Der Schuleintritt ist für jedes Kind und seine Eltern ein besonderer Moment. Ein gelingender Schulstart kann Auswirkungen auf die gesamte Schullaufbahn haben, ebenso wie Lernschwierigkeiten das Selbstbewusstsein, die Lernmotivation und Einstellung zur Schule beeinflussen.
Inwieweit kann sonderpädagogische Förderung dabei helfen, schulischen Lernschwierigkeiten entgegenzuwirken? Welche Kriterien umfasst das aktuelle Konzept der Schulfähigkeit im deutschsprachigen Raum? Inwiefern ist es kompatibel mit methodisch-didaktischen Konzepten der Grundschule? Ist eine Anschlussfähigkeit gewährleistet?
Julia Buck untersucht, inwiefern es möglich ist, die Schulfähigkeit zu fördern, um gravierenden schulischen Lernschwierigkeiten vorzubeugen. Dabei analysiert sie das aktuelle Konzept der Schulfähigkeit und die Strukturen des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule und leitet daraus Konsequenzen für die sonderpädagogische Praxis ab.
Aus dem Inhalt:
- Sonderpädagogik;
- Schulfähigkeit;
- Schulreife;
- Anschlussfähigkeit;
- Lernförderung;
- Förderschwerpunkt Lernen;
- Kindergarten;
- Grundschule
Inhaltsverzeichnis
Abstract
1 Einleitung
1.1 Relevanz für den Förderschwerpunkt Lernen
1.2 Zielsetzung
1.3 Fragestellung
2 Methodisches Vorgehen
2.1 Inhaltlicher Ablauf
3 Das Konzept Schulfähigkeit
3.1 Theorien und Perspektiven
3.2 Individuelle Voraussetzungen / Schulfähigkeitskriterien
3.3 Zwischenfazit
3.4 Wichtigste Erkenntnisse
4 Übergang Kindergarten – Grundschule
4.1 Einschulung – rechtliche Rahmenbedingungen (BW)
4.2 Schuleingangsdiagnostik
4.3 Kooperation Kindergarten – Schule
4.4 Rolle / Auftrag der Sonderpädagogik (Förderschwerpunkt Lernen)
4.5 Anschlussfähigkeit
4.6 Wichtigste Erkenntnisse
5 Schulische Lernschwierigkeiten
5.1 Definition
5.2 Ursachen
5.3 Übergänge – potenziell riskante Situationen
5.4 Prävention gravierender Lernschwierigkeiten
5.5 Vorschulische Förderung
5.6 Wichtigste Erkenntnisse
6 Synthese
6.1 Konzept Schulfähigkeit und Übergang Kindergarten – Grundschule
6.2 Übergang Kindergarten – Grundschule und Prävention Lernschwierigkeiten
6.3 Konzept Schulfähigkeit und Prävention Lernschwierigkeiten
6.4 Rolle und Auftrag sonderpädagogischer Förderung
7 Beantwortung der Fragestellungen
7.1 Beantwortung der Hauptfragestellung 1
7.2 Beantwortung der Hauptfragestellung 2
8 Reflexion
8.1 Arbeitsprozess und forschungsmethodisches Vorgehen
8.2 Grenzen und Ausblick
Verzeichnisse
Literaturverzeichnis
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
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Impressum:
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Abstract
Diese Masterarbeit befasst sich mit der Möglichkeit, über sonderpädagogische Förderung der Schulfähigkeit, Lernschwierigkeiten präventiv entgegenzuwirken. In dieser Literaturarbeit wird über eine Literaturanalyse ein aktuelles Konzept der Schulfähigkeit definiert und mit den theoretischen Grundlagen zum Übergang vom Kindergarten in die Grundschule und der Prävention von Lernschwierigkeiten verknüpft. Es soll aufgezeigt werden, inwieweit sonderpädagogische Förderung im Hinblick auf das Konzept der Schulfähigkeit einen Beitrag zur Prävention von Lernschwierigkeiten leisten kann. Die Arbeit zeigt, dass ein aktuelles Konzept der Schulfähigkeit multidimensional ist und sonderpädagogische Förderung an allen Dimensionen ansetzen und so einen Beitrag zur Prävention von Lernschwierigkeiten leisten kann. Es lassen sich unterschiedliche Konsequenzen für die sonderpädagogische Praxis ableiten.
1 Einleitung
Der Schuleintritt ist für jedes Kind und seine Eltern ein besonderer Moment. Ein gelingender Schulstart kann, ebenso wie frühe schulische Misserfolge, Auswirkungen auf die gesamte Schullaufbahn haben. Einige Kinder haben bereits im Anfangsunterricht Schwierigkeiten, die Lernziele zu erreichen und mit der den anderen Kindern Schritt zu halten. Anhaltende Lernschwierigkeiten können Auswirkungen auf das Selbstbewusstsein, die Lernmotivation und Einstellung zur Schule haben. Nicht selten ziehen schulische Lernschwierigkeiten emotionale und soziale Folgestörungen nach sich. Lernschwierigkeiten werden dann sichtbar, wenn Leistungsanforderungen an Kinder gestellt und Leistungen gemessen werden (Barth, 2012). Der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule stellt in Bezug auf die Entwicklung von Lernschwierigkeiten eine potenziell riskante Situation dar. In der Schule werden Kinder mit neuen Anforderungen im sozial-emotionalen und sprachlich-kognitiven Bereich sowie in der Selbstregulation konfrontiert. Die Kinder wechseln von einem eher spielerisch unstrukturierten Setting in ein formal strukturiertes Lernumfeld. Nicht allen Kindern gelingt dieser Übergang problemlos (Gold, 2018). Barth (2012, S.11) stellt zum Thema Übergang zwei Thesen auf:
1. „Der Übergang vom Kindergarten zur Grundschule hat in Deutschland bisher noch keine überzeugende Struktur und pädagogische Konzeption gefunden.
2. Viele Kinder versagen in der Grundschule, weil die Ursachen ihrer Lernschwierigkeiten zu spät erkannt werden.“
Der Kindergarten und die Grundschule stellen in Deutschland historisch bedingt zwei getrennte und strukturell wenig aufeinander abgestimmte Bildungsinstitutionen dar (Faust, Wehner & Kratzmann, 2013). Trotz zahlreicher Bemühungen einer besseren Kooperation und Anschlussfähigkeit zwischen den Institutionen in den letzten Jahren stellt der Übergang vom Kindergarten in die Schule immer noch eine besondere Herausforderung dar. Etwa 15 Prozent aller Kinder zeigen bereits im Anfangsunterricht beständige Lernschwierigkeiten. Diese Zahlen weisen darauf hin, dass die Übergangsproblematik auch den Anschluss an das schulische Lernen beeinflusst (Barth, 2012). Barth (2012) hält weiterhin fest, dass häufig viel zu spät nach den Ursachen und Wurzeln von Lernschwierigkeiten gesucht wird. Nämlich erst dann, wenn „das Kind durch seine Misserfolge und [die] Reaktionen seiner sozialen Umwelt bereits zusätzlich neurotisiert wurde“ (Barth, 2012, S.35).
Es stellt sich also die Frage, wie vermieden werden kann, dass so viele Kinder am Übergang scheitern und Lernschwierigkeiten entwickeln. Welche Anforderungen stellen der Eintritt in die Schule und das schulische Lernen an Kinder? Über welche Verhaltensmerkmale und Lernvoraussetzungen muss ein Kind verfügen, um den Übergang vom Kindergarten in die Schule erfolgreich zu bewältigen? Inwiefern sind Eltern, Kindergarten und Schule daran beteiligt, den Übergang gemeinsam mit dem Kind zu bewältigen? Antworten auf diese Fragen werden in der Theorie schon lange gesucht. Das Konzept „Schulfähigkeit“ soll all die Dimensionen erfassen, welche beim Eintritt in die Schule relevant sind. Schulfähigkeit entsteht im Zusammenwirken aller am Übergang beteiligten Personen. Die konkreten Vorstellungen von Schulfähigkeit unterscheiden sich aber je nach Interessensgruppe und spiegeln unterschiedliche Erwartungshaltungen und Perspektiven auf das Konzept (Stamm, 2019).
Was das aktuelle Konzept der Schulfähigkeit ausmacht, wie der Übergang vom Kindergarten in die Schule geregelt ist und gestaltet wird und welche Möglichkeiten schulischer Prävention im Hinblick auf die Schulfähigkeit bestehen, soll Gegenstand dieser Arbeit sein.
1.1 Relevanz für den Förderschwerpunkt Lernen
In der Pädagogik der Lernschwierigkeiten erweisen sich die Prävention und Frühförderung zunehmend als zentrales Arbeitsfeld, was unter anderem mit neueren Erkenntnissen der Lern- und Entwicklungspsychologie zusammenhängt. Probleme im Lernen sollten rechtzeitig erkannt und behandelt werden (Heimlich, 2016). Ansonsten besteht die Gefahr, dass aus Problemen im Lernen Lernschwierigkeiten werden und damit Bildungsrisiken entstehen. Lernschwierigkeiten können sich in einem gravierenden schulischen Leistungsversagen manifestieren (Gold, 2018). In den „Empfehlungen zur schulischen Bildung, Beratung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen im sonderpädagogischen Schwerpunkt Lernen“ der Kultusministerkonferenz vom 14.03.2019 ist festgehalten, dass sonderpädagogische Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsangebote mit der Phase des Übergangs in die Primarstufe beginnen und die Schulzeit bis zum Übergang in die berufliche Bildung abdecken. Zu sonderpädagogischen Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsangeboten mit präventiver Wirkung macht die Kultusministerkonferenz (2019, S.9) folgende Aussagen:
Durch frühzeitige und präventiv wirkende sowie systematisch angelegte und systembezogene Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsangebote der allgemeinen Schule sowie der Sonderpädagogik gelingt es, grundlegende Bereiche der Lernentwicklung von Kindern und Jugendlichen so zu stärken, dass eine ihren Voraussetzungen entsprechende schulische Bildung möglich wird. Dies ist Aufgabe aller Schulen und erfordert im Einzelfall entsprechende personelle, pädagogische und räumlich-sächliche Voraussetzungen. Grundlage frühzeitiger Unterstützungsangebote und vorbeugender Maßnahmen ist ebenfalls eine Planung individueller Bildungsangebote (Förderplanung).
Je früher man Lernschwierigkeiten entdeckt, desto früher können Beratungs- und Förderangebote erfolgen und umso geringer fallen die negativen Auswirkungen auf die weitere Persönlichkeitsentwicklung aus. Früherkennung und Prävention sind zentral, wenn es um die Vermeidung eines Teufelskreises von Lernschwierigkeiten, Schulversagen, Schulunlust und Verschlechterung des Selbstwertgefühls geht (Barth, 2012). In Bezug auf das Risiko einer Entwicklung von Lernschwierigkeiten stellt der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule eine riskante Situation dar. Laut Albers und Lichtblau (2014) weisen Forschungsergebnisse nach, dass Kinder aus bildungsfernen und benachteiligten Familien übermäßig häufig Probleme beim Übergang zeigen. Die Autoren halten fest, dass es daher besonders wichtig ist, diese Kinder intensiv zu unterstützen. Das Wissen um die Problematik von Übergängen im Bildungssystem sowie um Risikofaktoren individueller Lernentwicklung muss dazu führen, dass Lernsituationen, -umwelten und -hilfen so gestaltet werden, dass Lernschwierigkeiten in ihrem Ausmaß und Schweregrad möglichst geringgehalten werden (Gold, 2018).
Eine Analyse des Konzepts der Schulfähigkeit kann Ansatzpunkte für die sonderpädagogische Prävention im Förderschwerpunkt Lernen bieten.
1.2 Zielsetzung
Diese Arbeit soll im Sinne der Prävention von Lernschwierigkeiten untersuchen, inwiefern es möglich ist, die Schulfähigkeit zu fördern, um gravierenden schulischen Lernschwierigkeiten vorzubeugen. Ziel dieser Masterarbeit ist die Verknüpfung der drei Themenbereiche „Konzept der Schulfähigkeit“, „Übergang Kindergarten – Grundschule“ und „Prävention von Lernschwierigkeiten“.
Die Analyse des Konzepts der Schulfähigkeit sowie der Strukturen des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule soll aufzeigen, an welchen Stellen sonderpädagogische Prävention ansetzen kann, um schulischen Lernschwierigkeiten vorzubeugen. Aus den Erkenntnissen sollen Schlussfolgerungen für die sonderpädagogische Praxis im Förderschwerpunkt Lernen gezogen werden.
1.3 Fragestellung
Aus den oben dargestellten Überlegungen ergeben sich folgende zwei Fragestellungen. Die erste Fragestellung wird durch mehrere Unterfragestellungen präzisiert.
1) Inwieweit kann sonderpädagogische Förderung im Hinblick auf das Konzept der Schulfähigkeit einen Beitrag zur Prävention von schulischen Lernschwierigkeiten leisten?
- Welche Kriterien/Dimensionen umfasst das aktuelle Konzept der Schulfähigkeit im deutschsprachigen Raum?
- Inwiefern ist das aktuelle Konzept der Schulfähigkeit kompatibel mit methodisch-didaktischen Konzepten der Grundschule? Ist eine Anschlussfähigkeit gewährleistet?
- Welche Rolle spielt und welchen Auftrag hat die sonderpädagogische Förderung im Übergang vom Kindergarten in die Grundschule?
- Wie werden gravierende schulische Lernschwierigkeiten definiert, wie entstehen diese und wie kann ihnen präventiv entgegengewirkt werden?
2) Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Analyse des Konzepts der Schulfähigkeit und der Strukturen im Übergangsbereich sowie den Erkenntnissen zur Prävention von Lernschwierigkeiten für die sonderpädagogische Praxis im Förderschwerpunkt Lernen?
2 Methodisches Vorgehen
Die vorliegende Masterarbeit wird als Literaturarbeit verfasst. In Anlehnung an Dahinden, Sturzenegger und Neuroni (2014) wird diese Literaturarbeit anhand der nachfolgend vorgestellten Arbeitsschritte verfasst. Es werden einzelne Schritte hinzugefügt, weggelassen oder kombiniert. In nachfolgender Tabelle werden die Arbeitsschritte einzeln vorgestellt und ihre Umsetzung in dieser Masterarbeit erläutert.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Forschungsmethodisches Vorgehen in Anlehnung an Dahinden et al. (2014)
2.1 Inhaltlicher Ablauf
Grundlage der Arbeit bildet zunächst die theoretische Auseinandersetzung mit Konzepten und Theorien zur Schulfähigkeit. Ziel der Analyse ist eine Definition eines aktuellen Konzepts der Schulfähigkeit im deutschsprachigen Raum. Es soll aufgezeigt werden, was Schulfähigkeit ausmacht und wie Schulfähigkeit erreicht werden kann.
In einem zweiten Schritt wird der Übergang zwischen Kindergarten und Grundschule sowie deren Anschlussfähigkeit fokussiert. Zunächst einmal wird dargestellt, wie der Übergang im Bundesland Baden-Württemberg abläuft und welche rechtlichen Rahmenbedingungen gelten. Um den Umfang dieser Arbeit nicht zu überschreiten, wird sich bei der Darstellung der Theorie auf das Bundesland Baden-Württemberg beschränkt. In Bezug auf die Anschlussfähigkeit von Kindergarten und Schule wird dargestellt, wo die Herausforderungen liegen und welche Aussagen zu methodisch-didaktischen Konzepten in der Schuleingangsphase in den Grundschulcurricula zu finden sind. In der Synthese soll später dargestellt werden, inwiefern das Konzept der Schulfähigkeit mit aktuellen methodisch-didaktischen Konzepten der Grundschule kompatibel ist und eine Anschlussfähigkeit in dieser Hinsicht gewährleistet ist. Danach wird die Kooperation zwischen Kindergarten und Grundschule näher betrachtet. Es wird erläutert, welche Akteure an der Kooperation zwischen Kindergarten und Grundschule beteiligt sind und welche Vorgaben bezüglich der Kooperation in Baden-Württemberg existieren. In diesem Zusammenhang soll die Rolle der sonderpädagogischen Förderung im Förderschwerpunkt Lernen beleuchtet werden.
Die Prävention schulischer Lernschwierigkeiten bildet den dritten Teil der theoretischen Grundlagen. Auch hier soll über ein umfassendes Literaturstudium eine Auseinandersetzung mit den theoretischen Grundlagen und aktueller Forschung zur Prävention von schulischen Lernschwierigkeiten stattfinden. Zunächst wird dargestellt, wie schulische Lernschwierigkeiten zu definieren sind, welche Ursachen sie haben und welche Kinder besonders gefährdet sind, schulische Lernschwierigkeiten zu entwickeln. Anschließend wird auf die Prävention gravierender Lernschwierigkeiten eingegangen. Es werden zunächst die Ebenen der Prävention vorgestellt, bevor auf konkrete Maßnahmen im Bereich des letzten Kindergartenjahres eingegangen wird. In der Synthese werden die drei Themenbereiche „Konzept der Schulfähigkeit“, „Übergang Kindergarten – Grundschule“ und „Prävention von Lernschwierigkeiten“ verknüpft.
Zunächst wird das Konzept der Schulfähigkeit dargestellt und mit den Übergangsbedingungen in Bezug gesetzt. Dabei wird insbesondere auf die Anschlussfähigkeit der Schuleingangsstufe und des Konzepts der Schulfähigkeit eingegangen. Die Anforderungen der Schuleingangsphase werden den Kriterien der Schulfähigkeit gegenübergestellt. Es werden Schnittstellen identifiziert und Herausforderungen aufgezeigt.
Anschließend werden der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule und die Prävention von Lernschwierigkeiten in Bezug gesetzt. Es wird aufgezeigt, wo Verbindungen bestehen, welche Risiken für die Entstehung von Lernschwierigkeiten im Übergang bestehen und an welchen Stellen im Übergang Prävention einsetzen kann/soll.
Danach werden die theoretischen Grundlagen zum Konzept der Schulfähigkeit und der Prävention der Lernschwierigkeiten miteinander verglichen und vernetzt. Es wird aufgezeigt, an welchen Variablen des Konzepts der Schulfähigkeit Prävention ansetzen kann.
In einem letzten Schritt wird die Rolle der sonderpädagogischen Förderung im Übergang geklärt. Die sonderpädagogische Förderung wird dem Konzept der Schulfähigkeit gegenübergestellt. Es soll aufgezeigt werden, an welchen Stellen des Konzepts sonderpädagogische Förderung sinnvollerweise ansetzt. Anschließend werden die Rolle und der Auftrag der sonderpädagogischen Förderung im Übergang vom Kindergarten in die Grundschule geklärt. Zuletzt wird erläutert, welche Rolle sonderpädagogische Förderung im Übergang in der Prävention von Lernschwierigkeiten spielt und wie sonderpädagogische Förderung im Übergang Prävention von Lernschwierigkeiten umsetzt. In Kapitel 7 werden die Fragestellungen inklusive der Unterfragestellungen beantwortet. Es folgt in Kapitel 8 die Reflexion des Arbeitsprozesses und des forschungsmethodischen Vorgehens und ein Ausblick auf Ansatzpunkte und Möglichkeiten weiterer Forschung.
3 Das Konzept Schulfähigkeit
In diesem Kapitel wird ein Überblick über die historische Entwicklung des Konzepts der Schulfähigkeit gegeben. Darüber hinaus werden unterschiedliche Vorstellungen und Perspektiven von Schulfähigkeit näher beleuchtet. Zuletzt wird auf individuelle Voraussetzungen beziehungsweise Schulfähigkeitskriterien eingegangen.
3.1 Theorien und Perspektiven
Zunächst wird die historische Entwicklung des Konzepts der Schulfähigkeit beleuchtet. Es wird dargestellt, wie die Einschulung geregelt war und welche Kriterien ein Kind erfüllen musste, um in die Schule eintreten zu können. Es werden verschiedene Perspektiven und zugrunde liegende Theorien der Schulfähigkeit erläutert.
3.1.1 Historische Entwicklung
Bereits im 16. Jahrhundert enthielten die Schulordnungen Hinweise auf die Regelung der Einschulung und forderten Eltern dazu auf, ihr Kind in die Schule zu schicken, wenn es vernünftig genug sei. In der Braunschweigischen Schulordnung von 1528 heißt es: „Wenn aber die Zeit kommt, dass sie beginnen vernünftig zu werden … Dann ist es Zeit! Dann wird von uns gefordert, dass man sie belehren soll“ (Dietrich & Klink, 1964, S. 5; zit. nach Rüdiger, Kormann & Peez, 1976, S. 14). Die Schulreife wurde zu dieser Zeit auch durch den ersten Schulreifetest, den „Gulden-Apfel-Test“, festgestellt. Ein Kind galt als schulreif, wenn es statt eines Apfels einen Pfennig wählte. Die Schulreife hing damals stark mit der allgemeinen Lebensreife zusammen (Kammermeyer, 2000).
Im 17. Jahrhundert gewann das Lebensalter im Hinblick auf die Einschulung immer mehr an Bedeutung. In verschiedenen Schulordnungen wurden das fünfte beziehungsweise das sechste Lebensjahr als Einschulungszeitpunkte festgelegt. Die Braunschweigische Schulordnung von 1651 setzte als Maßstab für die Einschulung „eine gewisse für den Unterricht erforderliche Sprachtüchtigkeit“ (Rüdiger et al., 1976, S.14). Auch Comenius verband die beiden Kriterien Lebensalter und Entwicklungsstand in seiner Empfehlung für die Einschulung. Die Einschulung sollte mit dem vollendeten sechsten Lebensjahr erfolgen. Der richtige Zeitpunkt der Einschulung hinge aber mit der „Beherrschung der in der „Mutterschul“ vermittelten Fähigkeiten, aufmerksamer und vernünftiger Beantwortung von Fragen und einer gewissen Motivation für „höhere“ Unterweisung“ (Rüdiger et al., 1976, S.14) zusammen. Das reale Einschulungsalter schwankte daher damals zwischen dem fünften und siebten Lebensjahr.
Zur Zeit der Aufklärung kam es zur Verstaatlichung des Schulwesens. Der Zugang zur verbindlichen Pflichtschule war nun staatlich-gesetzlich geregelt. Die Frage einer Regelung zur Einschulung wurde zunehmend bedeutsamer. Der Anfang und das Ende der Schulpflicht wurden exakter festgelegt. Die Einschulung in der Zeit vor dem 20. Jahrhundert erfolgte in Deutschland zwischen dem vollendeten fünften und dem siebten Lebensalter. Neben dem Einschulungsalter spielten auch der allgemeine Entwicklungsstand und kognitive Kompetenzen eine Rolle. Bis zu den 50er Jahren wurde die Schulreife nach einer körperlichen und geistigen Reife beurteilt. Es gab wie heute die drei Optionen altersgemäße Einschulung, Zurückstellung oder vorzeitige Einschulung (Rüdiger et al., 1976).
3.1.2 Konzept der Schulreife nach Artur Kern
Der Studienrat Artur Kern erregte 1951 mit seinem Buch „Sitzenbleiberelend und Schulreife – ein psychologisch-pädagogischer Beitrag zu einer inneren Reform der Grundschule“ (Kern, 1951) großes Aufsehen und entfachte eine bildungspolitische Diskussion. Anlass für seine Überlegungen war die zu der Zeit sehr hohe Quote der Sitzenbleiber. Gut ein Drittel aller Schülerinnen und Schüler wurde während seiner achtjährigen Schullaufbahn nicht versetzt. Die Zahlen in der ersten Klasse waren dabei besonders hoch. Kern sah als Ursache nicht die mangelnde Begabung, was bis anhin als Grund angenommen wurde, sondern eine fehlende Reife zum Zeitpunkt des Schuleintritts. Dies spiegelt sich auch in einer seiner bekanntesten Aussagen wider: „… jedes Kind, extrem schwache Begabung (Idiotie und Imbezilität ausgenommen), erreicht im Laufe seiner Entwicklung einmal eine Entwicklungsphase, der jenes Leistungsgefüge zugeordnet ist, das als Voraussetzung für ein erfolgreiches Durchlaufen der Schule angesetzt werden muss. Das eine Kind kommt lediglich früher, das andere später zu diesem Entwicklungszeitpunkt“ (Kern, 1951, S.67; zit. nach Knörzer, Grass & Schumacher, 2007, S.118) Seine Hypothese war, dass eine Verringerung der Quote der Sitzenbleiber nur möglich ist, wenn die Kinder zu einem Zeitpunkt eingeschult werden, an dem sie „reif“ für die Schule sind (Knörzer et al., 2007).
Kern stellte diese Überlegungen vor dem Hintergrund des damals aktuellen psychologischen Forschungsstands namhafter Entwicklungspsychologen an. Die Grundannahmen der damals gültigen Reifetheorie lassen sich laut Knörzer et al. (2007, S.117) wie folgt zusammenfassen:
- Endogene Faktoren beeinflussen die Entwicklung. Die Entwicklung kann durch Umweltfaktoren zwar gebremst, aber nicht beschleunigt werden.
- Ein innerer Bauplan gibt vor, wie sich die Entwicklungsschritte vollziehen.
- Eine Entwicklungsstufe muss vollständig abgeschlossen sein, bevor die nächste begonnen wird. Keine Entwicklungsstufe kann ausgelassen werden.
- Die Entwicklung unterschiedlicher Kompetenzen erfolgt im Gleichschritt. Daher kann vom Entwicklungsstand einer Kompetenz auf den Entwicklungsstand einer anderen Kompetenz geschlossen werden.
Hacker (1998) hält fest, dass Kern diese Annahmen auf seine Theorie zur Schulreife übertrug. Er war der Ansicht, dass zum Schuleintritt jedes Kind einen gewissen Reifezustand erreichen muss, um die schulischen Anforderungen bewältigen zu können. Der Reifezustand bezieht sich vorwiegend auf kognitive Kompetenzen. Kern entwickelte auch einen Grundleistungstest zur Überprüfung des Reifegrades. Nach damaligen Kriterien galt der Test als weitgehend objektiv. Überprüft wurden die visuelle Gliederungsfähigkeit, die feinmotorischen Fertigkeiten, die simultane Mengenerfassung sowie das Symbol-, Regel- und Sprachverständnis ( Rauer, 1984; zit. nach Hacker, 1998). Die biologische und geistige Reife waren nach Kerns Ansicht weitestgehend genetisch bedingt und von außen nicht forcierbar. Kinder mit Entwicklungsverzögerungen sollten deshalb vom Schulbesuch zurückgestellt werden und ein Jahr „nachreifen“. Niesel, Griebel & Netta (2008) halten fest, dass als Konsequenz dieser Überlegungen das Einschulungsalter in Deutschland auf fast sieben Jahre angehoben wurde. So wollte man die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass alle Kinder die Schulreife erreichten.
Die Reifungstheorie von Artur Kern wurde bald angezweifelt. Laut Niesel et al. (2008) zeigten empirische Untersuchungen, dass schulrelevante Kompetenzen durch Umweltfaktoren stärker beeinflussbar waren als durch Reifung. Es wurde nachgewiesen, dass sich unter anderem die Aufmerksamkeit, die Wahrnehmungsdifferenzierung, die Gestaltgliederungsfähigkeit und die Problemlösefähigkeit durch Übung verbessern ließen. Auch ein Zusammenhang zwischen Elternhaus und Schulfähigkeit wurde belegt. Untersuchungen ergaben, dass Kinder aus Familien mit einem höheren sozio-ökonomischen Kapital früher schulreif waren. Ausschlaggebendes Argument für die Widerlegung Kerns Theorie war die Tatsache, dass die Quote der Sitzenbleiber nicht abnahm, sondern tendenziell anstieg (Hasselhorn & Lohaus, 2008; zit. nach Niesel et al., 2008). Kerns Annahme von der Schulreife als Ergebnis genetisch vorgegebener, von der Umwelt nicht beeinflussbarer Entwicklung, konnte nicht lange aufrechterhalten werden. Dennoch gilt auch heute noch mancherorts die Überzeugung, dass Kindern durch ein höheres Alter der Schuleintritt erleichtert werden kann (Niesel et al., 2008).
3.1.3 Eigenschaftstheoretischer Ansatz
Laut Niesel et al. (2008) beruht das eigenschaftstheoretische Konzept auf der Annahme, dass der Schulerfolg aus den Eigenschaften und Fähigkeiten eines Kindes vorhergesagt werden kann. Die Eigenschaftstheorie geht davon aus, dass Menschen über eine Reihe relativ stabiler Eigenschaften verfügen, über die man ziemlich genaue Vorhersagen über das Verhalten eines Menschen treffen kann. Mittels Tests wurde versucht, unterschiedliche Aspekte der Schulfähigkeit zu messen. Verfügte ein Kind in einem ausreichenden Maß über diese Fähigkeiten, wurde es als schulfähig angesehen. Nach Kammermeyer (2000) hatten die auf der Grundlage dieser theoretischen Vorstellung konzipierten Schulfähigkeitstests das Ziel der Selektion. Die Tests überprüften unterschiedliche Schulfähigkeitskriterien, wie Gliederungsfähigkeit, Mengenerfassung, Wahrnehmung (Formdifferenzierung), Sprache, Gedächtnis, Konzentration (Kammermeyer, 2000, S.20). Aufgrund des Testergebnisses wurde dann die Entscheidung über eine Aufnahme in die Schule oder eine Zurückstellung gefällt. Kammermeyer (2000, S.20) hält dazu fest: „Wenn von solchen Leistungen auf Schulfähigkeit geschlossen wird, bedeutet dies, dass es weitgehend vorbestimmt ist, was ein Kind in der Schule leisten wird und dass dies nur wenig verändert werden kann“. Verschiedene empirische Untersuchungen zeigten aber bald, dass eine Vorhersage des Schulerfolgs mit Hilfe der Schulfähigkeitstests nicht gelang. Rund die Hälfte der noch nicht schulfähig eingestuften Kinder, schaffte die Grundschule ohne Probleme (Krapp, 1989; Griebel & Minsel, 2007; zit. nach Niesel et al., 2008).
3.1.4 Lerntheoretischer Ansatz
In den 60er Jahren wurden die bisherigen Vorstellungen von Schulreife und Schulfähigkeit durch einen lerntheoretischen Ansatz abgelöst. Der Begriff Schulreife wurde weitläufig durch den Begriff Schulfähigkeit ersetzt. Das lernorientierte Entwicklungskonzept beruht auf der Annahme, dass die Vielfalt und Qualität von Anregungen durch die Umwelt die Entwicklung eines Kindes maßgeblich beeinflussen. Frühkindliche und vorschulische Lernerfahrungen gewannen hinsichtlich der Schulfähigkeit stark an Bedeutung (Barth, 2012). Kemmler und Heckhausen (1969) konnten bereits 1962 die Trainierbarkeit der Gliederungsfähigkeit nachweisen. Somit konnte widerlegt werden, dass es sich bei dieser Fähigkeit um ein stabiles Persönlichkeitsmerkmal oder ein reifungsabhängiges Merkmal handelte.
Ziel der Schulfähigkeitsdiagnostik war jetzt nicht mehr die Selektion, sondern vielmehr eine Modifikation, „die eine Optimierung durch eine Veränderung des Verhaltens und/oder von Bedingungen sucht“; (Pawlik, 1976, S.16; zit. nach Kammermeyer, 2001, S.98). Die Tests sollten jetzt messen, ob die für ein Lernziel erforderlichen Lernvoraussetzungen vorhanden waren. Die Erfassung der Schulfähigkeit erfolgte nun über die Erfassung der Lernvoraussetzungen, die notwendig sind, um die Anforderungen der ersten Klasse bewältigen zu können. Die Schulfähigkeit wurde damit ein relativer Begriff, da sie vom Kind, dem Anregungsgehalt seiner Umwelt sowie den Anforderungen der Schule abhing (Kammermeyer, 2000).
Nach Barth (2012) führte das neue Verständnis von Schulfähigkeit zu einem starken Förderoptimismus. Mit der Annahme, dass die Lernvoraussetzungen der Kinder beeinflussbar waren, wurden die Kinder mit vorwiegend kognitiver Frühförderung auf den Schulstart vorbereitet. Die Frühförderung war systematisch institutionell geplant und sollte zum Beispiel durch Vorschulmappen zu einem erleichterten Übergang in die Schule beitragen. Die Frühfördermaßnahmen wurden bald heftig kritisiert und abgelehnt, da sie den Kritikern zu einseitig und lediglich an den kognitiven Kompetenzen orientiert waren.
3.1.5 Ökosystemischer Ansatz
Der ökosystemische Ansatz basiert auf der ökologischen Betrachtungsweise nach Bronfenbrenner (1989). Bronfenbrenner ging davon aus, dass sich alle Lebewesen an ihre Umwelten anpassen und in Symbiose mit ihnen leben. Die Betrachtung eines Individuums muss daher immer im Kontext mit der jeweiligen Umwelt geschehen. Die Umwelt, in der wir Menschen uns bewegen, umfasst die materiellen Gegebenheiten, Interaktionen, Institutionen und das gesamte gesellschaftliche System. Bronfenbrenner hat diese Umwelt als eine Reihe einzelner ineinander verschachtelter Systeme beschrieben (Oerter, 2002; zit. nach Faust, 2013).
In den 80er Jahren entwickelte Nickel (1981, 1988, 1990, 1992) basierend auf Bronfenbrenners Modell eine ökosystemische Sichtweise auf die Einschulungsproblematik. Dabei verwendete Nickel wieder den Begriff der Schulreife. Kammermeyer (2000) hält fest, dass Nickel das Konstrukt inhaltlich neu definierte und eine begriffliche Abgrenzung nicht für nötig hielt, da auch Begriffe wie „Hochschulreife“ oder „Berufsreife“ nicht mit der Reifungstheorie in Beziehung stehen. Nach dem Modell von Nickel umschloss die Perspektive auf Schulfähigkeit zum ersten Mal nicht nur das Kind mit seinen individuellen Voraussetzungen und die Schule mit ihren Anforderungen, sondern auch die ganze Umwelt des Kindes mit ihren unterschiedlichen Ökosystemen. Nickel erkannte, dass sich ein Kind in verschiedenen Ökosystemen bewegt, welche in Wechselbeziehungen miteinander stehen (Kammermeyer, 2001). Nach dem ökosystemischen Ansatz stellt der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule einen Übergang von einem Lebensbereich in einen anderen dar. Solche Übergänge muss ein Mensch immer wieder bewältigen, zum Beispiel beim Eintritt in den Kindergarten, die Schule, die Hochschule und später in die Berufswelt. Den Übergängen sind für die Entwicklung eines Menschen von besonderer Bedeutung und können Weichen stellen. Wird ein Mensch mit neuen Lebensbedingungen konfrontiert, kann er den Anforderungen entweder gewachsen sein oder die Anforderungen sind so hoch, dass diese nicht bewältigt werden können. Im ersteren Fall können passende Anforderungen als Entwicklungsimpulse wirken, Leistungsbereitschaft steigern und das Individuum gestärkt aus der Herausforderung herausgehen lassen. Sind die Anforderungen aber zu hoch, kann es zu einer Entwicklungskrise mit negativen Folgen kommen (Nickel & Schmidt-Denter, 1995; zit. nach Nickel, 1988, 1990; Lompscher & Nickel, 1995).
Die Frage, ob ein Kind bereit für die Schule ist oder nicht, ist mit dieser Perspektive nicht mehr so eindimensional zu beantworten. Die Schulreife ergibt sich nach Lompscher und Nickel (1995) nicht mehr nur aus den Wechselwirkungen zwischen den individuellen Lernvoraussetzungen und den schulischen Anforderungen. Es muss auch beachtet werden, inwiefern diese beiden Komponenten von ökologischen und gesellschaftlichen Faktoren beeinflusst werden. Solche Faktoren können der Anregungsgehalt der Umwelt, besondere Lebensumstände, körperliche Voraussetzungen oder Leistungserwartungen sein. Die drei Bereiche schulische Anforderungen, individuelle Lernvoraussetzungen und ökologische Einflüsse stehen eng miteinander in Beziehung und beeinflussen sich gegenseitig. Nickel (1988; zit. nach Kammermeyer, 2000, S.25) begründet seine Sichtweise folgendermaßen:
Schulanfänger mit ähnlichen Testwertpunkten haben in verschiedenen Schulen und teilweise sogar in Parallelklassen derselben Schule unterschiedliche Erfolgschancen, je nach Qualität des Anfangsunterrichts und nach Art des Verhaltensstils der Lehrer. Schulische Anforderungsschwellen variieren von Land zu Land, von Schule zu Schule, sogar von Klasse zu Klasse, wie sich an der unterschiedlichen Zahl der Klassenwiederholungen und der Zurückstellungen zeigt. Es gibt durchaus Schulsysteme, in denen das Schulreifeproblem keine Rolle spielt. Auch bei uns gibt es Schulen, wie z.B. Montessori-Schulen, in denen die Schule aufgrund ihres hochgradig individualisierenden Unterrichts ihre Anforderungsschwellen flexibel den jeweiligen Lernvoraussetzungen der einzelnen Schüler anpassen kann.
Das unten dargestellte ökosystemische Schulreifemodell nach Nickel (1988) umfasst vier Teilkomponenten:
1) Schule: Die schulischen Anforderungen betreffen das Schulsystem und damit die strukturellen Anforderungen, die inhaltlichen Anforderungen im Sinne von Lernzielen, Lehrplänen etc. und letztlich die spezifischen Unterrichtsbedingungen in einer Klasse.
2) Schüler: Die Voraussetzungen auf der Ebene des Schülers beinhalten die körperlichen Voraussetzungen, die kognitiven Voraussetzungen sowie motivationale und soziale Voraussetzungen.
3) Ökologie: Die Teilkomponente Ökologie umfasst die familiären, vorschulischen und schulischen Lernumwelten. Lompscher und Nickel (1995) betonen die Bedeutung der gegenseitigen Unterstützung der drei ökologischen Bereiche. Die Kluft zwischen Vorschule und Schule darf dabei nicht zu groß sein und die Familie muss von Anfang an eine gute Beziehung zu schulischen Einrichtungen haben. Nur so ist ein reibungsloser Übergang möglich.
4) Gesamtgesellschaftliche Bedingungen: Die drei erläuterten Teilkomponenten müssen immer vor dem Hintergrund der gesamtgesellschaftlichen Bedingungen betrachtet werden. Dazu zählen Ziel- und Wertvorstellungen, soziale und wirtschaftliche Strukturen sowie die gesellschaftliche Einstellung zum Leistungsverhalten (Lompscher & Nickel, 1995).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Ökosystemisches Schulreifemodell (nach Nickel, 1988, in Kammermeyer, 2000, S.24)
3.1.6 Transitionsansatz
Die ökologische Perspektive nach Bronfenbrenner (1989) war nach Faust (2013) auch für den Transitionsansatz eine wichtige Grundlage. Der Transitionsansatz versucht die Übergangsbewältigung im Leben eines Menschen zu erklären. Übergänge geschehen nicht einfach so, sondern werden aktiv bewältigt. Die Bewältigung von Übergängen geschieht über einen Austausch und eine Verständigung aller Beteiligten. Der Übergang wird nach den Transitionsansatz „ko-konstruiert“ (Griebel, 2006).
Griebel und Niesel (2011) entwickelten am Staatsinstitut für Frühpädagogik, München (IFP) das sogenannte IFP-Transitionsmodell. In ihrem Modell stellen sie die Ebenen der Eltern und Kinder der professionellen Ebene gegenüber. Das Modell fokussiert dabei vor allem die zwei Aspekte Veränderungen und ihre Strukturen sowie den ko-konstruktiven Ansatz. Nach dem Transitionsansatz bringen Übergänge Veränderungen auf drei Ebenen mit sich. Auf der individuellen Ebene erleben Eltern wie Kinder eine Veränderung ihrer Identität und nehmen neue Rollen an. Auf der interaktionalen Ebene verändern sich Beziehungen, es stehen Abschiede an und neue Kontakte werden geknüpft. Auf der kontextuellen Ebene geht es um die Systeme, die die Transitionen begleiten (Faust, 2013). Nach dem ko-konstruktiven Ansatz des Modells „werden Lern- und Entwicklungsprozesse in der Interaktion des Individuums mit der sozialen Umgebung als soziale Konstruktion verstanden“ (Griebel, 2008; zit. nach Griebel & Niesel, 2011, S.37). Nach Griebel und Niesel (2011) entsteht die Transition von Kindergarten in die Grundschule durch Kommunikation und Partizipation aller Akteure und wird so zur Ko-Konstruktion des Kindes und seines sozialen Umfelds. Dies wird in untenstehender Abbildung verdeutlicht.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Transition als ko-konstruktiver Prozess (Griebel & Niesel, 2011, S.116)
Am Übergang beteiligt sind neben dem Kind, seine Eltern, pädagogische Fachkräfte des Kindergartens, Lehrkräfte der Grundschule und eventuell weitere Mitglieder des sozialen Netzwerkes wie Geschwister, Großeltern, Hortmitarbeiterinnen und -mitarbeiter. Die Eltern und das Kind nehmen im Übergangsprozess im Gegensatz zu den anderen Akteuren einen aktiven Part ein. Sie müssen den Übergang aktiv bewältigen. Andere Beteiligte, wie Erzieherinnen und Erzieher und Lehrerinnen und Lehrer, stehend moderierend und begleitend zur Seite. Die pädagogischen Fachkräfte erleben dabei selbst keinen Übergang im Sinne des Transitionsmodells (Griebel & Niesel, 2011). Die obenstehende Grafik verdeutlicht dabei folgende drei Aspekte: 1) Die am Übergang beteiligten Berufsgruppen haben ihre eigenen pädagogischen Verantwortungsbereiche, welche sich aber beim Übergang berühren und damit einen fachlichen Austausch und Kooperation bedürfen, 2) Eltern und Kinder müssen erkennen, dass sie im Übergangsprozess einen aktiven Part in der Ko-Konstruktion einnehmen und den Vorgängen nicht machtlos ausgeliefert sind und 3) die Gruppe der Eltern und Kinder im Übergangsprozess ist sehr heterogen. Unterstützungs- und Beratungsmaßnahmen müssen daher differenziert und bedürfnisgerecht gewählt werden (Griebel & Niesel, 2011).
Der Transitionsprozess vom Kindergartenkind zum Schulkind und von den Eltern eines Kindergartenkindes zu den Eltern eines Schulkindes beginnt schon lange vor dem Tag der Einschulung und dauert bei jeder Familie unterschiedlich lange. Eine Befragung von Müttern, wann ihr Kind denn ein richtiges Schulkind geworden sei, lieferte sehr heterogene Antworten. Sie reichten von „von Anfang an“, „in der zweiten Hälfte der ersten Klasse“ bis hin zu „in der ersten Hälfte der zweiten Klasse“ (Griebel & Niesel, 2002, S.128; zit. nach Griebel & Niesel, 2011, S.118). Die unterschiedlichen Entwicklungstempi müssen von pädagogischen Konzeptionen berücksichtigt werden. Schulfähigkeit kann erst in Verbindung mit Schulerfahrung vollständig erworben werden (Griebel & Niesel, 2011).
Schulfähigkeit wird nach Griebel und Niesel (2011) als Aufgabe aller am Übergang beteiligten Akteure verstanden. Die Bewältigung dieser Aufgabe liegt in der Kompetenz eines sozialen Systems. Über welche Kompetenzen die einzelnen am Übergang beteiligten Akteure verfügen müssen, zeigt folgende Darstellung von Griebel und Niesel (2011):
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Abbildung 3: Transitionskompetenz als Kompetenz des sozialen Systems (Griebel & Niesel, 2011, S.130)
Schulfähigkeit wird also nach Griebel und Niesel (2011) zum gemeinsamen Ziel pädagogischer Arbeit. An diesem Entwicklungsprozess sind Kinder, Eltern, Erzieherinnen und Erzieher und Lehrkräfte gleichermaßen beteiligt. Es wird deutlich, dass Schulfähigkeit erst im Prozess und nach einer gewissen Schulerfahrung entwickelt wird. Griebel und Niesel (2011) schlussfolgern, wenn Schulfähigkeit nicht mehr Selektionskriterium für die Aufnahme an einer Schule ist, können alle schulpflichtigen Kinder gemeinsam eingeschult werden. Das Verständnis der Autoren von Schulfähigkeit impliziert eine Schule, die die Heterogenität der Schulanfängerinnen und Schulanfänger anerkennt und ihr System anpasst. Eine Möglichkeit dafür wäre die flexible Eingangsstufe. Die Autoren betonen weiterhin die Bedeutung eines eigenständigen Bildungsauftrages der Kindertagesstätten sowie die Aufgabe der Schule im Kindergarten erlernte Kompetenzen der Kinder wahrzunehmen, zu schätzen und darauf aufzubauen. Wie gut ein soziales System, bestehend aus Kind, Eltern und Bildungsinstitutionen, das Ziel der Schulfähigkeit erreicht, ist Ausdruck seiner Transitionskompetenz (Griebel & Niesel, 2011).
3.2 Individuelle Voraussetzungen / Schulfähigkeitskriterien
Obwohl Schulfähigkeit in der wissenschaftlichen Debatte schon länger in einem größeren theoretischen Rahmen und unter Einbezug der Lernumwelten eines Kindes diskutiert, finden sich in der aktuellen Forschungsliteratur vor allem Forschungsansätze zur Untersuchung von bestimmten Kriterien der Schulfähigkeit und individuellen Voraussetzungen. Der Einsatz von Schuleingangsdiagnostik und Bestrebungen der Früherkennung sowie Frühförderung verstärken die Bedeutung individueller Voraussetzungen im Hinblick auf die Schulfähigkeit.
Nach Kasten (2006) setzt sich Schulfähigkeit nicht nur aus kognitiven Voraussetzungen, wie logischem Denken, visueller und auditiver Wahrnehmung, grundlegender Vorstellung von Begriffen, Mengen, Zahlen, Zeit etc. zusammen, sondern auch aus sozialen, emotionalen, motivationalen und körperlichen Kompetenzen. Zu den motivationalen Kompetenzen zählt Kasten (2006) Aufgeschlossenheit, Freude, Interesse und Lernbereitschaft. Kinder, die in die Schule eintreten, sollen sich konzentrieren, ihre Aufmerksamkeit steuern und sich für eine Aufgabe auch anstrengen können. Kooperation, Empathie und Gemeinschaftsfähigkeit gehören laut Kasten (2006) zu den notwendigen sozialen Kompetenzen; aber auch ein ausreichendes Selbstbewusstsein und keine Angst. Zu den emotionalen Kompetenzen gehört die Impulskontrolle und körperlich sollten Schuleinsteigerinnen und Schuleinsteiger gesund und altersentsprechend belastbar sein. Kasten (2006) hält auch fest, dass all diese Kompetenzen zu Schulbeginn noch nicht bei allen gleich weit entwickelt sein müssen und viele Kinder auch erst in den ersten Schulwochen schulfähig werden. Für Niesel et al. (2008) geht es bei den Voraussetzungen für erfolgreiches schulisches Lernen um die sogenannten Lerndispositionen. Diese stellen das Fundament für ein lebenslanges Lernen dar und enthalten folgende Aspekte: Interessiert sein, engagiert sein, standhalten bei Herausforderungen und Schwierigkeiten, sich ausdrücken und mitteilen können sowie an einer Lerngemeinschaft mitwirken und Verantwortung übernehmen (Niesel et al., 2008, S.99). Lerndispositionen sind für jede Tätigkeit relevant und unabhängig vom Inhalt. Krenz (2007) hält fest, dass Schulfähigkeit sich nicht an einigen wenigen Kriterien festmachen lässt, sondern durch eine Reihe ganz bestimmter Merkmale charakterisiert wird. Schulfähigkeit beinhaltet darüber hinaus verschiedene Verhaltensdispositionen, die ein Kind für einen erfolgreichen Schulbesuch benötigt und welche bereits vor der Schule aufgebaut werden müssen. Krenz (2007) betont darüber hinaus, dass Schulfähigkeit nicht nur für das erste Schuljahr relevant ist, sondern auch entscheidend für den mittel- und langfristigen Schulerfolg. Schulfähigkeit bezieht sich auf die Ebenen der Wissenserweiterung und der Persönlichkeitsentwicklung. Nach Krenz (2007, S.140) umfasst Schulfähigkeit „grundsätzlich die Fähigkeiten, für Lernreize offen zu sein, Lern(an)reize zuzulassen und diese mit einer persönlichen Wertigkeit und einem subjektiv vorhandenen Interesse zu versehen“. Krenz (2007) definiert 16 Kompetenzmerkmale, die notwendig sind, um Leistungsinteresse und Lernmotivation im Unterricht aufzubringen. Die Kompetenzmerkmale ordnet er vier Bereichen der Schulfähigkeit zu. Krenz (2007, S.140) hält es für notwendig, dass Kinder diese 16 Kompetenzmerkmale „(zumindest im Ansatz ausgeprägt) schon für die erste Klasse als internalisierte Verhaltensbereitschaft zur Verfügung haben“.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 2: Übersicht Basiskompetenzen der Schulfähigkeit nach Krenz (2007, S.140, 141)
Krenz (2007) betont, dass ein Kind bei Schuleintritt nicht alle 16 Kompetenztendenzen vollständig entwickelt unter Beweis stellen muss. Vielmehr geht es dem Autor um das grundsätzliche Vorhandensein dieser Kompetenzen, auch in Tendenzen. Wenn bei einem Kind ein oder mehrere Kompetenzmerkmale kaum oder überhaupt nicht ausgeprägt sind, kann davon ausgegangen werden, dass sich mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Beginn oder im Laufe der Schulzeit Lernschwierigkeiten entwickeln werden.
3.2.1 Aktueller Forschungsstand
Roebers und Hasselhorn (2018) führen Untersuchungen an, die Merkmalskonstellationen und deren Vorhersagekraft für den Übergang in ein formales Lernen untersuchen. Dieser Forschungsansatz erlaubt es, Kompensationsmechanismen aufzudecken. Es wird also nicht die Vorhersagekraft verschiedener Faktoren verglichen, sondern ganze Profile von Merkmalen. Dadurch wird es möglich, Risikogruppen zu identifizieren (Abenavoli, Greenberg & Bierman, 2017; Halle et al., 2012; zit. nach Roebers & Hasselhorn, 2018). Die Ergebnisse der Studien lassen darauf schließen, dass gute exekutive Funktionen und gut ausgebildete soziale Kompetenzen ungünstigere kognitive Kompetenzen bis zu einem gewissen Grad ausgleichen können. Es wird angenommen, dass dies über ein gutes Lern- und Sozialverhalten im Klassenzimmer geschieht (Roebers & Hasselhorn, 2018).
Neben der Selbstregulation zählen nach Roebers und Hasselhorn (2018) auch das sprachliche Kompetenzniveau sowie relevante Vorläufer für den Schriftspracherwerb und die Entwicklung früher mathematischer Kompetenzen zu den individuellen Voraussetzungen für einen erfolgreichen Schulstart. Der Spracherwerbsstand ist nicht nur ein wichtiger Indikator für den allgemeinen Entwicklungsstand, sondern auch für die Schulfähigkeit (Grimm, 2012; zit. Roebers & Hasselhorn, 2018). Sprache besetzt in unserem Bildungssystem eine Schlüsselstellung. Kinder mit Spracherwerbsproblemen zeigen im Laufe der Schulzeit auch vermehrt Schwierigkeiten in schulischen Anforderungen, vor allem im Lesen und Rechtschreiben (Catts, Adlof, Hogan & Ellis Weismer, 2005; zit. nach Roebers & Hasselhorn, 2018). Und auch Kinder mit einer anderen Muttersprache haben ein erhöhtes Risiko schulischer Schwierigkeiten (Autorengruppe Bildungsberichtserstattung, 2016; zit. nach Roebers & Hasselhorn, 2018).
Als gut empirisch abgesichert gilt heute nach Roebers und Hasselhorn (2018) die Vorhersagekraft der phonologischen Informationsverarbeitung für den Schriftspracherwerb. Insbesondere die phonologische Bewusstheit ist von zentraler Bedeutung für die späteren schulischen Leistungen im Lesen und Rechtschreiben. Eine weitere wichtige Vorläuferfertigkeit stellt die Geschwindigkeit des Zugriffs auf sprachliche Einträge im Langzeitgedächtnis dar. Unter der phonologischen Bewusstheit versteht man die Einsicht in das System der Sprache. Das Kind erkennt, dass Sätze aus Wörtern, Wörter aus Silben und Silben aus Lauten bestehen. Zur phonologischen Bewusstheit gehört die Fähigkeit, Reime zu erkennen und Wörter in Laute zu zerlegen und aus Lauten Wörter zu bilden (Ennemoser, Marx, Weber & Schneider, 2012; zit. nach Roebers & Hasselhorn, 2018).
Nach Roebers und Hasselhorn (2018) besitzen mathematische Basisfertigkeiten eine hohe Vorhersagekraft für den weiteren Erwerb mathematischer Kompetenzen. Zu den mathematischen Basisfertigkeiten zählen unter anderem das Verständnis von Zahlen und Zahlwörtern sowie die Verknüpfung von Zahlwörtern mit Mengen und die Fähigkeit zum Mengenvergleich. Theoretisch fundiert wird die Entwicklung früher mathematischer Kompetenzen unter anderem mit dem Zahl-Größen-Verknüpfungsmodell nach Krajewski (2003).
Roebers und Hasselhorn (2018) fassen aktuelle Forschung zusammen und halten fest, dass zur Schulbereitschaft bereichsübergreifende selbstregulatorische Fähigkeiten und bereichsspezifische Kompetenzen, wie Buchstabenkenntnis, phonologische Bewusstheit, Zählfertigkeiten, Zahlsinn und Sprachkompetenzen gehören (Grissmer, Grimm, Aiyer, Murrah & Steele, 2010; Pagani, Fitzpatrick, Archambault & Janosz, 2010; zit. nach Roebers & Hasselhorn, 2018, S.4).
3.3 Zwischenfazit
Die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Ansätzen zur Schulfähigkeit hat gezeigt, dass sich die Sichtweise auf den Schuleintritt und das Konstrukt der Schulfähigkeit über die Jahre stark gewandelt hat. Von einer reifungstheoretischen Sichtweise, über eigenschaftstheoretische Ansätze, lerntheoretische Vorstellungen bis hin zu einer ökologisch-systemischen Perspektive und dem Transitionsansatz. Sah Artur Kern die Schulfähigkeit noch als Ausdruck des allgemeinen Reifezustands eines Kindes, so ist man sich heute einig, dass noch viele weitere Faktoren in das Konstrukt der Schulfähigkeit mit reinspielen.
Stamm (2019) hält fest, dass es sowohl für den Begriff der Schulfähigkeit, als auch für das dahinter stehende Konzept, keine allgemeingültige Definition gibt. Einigkeit besteht heute darüber, dass sich Schulfähigkeit im Zusammenwirken aller Beteiligten entwickelt. Trotzdem besteht heute kein Konzept, welches einheitliche und systematische Überlegungen erlaubt. Nach Stamm (2019) liegt das vor allem daran, dass die Vorstellungen von Schulfähigkeit normativ geleitet sind und sich je nach Interessengruppe unterscheiden. Personengruppen, die mit der Schulfähigkeitsfrage zu tun haben, besitzen unterschiedliche Erwartungshaltungen und beziehen sich auf unterschiedliche theoretische Zugänge. Zu diesen Personengruppen gehören unter anderem die Eltern, Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte, sonderpädagogische Fachkräfte, Kinderärzte und bildungspolitische Träger. Laut Stamm (2019) lassen sich heute drei Richtungen von Schulfähigkeitskonzepten unterscheiden: das kompensatorische, das konstruktivistische und das netzwerkbasierte Konzept.
Das kompensatorische Konzept geht davon aus, dass ein Kind eine Reihe an Fähigkeiten beherrschen muss, um seine schulischen Startchancen zu verbessern. Der kompensatorische Ansatz richtet sich vor allem an benachteiligte Kinder und legt den Fokus auf Projekte der Sprachförderung. Neben den Sprachförderungsprogrammen betont das Konzept die Relevanz qualitativ hochwertiger Frühpädagogik unter Einbezug des Elternhauses. Kritisiert wird an dem kompensatorischen Konzept die Gefahr der vorschnellen Etikettierung benachteiligter Kinder und Familien und eine Vernachlässigung emotionaler und sozialer Aspekte (Stamm, 2019).
Das konstruktivistische Konzept berücksichtigt die Umgebung, in der ein Kind aufwächst und macht diese maßgeblich dafür verantwortlich, wie weit ein Kind zum Schuleintritt entwickelt ist. Darüber hinaus stellt es die schulischen und familiären Bedingungen in den Mittelpunkt und macht deutlich, dass „Schulfähigkeit nicht nur vom Kind und von seiner Familie, sondern auch vom Anforderungsniveau und von den Einstellungen von Kindergarten und Schule abhängt und diese Kontexte die kindliche Entwicklung mitkonstruieren“ (Stamm, 2019, S.184). Zum konstruktivistischen Ansatz zählt Stamm (2019) unter anderem das ökologisch-systemische Verständnis der Schulfähigkeit von Nickel.
Das netzwerkbasierte Konzept geht noch weiter als das konstruktivistische Konzept. Das Konzept umfasst neben der Ebene des Kindes, der Familie und der Schule auch die Ebene der Kommune und die zur Verfügung gestellten Bedingungen, unter denen das Kind aufwächst. Schulfähigkeit resultiert damit auch aus der Art und Weise der frühen Förderung von Kindern in einer Kommune. Das netzwerkbasierte Konzept findet vor allem in Kanada, den USA und Australien Anwendung. Eindrücklich ist die durch Evaluationen erwiesene Wirksamkeit dieses Konzepts. In Kommunen, in denen für kleine Kinder qualitativ höherstehende Betreuungs- und Bildungsangebote gemacht werden und die effektive Familienförderungsprogramme durchführen, treten mehr Kinder schulfähig in die Schule ein. Das netzwerkbasierte Konzept belegt damit, dass vorschulische Förderung als allgemeine Prävention besonders große Chancen auf Wirksamkeit besitzt (Stamm, 2019).
Stamm (2019) hält fest, dass diesen drei Konzepten unterschiedliche Vorstellungen zu Grunde liegen. Die Sichtweise auf Schulfähigkeit reicht von der Vorstellung, Schulfähigkeit habe etwas mit individuellen Voraussetzungen zu tun bis hin zum Erklärungsmuster, das die Umgebung ins Zentrum stellt. Stamm (2019) schlägt zur Weiterentwicklung des Konzepts der Schulfähigkeit vier Perspektiven vor.
Schulfähigkeit ist ein früh einsetzender Prozess: Stamm (2019) hält fest, dass bedeutsame Entwicklungsschritte bereits vor dem dritten Lebensjahr stattfinden. Die kindliche Lernfähigkeit wird von Entwicklungsschritten beeinflusst, die sich bereits vor dem Eintritt in den Kindergarten vollziehen. Das Denken und Theorieverständnis rund um die Schulfähigkeit hat sich lange auf eine relativ kurze Zeit vor dem Schuleintritt beschränkt. Schulfähigkeit muss laut Stamm (2019, S.185) „als kontinuierlicher, früh einsetzender Prozess verstanden werden, der die Grundlage für das spätere Lernen bildet. Ganz spezifische gilt dies für risikogefährdete Kinder“.
Schulfähigkeit ist multidimensional: Neben unterschiedlichen Kompetenzbereichen werden die Umwelten der Familie und der Schule berücksichtigt. Stamm (2019) hält fest, dass es bei dieser Feststellung der Multidimensionalität geblieben ist und wenig darüber bekannt ist, wie stark die einzelnen Komponenten die Schulfähigkeit eines Kindes und einander beeinflussen.
Schulfähigkeit braucht ein stärkeres sozial-emotionales Fundament (Stamm, 2019, S.185): Stamm (2019) hält fest, dass die sprachliche Entwicklung mit der Regulation von Verhalten und Aufmerksamkeit zusammenhängt und fordert, dass sozioemotionalen Kompetenzen das gleiche Gewicht wie kognitiven Kompetenzen beigemessen werden sollte. Kinder werden inhaltlich und kognitiv heute stärker gefördert denn je, viele Kinder sind aber emotional retardiert (Stamm, 2019, S.185).
Die Förderung von Schulfähigkeit ist eine Aufgabe aller Settings: Es liegt nahe, dass der Beitrag zu Bildungschancen von Kindern nicht unerheblich von der Zeit in und Qualität von familienergänzenden Betreuungseinrichtungen abhängt (Stamm, 2019). Es konnte belegt werden, dass „kindliche Entwicklungsunterschiede von bis zu einem Jahr auf die Qualität der familienergänzenden Einrichtungen zurückzuführen sind“ (Tietze, Roßbach & Grenner, 2005; zit. nach Stamm, 2019, S.185).
3.4 Wichtigste Erkenntnisse
Im Sinne eines Exzerpts werden nachfolgend die wichtigsten Erkenntnisse aus dem Kapitel 3. „Das Konstrukt Schulfähigkeit“ stichwortartig dargestellt.
- Schulfähigkeit wurde lange Zeit als körperlicher und kognitiver Reifezustand angesehen, der erst zu einem gewissen Entwicklungszeitpunkt erreicht war
- Forschungserkenntnisse führten bald zu einer differenzierteren Sicht auf Schulfähigkeit
- Für diese Arbeit lassen sich die vielen unterschiedlichen Ansätze und Konzepte der Schulfähigkeit grob in zwei übergreifende Perspektiven zusammenfassen: Die individuumszentrierte Sichtweise und die konstruktivistische Sichtweise.
- Individuumszentrierte Sichtweise: Eigenschaftstheoretischer Ansatz, lerntheoretischer Ansatz, Schuleingangsdiagnostik, Schulfähigkeitskriterien
- Konstruktivistische Sichtweise: Ökosystemischer Ansatz, Transitionsansatz, Schuleingangsdiagnostik und Schulfähigkeitskriterien für Teile des Konzepts
- In aktueller Debatte zum Konstrukt der Schulfähigkeit und aktueller Forschung sind Schulfähigkeitskriterien und individuelle Lernvoraussetzungen von besonderer Relevanz
- Bereiche: Emotional-motivationale, soziale, kognitive und motorische Schulfähigkeit
- Aktuelle Forschung:
- Kognitive Faktoren, schriftsprachliche und mathematische Vorläuferfertigkeiten, Spracherwerbsstand und Selbstregulation sind von besonderer Bedeutung für Schulfähigkeit
- Gute exekutive Funktionen und gut ausgebildete soziale Kompetenzen können ungünstigere kognitive Kompetenzen bis zu einem gewissen Grad ausgleichen
- Schulfähigkeit ist ein früh einsetzender, kontinuierlicher Prozess und bildet die Grundlage für späteres schulisches Lernen (Stamm, 2019)
- Schulfähigkeit ist multidimensional: Unterschiedliche Kompetenzbereiche, Umwelt der Familie und Schule
- Die Förderung von Schulfähigkeit ist Aufgabe aller Settings
4 Übergang Kindergarten – Grundschule
In diesem Kapitel sollen die theoretischen Grundlagen zum Übergang vom Kindergarten in die Grundschule dargestellt werden. Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich dabei immer auf das Bundesland Baden-Württemberg, um den Umfang dieser Arbeit nicht zu überschreiten. Zunächst werden die rechtlichen Rahmenbedingungen für den Übergang vom Kindergarten in die Grundschule geklärt. Dann erfolgt ein Überblick über die moderne Schuleingangsdiagnostik. Anschließend wird genauer beleuchtet, wie sich die Kooperation zwischen Kindergarten und Grundschule gestaltet. Es wird dargestellt, welche Akteurinnen und Akteure beteiligt sind, welche Grundprinzipien der Kooperation gelten und welche Probleme und Herausforderungen bestehen. In einem nächsten Schritt werden Maßnahmen und Projekte zur Verbesserung der Anschlussfähigkeit und Kooperation in Baden-Württemberg vorgestellt. Anschließend wird auf die Rolle und den Auftrag der sonderpädagogischen Förderung im Förderschwerpunkt Lernen im Übergang eingegangen. Zuletzt wird erläutert, inwieweit zwischen den Systemen Kindergarten und Grundschule Anschlussfähigkeit besteht.
4.1 Einschulung – rechtliche Rahmenbedingungen (BW)
Die gesetzlichen Vorgaben rund um den Schuleintritt werden in Deutschland von den jeweiligen Bundesländern definiert. In diesem Kapitel wird ein Überblick über die rechtlichen Rahmenbedingungen im Zusammenhang mit dem Eintritt in die Schule im Bundesland Baden-Württemberg gegeben.
Schulpflicht:
Aufgrund der föderalistischen Strukturen in Deutschland ist die Schulpflicht nicht bundeseinheitlich geregelt. Auf Bundesebene findet sich im Grundgesetz nur der staatliche Erziehungsauftrag in Art. 7 Abs. 1 GG. Die Bundesländer regeln die Schulpflicht in ihren Landesverfassungen und Schulgesetzen unterschiedlich. In Baden-Württemberg besteht eine Schulpflicht bis zum vollendeten 18. Lebensjahr. Die Schulpflicht unterteilt sich dabei in eine Vollzeitschulpflicht und eine Berufsschulpflicht. Die Vollzeitschulpflicht besteht in Baden-Württemberg aus vier Jahren Grundschule und fünf Jahren aufbauender Schule. Rechtsgrundlage hierfür sind der Art. 14 Abs. 1 der Verfassung des Landes Baden-Württembergs sowie §§ 72 ff. des Schulgesetzes für Baden-Württemberg (Vossenkuhl, 2018).
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- Citar trabajo
- Julia Buck (Autor), 2021, Wie meistern Kinder den Schulanfang erfolgreich? Förderung der Schulfähigkeit und Vorbeugung von Lernschwierigkeiten, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/911945
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