Die vorliegende Arbeit stellt Thesen sowie Beobachtungen vor, wie sich Kostüm und Raum als Zeichenkategorien inszenierter Vorgänge zueinander verhalten. Im ersten Teil wird das Kostüm als räumliches Hilfsmittel des Darstellers betrachtet und damit einhergehende Aspekte erläutert, die die Körperlichkeit des Materials, die Raumbildung um den Körper des Tragenden und die Qualitäten eines sogenannten „Kostümraums“ betreffen. Anschließend richtet sich der Fokus auf die Wechselbeziehung beider Kategorien, die sich konkret in Designelementen und Kompositionprinzipien ausdrückt. Ein zweiter Teil ist der Analyse des filmischen Beispiels Titanic (1997) von James Cameron gewidmet. Das Kostümdesign ist dabei mit der Herausforderung konfrontiert, jenseits historischer Korrektheit eine fiktive Geschichte, die Heldenreise der Protagonistin zu erzählen und illustrieren. Diese in eine räumliche begrenzte Lokalität – das Schiff – zu übertragen sorgt für einen hinreichend interessanten Kontext und eine faszinierende Interdependenz der zwei Inszenierungskategorien, die anhand der beiden Hauptfiguren aufgezeigt werden.
Der Raum oder das Kostüm kann aus sehr verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und bewertet werden. In einer Inszenierung – und damit sind sämtliche theatrale Momente, die ein Kostüm produzieren, eingeschlossen – interagieren jedoch zwangsläufig mindestens zwei, meist mehrere Zeichenkategorien miteinander. Daher ist es von größter Wichtigkeit, diese Kategorien in Beziehung zueinander zu setzen und nicht ausschließlich getrennt voneinander zu analysieren. Durch ihre ihnen zugrunde liegende Funktion, Bedeutung zu generieren einerseits, und die Tatsache, dass innerhalb einer Inszenierung mehrere Kategorien zusammenwirken, rekurrieren Zeichen nicht nur auf sich selbst, sondern strahlen gewissermaßen in andere Zeichenkonglomerate hinein und erzeugen eine Bedeutungsebene, die weder von der einen, noch der anderen Zeichenkategorie allein hervorgebracht werden kann.
Inhalt
Teil I
1. Einleitung
2. Kostüm als raumkonstituierendes Hilfsmittel des Darstellers
2.1. Definition Kostüm
2.2. Textile Komposition
2.2.1. Materialfunktion
2.2.2. Schnittkonstruktion
2.2.3. Formgebung
2.3. Qualität des physischen Kostümraums
2.3.1. Kontrahierend – expandierend
2.3.2. Statisch – dynamisch
2.4. Kostümraum und Kinesphäre
3. Raum und Kostüm als interagierende Inszenierungskategorien
3.1. Funktionen von Kostüm und Raum im theatralischen Code
3.2. Visuelle Designelemente
3.2.1. Prinzipien der Komposition
3.2.2. Licht und Farbe
3.3. Beziehungsprinzipien zwischen Kostüm und Raum
4. Untersuchungsgegenstand Titanic
4.1. Das Schiff: Zeitkapsel edwardianischer Opulenz
4.1.1. Menschengemachte Hybris
4.1.2. Multiperspektivische Räumlichkeit
4.1.3. Titanic als Heterotopie
5. Figurenpersonal
6. Jack Dawson
6.1. Assimilation als Lebens- und Kleidungsstrategie
6.2. Symbolische Markierung der Räume: Freiheit
6.3. Enthüllung als Rettungstaktik
6.4. Werdegang eines Fracks
6.4.1. Mimikry der Oberschicht
6.4.2. Dekonstruktion des Kostümraums
6.5. Raumnutzung durch Verkleidung
7. Rose Dewitt Bukater
7.1. Das butterfly-Motiv
7.2. Markierung der Räume: Gefangenschaft und Niedergang
7.3. Reiseensemble: Verbildlichung emotionaler Befindlichkeit
7.4. Gegensätzliche Abendkleider
7.4.1. Überlebenskampf zwischen zwei Farbräumen
7.4.2. Entdeckung textilen Freiraums
7.5. Die blaue Phase der Selbstfindung
7.5.1. Metamorphose
7.5.2. Entfaltung des neuen Selbst
8. Resumée
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Teil I
1. Einleitung
„Eiko, bei Dracula sind die Kostüme die Sets.“1
Das sagte Francis Ford Coppola zu seiner Kostümdesignerin Eiko Ishioka im Vorproduktionsstadium der Verfilmung zu Bram Stokers Dracula. Eine eher unkonventionelle Einstellung, gemessen daran, dass Kostüme und Filmsets zwar zusammenhängen und von Production- und Costume Designer aufeinander abgestimmt werden müssen, nicht aber gegeneinander austauschbar sind. Coppola spricht hier in der Tat auch nicht von einem Film ohne Kulisse, sondern benutzt die Aussage als Analogie: Kostüme und Filmsets – also die Organisation und Gestaltung des Spielraumes – bedingen einander nicht nur, sondern teilen sich bestimmte Prinzipien der Formgebung. Die beiden filmischen Departments zählen zu den vierzehn Zeichenkategorien des theatralischen Codes2, wie Erika Fischer-Lichte sie bestimmt. Sie bilden die tragenden Säulen, auf welchen eine Inszenierung fußt. Diese Zeichenkategorien, die unablässig Bedeutung produzieren, verschieben und neu gewichten, können einzeln betrachtet werden, um „Kernforschung“ an deren Gegenstand zu betreiben. In dieser Hinsicht bringen sie je ihre eigenen Meister hervor. Im Fall des Kostüms reicht die Spanne von künstlerisch-schaffenden Kostümbildnern über handwerklich arbeitende Gewandmeister bis zu Historikern, die sich der Erforschung der Kostümgeschichte widmen. An dieser knappen Aufzählung wird bereits deutlich, dass die sich auf rein theatrale Inszenierungen beziehenden Kategorien Kostüm- und Bühnenbild andere Disziplinen streifen, wenn nicht sogar ein intensives Verhältnis mit ihnen eingehen. So ist ein Bühnenraum immer auch als Baukunst verhandelbar. Der Raum oder das Kostüm kann daher aus sehr verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und bewertet werden. In einer Inszenierung – und damit sind sämtliche theatrale Momente, die ein Kostüm produzieren,3 eingeschlossen – interagieren jedoch zwangsläufig mindestens zwei, meist mehrere Zeichenkategorien miteinander. Daher ist es von größter Wichtigkeit, diese Kategorien in Beziehung zueinander zu setzen und nicht ausschließlich getrennt voneinander zu analysieren. Durch ihre ihnen zugrunde liegende Funktion, Bedeutung zu generieren einerseits, und die Tatsache, dass innerhalb einer Inszenierung mehrere Kategorien zusammenwirken, rekurrieren Zeichen nicht nur auf sich selbst, sondern strahlen gewissermaßen in andere Zeichenkonglomerate hinein und erzeugen eine Bedeutungsebene, die weder von der einen, noch der anderen Zeichenkategorie allein hervorgebracht werden kann. Die vorliegende Arbeit versteht sich daher als Vorstoß in diese Richtung und stellt Thesen sowie Beobachtungen vor, wie sich Kostüm und Raum als Zeichenkategorien inszenierter Vorgänge zueinander verhalten. Im ersten, theoretisch angelegten Teil wird das Kostüm als räumliches Hilfsmittel des Darstellers betrachtet und damit einhergehende Aspekte erläutert, die die Körperlichkeit des Materials, die Raumbildung um den Körper des Tragenden und die Qualitäten eines sogenannten „Kostümraums“ betreffen. Anschließend richtet sich der Fokus auf die Wechselbeziehung beider Kategorien, die sich konkret in Designelementen und Kompositionprinzipien ausdrückt. Ein zweiter Teil ist der Analyse des filmischen Beispiels Titanic (1997) von James Cameron gewidmet. Das Kostümdesign ist dabei mit der Herausforderung konfrontiert, jenseits historischer Korrektheit eine fiktive Geschichte, die Heldenreise der Protagonistin zu erzählen und illustrieren. Diese in eine räumliche begrenzte Lokalität – das Schiff – zu übertragen sorgt für einen hinreichend interessanten Kontext und eine faszinierende Interdependenz der zwei Inszenierungskategorien, die anhand der beiden Hauptfiguren aufgezeigt werden.
2. Kostüm als raumkonstituierendes Hilfsmittel des Darstellers
Das Kostüm nimmt eine kuriose Position am Darsteller ein. Es unterhält zusammen mit Maske und Frisur ein sehr spezielles Näheverhältnis zum Darsteller, denn diese kommen ihm als „Fremdkörper“ so nah, wie sonst nichts im Zeichenrepertoire.4 Das eben in Anführungszeichen gesetzte Wort Fremdkörper ist in doppeltem Sinn die Essenz dessen, was ich nachfolgend weiter ausführen möchte: es ist in seiner allgemeinen Bedeutung ein fremder Körper, ein zweiter Körper, der sich um den des Darstellers materialisiert. Und durch diese Verbindung wird ein dritter, fremder Körper geschaffen – der, der Figur. An diesem Punkt entspringt eine Problematik, die die Betrachtung eines Kostüms stets begleitet: die Verwechslung des physisch anwesenden Darstellerkörpers mit dem der Figur. Um zwei Konstituenten aus Eric Bentleys Minimaldefinition, was Theater ist, zu bemühen: A (der Darsteller) und X (die Figur) sind untrennbar miteinander verbunden, nicht aber kongruent. X setzt sich aus vielen unterschiedlichen Zeichen zusammen, die über A vereint werden. Das Kostüm ist ein wesentlicher Aspekt, der an diesem Schaffensprozess beteiligt ist, insofern ist es richtig zu sagen, dass die Figur X sich über das Kostüm manifestiert und körperlich ausdrückt. A jedoch bleibt die Leinwand, auf der sich alles abspielt.
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Abb. 1: Der Darsteller (A) unterzieht sich durch Verwendung eines Kostüms (K) einem Transformationsprozess, an dessen Ende die Figur steht (X).
Das Kostüm hat somit ein besonderes Verhältnis zum Darstellerkörper, es ist ein raumkonstituierendes Hilfsmittel. Ein Kostüm schafft eine Räumlichkeit um den direkten, nackten Körper. In diesem neuen Kostümraum bewegt sich der Darstellende durch den restlichen, ihm durch Organisation und Gestaltung zur Verfügung gestellten Bühnenraum und interagiert mit seinen Mitspielern.
2.1. Definition Kostüm
Kostüm gilt als eine der vierzehn Kategorien, die Erika Fischer-Lichte in ihr Zeichenrepertoire zur Untersuchung des theatralischen Codes aufgenommen hat.5 Um diese Fülle an Zeichen weiter zu verorten und zu klassifizieren, stellt sie ihnen Gegensatzpaare zur Seite:
- akustisch/visuell
- transitorisch/andauernd
- schauspielerbezogen/raumbezogen
Kostüm bedient in diesem Raster die Attribute visuell, länger andauernd und schauspielerbezogen, was als sinnvolle, logische Anordnung erscheint, da es sich durch seinen Schauwert auszeichnet und, anders als die transitorisch bestimmten Zeichen wie z. B. Musik und Geräusche, über den Verlauf einer Vorstellung erhalten bleibt. Wie oben bereits erläutert, besteht die besondere Schwierigkeit, ein Kostüm zu betrachten darin, dass es sich stets dem gewählten Fokus – sehen wir den Schauspieler oder die Figur? – entziehen kann. Der Begriff „Kostüm“ kann somit auf unterschiedliche Weise definiert werden. Eine Möglichkeit besteht darin, Kostüm als Kleidung der Figur aufzufassen, wie Fischer-Lichte es postuliert: „Das Theaterkostüm denotiert stets die Kleidung der Rollenfigur X.“6 In dieser Aussage finden sich die zwei widersprüchlichen Begriffe Kostüm und Kleidung auf semantischer Ebene eng miteinander verknüpft und trennen dennoch ganz klar, welches Objekt mit welchem Terminus bezeichnet wird. Das zeigt deutlich, dass ein Kostüm nur als hybride Mischform existiert.
Kleidung ist im theatralen Kontext ein Mittel der Charakterisierung, tatsächlich ist sie sogar imstande, den oder die Tragende selbst zu bedeuten. Dieser Umstand erklärt sich dadurch, dass Kleidung den Körper einfasst wie eine zweite Haut und auch so wahrgenommen wird. Während im alltäglichen Geschehen nicht immer konkret anhand eines bestimmten Kleidungsstils zwischen Individuen differenziert werden kann, ist es im Rahmen einer Inszenierung einfacher, von der Kleidung auf das Individuum und dessen Identität zu schließen; allein deswegen, weil man es üblicherweise mit einem begrenzten Figurenpersonal zu tun hat. Ein Kostüm dient den Rezipienten als Schlüssel zur Charakterisierung der Figur, indem es Werthaltungen, Eigenschaften der Persönlichkeit oder vorübergehende emotionale Befindlichkeiten anzeigt. Der Transformationsprozess, der beim Anlegen eines Kostüms in Gang gesetzt wird, führt zurück auf obige Formel A+K=X – was als Kostüm und Darsteller hineingeht, kommt als Figur und deren Kleidung wieder heraus. Das Kostüm ist in seiner symbolischen Funktion fähig, nicht nur eine bestimmte Figur zu bedeuten, sondern auch andere Parameter der Inszenierung zu kennzeichnen, beispielsweise die zeitliche Epoche, Wetterverhältnisse sowie Beziehungen zwischen Figuren: „Mit Hilfe von Ähnlichkeiten und Kontrasten in Farbe, Linie oder Ornament kann das Kostüm auf Bestehen und Veränderung bestimmter Beziehungen zwischen den Rollenfiguren hinweisen oder die Bedeutung einer Rollenfigur unterstreichen.“7 Hier werden bereits Elemente des Designs angesprochen, durch die ein Kostüm seine Wirkung entfaltet. Dieselben Elemente finden sich im Design einer Räumlichkeit wieder und werden in Kapitel 2.3. erläutert. Als Kleidung der Figur nimmt das Kostüm außerdem gegenüber der Gestik und Proxemik eine besondere Position ein. Hier schließt sich der Kreis zum raumkonstituierenden Hilfsmittel des Darstellers - die Bewegungsmöglichkeiten, die vom Kostüm abhängig sind, und über den Darsteller ausgeführt werden, charakterisieren auf sehr subtiler Ebene die Figur und ihre Rolle, die sie in der Gesellschaft einnimmt: „Ein hautenges Kleid und Stöckelschuhe erlauben z. B. keine weitausgreifenden Schritte, Schnürkorsett und Krinoline nur gemessene, aufrechte Bewegungen. Dagegen wird ein Kleid im Empire-Stil durchaus große Schritte und schnelle Bewegungen in gebeugter Haltung zulassen; die von diesem Kleid bedeutete soziale Rolle jedoch wird einen derartigen Gestus nicht als angemessene Bewegungsform erscheinen lassen.“8
Eine zweite Möglichkeit, den Begriff „Kostüm“ abzugrenzen ergibt sich durch die theatrale Rahmung einer Situation. A impersonates B while C looks on – so lautet die Basisanleitung Bentleys für jegliche Konstellationen mit theatralem Gehalt. Statt der Unterscheidung zwischen Darsteller und Figur wird die Definition nun an der theatralen Situation festgemacht, vereinfacht gefragt – Theater oder nicht Theater? Durch die öffentliche Zurschaustellung verstärkt sich der Zeichencharakter, der einem Kleidungsstück inhärent9 ist so sehr, dass sich Terminus und Wahrnehmung hin zum Kostüm verschieben. In diesen Spiel-Situationen herrscht bis zu einem gewissen Grad immer ein mimetischer Grundton; die Intensität kann dabei von Nachahmung einzelner Elemente bis hin zu zum realitätsgetreuen Abbild reichen. Das bedeutet für das Kostüm, dass so getan wird, „als ob“ jene Figur diese Kleidung trüge. Unter Einbeziehung dieses aristotelischen Axioms kann Kostüm daher auch als Nachahmung von Kleidung gedacht werden.
2.2. Textile Komposition
Um nun dem bezeichneten Kostümraum näher zu kommen, müssen einige Parameter vorgestellt werden, die diesen Raum sozusagen aufspannen. Das ist durchaus wörtlich zu verstehen, denn ein Kleidungsstück ist zwar als dreidimensionales Objekt angelegt, verbringt einen Großteil seiner Lebensdauer dennoch in eher flächiger Existenz, wenn es nicht getragen wird. Das „Aufspannen“ entspricht dem Anlegen eines Kleidungsstücks, wodurch es von einem Körper ausgefüllt wird, der es einerseits in seine letztgültige Form überführt und andererseits in Bewegung versetzt. Wie ein Kleidungsstück anliegt, ob es einen Körperteil sanft umspielt und an anderer Stelle ein straffes Profil mit scharfen Kanten zeichnet, die Freiheit in der Ebene fließenden Materials sucht, nur um sich anschließend im wimmelnden Gedränge kleinteiliger Falten zu verlieren – diese Beobachtungen können nur gemacht werden, wenn ein Körper sie zum Ausdruck bringt. Insofern kann hier bereits die zweite Phase der Raumbildung ausgemacht werden: durch das Tragen eines Kleidungsstücks wird es zu einem räumlichen Konstrukt. Nichtsdestotrotz hängt der Kostümraum von weit mehr als nur dem Moment des Tragens ab. Denn sowohl Struktur als auch Textur sind dem Kleidungsstück eigen, unabhängig davon, ob es nun angezogen wird oder nicht. Das räumliche Potential sozusagen ist daher ab der Fertigstellung in das textile Konstrukt eingeschrieben. Dies bezeichnet die erste Phase, die Basis, auf der der Kostümraum fußt. Das 2-Phasen-Modell lässt sich in einem Diagramm darstellen:
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Abb. 2.
Die drei Begriffe stehen in einem pyramidenförmigen Verhältnis zueinander, in welchem Schnitt und Material das Fundament bilden. Der Schnitt eines Kleidungsstücks ist unveränderlich, ebenso das Material wodurch beide als konstante Attribute agieren, die das Grundgerüst schaffen. Der Schnitt kann geradlinig oder verspielt sein, mittels Falten zusätzlichen Raum einlagern, durch Abnäher eine körpernahe Silhouette erzeugen. Das verwendete Material ist je nach Faser und Webart schwer, durchscheinend, standhaft, leicht, etc. Die endgültige Form eines Kleidungsstücks ergibt sich, wenn dem Konstrukt aus Material und Schnitt Bewegung hinzugefügt wird.
2.2.1. Materialfunktion
Die Materialien, aus denen ein Kostüm gefertigt wird, verhalten sich je nach ihren Charakteristika überaus unterschiedlich. Diese bedingen sich maßgeblich durch die verwendete Faser, dem daraus gewonnen Garn und wie das Garn in der jeweiligen Webart weiterverarbeitet wird. Nach Ende des Webprozesses folgt unter Umständen noch die sogenannte Veredelung, ein Verfahren, bei dem die funktionellen oder dekorativen Eigenschaften eines Stoffes modifiziert werden.10 Ohne zu tief in die Textiltechnik einzusteigen, seien im Anschluss einige wichtige Aspekte der Funktionen unterschiedlichen Materials aufgezeigt, die für den Kostümraum mitbestimmend sind. Ein Vorteil für diese Arbeit ist die Tatsache, dass Designer in ihren Entwürfen oft eine bestimmte Silhouette kreieren. Um diese umzusetzen, muss die Stoffauswahl mit Weitsicht getroffen werden. Daher lassen sich Stoffe klassifizieren, je nachdem, für die Kreation welcher Silhouette sie sich bewährt haben. Diese Einordnung wird zu Rate gezogen, um zu erläutern, wie ein Material den Umriss eines Kostüms formt und letztlich zur Entstehung des Kostümraums beiträgt. Unterschieden werden nach klarer Kontur, fließendem Fall, Dekor, Volumen und Figurbetonung.11 Während sich mit Kontur und Fall, sowie Volumen und Figurbetonung offensichtliche Gegensatzpaare bilden, steht Dekor jeder Rubrik separat gegenüber. Denn Dekor umfasst viele verschiedene Materialien, die sich verstärkend auf jede der eben genannten Silhouettentypen auswirken können. Pailettenborten beispielsweise können sowohl eine klare Linie des Schnitts nachzeichnen, wie auch in dynamischen Bögen auf einem Satinkleid angebracht werden, sodass sich die stete Bewegung des Stoffes in der Form des Dekors widerspiegelt. Für schnörkellose, einfache Silhouetten werden feste, steife Stoffe verwendet. Diese Materialien besitzen meist ein gewisses Gewicht und Formstabilität. Hierzu gehören unter anderem Taft, Tweed, Denim und Leder. Die fließende Linie dagegen zeichnet den Körper in weichen Zügen nach, was nach anschmiegsamen, bewegten Stoffen verlangt. Ganz im Gegensatz zum robusten Umriss wird die Formstabilität hier vollends außen vor gelassen und das Gewicht ist eher leicht, um einen fließenden Eindruck im Faltenwurf zu ermöglichen. Georgette, Chiffon, Satin, Jersey oder Samt werden dieser Kategorie zugeordnet. Bei voluminösen Stoffen geht es oftmals darum, die Silhouette zu verändern oder übersteigern. Daher ist ein gewisser Stand wichtig, dennoch dürfen die Materialien nicht zu schwer sein. Neue Formen lassen sich gut durch Tüll, Organza und Pelz erschaffen. Wichtiger als der Stoff an sich ist jedoch dessen Verarbeitung: durch Plissieren, Kräuseln oder auch Wattieren wird dem Grundmaterial mehr Volumen hinzugefügt. Die Figurbetonung wird heute mittels der Stoffe selbst erzielt, die durch elastische Fasern an Dehnbarkeit gewinnen. Stretchstoffe sind hierbei führend. Vor dieser Entwicklung mussten feste Stoffe jedoch in Form genäht werden, was ein Material mit hoher Zug- und Reißfestigkeit erforderte, um dem Schnitt und Verarbeitung, die die Elastizität ersetzen mussten, standzuhalten.
Hinter der Silhouette, die hier angesprochen wird, verbirgt sich die Räumlichkeit eines Kostüms. Und auch diese hängt vom verwendeten Material ab. In der Stoffauswahl entscheidet sich, ob ein Kostüm mehr oder weniger vom Umgebungsraum einnimmt, ob im Textilkonstrukt selbst zusätzlich Raum durch Plissée eingelagert wird oder ob es sich ganz zum Körper hin zurückzieht.
2.2.2. Schnittkonstruktion
Unter einem Schnitt lassen sich zwei Dinge verstehen: erstens eine Skizze auf Papier und zweitens das, was umgangssprachlich als „Form“ eines Kleidungsstücks bezeichnet wird. Die Skizze ist, ähnlich einer Bauzeichnung, der technische Plan zur Realisierung einer Textilie. Am ehesten vergleichbar ist unter den vielen Möglichkeiten baulicher Zeichnungen der Architektur der Grundriss. Auch er ist eine zweidimensionale Abbildung dessen, was später in ein räumliches Konstrukt umgesetzt werden soll. Damit ist die sonderbare Eigenart beider Zeichnungen offengelegt: auf einem Blatt Papier wird mittels flächiger Darstellung die spätere Körperlichkeit des Objekts kommuniziert. So seltsam diese Art des Planens beim Innehalten wirken mag, unter Umständen sogar völlig paradox – in solch einer Zeichnung findet sich der Raum in Längen, Tiefen, Winkeln und Kanten wieder. Es sind gewissermaßen die ersten räumlichen Potentiale, die hier festgelegt werden.
Der Schnitt als „Form“ ist eine Definition, die eine weitere Differenzierung fordert. Es ist gewissermaßen die unveränderliche Form der Textilie, im Gegensatz zur Form, die an der Spitze der Kostümraum-Pyramide steht: diese bedingt sich gerade durch Bewegung. Der Schnitt eines Kleidungsstücks dagegen sorgt dafür, dass dessen Form durch Stoffteile, die unveränderlich an ein und demselben Platz im Konstrukt gehalten werden, gewahrt wird. Es mag sein, dass die Teile sich durch einen Körper, für den der Schnitt zu klein ist, auf eine Weise verformen, die der Plan nicht vorsieht, nichtsdestotrotz erhalten sie die intendierte Form des Kleidungsstücks. In der technischen Zeichnung einer Textilie wird also geregelt, wie sich die Materialteile später zueinander positionieren sollen. Was der Schnitt jedoch nicht festsetzen kann, ist die räumliche Struktur, die sich durch je unterschiedliches Material ergibt. Im unten abgebildeten Beispiel ist der Unterschied gut erkenntlich: Den beiden Pullovern in Oversize liegt derselbe Schnitt zugrunde. Wo die Ausführung rechts leicht anmutet und den Körper in einer Weise umspielt, dass ein imaginierter Luftzug das Material zum Faltenwurf anregt, wirkt die Variante links schwerer, den Körper umschließend; nicht zuletzt aufgrund der Maschenware mit Metallicveredelung entsteht die Assoziation eines Kettenhemdes.
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Abb. 3: Derselbe Schnitt kann durch unterschiedliche Materialien zu verschiedenen Silhouetten führen.
2.2.3. Formgebung
Der Kostümraum manifestiert sich in der letzten Phase durch die Bewegung, die die finale Form erschafft. Erst in diesem Stadium gewinnt ein Kostüm seine vollständige Bedeutung, da sein Verhalten im jeweiligen Umgebungsraum und im Bezug auf den tragenden Körper analysiert werden kann. Unter diesen Voraussetzungen ist es ohne weiteres möglich, dass ein Kostüm an unterschiedlichen Trägern jeweils andere Bedeutungen herzustellen vermag. Jeder Körper ist anders, verfügt über eine ganz bestimmte Proportionierung, ist möglicherweise in manchen Funktionen eingeschränkt und hat durch diese Faktoren im Lauf des Lebens spezifische Bewegungsmuster ausgebildet. Aufgrund dessen kann sich der Kostümraum verändern. Natürlich ist davon auszugehen, dass speziell Kostüme passgenau angefertigt oder geändert werden, es sei denn, es steht die explizite Intention dahinter, den Darsteller in einem unpassenden Kostüm auftreten zu lassen. Dennoch, das Kostüm, das für eine Frau von 1,75 Meter Größe, mit langen, grazilen Gliedmaßen gefertigt wurde, verhält sich an einer Kollegin, die 1,70 Meter misst, jedoch mehr Brust und Hüfte hat anders.12 Wir verwandeln das eben genannte Kostüm für eine Beobachtung in ein bodenlanges, elegantes Kleid. War der ursprüngliche Zweck, durch einen nicht allzu körpernahen Schnitt und mattes, weich fallendes Material den Körper nur erahnen zu lassen und der Figur eine gewisse Unnahbarkeit zu verleihen, so mag das Kostüm an der zweiten Dame diese Funktion nicht mehr einzulösen: Stoffregionen spannen selbst ohne Bewegung und die Unnahbarkeit weicht einer absolut körperlichen Manifestation, die über die Figur haargenau das Gegenteil aussagt, als gewünscht. Die vom Körper evozierte Bewegung überträgt sich auf das Material, was je nachdem, aus welchen Elementen sich das Textil zusammensetzt, verschiedene Konsequenzen zur Folge hat: Stoffflächen schieben sich ineinander, werden zusammengepresst, generieren Falten. Die Bewegung setzt das Material unterschiedlichem Lichteinfall aus; schimmernde Stoffe wie Samt reagieren darauf besonders subtil mit dynamischer Tiefenwirkung oder träger Flächigkeit. Dekor, das nicht vollständig angenäht ist, beginnt sich unabhängig vom restlichen Kleidungsstück zu bewegen. Der Kostümraum entfaltet sich im Prozess des Tragens restlos. Von der zweidimensionalen Planung und Anfertigung der Schnittteile, die nur in der Ebene existieren, über das Zusammennähen des zurechtgeschnittenen Stoffes und somit einer ersten Phase der Raumwerdung, gelangt das Kostüm am Träger zur räumlichen Vollendung und interagiert fortan mit Körper und Umgebung.
2.3. Qualität des physischen Kostümraums
Die bisher behandelten Aspekte illustrieren, wie sich der Kostümraum zusammensetzt, nämlich aus Material, Schnitt und Bewegung, die die Form erzeugt. Im Folgenden wird sich nun der Frage, Wie ist der Kostümraum? genähert. Der Aufbau lässt zwar erahnen, wie der Kostümraum ist, sagt konkret aber noch nichts darüber aus, welche qualitativen Merkmale er aufweist. Um weiterhin vergleichend vorgehen und Kostümräume einander gegenüberstellen zu können, wird daher ein erstes Schema entwickelt. Dieses nimmt mit beschreibenden Adjektiven Bezug auf zwei Kategorien: Es kann die Wirkung auf den Umgebungsraum des Kostüms, beziehungsweise dessen Verhältnis zum tragenden Körper ausgedrückt werden, sowie auf Materialbeschaffenheit und Silhouette eingehen. In dieses Raster lassen sich viele Kostümräume einordnen, wodurch sich Kontraste und Parallelen besser erkennen lassen.
2.3.1. Kontrahierend – expandierend
Das Begriffspaar, das je unterschiedliche Ausmaße des Kostüms auf den Umgebungsraum anzeigt, geht einher mit den Bezeichnungen, die das Verhältnis zum Körper im Kostüm charakterisieren: umschließend und lösend.
Kontrahierend meint, dass sich das Kostüm aus der Umgebung, und dementsprechend an den Körper hin zurückzieht. Der Kostümraum ist nicht ausladend, er beansprucht nur wenig vom Raum, der das Kostüm umgibt. Der Körper wird in dieser Situation umschlossen wie von einer Hülle. Das Prinzip des Umschließens bedeutet nicht unbedingt, dass dem Körper hierbei die Bewegungsfreiheit genommen wird. Um darüber entscheiden zu können, müssen erst weitere Beschreibungen geleistet werden (siehe unten). Mit ‚expandierend‘ wird angezeigt, dass der Kostümraum sich in den Umgebungsraum verlagert, er ist also umfangreich raumgreifend. Je expandierender ein Kostümraum in Erscheinung tritt, desto lösender die Wirkung auf den Körper; die direkte Hülle um den Körper existiert dabei nicht mehr. Auch hier gilt festzuhalten, dass lösend nicht die Befreiung des Körpers meint. Ein expandierend-lösender Kostümraum kann sich durchaus in der Verwendung einer breiten Krinoline zeigen, die die Bewegungsmöglichkeiten des Körpers trotzdem einschränkt.
2.3.2. Statisch – dynamisch
Hierbei wird verdeutlicht, wie viel Bewegung im Material vorhanden ist. Mit dem Begriff statisch werden daher Materialien beschrieben, die aufgrund ihrer Machart fest, steif, unbeweglich sind. Das hat zur Folge, dass wenig Dynamik im Material entstehen kann, selbst wenn es durch den Körper bewegt wird. Leder muss nicht unbedingt dick sein, im Gegenteil. Selbst dünnes Leder, das im Zuschnitt noch weich und formbar in der Hand liegt, verliert diese Eigenschaft bei der Produktion eines Mantels zum Beispiel. Wird dieser anschließend angezogen, lässt sich das Material zwar in Falten legen, dazu ist aber im Vergleich zu anderen Stoffen ein hoher mechanischer Aufwand nötig. Bei leichten Stoffen wie Musselin genügt ein Luftzug, um einen Faltenwurf zu erzeugen, im Falle des Ledermantels muss beispielsweise erst ein Arm abgeknickt werden. Und selbst dann ist die Bewegung eher kantig als fließend. Dynamik hat ein Material dann, wenn es sozusagen von sich aus änderungswillig ist. Es reichen bereits kleine mechanische Einwirkungen von außen, um Bewegung zu erzeugen, die sich (bei sehr dynamischen Stoffen) wie Wellen durch das Material fortsetzt. Die Formen, die sich dadurch ergeben sind geprägt von Weichheit, sie weisen keine groben Kanten auf. An dieser Stelle sei auf eine Besonderheit hingewiesen: Bewegung drückt sich auf verschiedene Arten im Material aus. Die viel genannte Faltenbildung kann organisch – also dem Stoff gewissermaßen inhärent – sein, oder aber suggeriert werden. Ein Stück weich fallender Stoff kann ohne viel Zutun in der Verarbeitung sich selbst überlassen werden und im fertigen Kostüm frei fließen. Bei Stoffen, die eine höhere ‚Statik‘ aufweisen, kann das Abbild von Bewegung nachträglich hinzugefügt werden, indem der Stoff aufwändig in Falten und Formen gelegt wird, die anschließend fixiert werden. ‚Dynamisch‘ bezeichnet daher nur Materialien, die echtes Bewegungspotential bergen.
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Abb. 4: Qualitäten des Kostümraums, dargestellt anhand Kleidersilhouetten.
2.4. Kostümraum und Kinesphäre
Bisher wurde unter dem Schlagwort Kostümraum vieles subsumiert, das sich mit seiner Struktur, Textur und seiner Visualität auseinandersetzt. Da aber bereits betont wurde, dass sich dieser Raum nur durch das Tragen des Kostüms offenbaren kann, muss „das Zusammenspiel oder Spannungsverhältnis der gebauten und geschmückten Raumhülle zu ihrem bekleideten oder unbekleideten Nutzer“13 selbstverständlich mit beleuchtet werden. In Verbindung zu dieser Symbiose aus Träger und Kostümraum steht eine räumliche Besonderheit, die untrennbar an die genannten gekoppelt ist: die von Rudolf von Laban benannte Kinesphäre. Von Laban beschreibt sie als „Raum in der Reichweite des Körpers“14, ein auratisches, kugelförmiges Gebilde, dessen Ränder mit gestreckten Extremitäten erreicht werden können. Wenn sich nun aber zwischen den Körper und dessen Kinesphäre noch ein anderer Raum schiebt, bedeutet das zwangsläufig, dass sich entweder am einen oder am anderen Raum etwas verändert. In diesem Fall ist es der Kostümraum, der maßgeblich Einfluss auf die Kinesphäre nimmt, da das Kostüm darüber entscheidet, wie frei oder unfrei sich der Darsteller bewegen kann. Insofern lässt sich die Kinesphäre im Hinblick auf Kleidung in drei verschiedene Zustände unterteilen: die absolute Kinesphäre konstituiert sich über das, was physisch-anatomisch möglich ist, eine relative entspricht dem nutzbaren Bewegungsraum und die restriktive Kinesphäre tritt dort zum Vorschein, wo Kleidung beziehungsweise Kostüme die Bewegungen einschränken. Ein Kostüm ist in der Lage, über einen ausschweifenden Kostümraum die Kinesphäre gewissermaßen zu „sprengen“. Das heißt, der Kostümraum ist größer als der eigene in Reichweite befindliche Raum. Um ein Beispiel zu geben: eine überdimensionale Krinoline würde diese Prämisse erfüllen, insofern sie dem Träger die Beinfreiheit auf der unteren horizontalen Ebene gewährt, die ihm physisch möglich ist. Der Darsteller könnte seine Beine nach wie vor frei bewegen, ohne an die Ränder der Krinoline zu stoßen, der Reifrock selbst jedoch hätte somit einen größeren Durchmesser als die Kinesphäre. Natürlich wird hier nicht der gesamte kinesphärische Raum erweitert sondern lediglich der der unteren Ebene, da der Darsteller seine Beine beispielsweise nicht in einem 90°-Winkel seitlich von sich strecken kann. Die Variante, in der die Kinesphäre gesprengt, zugleich aber stark verkleinert wird, ist ebenfalls denkbar. Das zuvor gewählte Beispiel bedarf lediglich einer kostümhistorischen Anpassung: eine andere Art des Reifrocks ist das im 18. Jahrhundert aufkommende panier, das sich im Lauf der Zeit vorne und hinten abflacht und somit vor allem breit ist. Absurde Weiten von bis zu 5 Metern (!) waren zwar nicht die Norm, aber durchaus anzutreffen. Ein solches Gerüst erlaubt zwar die Beine seitlich von sich zu strecken, hinten und vorne ist jedoch nach wenigen Zentimetern Schluss. Das Resultat: ein panier durchbricht die Kinesphäre in der horizontalen, mittleren Lage nach links und rechts und minimiert sie in derselben Lage vorwärts und rückwärts.
Die Verbindung von Darsteller mit seinem Kostümraum zu anderen Mitspielern wird ebenfalls durch die Kinesphäre geleistet. Sie rückt immer dann in den Fokus, wenn der Kostümraum zur einen oder anderen besonderen Ausprägung hin tendiert. Je auslandender und größer, desto eher wird der direkte Kontakt zu Mitspielern erschwert. Im Spezialfall des Kinesphären-sprengenden Raums entsteht eine Barriere um den Darsteller. Kontrahierende Kostümräume dagegen stellen weniger Probleme dar, sie lassen genug Platz zum „normalen“ Umgang miteinander. Einengende Kostümräume jedoch, die den Körper regelrecht bedrängen, können einen ebenso komplizierten Kontakt heraufbeschwören. Im absoluten Extrem ist eine Näherung an andere Mitspieler aufgrund der restriktiven Kinesphäre nicht mehr möglich und der Darsteller wird in seinem Spiel zunehmend passiv. Sowohl bei expandierenden wie auch bei einengenden Kostümräumen muss von Fall zu Fall separat untersucht werden, auf welche Arten sich die Agierenden begegnen können: verfügt nur einer über derart viel/wenig Raum oder sind mehrere Darsteller in derselben Position? Wird der Umgang erschwert oder komplett unterbunden? Anschließend an diese Beobachtungen muss überprüft werden, wie sich das Verhältnis auf die dramaturgische Ebene ausweitet – wer wird dadurch als Figur möglicherweise isoliert und welcher Natur ist diese Isolation – sozial, emotional, kognitiv? Und wer schafft es unter Umständen, sich dem Kostümraum zu widersetzen?
3. Raum und Kostüm als interagierende Inszenierungskategorien
Kostüm und Raum teilen sich zwei grundlegende Eigenschaften: Die „funktionale Ergänzung und Erweiterung des menschlichen Körpers“, sowie die Funktion als „kulturell eingebettetes Referenzsystem“.15 Beide Charakteristika gewinnen mit dem Übergang in theatral wirkende Kategorien an Be- und Umdeutung. Zur funktionalen Ergänzung gesellt sich vor allem die symbolische Erweiterung und lässt den Körper und dessen Kleidung damit als Elemente auftreten, die jenseits des Funktionalen auch für ganze Themenkomplexe stehen können. So lassen sich bei genauer Beobachtung von Kostüm und Raum Motive aller Art ausmachen, die aus gesellschaftlichen, politischen, historischen Bereichen, bei kreativen Herangehensweisen sogar aus Kunst oder Musik stammen können. Oft werden mehrere Motive zugleich in Raum und Kostüm eingeschrieben. Die Verbindung östlicher und westlicher Kultur in Bram Stokers Dracula beispielsweise, die sich mit unzähligen weiteren Elemente (jung/alt, Tier/Mensch, männlich/weiblich) in der Figur Dracula vereint, um dessen Ungreifbarkeit herauszustellen, wird über Gustav Klimts Gemälde Der Kuss hergestellt: die Goldfarbe sowie Teile der Ornamentik erinnern an Werke byzantinischer Malerei und werden in eines der vielen Kostüme für Gary Oldman übertragen.16 Um die Bedeutung in diesen teils geballten „Motiv-Konglomeraten“ erkennen zu können, müssen Kostüm und Raum als die genannten Referenzsysteme fungieren. Sie gehören einer Vielzahl von Systemen an, die wie beispielsweise Hausbau, Recht, Sprache, religiöse Rituale oder soziale Beziehungen, zur Konstitution des „Hypersystems“ Kultur beitragen.17 Die Bedeutung eines in einer Inszenierung verwendeten Elements herauszufiltern gelingt dann, wenn es sich in seiner Existenz auf dasjenige Element beziehen kann, welches ihm im jeweiligen kulturellen System zugrunde liegt. Nun bildet Theater selbst ein hochkomplexes kulturelles System, in welchem diverse Kategorien miteinander in Beziehung stehen. Kostüm und Raum schaffen darin durch ständige Wechselwirkung Bedeutungen, die alsdann einem Vorgang der Umdeutung, Neugewichtung oder Verschiebung unterzogen werden. Warum und mit welchen Mitteln dieser Prozess funktioniert, wird nachfolgend untersucht.
3.1. Funktionen von Kostüm und Raum im theatralischen Code
Geht es um die Kreation und Darstellung der Figurenidentität, scheint vorrangig das Kostüm damit betraut zu sein. Seine Visualität kann diverse Eigenschaften einer Figur anzeigen, von deren Beruf über die Nationalität, soziale Klasse oder gesellschaftliche Gruppierung, bis hin zur emotionalen Befindlichkeit.18 Ein Kostüm weckt im Zuschauer gewisse Zuschreibungen, die mit dem jeweiligen Kleidungsstück verknüpft sind, ob nun durch kulturelle Prägung oder subjektive Erfahrung. So entsteht etwas, das dem vorläufigen Entwurf einer Identität gleich kommt. Dieser Entwurf muss durch den Darsteller präzisiert werden: „die linguistischen und paralinguistischen, mimischen, gestischen und proxemischen Zeichen, die er hervorbringt, füllen den von der äußeren Erscheinung skizzierten Rollenentwurf mit konkretem, individuellem Leben.“19 Dabei muss es sich nicht zwangsläufig um die Erfüllung der im Zuschauer generierten Erwartung handeln. Eine Darstellerin, die in ausgewählter Tracht auf der Bühne erscheint und damit zunächst die regionale Zugehörigkeit einer bestimmten Nationalität, beispielsweise dem deutschen Schwarzwald, kommuniziert, kann das Bild ländlich-konservativer Traditionsverbundenheit durch linguistische Zeichen brechen, indem sie nicht den zugehörigen Dialekt spricht und durch proxemische, gestische wie mimische Zeichen, die darauf hinweisen, dass sich die Figur nicht mit ihrer Kleidung und somit Rolle identifiziert.
Der Raum dagegen wird zunächst eher weniger mit der Figur und ihrer Charakterisierung in Verbindung gebracht. Vermutlich deshalb, weil er nicht ein so direktes Verhältnis mit dem Darsteller eingeht wie das Kostüm. Dennoch wirkt der Raum in ganz ähnlicher Weise; er ist in der Lage, auf allgemeiner Ebene etwas über Zeit und Ort auszusagen, an dem sich die Figuren aufhalten, sowie durch seine Dekoration auf Eigenschaften bestimmter Figuren und deren Beziehung zueinander hinweisen zu können. Zunächst sollte der Begriff Raum differenziert werden, da eben schon das Wort Dekoration benutzt wurde. Als Bühnenraum wird der Raum bezeichnet, der erstens der Raum ist, in dem A agiert und an dem sich zweitens X befindet. Fischer-Lichte unterscheidet hier zwischen „Betätigungsfeld“ und „Umwelt“.20 Dieselbe Beobachtung dieser Zweiteilung kann im Kostüm gemacht werden und stellt ein Gleichnis zum Raum her: Das „Werkzeug“ Kostüm wird vom Darsteller im Betätigungsfeld Bühnenraum eingesetzt, um die Kleidung der Figur in deren Umwelt zu bedeuten. Mit der eben angesprochenen Dekoration lässt sich der Bühnenraum konkretisieren – er kann sich dadurch in diverse Lokalitäten verwandeln, vom Hexenhaus bis zum Schlachtfeld eines Krieges. Insofern ist es korrekter zu sagen, dass erst die Dekoration eines zur Verfügung stehenden Raumes die endgültige Wirkung desselben hervorbringt. Nun gibt es mehrere Überschneidungen, wie Raum und Kostüm im theatralischen Code wirken. Zwei besondere, die die spezielle Symbiose der beiden Kategorien verdeutlicht, seien hier vorgestellt.
Der Raum und seine dekorativen Elemente (Tapeten, Möbel, Fußböden, Deckenbemalung, etc.) sorgen in ihrer Anordnung dafür, dass proxemische Zeichen nahe gelegt werden. Das bedeutet, dass ein Raum mit je unterschiedlicher Grundform – beispielsweise rund, mit Steigung, rechteckig – und verschiedenartiger Kombination des Dekors – viele oder wenige Stühle, gar keine Sitzgelegenheiten, Stufen, usw. – andere Bewegungsmuster suggeriert.21 Ebenfalls eine Eigenschaft, die sich die Kategorie Raum mit der des Kostüms teilt. Und nicht nur sind beide Inszenierungskategorien separat in der Lage, die Möglichkeiten proxemischer Zeichen zu bestimmen. Durch das Zusammenwirken von Kostüm und Raum und ihren jeweils hervorgebrachten proxemischen Zeichen können interessante Untersuchungsaspekte entstehen: stehen die Bewegungsmuster, die das Kostüm schafft, in Kontrast zu denen des Raumes oder ähneln sie sich? Verändern sie sich oder bleiben sie gleich? Müssen neue Räume aufgesucht, neue Kostüme angelegt werden, um eine Veränderung zu erwirken? Ein zweites Merkmal findet sich in der Charakterisierung zwischenmenschlicher Beziehungen. Diese findet durch Linien, Ornamentik und Farben statt, die sich kontrastierend oder ähnelnd in den verschiedenen Kostümen begegnen. Fischer-Lichte erkennt die Beziehung zwischen Kostüm und Raum und konstatiert: „Außerdem können – vor allem im Farbton – besondere Beziehungen zwischen den Kostümen der Rollenfiguren und der Dekoration hergestellt werden, die auf die allgemeine Stimmung der Aufführung oder auch auf bestimmte in ihr ausgedrückte bzw. symbolisierte Ideen hinzuweisen vermögen.“22
3.2. Visuelle Designelemente
Egal, welche Form man betrachtet, ob es sich nun beispielsweise um Produkt-, Textil-, Kommunikations- oder Industriedesign handelt, jedes Gebiet greift auf dieselben Elemente der Gestaltung zurück, um überhaupt ein Design zu erschaffen. Und da sowohl Kostüme als auch Bühnen- beziehungsweise dekorierte Räume einem Designprozess zugrunde liegen, ist es angebracht, deren grundsätzliche Bestandteile vorzustellen, um später, in der Analyse, Querverbindungen aufzeigen zu können. Nun gibt es keine feste Anzahl universell gültiger Komponenten, die in jedem Schaffensprozess global einheitlich verwendet werden. Außerdem existieren teils mehrere Bezeichnungen für dasselbe Element. Daher wird dieser Abschnitt einen wesentlichen Überblick und ein grundlegendes Verständnis bereitstellen, kann jedoch keine umfassende lexikalische Aufstellung aller je verwendeter Elemente leisten.
Linie
Eine Linie ist die Verbindung zweier Punkt und stellt das basale Designelement dar. Die Linie ist weiterhin durch ihre Länge, Stärke und Richtung charakterisiert und erhält durch ihre Beschaffenheit viele mögliche Darstellungen, z. B. kurvig, linear, gezackt oder winklig.23
Form
Sie wird hervorgebracht durch Linien, die einen Raum begrenzen, respektive einschließen. Damit erscheinen Formen als eigenständige Areale, die durch die Eigenschaften der Linien näher definiert werden.24
Körper
Sobald eine Form von der Zwei- in die Dreidimensionalität übergeht, spricht man von einem Körper, der über Masse und Volumen verfügt. Dieses Element kennzeichnet die Tiefenwirkung und wird, wie schon in vorangegangenen Beispielen, durch die Qualität der Formen und deren Linien bestimmt.25
Position
Bezeichnet die Distanz zweier Formen oder Körper zueinander.
Farbe /Farbpalette
Die Auswahl und Kombination von Farben beeinflusst die Wirkung der Objekte: damit ist z. B. Abgrenzung möglich oder auch die Adressierung bestimmter Emotionen. Farbe kann wirkungsvoll die Prinzipien der Komposition, die weiter unten angeführt werden, lenken.26
Textur
Die Textur bezieht sich auf die Erscheinung einer Oberfläche. Unterschieden werden sogenannte taktile, also fühlbare, und visuelle Texturen, die ausschließlich einen sichtbaren Eindruck vermitteln.27
Bei der Erläuterung eben genannter Elemente fällt auf, dass Linie, Form und Körper eng zueinander in Beziehung stehen – sie bauen aufeinander auf – wohingegen Position, Farbe und Textur losgelöst davon bestehen. Ein ähnliches Muster ergibt sich auch im Zusammenspiel dieser Elemente.
3.2.1. Prinzipien der Komposition
Harmonie
Werden Designelemente so angeordnet, dass sie ineinander übergehen und einen Sinn von Einheitlichkeit ausstrahlen, stehen sie in einem harmonischen Verhältnis zueinander. Sie bilden ein wohlgeordnetes Ganzes.28
Kontrast
Kontrast meint die Gegenüberstellung unterschiedlicher Komponenten. Besonders wirksam zeigt sich das kontrastive Verhältnis, wenn ein Element einem weiteren, dominierenden zur Seite gestellt wird.29
Variation
Werden gleiche Elemente mit einer Änderung versehen, erhält man eine Variation, die die Einheitlichkeit durchbricht und visuell ansprechend wirkt.30
Balance
Die Art, mehrere Elemente in eine gleich gewichtete Beziehung zu setzen. Die sogenannte symmetrische Balance wirkt anders als die asymmetrische: Symmetrie bedeutet passiven Raum, der durch Ähnlichkeit ausbalanciert, Asymmetrie dagegen aktiven Raum, der durch Kontrast Ausgewogenheit erzielt.31
Betonung
Ein Element wird herausgestellt, andere müssen sich unterordnen. Der Fokus wird dadurch auf ein bestimmtes Objekt gelenkt.32
Ganz offensichtlich sind dies keine autonomen Prinzipien. Manche beziehen sich aufeinander, entstehen auseinander oder bilden Gegensatzpaare. Betonung beispielsweise ist die Folge eines kontrastierenden Verhältnisses: Komplementärfarben können gegeneinander gestellt werden, zwei kleine Würfel flankieren einen größeren, eine gezackte Linie gewinnt inmitten von durchgehenden an Bedeutung, etc. Kontrast hingegen ist das Gegenteil von Harmonie, aber auch die Variation steht konträr dazu – sie kann einer durch übermäßige Harmonie hervorgerufene Monotonie entgegenwirken. Aus diesen vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten ergeben sich Spannungsverhältnisse, Ruhepole, stete Rhythmik, Stabilität oder Chaos, lebhafte Bewegung, usw. Designelemente und deren Prinzipien zur Verknüpfung stellen damit nicht zuletzt die Basis her, aus der sich eine Atmosphäre entwickeln kann. Sie sind gewissermaßen der Ursprung aller gestalterischen Existenz und tragen folglich alle darauf aufbauenden Bedeutungen in sich.
3.2.2. Licht und Farbe
„Colours effect on us is a psychological anomaly. And we may not know why it effects us, but it does.”33
Farbe im visuellen Bereich ist die Gestaltungskomponente, die den subtilsten aber kraftvollsten Einfluss auf den Zuschauer ausübt und deren Wirkung an dieser Stelle hervorgehoben werden soll. Farbe kommuniziert nicht konkret wie Mimik und Gestik oder gar Sprache. Einer Farbe muss nicht zwingend die ungeteilte Aufmerksamkeit geschenkt werden, um sie zu bemerken und verstehen; der Fokus beim Betrachten einer Szene kann auf etwas ganz anderem liegen (beispielsweise auf der Mimik des Gegenübers), während die unterschwellige Wahrnehmung von Farbe assoziativ, emotional, erfahrungsbasiert und symbolisch wirkt. Diese spezielle Wirkweise macht Farbe zu einem versatil einsetzbaren Gestaltungsmittel, das eine Geschichte jenseits der Handlung erzählt. Daher ist die für eine Inszenierung im Vorhinein festgelegte Farbpalette von besonderer Wichtigkeit: sie ist in der Lage Aufmerksamkeit zu lenken, auf Informationen hinzudeuten, sowie emotionale Reaktionen gezielt oder versteckt zu kontrollieren.34 Gillette hält am Beispiel einer Romanze und einer Tragödie fest, dass ein Designer mit Elementen arbeiten solle, die die emotionalen Charakteristika eines Stückes darlegen:
If the play is a gentle romance, it might be appropriate to use soft curves to define the outline of the set, and the scenery could be painted with delicate pastel to reinforce the romantic qualities of the play. If the play is an intense tragedy, hard lines, sharp angles, and a palette of dark colors would express the heavy mood that the production concept seeks to project.35
Gillettes Weisung macht einen elementaren Teil der Verwendung von Farbe aus, der mögliche Einsatz und die dahinter stehenden Intentionen jedoch gehen weit über dieses Mandat hinaus. Wie der Videoessayist Lewis M. Bond es ausdrückt: „There are no set guidelines to say ‘this is how you use colour’. But understanding the cognitive effects of it does help.”36 Farbpaletten, die eine Inszenierung unterstützen, werden nicht zufällig zusammengestellt. Meist orientieren sich Designer an sogenannten Farbschemata, die der Farbenlehre zugrunde liegen, so zum Beispiel komplementär, analog oder triadisch. Diese Schemata bilden die Grundlage für die Verwendung von Farbe, die je nach Inszenierung unterschiedlich ausfallen kann. Bond versucht die Fülle der Anwendungen unter zwei Punkten zu subsumieren: der assoziativen und transitiven.37 Die Idee hinter dem assoziativen Gebrauch von Farbe ist die, dass Farben mit einer Figur, Emotion, einem Motiv oder Umstand verknüpft werden und somit einen Referenzcharakter ausbilden. Die Farbe vermag fortan in einem Netzwerk aus Zeichen auf bestimmte hinzuweisen. Die Veränderung einer Farbe oder der gesamten Farbpalette dagegen macht eine Transformation sichtbar. Dabei kann ein Ortswechsel genauso thematisiert werden, wie ein mentaler Reifeprozess, der hierdurch angezeigt wird.
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Abb. 5: Die Verwendung der Komplementärfarben Blau und Orange weisen auf die innere Zerrissenheit der Figur hin. (Joker, 2019. Kamera: Lawrence Sher)
Eine Variable, die sich erheblich auf das Empfinden von Farbe auswirkt, ist das Licht, denn es handelt sich dabei um nichts anderes als eine spektrale Zusammensetzung, die dem Auge in bestimmten Bereichen des elektromagentischen Spektrums als Farbe erscheint. Die sichtbaren Farben erfahren je nach Helle oder Dunkelheit eine andere Intensität; bisweilen kann sogar der Eindruck entstehen, es handle sich um einen gänzlich anderen Farbton. Eine Veränderung der Farbe kann also nicht nur permanent sein – durch den Wechsel eines Kleidungsstückes beispielsweise -, sondern auch temporär über den Einsatz von Licht gesteuert werden. Löst man das Element Licht von Farbe und ihrer Wahrnehmung, so wird klar, dass Licht zunächst eine ganz andere, basale Aufgabe erfüllt: Seine Hauptfunktion liegt darin, in einem Raum Distanzen kenntlich zu machen. Damit ist der „gelichtete Raum“38, wie Gernot Böhme ihn nennt, geschaffen. Und obwohl es sich um den physikalischen Vorgang des Erhellens handelt, findet Böhme darin eine affektive Komponente, indem er feststellt, dass die primäre emotionale Erfahrung eines gelichteten Raumes die von Sicherheit und Freiheit sei, da die Dinge gewissermaßen „auf Distanz“ erscheinen.39 Licht ist nicht nur fähig, einen Raum zu „belichten“, sondern ihn zu charakterisieren: „Mit dem Ausdruck Beleuchtung meint man ein Lichtphänomen, nach dem Licht ein Grundtyp von Atmosphäre ist. Wenn Atmosphäre […] eine Umgebung [ist], die in bestimmter Weise anmutet, dann ist die Beleuchtung des Raums oder der Szene dafür von ausschlaggebender Bedeutung.“40 Damit einher geht nicht nur, wie ein Raum ausgeleuchtet wird – ob er beispielsweise flach wirkt, oder durch gezielte Schattensetzung an Tiefe gewinnt – sondern auch die Streuung und Verteilung des Lichts, die durch Konzentration oder Diffusion ganz unterschiedliche Effekte erzielt. Insofern gilt Licht, beziehungsweise Farbe als ein hochwirksames Instrument, das zunächst die Stimmung eines Individuums geschickt manipulieren kann, jedoch weit über seinen rein atmosphärischen Gehalt hinausweist und für ganze Narrative sinnstiftend wirkt.
3.3. Beziehungsprinzipien zwischen Kostüm und Raum
Die vorgestellten Designelemente, sowie deren Kombinationsmöglichkeiten stellen das grundsätzliche Instrumentarium der Inszenierungskategorien Kostüm und Raum dar. Es handelt sich um den essentiellen Ausdruck visueller Existenz, durch den beide Mittel überhaupt erst in Erscheinung treten. Die Verbindung der Designelemente in einem dekorierten Raum einer Inszenierung beispielsweise, befähigt eben diesen dazu, die symbolische Funktion, die Fischer-Lichte anspricht, zu erfüllen: Er kann etwas über Zeit und Ort des Geschehenes aussagen, über die Figur, die ihn bewohnt, über die Lebensumstände der Figur, auf kulturelle Besonderheiten hinweisen, etc. Den gleichen Effekt hat das Kostüm. Wenn nun aber beide Inszenierungskategorien und deren je eigene Elemente zusammen auftreten und in Interaktion miteinander treten, so weisen sie über eine bloße Charakterisierung hinaus. Noch viel stärker als Kostüm oder Raum für sich genommen, deuten sie übergeordnete Ideen und dramaturgisch relevante Motive an, die der Handlung bereits anhaften oder als zusätzliche Unterfütterung wirken.
Spiegelung
Dabei repräsentieren sich Raum und Kostüm gegenseitig durch Ähnlichkeitsverhältnisse. Möglich sind Gleichnisse in verwendeten Elementen wie Formen, Linien oder Farben, allerdings können auch Kompositionsprinzipien gespiegelt werden: die harmonische Zusammensetzung eines Raumes entspricht der des Kostüms, beide Zeichensysteme heben bestimmte ihnen eigene Elemente hervor, etc.
Ein Beispiel, das verdeutlicht, was eine Spiegelung ausmacht, entstammt der Verfilmung The Great Gatsby (2013) von Baz Luhrmann. Wenn Protagonist Nick Carraway zum ersten Mal auf Tom Buchanan trifft, wird er von Tom auf dem Weg zum Salon durch einen Raum geführt, der vollbehängt ist von dessen Trophäen. Dieser Durchgangsraum ist die genaue Wiedergabe der Kleidung von Tom Buchanan in architektonischer Sprache, oder andersherum: das Kostüm als exaktes Pendant zum Raum. Auffälligstes Element, das sich beide Kategorien teilen ist dieselbe Farbpalette. Dunkles Blau, helles Braun, Beige. Aber auch die verwendeten Texturen entsprechen einander: das glatte Leder des Gürtels oder der Reitstiefel spiegelt sich in den glatten Oberflächen des polierten Holzes. Die Stoffe und deren Farben wirken materiell, erdig-pragmatisch und doch mit einem gewissen Sinn für Fürstlichkeit durch das wertebeständige Blau. All das sind nicht nur Charakterzüge Tom Buchanans. Die Lust am Materiellen, ja die Unentbehrlichkeit dessen, sowie der unüberwindbare Pragmatismus, genau dort verhaftet zu bleiben – in der Sicherheit klarer Konturen mit Aussicht auf ein royales Leben – das ist eines der grundlegenden Motive im The Great Gatsby.
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Abb. 6: Kostüm und Raum sind absolut deckungsgleich. (The Great Gatsby, 2013.)
Negation
Hierbei verneinen sich Kostüm und Raum durch größtmögliche Andersartigkeit. Die jeweils verwendeten Elemente finden keine Entsprechung in der anderen Kategorie: enge Raffungen im Stoff treffen beispielsweise auf plane Wände ohne dekorative Ornamente, der Kontrast von Elementen im Kostüm ist besonders offensichtlich, die Raumgestaltung dagegen überwiegend harmonisch. Raum und Kostüm konterkarieren einander in hohem Maß.
Wenn Effie Trinket in The Hunger Games (2012) aus dem Kapitol zur Wahl der Teilnehmer an den bevorstehenden Hungerspielen in Distrikt 12 auftritt, führt das unglaubliche Gefälle zwischen sämtlichen Elementen ihrer Kleidung und denen des umgebenden Raumes dazu, dass sie seltsam entrückt wirkt: die strengen Linien des Gebäudes hinter ihr aus Betonblöcken, deren matte Textur, die Formen, die sich kaum von Rechtecken lösen; alles steht in höchst kontrastivem Gegenteil zu Effies Kleidung. Damit wird nicht nur die Andersartigkeit des Kapitols betont. Durch die Hochwertigkeit der Materialien, die sie trägt und deren extravagante Farbe wie Verarbeitung, stellt sich eine ökonomische Übervorteilung seitens des Kapitols dar. Das Ungleichgewicht zwischen Raum und Kostüm ist die Abbildung von Ungleichheit in der Gesellschaft dieser Dystopie.
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Abb. 7: Die Figur wirkt durch Negation von Raum und Kostüm als Fremdkörper. (The Hunger Games, 2012.)
Verstärkung
Bei einer Verstärkung wird jeweils die Wirkung des Raums oder des Kostüms durch die Aufnahme eines, oder einiger weniger Elemente in den visuellen Ausdruck der anderen Kategorie intensiviert. Beide Kategorien werden durch ein Element subtil miteinander verknüpft, z. B. durch die Verbindung gleicher Ornamentik oder einer Farbe. Der Farbton muss hierbei nicht der gleiche sein, eine Verstärkung kann auch über den Einsatz von Komplementärfarben erreicht werden, wie das Beispiel zeigt.
Myrtle Wilson, die Affäre Tom Buchanans, wohnt mit ihrem Mann in dessen Autoreparaturwerkstatt. Als sie Nick vorgestellt wird, trägt sie ein Kleid mit passendem Haarband in den Komplementärfarben Rot und Grün. Die Farben, die auf dem Spektrum einander gegenüberliegen, deuten auf ein Spannungsverhältnis hin, das sich in Myrtle personifiziert. Die Farben des Kleides werden durch den grün gestrichenen Türrahmen aufgenommen und noch sachter in der kupferfarbenen und grünen Werkstatteinrichtung wiedergegeben. Diese Spannung, die hier verstärkt wird, ist weniger Motiv als vielmehr eine grundlegende Energie, die an diesem Punkt eingeführt wird, im Rest des Films über große Strecken erhalten bleibt und dadurch die Beziehungen der einzelnen Figuren zueinander gestaltet.
[...]
1 The Making of Bram Stoker’s Dracula – The design of Eiko Ishioka (deutsch untertitelt). Entn. youtube. <https://www.youtube.com/watch?v=wAWbPBrdATg>, letzter Zugriff: 23.01.20.
2 Bei dem sogenannten theatralischen Code handelt es sich um ein theoretisches Konstrukt, das unabhängig von bestimmten Formen des Theaters alle Elemente enthält, durch deren Auswahl und Kombination sich die spezifischen Theaterformen konstituieren.
3 Wie ein theatrales Moment das Kostüm erschafft, wird in Kapitel 2.1. ausgeführt.
4 Ausgenommen dem, was er selbst produziert, z. B. linguistische Zeichen. Diese aber kommen aus ihm, sie sind ihm genuin eigen.
5 Erika Fischer-Lichte: Das System der theatralischen Zeichen. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag, 52007 1983 (Semiotik des Theaters, Bd. 1).
6 Ebd., S. 127.
7 Ebd., S. 128.
8 Ebd., S. 130.
9 Kleidung verweist auf kulturelle Eigentümlichkeiten, Alter, Nationalität, Werte und Einstellungen des Trägers, etc.
10 Gail Baugh: Textilien im Modedesign. Das Handbuch für die richtige Stoffwahl [The Fashion Designer’s Textile Directory]. Übers. Sybille Heppner-Waldschütz [u.a.]. Bern [u.a.]: Haupt, 2011, S. 43.
11 Ebd., S.50.
12 Natürlich ist bestreitbar, inwieweit ein maßgeschneidertes Kostüm anderen Körpern überhaupt passt. Für das genannte Beispiel gehen wir von einem nicht allzu starken Gefälle der Proportionen aus.
13 Karl R. Kegler/ Anna Minta/ Niklas Naehrig [Hgg.]: RaumKleider. Verbindungen zwischen Architekturraum, Körper und Kleid. Bielefeld: transcript 2018 (Architekturen, Bd. 37.), S. 10.
14 Laban, Rudolf von: Choreutik. Grundlagen der Raumharmonielehre des Tanzes. Übers. Claude Perrottet, Wilhelmshaven: Florian Noetzel Verlag, 1991, S. 21.
15 Kegler/Minta/Naehrig 2018, S. 10.
16 The Making of Bram Stoker’s Dracula – The design of Eiko Ishioka (deutsch untertitelt). Entn. youtube. <https://www.youtube.com/watch?v=wAWbPBrdATg>, 04:13. Letzter Zugriff: 23.01.20.
17 Fischer-Lichte 2007, S. 7.
18 Ebd., S. 123 ff.
19 Ebd., S. 131.
20 Ebd., S. 143.
21 Ebd., S. 146 f.
22 Ebd., S. 129.
23 J. Michael Gillette: Theatrical design and production. An introduction to scenic design and construction, lighting, sound, costume, and makeup. New York: McGraw-Hill 42008 1997, S. 78.
24 o.A.: “Visual Design Basics”. Entn. usability.gov. <https://www.usability.gov/what-and-why/visual design.html> , letzter Zugriff: 23.01.20.
25 Gillette 2008, S. 78.
26 o.A.: “Visual Design Basics”.
27 Gillette 2008, S. 79.
28 Ebd., S. 80.
29 Ebd., S. 81.
30 Ebd., S. 82.
31 Alexander W. White: The Elements of Graphic Design. Space, Unity, Page Architecture, and Type. New York: Allworth Press 22011 2002, S. 39.
32 Teo, Yu Siang: “The Building Block of Visual Design”. Entn. Interaction Design Foundation. <https://www.interaction-design.org/literature/article/the-building-blocks-of-visual-design>, letzter Zugriff: 23.01.20.
33 Colour In Storytelling / The Cinema Cartography. Entn. youtube. <https://www.youtube.com/watch?v=aXgFcNUWqX0>, 08:35. Letzter Zugriff: 23.01.20.
34 The Power of Colour in Cinema / Video Essay. Entn. youtube. <https://www.youtube.com/watch?v=9Rb9QcTBmFo>, 00:10. Letzter Zugriff: 23.01.20.
35 Gillette 2008, S. 162.
36 Colour In Storytelling / The Cinema Cartography, 04:44.
37 Ebd. 9:13.
38 Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre. 2., korr. Aufl., Paderborn: Fink 2013 2006, S. 96.
39 Ebd.
40 Böhme 2013, S. 103.
- Arbeit zitieren
- Lisa Haselbauer (Autor:in), 2020, Kostüm und Raum als interagierende Inszenierungskategorien in James Camerons "Titanic", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/906374
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