Im Sommer 1993 erschien in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ ein Artikel des Eaton-Professors und Direktors des Olin-Instituts für Strategische Studien der Harvard-Universität Samuel P. Huntington. In seinem später zu einem Buch ausgearbeiteten Artikel, der zugleich Gegenwartsdiagnose, Zukunftsszenario und Handlungsanweisungen zum Umgang des Westens mit weltpolitischen Problemen beinhaltet, unterteilt Huntington die Welt in sieben bzw. acht Blöcke , in sogenannte „Zivilisationen“. Es sind dies die westliche , konfuzianische oder sinische, islamische, hinduistische, slawisch-orthodoxe, japanische, lateinamerikanische und möglicherweise afrikanische Zivilisation, wobei sich Huntington über die Existenz letzterer nicht ganz sicher ist.
Obwohl Huntington anerkennt, dass Zivilisationen dynamisch sind, sieht er die zukünftigen weltpolitischen Konflikte entlang der Grenzen zwischen diesen Zivilisationen aufbrechen. Er ist der Ansicht, dass über Jahrhunderte hinweg die Unterschiede zwischen den Zivilisationen – bezüglich Geschichte, Sprache, Kultur, Tradition und vor allem Religion – die längsten und heftigsten Konflikte hervorgerufen haben, und dies auch in Zukunft tun werden.
Huntingtons Zivilisationsparadigma wurde von verschiedensten Seiten aufs schärfste kritisiert. Seine Thesen bieten Kritikern grosse Angriffsflächen, auch vermisst man durch sein ganzes Buch hindurch eine gewisse Gefeitheit des Sozialwissenschaftlers gegenüber selektiver Wahrnehmung.
Die Tatsache der zum Teil leichten Widerlegbarkeit von Huntingtons Thesen und deren doch gleichzeitig hohen Resonanz, Verbreitung und Akzeptanz zeigt, dass das Zivilisationsparadigma gewisse Funktionen erfüllt. Diese Funktionen werden in der vorliegenden Arbeit näher beleuchtet.
Inhalt
1 Einführung
2 Zu den Begriffen „civilization“, „culture“, „Zivilisation“ und „Kultur“
3 Das Zivilisationsparadigma – ein Mythos
4 Funktionen des Zivilisationsparadigmas
4.1 Funktion der Identitätsstabilisierung und Orientierung
4.2 Integrationsfunktion
4.3 Mobilisierungs- und Herrschaftssicherungsfunktion
5 Schlussfolgerungen und Ausblick
Literaturverzeichnis
1 Einführung
Im Sommer 1993 erschien in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ ein Artikel des Eaton-Professors und Direktors des Olin-Instituts für Strategische Studien der Harvard-Universität Samuel P. Huntington. In seinem später zu einem Buch ausgearbeiteten Artikel, der zugleich Gegenwartsdiagnose, Zukunftsszenario und Handlungsanweisungen zum Umgang des Westens mit weltpolitischen Problemen beinhaltet, unterteilt Huntington die Welt in sieben bzw. acht Blöcke , in sogenannte „Zivilisationen“. Es sind dies die westliche (Europa, Nordamerika und Ozeanien), konfuzianische, später sinische (China und seine Ost- und Südostasiatische Peripherie), islamische (von Mittelafrika über den nahen Osten bis nach Zentralasien und Indonesien), hinduistische (Indien), slawisch-orthodoxe (die slawischen und griechischen Länder), japanische, lateinamerikanische und möglicherweise afrikanische Zivilisation, wobei sich Huntington über die Existenz letzterer nicht ganz sicher ist.
Obwohl Huntington anerkennt, dass „boundaries of civilizations change“ (Huntington online, S. 4) und dass Zivilisationen dynamisch sind – „they rise and fall, they divide and merge“ (ebd.), sieht er die zukünftigen weltpolitischen Konflikte entlang der „fault lines separating these civilizations from one another“ (ebd.) aufbrechen. Er ist der Ansicht, dass über Jahrhunderte hinweg die Unterschiede zwischen den Zivilisationen – bezüglich Geschichte, Sprache, Kultur, Tradition und vor allem Religion – die längsten und heftigsten Konflikte hervorgerufen haben, und dies auch in Zukunft tun werden.
Huntingtons Zivilisationsparadigma wurde von verschiedensten Seiten aufs schärfste kritisiert. Seine Thesen bieten Kritikern grosse Angriffsflächen, auch vermisst man durch sein ganzes Buch hindurch eine gewisse Gefeitheit des Sozialwissenschaftlers gegenüber selektiver Wahrnehmung.
Die Tatsache der zum Teil leichten Widerlegbarkeit von Huntingtons Thesen und deren doch gleichzeitig hohen Resonanz, Verbreitung und Akzeptanz zeigt, dass das Zivilisationsparadigma gewisse Funktionen erfüllt. Diese Funktionen sollen im Folgenden näher beleuchtet werden. Als erstes ist es aber notwendig, sich kurz mit den Begriffen „civilization“ und „culture“ und ihren deutschen Übersetzungen auseinanderzusetzen.
2 Zu den Begriffen „civilization“, „culture“, „Zivilisation“ und „Kultur“
Die Begriffe „civilization“ und „culture“ stehen in der englischsprachigen Ausgabe von Samuel P. Huntingtons Buch im Zentrum. Seine ungenaue Definition, die inkonsequente Verwendung der beiden Begriffe und nicht zuletzt die Tatsache, dass in der deutschen Übersetzung das Wort „civilization“ manchmal mit „Kultur“, „Hochkultur“ oder „Kulturkreis“, das Wort „culture“ einmal mit „Kultur“, einmal mit „Zivilisation“ wiedergegeben wird, trägt zur Verwirrung über Verwendung und Bedeutung der Begriffe bei. Dass der Titel des Buches „the clash of civilizations“ mit „Kampf der Kulturen“ übersetzt wurde, „civilization“ also mit „Kultur“ wiedergegeben wird, hängt vielleicht nicht zuletzt damit zusammen, dass 1995 ein Buch von Bassam Tibi mit dem Titel „Krieg der Zivilisationen“ erschienen ist, mit dem „Kampf der Zivilisationen“ eine zu grosse Ähnlichkeit aufgewiesen hätte. Auch ist, wie Mokre (2000, S. 10) bemerkt, „Kampf der Kulturen“ im „Hinblick auf Verkaufserfolge und Publikumswirksamkeit (...) eine glückliche Namensgebung“, da der Begriff der Kultur seit Jahrzehnten sowohl im wissenschaftlichen als auch im alltäglichen Diskurs Konjunktur habe.
Bei Huntington unterscheiden sich die Begriffe „civilization“ und „culture“ nicht qualitativ, sondern rein quantitativ voneinander. Beide beziehen sich auf die „gesamte Lebensweise eines Volkes“ (Huntington 2002a, S. 51), jedoch ist eine Zivilisation „a culture writ large“ (Huntington 2002b, S. 41), eine Zivilisation als übergeordnete kulturelle Einheit umfasst also verschiedene Kulturen. „A civilization is (…) the highest cultural grouping of people and the broadest cultural identity people have short of that which distinguishes humans from other species” (ebd. S. 43). Die Argumentation, die Huntington zu diesem Schluss führt, ist indes nicht ganz schlüssig: So ist nicht nachzuvollziehen, weshalb für einen Bewohner von Rom die allgemeinste Ebene, mit der er sich identifizieren kann, die eines Westlers sein soll (den Ebenen der Identifikation als Römer, Italiener, Europäer übergeordnet), und nicht beispielsweise die eines “Weltbürgers”, weshalb also über die Grenzen von Huntingtons Zivilisationen hinweg keine übergeordnete Identifikation möglich sein sollte. Auf diesen Punkt werde ich im Abschnitt 4.1 nochmals näher eingehen.
Vom Übersetzer der deutschen Ausgabe von Huntingtons Buch wird angemerkt, dass „civilization“ nicht durchgehend mit „Zivilisation“ und „culture“ nicht mit „Kultur“ übersetzt werden könne aufgrund der sich vom englischen Sprachgebrauch unterscheidenden Verwendung der Begriffe im Deutschen. Seit Norbert Elias’ Werk „Über den Prozess der Zivilisation“, auf das sich der Übersetzter beruft (vgl. Fliessbach 2002, S. 14), hat sich aber auch am deutschen Verständnis des Begriffs der Kultur etwas geändert. Laut Elias (1969, S. 2) bezieht sich „Zivilisation“ im französischen oder im englischen Sprachgebrauch auf „politische oder wirtschaftliche, auf religiöse oder technische, auf moralische oder gesellschaftliche Fakten“. Der deutsche Begriff der Kultur dagegen „bezieht sich im Kern auf geistige, künstlerische, religiöse Fakten“ (ebd.) und unterscheidet sie von politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Faktoren.
Eingedenk der Tatsache, dass Elias’ Werk erstmals 1936 erschienen ist, ist es nicht verwunderlich, dass sich seither der Bedeutungsgehalt des Begriffs der Kultur etwas gewandelt und sich dem des englischen „civilization“ bzw. französischen „civilisation“ angenähert hat. Es ist nicht mehr so, dass der deutsche Begriff der Kultur „die Niederungen des Materiellen abschütteln und sich den höheren Werten des Geistigen anheimgeben möchte“ (Müller 2001, S. 33). Mit Kultur sind heute also nicht mehr nur die „schönen“ Tätigkeiten des Menschen gemeint, sondern durchaus auch „the overall way of life of a people“ (Huntington 2002b, S. 41).
Der (deutschsprachige) Tibi (1995) scheint im Gegensatz zum Übersetzter von „Clash of Civilizations“ mit den Begriffen „Zivilisation“ und „Kultur“ keine Mühe zu haben. Für Tibi stellen Kulturen Systeme lokaler Werte und der dazugehörenden Praxis dar, währenddem Zivilisationen grossräumige und dementsprechend allgemeinere Wertsysteme sind. Er folgt somit vollumfänglich der Begriffsverwendung Huntingtons.
Der Begriff der Kultur als „Gesamtheit der Symbolgehalte einer Gesellschaft (Religion, Kunst, Wissen etc.) im Gegensatz zu ihrer materiellen Ausstattung (Zivilisation)“ (Fuchs- Heinritz / Lautmann / Rammstedt / Wienold 1995, S. 379) wird heute nur noch in der Kulturkritik verwendet. Meist ist im deutschen Sprachgebrauch heute mit dem Begriff der Kultur die „Gesamtheit der Verhaltenskonfigurationen einer Gesellschaft, die durch Symbole über die Generationen hinweg vermittelt werden, in Werkzeugen und Produkten Gestalt annehmen, in Wertvorstellungen und Ideen bewusst werden“ (ebd.) gemeint. Dies bedeutet, dass die Komponenten einer Kultur Sprache, Geschichte, Religion, Sitten, Institutionen, Normen und Werte, aber auch Wirtschaftsweise und Technologie beinhalten. Dabei deckt sich der Bedeutungsgehalt des deutschen Wortes „Kultur“ mit „culture“ bzw. „civilization“ bei Huntington, wobei bei ihm „civilization“ die grösste kulturelle Einheit ist, der eine Person angehören kann. Es gibt also m. E. keinen Grund, „civilization“ nicht durch „Zivilisation“ (oder wahlweise „Kulturkreis“) wiederzugeben und „culture“ mit „Kultur“.
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- Arbeit zitieren
- M.A. Amanda Zwahlen (Autor:in), 2003, Funktionen des Zivilisationsparadigmas von Samuel P. Huntington, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/90664
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