischer Schmerzen bzw. die therapeutischen Möglichkeiten ungünstig. Eine Schmerztherapie ohne Erfassung dieser Morbidität engt die schmerztherapeutischen Möglichkeiten empfindlich ein. (Egle, 1999)
Gatchel et al. stellen eine auffallende Komorbidität bei Patienten mit chronischen Lendenwirbelsäulen (LWS) -Schmerzen fest. Wird die Therapie psychopathologischer Symptome wirksam in das physiotherapeutisch-medizinische Behandlungs-Konzept eingebaut, ist das Ergebnis der funktionellen Wiederherstellung gut. Dadurch könnte die psychosozioökonomische Belastung der verbreiteten und teuren Erkrankung aufgehalten werden. (Gatchel et al., 1994) - ein Beleg für die Wichtigkeit psychischer Diagnostik und Therapie im Rahmen chronischer Schmerzen.
Biopsychosocial model (Engel)
Das Biopsychosoziale Modell nach Engel (1977) geht davon aus, daß biologische und psychologische Faktoren, sowie gesellschaftliche Einflüsse zusammenwirken und die Reaktion eines Menschen auf Schmerz mitbestimmen (Abbildung 1).
Einen besonderen Einfluß kann die psychische Komorbidität bekommen. Dies ist eine psychische Erkrankung, die mit chronischen Schmerzen, aber auch verschiedenen anderen körperlichen Erkrankungen vergesellschaftet sein kann. Psychische Komorbidität und psychologische Faktoren wie maladaptatives Coping oder psychische Stressoren sind nicht dasselbe (Gralow, 2000).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Biopsychosocial model nach Engel (1977)
Die Inzidenz des Zusammentreffens von chronischen Schmerzen mit psychischen Erkrankungen wird unterschätzt. In der neuesten Auflage des Zenz/Jurna (Lehrbuch der Schmerztherapie) findet man diesen Begriff nicht im Stichwortverzeichnis. Es ist jedoch seit längerem bekannt, daß die Prävalenz der psychischen Komorbidität unter Patienten mit chronischen, nicht-tumorbedingten Schmerzen gegenüber der Normalbevölkerung überrepräsentiert ist (Gatchel & Epker, 1999).
Unter psychischer Komorbidität versteht man Depression, Angst- und Persönlichkeitsstörungen, psychische Abhängigkeit sowie andere psychiatrische Erkrankungen, wenn diese mit chronischen Schmerzen verbunden sind. Das Vorhandensein einer oder mehrerer dieser Erkrankungen beeinflußt die Prognose chronischer Schmerzen bzw. die therapeutischen Möglichkeiten ungünstig (Egle, 2000; Gralow, 2000). Eine Schmerztherapie ohne Erfassung dieser therapiebedürftigen psychischen Komorbidität engt die schmerztherapeutischen Erfolg empfindlich ein. (Egle, 1999; Gralow, 2000)
Wird allerdings die psychische Komorbidität bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen therapeutisch in das Gesamtkonzept eingebaut, behindert die Psychopathologie nicht mehr ein erfolgreiches Therapieergebnis (Gatchel et al., 1994).
Bei einer Prävalenz psychischer und psychosomatischer Störungen in Deutschland von 20-25% (Schepank, 1987) ist mit einer psychische Komorbidität also etwa bei jedem 4. bis 5. Patienten mit chronischen nozizeptiven oder neuropathischen Schmerzen zu rechnen (Egle, 1999), die Prävalenz dürfte bei Schmerzpatienten eher noch höher lie- gen (Gatchel & Epker, 1999). Neueste Prävalenzdaten (Lebenszeit) in Deutschland (Allgemeinbevölkerung) liegen ebenfalls höher (Meyer et al., 2000), nicht zuletzt auch wegen der Berücksichtigung von Störungen durch Substanzkonsum inklusive Tabak mit 25,8%.
Allerdings war bisher nicht abschließend zu klären, ob diese Psychopathologie die Ursache oder die Folge chronischer Schmerzen ist (Weisberg & Keefe, 1999). Auf der Basis des bio-psycho-sozialen Modells müssen alle chronifizierenden Faktoren in die Therapie einbezogen werden, also auch die psychische Komorbidität. Das gilt nicht nur für den psychogenen Schmerz (Egle, 1999).
Dadurch könnte die psychosozioökonomische Belastung der verbreiteten und teuren Erkrankung aufgehalten werden (Gatchel et al., 1994) - ein Beleg für die Wichtigkeit psychischer Diagnostik und Therapie im Rahmen chronischer Schmerzen.
Die therapeutischen Konsequenzen für Patienten mit inadäquater Krankheitsbewältigung und Patienten mit Komorbidität sind auch bei Schmerzpatienten unterschiedlich. Die bio- psychosoziale Perspektive sei besonders relevant, wenn es um das Verständnis chroni- scher Schmerzen gehe, denn dann bestünden besonders viele Gelegenheiten, daß Schmerzen durch biologische, psychologische oder soziale Faktoren beeinflußt werden könnten (Engel, 1977).
Untersuchte Krankheitsbilder
Die untersuchten Krankheitsbilder, die alle nach der IASP-Klassifikation eingeteilt und deren Diagnosen nach ICD-10 codiert wurden, werden weiter unten im Text näher beschrieben.
Rückenschmerzen
Definition
Der Begriff Rückenschmerzen wird hier als Diagnosegruppe benutzt, in die eine oder mehrere der folgenden Diagnosen fallen können:
1. Schmerzen im Bereich der HWS (ICD M54.2)
2. Schmerzen im Bereich der BWS (ICD M54.6)
3. Schmerzen im Bereich der LWS (ICD M54.4)
4. Schmerzen im Bereich des Steißbeins (ICD M53.3)
Der Mensch verfügt im Gegensatz zu vielen Tieren nicht über ein PanoramaGesichtsfeld. Der Rücken und die Lumbalregion sind der visuellen Kontrolle entzogen. Das begrenzte Gesichtsfeld, das 180°-200° nicht überschreitet, könnte ein Grund dafür sein, daß sich der Rücken als Projektionsfeld für Konflikte anbietet. Davon zeugen auch Redewendungen, etwa „Rückgrat raus!“, „Rückgrat haben“, „einen breiten Rücken haben“, „mit dem Rücken zur Wand“, „dem wurde das Kreuz gebrochen“ oder aber eine übertrieben opportunistische Anpassung : „katzbuckeln“, „zu Kreuze kriechen“). Der Rücken als Projektionsort für feindliche innere und äußere Objekte findet auch sprachlich seinen Ausdruck: im Angelsächsischen lautet das Idiom für Diffamierung back-biting („inden-Rücken-beißen“), im Deutschen weist der „Hexen-„ oder „Elbenschuß“ auf eine von außen kommende Verursachung hin. (Schultz-Venrath, 1993)
Am lumbosakralen Übergang finden sich mehr als 200 radiologische und anatomische Anomalien, die für sich allein jedoch keinen Krankheitswert haben. Da es sich beim chronischen Verlauf um ätiologisch mindestens ebenso vielfältige Schmerzsyndrome handeln kann wie beim akuten, ist es gerechtfertigt, von den Lumbago-Ischialgie-Syndromen (LIS) zu sprechen. (Schultz-Venrath, 1993)
Am Beispiel des LIS sollen hier einige somatische Konzepte vorgestellt werden, die teilweise auch für Rückenschmerzen der oberen Wirbelsäulensegmente gelten:
Degenerative Wirbelsäulenveränderungen - alltagssprachlich „Verschleiß“ genannt - konnten schon an Fossilien und Neandertalern, aber auch an ägyptischen Mumien und Pueblo-Indianern nachgewiesen werden. Insofern widersprechen diese Beobachtungen wohl der gängigen Auffassung , degenerative Veränderungen seien erst ein Phänomen der Neuzeit. Bis zu den von einem Neurochirurgen und Orthopäden eingeleiteten Para- digmenwechsel, daß der Bandscheibenvorfall (Diskushernie) alleinige Ursache aller LIS sei, wurde ein breites Spektrum verschiedenster Ätiologien postuliert, das von lokalen (Neuritiden) bis zu allgemeineren Entzündungstheorien (Erkältung) und von externen Druckphänomenen (Luftdruckschwankung) bis zu intern mechanischen Ursachen (Tu- mor) reichte. (Schultz-Venrath, 1993).
Epidemiologie
Rund 90% der Bevölkerung haben mindestens einmal im Leben klinisch relevante Rü- ckenschmerzen. Sofern sie Tätigkeiten ausüben, die den Rücken belasten, haben rund drei Viertel dieser Personen einmal im Jahr Rückenschmerzen. Rückenschmerzen sind das häufigste Schmerzproblem in der Bevölkerung und der häufigste Grund für eine Arbeitsunfähigkeit. Die Kosten des Rückenschmerzes in Deutschland werden von Egle et al. 1999 auf 34 Milliarden Mark im Jahr geschätzt, wobei hiervon 30% auf Behand- lungskosten und 70% auf Kosten für den Arbeitsausfall entfallen. 60 - 70% der Patien- ten, die länger als 6 Monate wegen Arbeitsunfähigkeit wegen Rückenschmerzen nicht arbeiten konnten, kehren nicht mehr in den Arbeitsprozess zurück. (Hildebrand et al., 1997)
Zenz schreibt 1995, daß in Deutschland statistisch gesehen ständig jeder Dritte unter Rückenschmerzen leidet, daß Rückenschmerzen die häufigste Ursache für einen Arzt- besuch und eine stationäre Krankenhausbehandlung seien, daß 165 Millionen Arbeits- unfähigkeitstage pro Jahr in Deutschland dadurch entstehen und 22 Milliarden Mark als Folgekosten alleine durch Produktionsausfall in Deutschland dadurch entstehen. 80% der Patienten erleben laut Zenz (1995) einen Rückgang der Beschwerden innerhalb von 8 Wochen, unabhängig von der Behandlung. Die jährliche Inzidenzrate liegt bei 15- 30%, Rezidive treten in 60-80% der Fälle auf, 7% der Patienten mit akuten Rücken- schmerzen sind längerfristig arbeitsunfähig und verursachen 80% der Gesammtbe- handlungskosten des Krankheitsbildes Rückenschmerz. 22% aller Erkrankungsfälle und 32% aller Erkrankungstage mit geschätzten Folgekosten von 42 Milliarden Mark pro Jahr in Deutschland werden durch chronische Rückenschmerzen verursacht. Chroni- sche Rückenschmerzen seien für 17% aller Neuzugänge bei Erwerbsunfähigkeits- (EU) und Berufsunfähigkeits-(BU) Renten und für 36% aller Fälle stationärer Reha- Maßnahmen verantwortlich. (Zenz, 1995)
Baumann (1998) schreibt, daß 80% der ländlichen Bevölkerung zwischen dem 30. Und 60. Lebensjahr mit akuten bzw. chronischen Kreuzschmerzen belastet seien. Etwa 63% leiden irgendwann in ihrem Leben an lumbovertebralen Schmerzen, wobei auffällig oft eine Diskrepanz zwischen den subjektiven Beschwerden und den objektivierbaren Be- funden bestehe. 20% aller Arbeitsunfähigkeitsfälle in Deutschland erfolgen wegen akuter oder chronischer Kreuzschmerzen, 50% aller Frührentenanträge seien die Folge von LWS-Beschwerden. Da speziell die Altersklasse zwischen 40 und 50 Jahren betroffen sei, verschärfe sich die volkswirtschaftliche Bedeutung dieses Leidens. (Baumann, 1998)
In den USA stieg die Zahl der Invaliden durch lumbales Rückenleiden 14 mal schneller als die Gesamtbevölkerung . Nur die Hälfte der Patienten, die länger als sechs Monate an Rückenschmerzen leiden, kehren an ihren Arbeitsplatz zurück. (Schultz-Venrath, 1993).
Prävalenz
Von der im deutschen nationalen Gesundheitssurvey Ost (NGO) von 1991/92 präsentier- präsentierten Liste von rheumatischen Beschwerden werden Rückenschmerzen mit Abstand am häufigsten genannt. Rund 26% der Befragten leiden zum Befragungszeitpunkt unter Rückenschmerzen (Punktprävalenz), 62% geben Rückenschmerzen „während der letzten 12 Monate“ an (Jahresprävalenz) und 68% hatten schon jemals in ihrem Leben Rückenschmerzen (Lebenszeitprävalenz). Um diese Daten aus Ostdeutschland mit Daten aus der westdeutschen Bevölkerung vergleichen zu können, wurden mittels postalischer Befragungen 1991/92 in Lübeck und 1990 sowie 1993/94 in Bad Säckingen Daten erhoben. Der Vergleich mit den Bad Säckinger Daten von 1993/94 betrifft nur Frauen zwischen 35 und 74 Jahren. Die standardisierten Prävalenzen von Rückenschmerzen in Ostdeutschland lagen 12 bis 19 Prozentpunkte unter den entsprechenden Werten für die westdeutsche Regionen. (Berger-Schmitt, 1996)
Mit einer Prävalenz von 32% waren chronische Rückenschmerzen das häufigste Gesundheitsproblem in einem Kollektiv von 974 Arbeitern und Angestellten eines Metallbetriebes in Deutschland. Dabei waren physische Faktoren wie Heben und Tragen besonders stark mit chronischen Rückenschmerzen assoziiert (multivariable odds ratios > 2.8), wogegen psychosoziale Stressoren wie Zeitdruck, Konflikte mit Kollegen und Vorgesetzten weniger ausgeprägt mit chronischen Rückenschmerzen assoziiert waren (multivariable odds ratios zwischen 1.4 und 1.8). (Wanek et al., 1998)
Aufgrund methodischer Verschiedenheiten, verschiedenen Zielpopulationen und ver- schiedenen Zielsetzungen kommt es zu unterschiedlichen Aussagen zur Schmerzpräva- lenz von Rückenschmerzen in verschiedenen Studien: Die Punktprävalenz wird mit 0.8- 41% und die Einjahresprävalenz mit 15-56% in generellen Gesundheitserhebungen an- gegeben, während spezielle Erhebungen zu Rückenschmerzen Punktprävalenzen von 14-42% und Lebenszeitprävalenzen von 51-84% angeben. Die höchste Prävalenz wird in der Altersgruppe der 50-64-jährigen gefunden. (Schochat & Jackel, 1998) In einer kanadischen Studie wurde die Prävalenz chronischer oder rezidivierender Rückenschmerzen seit Dienstantritt kanadischer Polizisten mit 54.9% angegeben. Dieser Wert deckt sich mit der Lebenszeitprävalenz chronischer oder rezidivierender Rückenschmerzen der gesamten kanadischen Bevölkerung. (Brown et al., 1998)
Taimela et al. schreiben 1998, daß tiefer Rückenschmerz eine recht häufige Beschwerde bei Adoleszenten in Finnland sei und ein bedeutsamer Anteil der 14-jährigen leide bereits an chronischen Rückenschmerzen. (Taimela, 1998)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 3: Epidemiologie chronischer Rückenschmerzen in Deutschland (und Kanada).
Psychosomatische Faktoren bei Rückenschmerzen
In der „South Manchester Back Pain Study“ wurde der Zusammenhang zwischen frühe- ren Episoden von Rückenschmerz und dem erneuten Auftreten von Rückenschmerz
Rückenschmerz untersucht. 3,1% der Männer und 4,75 der Frauen hatten eine neue Episode von Rükkenschmerz, die in der Nachbeobachtungszeit von 12 Monaten zum Aufsuchen eines Arztes führten, während 30,7% der Männer und 32,1% der Frauen zwar neu aufgetretene Rückenschmerzen hatten, aber sich nicht in Behandlung begaben. (Papageorgiou et al., 1996)
Beim chronifizierten Rückenschmerz besteht allerdings häufig keine enge Korrelation zwischen dem Grad der körperlichen Erkrankung und dem Ausmaß subjektiver Schmerzempfindung sowie der daraus resultierenden lebenseinschränkenden Behinderung. Die bisherigen Ergebnisse epidemiologischer und klinischer Schmerzforschung lassen den Schluß zu, daß der Chronifizierungsprozeß als ein Resultat komplexer Interaktionen somatischer und psychischer Dimensionen sowie sozialer Unterstützungssysteme zu verstehen ist. (Gralow, 2000)
Turk & Flor schreiben 1987, daß Nichtbeachtung psychosozialer, psychophysiologischer und medizinisch-physikalischer Faktoren zu einem unzureichenden Verständnis des Patienten und unangemessenem therapeutischen Vorgehen führen kann.
Bei 38 Rückenschmerzpatienten mit einer Erkrankungsdauer zwischen 6 Wochen und 6 Monaten wurde 3 Wochen lang das Ulmer Schmerztagebuch (UST) geführt (Kessler & Hrabal, 1997). Die Analyse der Zusammenhänge zwischen Schmerzintensität, Stimmung und medizinischen Maßnahmen zeigte signifikante Korrelationen zwischen diesen drei Variablen. Die Berechnung von Partialkorrelationen ergab neben einem hohen Zusam- menhang zwischen Schmerzintensität und Stimmung, daß die medizinischen Maßnah- men weniger mit der Schmerzintensität zusammenhängen als mit dem Ausmaß der Stimmungsbeeinträchtigung.
Psychosoziale Variablen wurden von Hasenbring & Ahrens im Rahmen einer Pilotstudie mit prospektivem Studiendesign untersucht, so die Variablen Depressivität und sensori- sche und affektive Aspekte des Schmerzerlebens. Die Gruppe von Patienten, die nach Abschluß der Behandlung weiterhin Schmerzen mit oder ohne Sensibilitätsstörungen angaben, ohne daß eine organische Ursache gefunden werden konnte, unterschied sich schon vor der Behandlung durch eine deutlich erhöhte Depressivität von den übri- gen Patienten. Mit dem BDI (Becks Depression Inventory) war eine richtige Vorhersage war eine richtige Vorhersage des Behandlungsergebnisses in 86,84% der Fälle möglich. Zum einen wird hier die im BDI vor allem auf der somatischen und kognitiven Ebene erhöhte Depressivität als Reaktion auf jahrelang schon bestehende Schmerzen gedeutet, zum anderen werden diese Ergebnisse als Ausdruck einer "lavierten Depression" verstanden. Der BDI erwies sich hier als ein hilfreiches Screening- Instrument. Mit ihm kann auf Patienten hingewiesen werden, für die im Einzelfall eine differenzierte Psychodiagnostik notwendig ist, so daß, begleitend zur notwendigen medizinischen Therapie, psychologische Behandlungsangebote gemacht werden können. (Hasenbring & Ahrens, 1987)
In einer Studie an 82 Patienten mit lumbalem Bandscheibenvorfall, die sich erstmalig einer Nukleotomie unterzogen, wurde der Versuch einer statistischen Fundierung und somit weiterführenden Replikation früherer Ergebnisse von Hasenbring unternommen. Die Ergebnisse der Studie haben erneut hervorgehoben, daß neben den depressiv- ängstlichen Vermeidern auch die 2 speziellen Untergruppen mit kognitiven und behavio- ralen Durchhaltetendenzen ein erhöhtes Risiko bezüglich eines ungünstigen Gene- sungsverlaufs aufzuweisen scheinen. Diese Daten weisen darauf hin, daß auch psychi- sche und nicht allein somatische Befunde das Heilungsergebnis von Bandscheibenope- rationen erheblich beeinflussen können. Dieser Umstand hat dazu geführt, daß operati- ve Fächer die Indikation zu Bandscheibenoperationen wesentlich enger stellen (Greb- ner et al., 1999)
Chronische LIS-Patienten über 50 Jahre mit einer mehrjährigen LIS-Krankengeschichte, einer Arbeitsunfähigkeit von mehr als vier Monaten, fehlendem neurologischen Defizit, fehlendem Diskusprolaps, psychosozialen Schwierigkeiten und lumbalen Voroperationen gehören zu jenen, die von einer Operation, gleich welcher Art, nicht profitieren (Dvorak et al., 1988; Alaranta et al., 1990)
Eine Untersuchung an 86 ambulanten Rückenschmerzpatienten erbrachte das Ergebnis, daß körperliche Beschwerden bei der untersuchten Stichprobe im wesentlichen als De- pressions- und Chronifizierungsäquivalent anzusehen seien. (Hildebrand et al., 1997) Eine vermehrte Aufmerksamkeitsfokussierung auf körperliche Mißempfindungen (im Sin- ne einer hypochondrischen Persönlichkeit) konnte dabei nicht bestätigt werden. Die Un- Untersuchung ist als weiterer Hinweis darauf zu interpretieren, daß körperliche Beschwer- den und Depressivität bei Schmerzpatienten in einem circulus vitiosus gesehen werden können.
Dworkin et al. befragten 1016 Patienten einer großen Health Maintenance Organization der USA mittels Fragebogen, um Daten zum Vorkommen von fünf Arten von Schmerzen (Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Abdominalschmerzen, Brustschmerzen und Tem- poromandibularschmerzen) und deren Assoziation zu affektiven Störungen, Somatisie- rung und psychischem Streß zu erhalten. Eine logistische Regressionsanalyse zeigte eine hochsignifikante Beziehung zwischen der Anzahl der berichteten Schmerzzustände und der Ausprägung von Somatisierung, gemessen nach der Symptom Checklist 90 - Revised. Individuen mit zwei oder mehr Schmerzzuständen hatten ein erhöhtes Risiko einer algorithmisch diagnostizierten Depression als Personen, die nur unter einer Schmerzart litten. (Dworkin et al., 1990)
Behandlung
Die medikamentöse Therapie und weitere Therapiearten müssen kontroverse Probleme berücksichtigen: u. a. Nebenwirkungen, Kosten, Wirkungen, therapeutischer Nutzen.
Die Behandlung von Rückenschmerzen hat sich in letzten Jahren gewandelt: Mittlerweile besteht ein breiter Konsens über die Wichtigkeit von aktiven, trainings- und verhaltensorientierten Interventionen unter Einschluß edukativer Elemente. Dieses Konzept wurde in den 80er-Jahren von Mayer und Gatchel vorgestellt. (Mayer & Gatchel, 1998)
Die Bewegungstherapie findet Anwendung im Sinne eines sportmedizinischen Trainings von Kraft, Ausdauer, Flexibilität und Koordination wie zum Beispiel in Programmen zur Behandlung von Rückenschmerzen. (Hansen et al., 1998)
In Göttingen wurde 1990 begonnen, Programme, die ursprünglich aus dem angelsächsischen Bereich vorgestellt wurden, in die Praxis umzusetzen und bezüglich ihrer Effektivität zu analysieren. Sporttherapeutische, ergotherapeutische, physiotherapeutische und psychotherapeutische Interventionen sind in einem standardisierten Gesamtkonzept integriert. Dazu kommt eine differenzierte Berücksichtigung der Arbeitsplatzsituation und die entsprechende Einbindung arbeitsspezifischer Haltungen und Bewegungen in die Therapie. (Pfingsten, 1998)
In der Ambulanz für Schmerzbehandlung an der Universität Göttingen wurde ein multi- modales Behandlungskonzept an einer klinischen Stichprobe von 138 Rückenschmerz- patienten überprüft. Die Patienten durchliefen ein Vorprogramm, wurden während des fünfwöchigen Hauptprogramms sieben Stunden täglich behandelt und nahmen optional an einem Nachprogramm teil, wobei während dieser Zeit die schrittweise Wiederauf- nahme der Arbeitstätigkeit erfolgte (Hildebrandt et al., 1996). Nach Abschluß dieser Forschungsstudie wurde das Programm auf insgesamt fünf Wochen (eine Woche Vor- programm, vier Wochen Hauptprogramm) ohne Qualitätsverlust und mit vergleichbaren Ergebnissen verkürzt durchgeführt. Auch eine nochmalige Verkürzung auf insgesamt 20 Behandlungstage und Reduktion des täglichen Behandlungsumfanges auf sechseinhalb Stunden ergab keine Verschlechterung des Ergebnisses. (Hildebrandt et al., 2000) Zum Behandlungsplan des Göttinger Rücken Intensiv Programms (GRIP) gehören Ausdau- ertraining, Sport/ Spiele, Gruppenpsychotherapie, Entspannungstraining (Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson), Koordinationstraining, Muskelfunktionstraining, Work-Hardening, Abwärmen (Entlastungsübungen) in 5 Terminen pro Woche (Montag- Freitag), insgesamt 4 Wochen, pro Termin 6 Stunden Behandlungszeit, zusätzlich Ein- zelbehandlungen (Krankengymnastik, Psychotherapie) (Hildebrandt et al., 1996, 1997).
Bei den Teilnehmern des Programms handelte es sich um ein Patientenklientel mit er- heblicher körperlicher, psychischer und sozialer Beeinträchtigung. Von 73 Patienten, die zuvor im Durchschnitt 9 Monate arbeitsunfähig gewesen waren, arbeiteten zum Zeit- punkt der 12-Monats-Katamnese über 61% wieder. Besonders aussagekräftig ist, daß auch noch 2 Jahre nach der Behandlung dieser Wert stabil war (Hildebrandt et al., 1997)
Als Gesamtersparnis pro Patient in 2 Jahren geben Hildebrandt et al. (1997) an (in DM):
1. Arztkonsultationen: 2.981
2. Medikamente: 946
3. Physikalische Behandlung: 1.438
4. Krankenhausbehandlung: 5.248
5. Stationäre Rehabilitation: 3.176
6. Arbeitsausfallkosten: 53.641
Das ergibt eine Summe von DM 67.430 pro Patient, bzw. DM 33.715 pro Patient und Jahr.
Mit dem die Aktivität der Patienten fördernden GRIP wurden auch Untersuchungser- gebnisse (Wadell, 1987) berücksichtigt, die die Abwendung von passiven Maßnahmen (Ruhe) und die Hinwendung zur aktiven Wiederherstellung der Funktion forderten.
Cassisi et al. berichten 1989 von einer Untersuchung bei 236 Patienten, die wegen chronischer Rückenschmerzen der LWS zum University of Miami Comprehensive Pain and Rehabilitation Center (UMCPRC) überwiesen wurden. 61% dieser Patienten konn- ten telefonisch zu ihren Beschwerden über durchschnittlich 22,5 Monate befragt wer- den. Die Autoren kommen zum Schluß, daß das UMCPRC-Programm ein effektives Programm zur Behandlung chronischer LWS-Schmerzen ist. (Cassisi et al., 1989)
Hinsichtlich der Gruppentherapie von LIS-Patienten liegen kaum kontrollierte Untersuchungen vor. „Patienten mit Wirbelsäulensyndromen“ weisen eine wesentlich höhere Abbrecherquote (36%) auf als „Rheumakranke“ (6%) oder „heterogene Schmerzkranke“ (25%), was angesichts der spezifischen Persönlichkeitsstruktur und des AutonomieAbhängigkeitskonflikts nicht unerwartet scheint (Beutel, 1988).
Um erstmals Daten zur Behandlungseffektivität von Patienten unter vertragsärztlichen Bedingungen zu erhalten, dokumentierten in der Region Mittelfranken Vertragsärzte und deren Patienten am Anfang und am Ende eines 6 Monate dauernden Behandlungsinter- valls Daten zur Ergebnisqualität der Therapie. Von 2.100 angeschriebenen Vertragsärz- ten nahmen 35 (1,7%) Kollegen teil. Nur Patienten, die seit mindestens 4 Wochen über Rückenschmerzen klagten, wurden eingeschlossen. Hierbei wurden 157 Patienten do- kumentiert, wovon 20% bei Studienaufnahme dem Chronifizierungsstadium I nach Ger- bershagen (Gerbershagen, 1986) angehörten, 57% dem Stadium II und 23% dem Stadi- um III. Die Behandlung war nicht standardisiert und enthielt das bekannte Spektrum nicht- operativer Verfahren. Die Schmerzintensität, schmerzbedingte Beeinträchtigung im Alltag, Depressivität und Lebensqualität verbesserten sich zwar signifikant, jedoch waren die mittleren prozentualen Änderungen sowie die Effektstärken klein. Maximal ein Drittel aller Patienten verbesserten sich um 30% und mehr vom Ausgangswert oder im Chronifi- zierungsstadium um eine Stufe. Die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage änderte sich nicht signifikant. Prädiktoren für Therapieresponder konnten nicht gefunden werden. (Lang et al., 2000)
Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß Rückenschmerzen häufig sind und einen gesundheitspolitisch bedeutsamen Kostenfaktor darstellen. Die alleinige somatische Therapie chronischer Rückenschmerzen hat sich als Irrweg erwiesen. Rückenschmerzpatienten können geradezu als Modell bio-psycho-sozialer Zusammenhänge gesehen werden, was sowohl ätiologisch, diagnostisch und therapeutisch gilt.
Multilokuläre Schmerzen
Definition
Hierzu zählen in dieser Untersuchung alle Patienten mit Schmerzen an drei oder mehr Körperregionen. In diese Diagnosegruppe können folgende Diagnosen fallen, sofern dabei Schmerzen an drei oder mehr Körperregionen vorkommen:
1. Fibromyalgie (ICD M79.0)
2. Somatoforme Schmerzstörung (ICD F45.4)
3. Polymyalgia rheumatica (ICD M35.3)
4. Polymyositis (ICD M33.2)
5. Dermatomyositis (ICD M33.1)
6. Tumoren (ICD C80)
7. Entzündlich bedingte Radikulopathien (ICD M54.1)
8. Wurzelkompressionssyndrome (ICD M54.1)
9. Myofasziales Schmerzsyndrom (ICD M79.1)
10. Metastasenschmerzen (ICD C80)
11. Arthralgien (ICD M25.5)
12. Arthroseschmerzen (ICD M19.9)
Viele Patienten aus der Diagnosegruppe „Multilokuläre Schmerzen“ leiden unter Fibromyalgie, deswegen soll dieses Krankheitsbild nachfolgend näher dargestellt werden.
Eine weitere große Gruppe innerhalb der Diagnosegruppe „Multilokuläre Schmerzen“ stellen Patienten mit somatoformer Schmerzstörung, die deswegen nach dem Kapitel „Fibromyalgie“ kurz dargestellt werden soll.
Fibromyalgie und deren Begleitsymptome
Mindestens 11 von 18 Punkten müssen bei digitaler Palpation mit einem Druck von 4 kg/cm2 an definierten Körperstellen schmerzhaft sein. Die Fibromyalgie weist eine hohe Inzidenz von Somatisierungen auf:
1. Trockener Mund
2. Hyperhidrose der Hände
3. Raynaud-Syndrom
4. Orthostatische Kreislaufdysregulation
5. Tremor der Hände
6. Respiratorische Arrhythmie
7. Dermographismus
8. Schlafstörung
9. Erschöpfbarkeit
10. Colon irritabile
11. Globusgefühl
12. Herzbeschwerden
13. Atembeschwerden
14. Urogenitalbeschwerden
15. Par-(Dys-)ästhesien. (Ecker-Egle & Egle, 1993)
Nach Ecker-Egle & Egle (1993) kommen folgende Begleitsymptome häufig bei einer Fibromyalgie vor:
1. Abgeschlagenheit: 78,2%
2. Morgensteifigkeit: 76,2%
3. Schlafstörungen: 75,6%
4. Parästhesien: 67,1%
5. Kopfschmerzen: 54,3%
6. Angst: 44,9%
7. Funktionelle Abdominalbeschwerden: 35,7%.
Die Ätiologie ist weitgehend unbekannt, Hypothesen zur Pathogenese sind wissenschaftlich ungesichert und eine standardisierte Therapie ist strittig. Zur Prognose zeigen Langzeitbeobachtungen, daß durch unterschiedliche Therapiearten zwar das Ausmaß des subjektiven Erlebens der Krankheit verbessert werden kann, eine Beschwerdefreiheit meist jedoch nicht zu beobachten ist. (Ecker-Egle & Egle, 1999)
Der Begriff „Fibromyalgie“ löste seit seiner Einführung 1976 frühere Bezeichnungen wie „Fibrositis“, „generalisierte Tendomyopathie“ oder „Weichteilrheumatismus“ weitgehend ab. Bisher hat sich kein primär somatisches Krankheitskonzept bestätigt, ein eindeutig objektivierbares organisches Substrat hat sich trotz vielfacher Bemühungen nicht nachweisen lassen. (Hausotter, 1998)
Komorbidität
Fibromyalgie imponiert mit multilokulären Schmerzen und nimmt an Bedeutung immer mehr zu, dabei spielt die psychische Komorbidität eine große Rolle.
Epstein et al. (1999) untersuchten an 73 Fibromyalgie-Patienten, ob psychiatrische Komorbidität und psychische Variablen prädiktiv für Fibromyalgie sind. Bei diesen Patienten wurde eine hohe gegenwärtige und Lebenszeitprävalenz für Depression (major depression) und Panikattacken gefunden. Die häufigsten Störungen waren:
1. Depression (major depression): gegenwärtige Prävalenz: 22%, Lebenszeitpräva- lenz: 68%
2. Dysthymia: gegenwärtige Prävalenz: 10%, Lebenszeitprävalenz: fehlt
3. Panikattacken: gegenwärtige Prävalenz: 7%, Lebenszeitprävalenz: 16%
4. Phobie (simple phobia): gegenwärtige Prävalenz: 12%, Lebenszeitprävalenz: 16%
Benjamin et al. (2000) untersuchten mittels Fragebogen eine Zufallsstichprobe aus der Bevölkerung, die 1953 Personen einschloß (75% Rücklaufquote). Die Beziehung zwi- schen chronischem weitverteiltem Schmerz (chronic widespread pain, CWP) und psy- chischen Störungen, wie Angst oder Depression, wurde mittels logistischer Regressions- analyse untersucht. Die Autoren fanden für psychische Störungen eine Prävalenz von 11,9%. Die Wahrscheinlichkeit unter psychischen Störungen zu leiden, war für Patienten mit CWP 3,18 mal höher als für Patienten ohne CWP (Konfidenzintervall: 1,97 bis 5,11). (Benjamin et al., 2000)
Epidemiologie
Am Beispiel der Fibromyalgie soll die Epidemiologie multilokulärer Schmerzen darge-
stellt werden. In Deutschland leiden etwa ein bis zehn Prozent der Bevölkerung an einer Fibromyalgie, Frauen häufiger als Männer.
Die Fibromyalgie hat
1. eine Prävalenz von mind. 1-2% in der Bevölkerung und tritt in Europa wesentlich häufiger auf als die chronische Polyarthritis,
2. kommt bei 3,7-20% aller Rheumapatienten vor,
3. betrifft Frauen 2-3 mal häufiger als Männer und
4. beginnt meistens im 25.-50. Lebensjahr. (Zenz, 1995)
Berg gibt eine Prävalenz von 1 bis 10% des Fibromyalgiesyndroms an. (Berg, 2000)
Keitel gibt für die Fibromyalgie folgende Prävalenz an: 1 bis 10% in verschiedenen In- dustrieländern, 5,8% der Frauen im Alter von 40 bis 60 Jahren in den USA, in Deutsch- land 7,8%. Finanzielle Belastungen erwachsen der Gesellschaft durch Fibromyalgie im gleichen Ausmaß wie durch Arthrosen. Bei einem Viertel der Betroffenen bestünde Ar- beitsunfähigkeit, die Zahl der jährlichen Arbeitsunfähigkeitstage dieser Krankheitsgruppe ist mit 160 in Deutschland fast zehnmal so hoch wie die der Gesamtbevölkerung; in eini- gen Gegenden Norwegens sei die Fibromyalgie die häufigste Ursache der Frühinvalidität bei Frauen. (Keitel, 1999)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 4: Epidemiologie der Fibromyalgie in Deutschland
Mittels Fragebogen (Rücklaufquote: 60%) wurden niederländische Allgemeinmediziner nach dem Vorkommen von CFS und Fibromyalgie befragt. Die daraus geschätzte Präva- lenz von 157 Fibromyalgiepatienten pro 100.000 Einwohner und 112 CFS-Patienten pro 100.000 Einwohner wird von den Autoren als Minimumschätzung bezeichnet. (Bazel- mans et al., 1999)
In einer Zufallsstichprobe von 3.006 Personen in Wichita, Kansas, USA, fand sich eine Prävalenz der Fibromyalgie von 2,0% (95% Konfidenzintervall: 1,4 bis 2,7) für beide Ge-
Geschlechter, 3,4% (95% KI: 2,3 bis 4,6) für Frauen und 0,5% (95% KI: 0,0 bis 1,0) für Männer. Die Prävalenz nahm mit dem Alter zu, wobei sich die höchsten Werte in de Altersgruppe 60 bis 79 Jahre fanden (> 7,0% bei Frauen). (Wolfe et al., 1995)
Bei den Fibromyalgiepatienten überwiegen Frauen deutlich gegenüber Männern, im Ver- hältnis 85 zu 15. Angaben über die Häufigkeit sind sehr unterschiedlich. In den USA be- stehe bei 2% der von Hausärzten betreuten Patienten eine Fibromyalgie, bei 5% der von Internisten betreuten Patienten und bei 10-20% aller Patienten in rheumatologischen Fachkliniken. Es findet sich auch die Angabe von etwa 3% der Bevölkerung. (Hausotter, 1998)
Prävalenz
Beim Rheumatologen sind mindestens 20% der neuen Patienten von Fibromyalgie betroffen, beim Hausarzt mindestens 5%. Auffallend ist die familiäre Häufung: 68% der Fibromyalgie-Kranken haben mindestens einen Verwandten ersten Grades mit der gleichen Erkrankung. Ob dies genetisch bedingt ist oder durch erlernte Verhaltensmuster bei gleichen psychosozialen Bedingungen innerhalb der Familie, bleibt unklar, denn die Ursachen der Erkrankung sind nach wie vor unbekannt.
Beschwerdebild
Die Beschwerden können ein breites Spektrum umfassen: Außer Schmerzen auch Depression, Schlafstörungen oder funktionelle Herzkreislaufbeschwerden.
Inanspruchnahme von Therapie
Fibromyalgiepatienten nehmen häufiger als andere rheumatologische Patienten alternative Therapien in Anspruch (91% versus 63%) und werden mindestens dreimal häufiger operiert (Wirbelsäule, Appendix, Karpaltunnel, Hysterektomie).
Arbeitsunfähigkeit, Berentung, Prognose Die Fibromyalgie ist einer der häufigsten Gründe für Arbeitsunfähigkeit und vorzeitige Berentung. Die Annahme, dass Fibromyalgie nur in Ländern mit modernem Sozialversi- cherungssystem vorkommt, ist umstritten. In einer Studie aus den USA war die Fibromy-
Fibromyalgie-Prävalenz in einer „Amish-Community“ ohne Sozialversicherungssystem sogar höher als in der umgebenden, versicherten „Normalbevölkerung“ (7,2% versus 3,3%). In Großbritannien ist jeder zweite Betroffene nach 4 Jahren nicht mehr berufstätig. Auf der anderen Seite fanden britische Studien heraus, dass bei verweigerter Krankengeldzahlung 50% der Betroffenen nach 2 Jahren geheilt sind. Deutsche Langzeituntersuchungen an über 1000 Patienten über 7 bis 10 Jahre belegen die Hartnäckigkeit der Symptome der Fibromyalgie. Den meisten Patienten geht es im Verlauf nicht besser, auch nicht nach einer im arbeitsfähigen Alter stattfindenden Berentung.
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