Wie soll man Kinder, bei denen ein genetisches Syndrom (Down-Syndrom oder Trisomie 21, Fragiles X-Syndrom, Angelmann-Syndrom, Katzenschrei-Syndrom) vorliegt, welches eine geistige Behinderung beinhaltet, erziehen und fördern? Soll sich die Erziehung eher am Syndrom oder eher am Individuum orientieren? Die Arbeit gliedert sich in einen theoretischen und einen empirischen Teil. Zunächst wird der Begriff des Syndroms erläutert. Es wird auf Aspekte genetisch verursachter Syndrome eingegangen und die entsprechenden humangenetischen Grundlagen werden erläutert. Desweiteren wird die ambivalente Funktion von Diagnosen diskutiert, indem der Nutzen fachlich gesicherten Wissens gegen den Schaden von Etikettierungsprozessen abgewägt wird. In diesen Zusammenhang wird die Anlage- Umwelt- Kontroverse eingebettet und die Position verschiedener entwicklungspsychologischer Schulen dargestellt. Für den empirischen Teil der Arbeit wurden mit 25 Sonderpädagogen an Schulen für Praktisch Bildbare im Rhein-Main-Gebiet Interviews durchgeführt. Die Lehrer erzählten wie sie solche Schüler im Unterricht fördern, ob sie sich am Syndrom orientieren oder die Schüler eher als Individuum betrachten. Am Ende der Arbeit werden die Ergebnisse der Befragung mit den Befunden aus der Literatur kurz abgeglichen und ein Fazit aus der Untersuchung gezogen.
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung
2. Syndrome
2.1. Definition des Begriffs „Syndrom“
2.2. Symptome
2.3. Der Verhaltensphänotyp
2.3.1. Erklärungen für das Zustandekommen unterschiedlicher Verhaltensphänotype bei ein und demselben genetischen Syndrom
2.4. Entstehung genetischer Syndrome
2.4.1.Kurzer Überblick über einige Komponenten der Humangenetik
2.4.2. Die verschiedenen Arten von Mutationen
2.4.2.1.Genommutationen
2.4.2.2.Chromosomenmutationen
2.4.2.3.Genmutationen
2.5.Diagnosestellung eines genetischen Syndroms
2.5.1. Humangenetische Diagnosestellung eines genetischen Syndroms
2.5.2. Diagnosestellung auf der Grundlage der Syndromanalyse
2.6. Zur Namensgebung genetischer Syndrome
3. Fallbeispiel
3.1. Philipp
3.2. Angelman-Syndrom
3.2.1. Entdeckung und Häufigkeit
3.2.2. Diagnosestellung
3.2.3. Genetische Ursachen des Angelman-Syndroms
3.2.4. Klinische Merkmale des Angelman-Syndroms
3.3. Vergleich mit dem Angelman-Syndrom
4. Aspekte der Literatur
4.1. Diagnosen
4.1.1.Vorteile von Diagnosen
4.1.1.1.Vorteile von Diagnosen für das Kind
4.1.1.2. Vorteile von Diagnosen für die Eltern
4.1.1.3. Vorteile von Diagnosen für Experten
4.1.2. Nachteile von Diagnosen
4.1.2.1. Nachteile von Diagnosen für das Kind
4.1.2.2. Nachteile von Diagnosen für die Eltern
4.1.2.3. Nachteile von Diagnosen für Experten
4.1.3.Umgang mit der Diagnose eines genetischen Syndroms
4.1.4. Nichtbeachtung von Diagnosen
4.2. Zuschreibungsprozesse
4.2.1. Etikettierung
4.2.2. Stigmatisierung
4.2.3. Selbsterfüllende Prophezeiung
4.2.4. Der Zusammenhang von Etikettierung, Stigmatisierung und der sich selbst erfüllenden Prophezeiung
4.3. Anlage-Umwelt-Kontroverse
4.3.1.Die Kontroverse um den Einfluss von Anlage und Umwelt auf die menschliche Entwicklung
4.3.2. Entwicklungstheorien im Hinblick auf die Anlage-Umwelt-Kontroverse
4.3.2.1. Piagets Theorie der kognitiven Stadien
4.3.2.2. Kohlbergs moralische Entwicklung des Kindes
4.3.2.3. Die soziale Lerntheorie und Skinners operatives Konditionieren
4.3.2.5. Die Ethologie
4.3.2.6. Die modularen Theorien
4.3.2.7. Ökologische Psychologie
4.4. Zusammenfassung der Erkenntnisse der Literatur über die Erziehung und Förderung von Kindern mit einem genetischen Syndrom
5. Interviews
5.1. Ziele der Interviews
5.2. Die einzelnen Fragen der Interviews und was ich mit ihnen klären möchte
5.3. Angaben zu den befragten Personen
5.4. Die Methode
5.4.1. Wissenschaftliche Methoden der Datengewinnung
5.4.1.1. Die Befragung
5.4.2. Die gewählte Form der Befragung
5.5. Die Vorbereitung meiner Interviews
5.6. Ablauf der Interviews
5.7. Auswertung der Interviews
5.7.1. Graphische Darstellung der Ergebnisse der Interviews
5.7.1.1. Auswertung der Fragestellung, ob und wenn ja, wann sich Sonderschullehrer über neue Schüler informieren
5.7.1.2. Auswertung der Fragestellung, ob sich Lehrer über genetische Syndrome informieren, wenn sie über diese noch kaum etwas oder gar nichts wissen
5.7.1.3. Auswertung der Fragestellung, ob Lehrer Wissen über ein genetisches Syndrom im Unterricht anwenden
5.7.1.4. Auswertung der Fragestellung, ob Lehrer sich durch ihr Wissen um ein genetisches Syndrom beeinflusst fühlen
5.7.1.5. Auswertung der Fragestellung, ob die Umwelt die typischen Syndromträger produziert
5.7.1.6. Auswertung der Fragestellung, ob man Symptomen gezielt entgegenwirken kann
5.7.2. Zusammenfassung der Erkenntnisse der Interviews über die Erziehung und Förderung von Kindern mit einem genetischen Syndrom
6. Vergleich der Erkenntnisse der Literatur mit denen der Interviews
7. Schlussbemerkung
8. Literaturverzeichnis
8.1. Selbstständig erschienene Literatur
8.2. Unselbstständig erschienene Literatur
8.3. Literatur aus dem Internet
1. Einleitung
Den Ausschlag für das Thema meiner Diplomarbeit hat ein Kind gegeben, welches ich bei einem meiner Praktika während des Hauptstudiums kennen gelernt habe. Es handelt sich um einen Jungen mit einer geistigen Behinderung, deren Ursache nicht geklärt ist. Es wird in Erwägung gezogen, dass ein bestimmtes genetisches Syndrom vorliegt, ebenso kann ein Sauerstoffmangel während der Geburt die Ursache für die Behinderung sein.
Mir stellte sich die Frage, wie dieses Kind optimal zu fördern und zu erziehen sei, ob im Hinblick auf das vermutete Syndrom oder ob es geeigneter als Individuum zu behandeln sei. Auch wurde mir bewusst, dass sich diese Frage ebenfalls den Eltern und anderen Bezugspersonen stellen muss.
Diese Überlegungen im Hintergrund fing ich an zu forschen, wie man Kinder behandelt, bei denen ein genetisches Syndrom diagnostiziert wurde. Da ich nur wenig Literatur zu diesem Thema fand, beschloss ich, Lehrer, die an Schulen für Praktisch Bildbare unterrichten, zu diesem Thema zu befragen, da sie täglich mit solchen Kindern arbeiten und sich zwangsläufig mit dieser Fragestellung auseinandersetzen müssen.
Meine Arbeit untergliedert sich in mehrere Teile. Zuerst gebe ich einige allgemeine Informationen zu genetischen Syndromen, dann beschreibe ich das Fallbeispiel. In einem weiteren Teil zeige ich Aspekte auf, die ich während der Literaturdurchsicht gewonnen habe, und erörtere diese. Den Ergebnissen der Literaturdurchsicht schließt sich mein praktischer Teil der Arbeit an. Hier erläutere ich zuerst die Methode und ihre Durchführung und stelle dann die Ergebnisse der Befragung in Graphiken dar. Nach meiner Zusammenfassung der so ermittelten Aussagen schließt sich der letzte Teil meiner Arbeit an. Die Ergebnisse der Literaturdurchsicht vergleiche ich mit denen der Interviews und versuche, zu einer Erkenntnis über die Erziehung und Förderung von Kindern mit einem genetischen Syndrom zu gelangen.
2. Syndrome
2.1. Definition des Begriffs „Syndrom“
Der Begriff „Syndrom“ leitet sich von dem griechischen Wort „syn-dromé“ ab. Der Syndrom-Begriff wird laut Spranger[1] allgemein Hippokrates zugeschrieben, da der Begriff „Syndrom“ dessen Denkweise widerspiegelt. Hippokrates hat Symptome beobachtet und sie als Vorboten für die zukünftige Entwicklung eines Menschen betrachtet. Spranger führt weiter aus, dass allerdings wahrscheinlich erst 100 Jahre nach Hippokrates der Begriff „Syndrom“ durch die Empiriker eingeführt wurde.[2]
„Als Syndrom wird eine mehr oder weniger regelhafte Kombination von Symptomen (‚Zeichen‘) bezeichnet [...]“.[3] Diese Symptome, die das Krankheitsbild konstituieren, haben „[...] eine gemeinsame diagnostizierbare Ursache [...].“[4]
Teilweise wird der Syndrombegriff auch anders verwendet. Laut Burgmayer[5] ist die Ursache eines Syndroms häufig nicht bekannt und die Kenntnis der Ursache des Syndroms wird durch die Hoffnung ersetzt, dass sich eine solche noch finden lassen wird. Diese Art des Syndrombegriffs wurde häufig in der Psychopathologie verwendet.
Bei einem „genetischen Syndrom“ haben zahlreiche Symptome ihren Ursprung im Erbmaterial des Individuums. Das Erbmaterial dieser Individuen ist verändert.
Nicht alle Syndrome haben ihre Ursache im Erbmaterial des Individuums. Das Münchhausen-by-proxy-Syndrom beispielweise ist eine bestimmte Form des Kindesmissbrauchs. Dieses Syndrom „[...] ist definiert durch das aktive Erzeugen einer Erkrankung bzw. von Symptomen bei einer anderen Person.“[6] Auch das fetale Alkoholsyndrom hat keine genetische Ursache. Diese Menschen haben eine angeborene Schädigung, die verschiedene Teile des Körpers betreffen kann. Diese Schädigung geht auf einen übermäßigen Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft zurück.
2.2. Symptome
Symptome werden als ein Anzeichen oder ein Merkmal[7] oder auch als ein Zeichnen[8] definiert. In Bezug auf genetische Syndrome besitzen sie „[...] eine gemeinsame diagnostizierbare Ursache [...].“[9]
Sie können äußerliche Merkmale, kognitive Abweichungen von der Normalbevölkerung oder aber Verhaltensbesonderheiten determinieren.
Von unserer Gesellschaft werden diese Verhaltensbesonderheiten oftmals als Verhaltensabweichungen, wenn nicht als Verhaltensstörungen angesehen. Sie werden meist aus einer defizitären Sichtweise heraus betrachtet und als Ausfall von Funktionen oder als fehlerhafte Funktionen bezeichnet. Diesem stellt Luria „[...] eine neuropsychologische Theorie komplexer funktioneller Systeme gegenüber, in der nicht das Fehlen von Hirnfunktionen als Ursache für das Auftreten eines bestimmten Symptomkomplexes angenommen wird, sondern eine veränderte Form ihres Zusammenspiels als Folge lokaler Hirnverletzungen.“[10]
Sacks hat eindrucksvolle Fallgeschichten über Menschen mit einem Syndrom beschrieben. In diesen Geschichten kommt zum Ausdruck, dass ein Syndrom nicht nur Ausdruck von einem Mangel ist, sondern dass auf dieses auch Überschüsse zurückzuführen sein können. In einer seiner Geschichten hat er über einen autistischen Jungen berichtet, der nicht in der Lage ist, sich selbst zu versorgen, aber ein außergewöhnlich gutes Gedächtnis besitzt. Er war sehr musikalisch und konnte Opern auswendig wiedergeben und lernte sehr schnell das Klavierspielen. Eine seiner anderen Begabungen war das Zeichnen. Er konnte sehr komplexe Gebäude aus dem Gedächtnis naturgetreu zu Papier bringen, wenn er sie nur einmal gesehen hatte. Er gab dieser Geschichte den Namen „Wunderkinder“.[11]
Mit Hilfe der sogenannten Syndromanalyse kann man versuchen zu klären, welche Funktion bestimmte Symptome im Zusammenhang mit bestimmten neurobiologischen, psychologischen oder soziokulturellen Bedingungen haben.
Bei einer Behinderung handelt es sich in den seltensten Fällen um eine Entwicklungsverzögerung, die sich auf alle Bereiche des Körpers gleichmäßig auswirkt. Einige Dinge entwickeln sich altersgemäß, andere mit Verzögerung - die stark variieren kann - und wieder andere Dinge entwickeln sich gar nicht oder nur in Ansätzen. All diese Dinge wie Sprache oder kognitive und motorische Leistungen entwickeln sich normalerweise in einem Verhältnis, dass sie vom Menschen für das Lösen von anstehenden Entwicklungsaufgaben genutzt werden können. Bei behinderten Menschen ist dies oft nicht der Fall. Sie können eine solche Entwicklungsaufgabe nicht mit den „normalen“ optimalen Mitteln lösen, da diese teilweise nicht vollständig zur Verfügung stehen. Sie müssen andere Lösungsmuster anhand der ihnen zur Verfügung stehenden Dinge selbst erfinden. Diese anderen Lösungsmuster werden in für Außenstehende oft nicht nachvollziehbaren Verhaltensweisen - Symptomen - deutlich.
Diese anderen Lösungsmuster sind das, was Jantzen als mögliche Pfade der Selbstorganisation des Subjekts versteht.[12] Das jeweils zugrundeliegende Syndrom betrachtet er als Ausgangspunkt eines solchen Entwicklungspfades.
Er hat dies am Beispiel der schweren frühen Autoaggressivität von Kleinkindern deutlich gemacht, die mit Ende des ersten und Beginn des zweiten Lebensjahres auftritt. In diesem Alter lernen Kinder ein Körperschema herauszubilden, auf das sie in Notsituationen zu Zwecken der eigenen Stabilisierung mit Hilfe von Autoaggressionen aktiv einwirken können. Kinder, die auch nach diesem Entwicklungsabschnitt noch Autoaggressionen zeigen, haben keine oder nur wenige Alternativen zu diesen Aggressionen gelernt.[13]
2.3. Der Verhaltensphänotyp
Der Verhaltensphänotyp eines genetischen Syndroms umfasst alle Symptome, die bei diesem Syndrom im Verhalten des jeweiligen Individuums auftreten können. Die Beschreibung eines Verhaltensphänotyps ist Teil einer so genannten Syndrombeschreibung.
Aber nicht alle Verhaltenssymptome, die man einer solchen Syndrombeschreibung entnehmen kann, müssen im einzelnen Fall auftreten. Ganz im Gegenteil: Meist tritt nur eine Auswahl der aufgezählten Symptome im Verhalten eines bestimmten Individuums auf. Die Stärke der einzelnen Symptome kann von Individuum zu Individuum ebenfalls stark variieren. Sarimski betont in diesem Zusammenhang, dass es im Umgang mit Menschen mit einem genetischen Syndrom nicht nur wichtig ist, von den syndromspezifischen Gemeinsamkeiten zu wissen, sondern auch „[...] die inter- und intraindividuelle Variabilität von Entwicklungsmerkmalen bei Kindern des gleichen Syndroms zu kennen.“[14]
In vielen Syndrombeschreibungen werden die möglichen Verhaltenssymptome eines bestimmten Syndroms nach ihrer Wahrscheinlichkeit, in der sie auftreten, unterschieden. In einer Kategorie werden Symptome genannt, die bei jedem dieser Menschen beobachtet werden, in einer anderen diejenigen, welche oft und in einer drittem Kategorie, die selten oder sehr selten beobachtet werden. Teilweise wird diese Häufigkeit in Syndrombeschreibungen auch als Prozentwert angegeben.
2.3.1. Erklärungen für das Zustandekommen unterschiedlicher Verhaltensphänotype bei ein und demselben genetischen Syndrom
Auf genetischer Ebene gibt es verschiedene Faktoren, die erklären, wieso bei ein und demselben genetischen Syndrom verschiedne Phänotype zustande kommen können.
Einer dieser Faktoren ist die Penetranz (Ausbildungswahrscheinlichkeit) von Genen. Haben Gene eine Penetranz von 100 Prozent, so kommt das Merkmal, welches durch dieses Gen bestimmt wird, im Phänotyp des Individuums zum Ausdruck. Liegt die Ausbildungswahrscheinlichkeit eines Gens unter 100 Prozent, so muss dieses nicht unbedingt im Phänotyp zum Ausdruck kommen. „Unvollständige Penetranz muss hier auf die modifizierende Wirkung von Umweltfaktoren zurückgeführt werden.“[15] Ein anderer Grund für die unvollständige Penetranz von Genen kann die Wirksamkeit von anderen Genen sein. Hierdurch kann erklärt werden, wieso nicht bei allen Menschen mit einem bestimmten genetischen Syndrom dieselben Symptome im Verhaltensphänotyp sichtbar werden.
Bei genetischen Syndromen gibt es Symptome, die nicht bei allen diesen Menschen in gleicher Stärke auftreten. Man spricht hier von unvollständiger Expressivität (Ausdrucksgrad) dieser Gene.
Ob ein Gen eine vollständige Penetranz oder Expressivität besitzt und somit auf jeden Fall im Phänotyp vollständig ausgeprägt auftritt, hängt von der jeweiligen Reaktionsnorm der betreffenden Gene ab. Die Reaktionsnorm ist die Funktion, die die Merkmalsausprägung für einen bestimmten Genotyp in Abhängigkeit von den Bedingungen der Umwelt kennzeichnet. Ist die Reaktionsnorm für ein bestimmtes Gen völlig starr, so führt dieser Genotyp unter allen Umweltbedingungen zum gleichen Erscheinungsbild im Phänotyp. „Bei Verhaltensmerkmalen [...] können wir aber als Regelfall erwarten, daß die Umwelt modifizierend eingreift“[16], das heißt, hier ist die Reaktionsnorm nicht völlig starr.
Es ist schwer nachzuvollziehen, welche Umweltbedingungen dies sind, wenn die Kausalzusammenhänge unbekannt sind, wie es bei vielen genetischen Syndromen der Fall ist.
2.4. Entstehung genetischer Syndrome
2.4.1.Kurzer Überblick über einige Komponenten der Humangenetik
Die DNS (Desoxyribo-Nuklein-Säure) bzw. ihre internationale Bezeichnung DNA (deoxyribonucleic acid) ist der chemische Träger der Erbinformation, welche sich im Zellkern befindet. Die DNS besteht aus Molekülen. Diese setzen sich aus sechs verschiedenen Komponenten zusammen: den verschiedenen Stickstoffbasen Cytosin, Thymin, Adenein und Guanin, Desoxyribose (Zucker) und Phosphorsäure. Ein DNS-Molekül besteht aus zwei so genannten Nukleotid-Strängen, die sich um eine gemeinsame Achse winden. Jeweils Adenin und Thymin und Guanin und Cytosin bilden ein Basenpaar und verbinden die beiden Einzelstränge. Eine andere Paarung der Basen ist nicht möglich. Die Abfolge der Basen im Molekül wechselt sehr unregelmäßig. Die Basenfolge ist in allen Zellen eines Individuums die gleiche, aber sie unterscheidet sich von Organismus zu Organismus.
Proteine sind die wichtigsten Bausteine der Zellen. Sie bestehen aus einer bestimmten Folge von Aminosäuren. Die Beziehung zwischen der Reihenfolge der Basen in der DNS und der Folge der Aminosäuren im Protein nennt man den genetischen Code. Proteine sind aus 20 verschiedenen Aminosäuren zusammengesetzt. Eine Aminosäure wird in der DNS durch drei Basen codiert. Anhand dieses Tripletts kann die jeweilige Aminosäure ermittelt werden. Einige Aminosäuren können von bis zu vier verschiedenen Basentriplets codiert werden. Die ersten beiden Basen des Triplets sind jeweils gleich, nur die dritte kann unterschiedlich sein.
Jedes Chromosom enthält ein großes, lineares DNS-Molekül. Die kleinste Einheit der DNS sind die Gene. Ein Gen besteht aus mehreren bis vielen tausend Nukleotiden. Nukleotide sind Bausteine der DNS.
Ein Chromosom besteht aus sehr vielen Genen. Von der Architektur her besteht ein Chromosom aus zwei Teilen, den Chromatiden, die durch das sogenannte Zentromer zusammengehalten werden.
Alle Chromosomen eines Menschen zusammen werden Chromosomensatz oder Genom genannt. Der normale Chromosomensatz eines Menschen besteht aus 46 Chromosomen in 23 Paaren. Die Partner eines solchen Paares sind jeweils gleich groß. Im Labor kann man diese Paare der Größe nach ordnen und durchnummerieren. Der Mensch besitzt 22 nicht geschlechtsgebundene Chromosomen (Autosomen) und 2 geschlechtsgebundene (Gonosomen).
Die Körperzellen des Menschen enthalten einen diploiden (doppelten) Chromosomensatz (46 Chromosome in 23 Paaren), das heißt jedes Chromosom ist zweimal vorhanden. Die Keimzellen (Spermienzellen und Eizellen) hingegen besitzen nur einen haploiden (einfachen) Chromosomensatz (23 einzelne Chromosome), jedes Chromosom ist nur einmal vorhanden.
Neue Zellen entstehen, indem sich bereits vorhandene Zellen teilen. Diesen Prozess der Zellteilung nennt man Mitose. Die Mitose besteht aus fünf Phasen:
Interphase: Der Zellkern ist durch die Kernmembran vom Rest der Zelle abgegrenzt. Die Chromosomen sind nicht sichtbar. Außerhalb des Zellkerns befinden sich die Zentriolen (Zellorgane, die später die Pole der Zelle bilden).
Prophase: Chromosomen werden sichtbar und die Kernmembran löst sich auf. Die Zentriolen ordnen sich in der Zelle gegenüberliegend am Rand der Zelle an.
Metaphase: Die Chromosomen ordnen sich äquatorial an.
Anaphase: Das Zentromer verdoppelt sich, die beiden Chromatiden trennen sich voneinander und jedes wandert an einen der beiden Zellpole.
Telophase: Die Chromatiden werden lang und dünn, und die Kernmembran bildet sich wieder. Die Zelle besitzt nun zwei Zellkerne.
An die Kernteilung schließt sich die sogenannte Cytokinese an. Die Zelle schnürt sich am Äquator zu, und es entstehen zwei voneinander getrennte Zellen.
Durch die Befruchtung sind die Körperzellen des Menschen diploid. Die Hälfte der Chromosomen stammt von der Mutter, die andere vom Vater. Damit die Zahl der Chromosomen über Generationen hin konstant bleibt, muss der Chromosomensatz bei der Bildung der Keimzellen halbiert werden. Dies geschieht bei der Meiose. Dieses Halbieren des diploiden Chromosomensatzes erfolgt in zwei aufeinander folgenden Teilungen.
Prophase: Diese Phase ist genau wie bei der Mitose.
Metaphase 1: Ähnlich wie bei Mitose ordnen sich die Chromosomen äquatorial an, allerdings im Gegensatz zur Mitose nicht einzeln, sondern paarweise.
Anaphase: Die homologen Chromosomen werden als Ganzes voneinander weggezogen. In jedem Pol befindet sich zum Beispiel nur ein Chromosom Nummer 6, entweder das des Vaters oder das der Mutter. Diesen Vorgang bezeichnet man auch als die erste Reifeteilung. Jede der beiden Tochterzellen hat jetzt einen einfachen Chromosomensatz. Diese beiden Zellen sind aber weder mit der Mutterzelle noch untereinander identisch.
Metaphase 2: Die zweite Reifeteilung entspricht einer Mitose. Die Zentromere verdoppeln sich, und die Chromotiden trennen sich und wandern zu den Polen der Zelle.
Im Anschluss an die Mitose teilen sich die Zellen, und je zwei Zellen entstehen. Aus einer Zelle sind vier Zellen entstanden, jeweils zwei sind identisch. Beim Mann sind vier Spermazellen entstanden, bei der Frau wird bei der ersten und zweiten Reifeteilung je ein Polkörper abgeschnürt, der abstirbt. Aus einer Ei-Mutterzelle entsteht nur eine befruchtungsfähige Eizelle.
Die Meiose erfolgt kurz vor einer möglichen Befruchtung im Körper des jeweiligen Elternteils.
2.4.2. Die verschiedenen Arten von Mutationen
Das Erbmaterial von Individuen, bei denen ein genetisches Syndrom vorliegt, ist verändert, das heißt, es liegt eine Mutation vor. Für diese Mutationen können schädliche Einflüsse, wie zum Beispiel ionisierende Strahlen und bestimmte chemische Stoffe, verantwortlich sein. Mutationen können aber auch spontan, ohne erkennbare äußere Ursachen auftreten. Solche Mutationen nennt man Neumutationen oder Spontanmutationen.
Man unterscheidet zwischen drei verschiedenen Typen von Mutationen: Genommutationen, Chromosomenmutationen und Genmutationen. Bei einer Genommutation ist die Zahl der Chromosomen in einer Zelle verändert, es können zu viele Chromosomen (zum Beispiel ist hier das Down-Syndrom zu nennen, bei dem das 21. Chromosom statt zwei mal drei mal vorhanden ist) oder zu wenige (beispielsweise das Ullrich-Turner-Syndrom, das nur bei Frauen vorkommt, hier fehlt ein X-Chromosom, diese Frauen besitzen nur eins, anstatt zwei) vorhanden sein. Bei Chromosomenmutationen ist die Architektur einzelner Chromosomen verändert. Das Cri-du-chat-Syndrom kommt durch eine Chromosomenmutation zustande. Am kurzen Arm eines der beiden Chromosomen Nummer 5 tritt eine Deletion auf. Diese Menschen besitzen also nur ein vollständiges Chromosom Nummer 5. Genmutationen werden auch als „Druckfehler im genetischen Text“[17] bezeichnet. Durch solche Genmutationen können neue Allele (Allele sind durch Mutationen bedingte Variationen eines Gens; ein Gen kann in mehreren Formen vorkommen, die sich unterschiedlich auf das äußere Erscheinungsbild des Individuums auswirken, diese Formen nennt man Allele) an einem Genort entstehen. Beim Fragilen-X-Syndrom liegt eine Genmutation vor. Es handelt sich um Trinukletidwiederholungen am X-Chromosom. Ein so genanntes Motiv, dass aus drei Basen besteht, vermehrt sich stark. Dieses Chromosom besitzt von diesem Motiv eine viel zu hohe Anzahl, wodurch es wahrscheinlich an einigen Stellen bruchanfällig wird.
2.4.2.1.Genommutationen
Bei einer Genommutation fehlen einzelne Chromosomen im Zellkern oder sind überflüssig, man nennt das Aneuploidie. Zellen, die ein oder mehrere Chromosomen zu viel enthalten, werden als hyperploid, Zellen die ein oder mehrere Chromosomen zu wenig enthalten, als hypoploid bezeichnet.
Menschliche Zellen, in denen ein oder mehrere Chromosomen fehlen, sind meist nicht lebensfähig. Eine Ausnahme bildet der Verlust eines Genosoms. Der Mensch ist missgebildet, aber lebensfähig. Das einzige beim Menschen bekannte Syndrom, bei dem ein Chromosom fehlt und der Mensch trotzdem lebensfähig ist, ist das Ullrich-Turner-Syndrom, das nur bei Frauen vorkommt und bei welchem ein „X“ Gonosom fehlt. Sind ein oder mehrere Chromosomen zuviel vorhanden, kann aus dieser Zelle ein lebensfähiger Mensch entstehen, allerdings mit Missbildungen (z.B. Trisomie 21).
Nicht nur einzelne Chromosomen, sondern auch der ganze Chromosomensatz kann sich vervielfältigen (Polyploidisierung). Beim Menschen ist bis jetzt nur eine Verdreifachung des Chromosomensatzes (Triploidie) beobachtet worden, die Keimzelle besitzt in diesem Fall 69 Chromosomen.
Genommutationen entstehen durch Neumutationen in einer der Keimzellen der Elterngeneration bei der Meiose oder in frühen Furchungsstadien der Zygote (befruchtete Eizelle) bei der Mitose. Unterschiedliche Mechanismen können für numerische Chromosomenstörungen verantwortlich sein, der häufigste ist die sogenannte Non-disjunktion. Normalerweise trennen sich bei der Meiose die homologen Chromosomen. Tun sie dies nicht, so entstehen Keimzellen mit entweder 22 oder 24 Chromosomen. Nach der Befruchtung entsteht eine Zygote mit einer Trisomie (ein Chromosom ist dreimal vorhanden) oder eine Zygote mit einer Monosomie (ein Chromosom ist nur einmal vorhanden).
Das Risiko, dass eine Non-disjunktion auftritt, steigt mit zunehmendem Alter der Mutter, da sich dann die Chromosomen eines Paares schwerer voneinander trennen.
Auch in der Mitose kann Non-disjunktion auftreten. In der Anaphase kann es vorkommen, dass sich die voneinander getrennten Chromatiden nicht korrekt aufteilen und die beiden Chromatiden eines Chromosoms nicht an je einen Zellpol wandern, sondern beide an ein und denselben.
2.4.2.2.Chromosomenmutationen
Bei Chromosomenmutationen ist die Architektur der Chromosomen verändert. Es gibt vier verschiedene Arten von Chromosomenmutationen: Deletionen, Duplikationen, Inversionen und Translokationen. Diese Mutationen können an allen Chromosomen des Menschen auftreten.
Deletion:
Bei einer Deletion geht ein Teil eines Chromosoms verloren. Es gibt terminale Deletionen, bei ihnen geht ein Endstück eines Chromosoms verloren, und es gibt interstitielle Deletionen. Bei letzteren geht ein mittlerer Teil eines Chromosoms verloren, dem voraus gehen müssen zwei Brüche am Chromosom. Die Bruchenden des Chromosoms können miteinander verschmelzen. Befindet sich das Zentromer noch am Chromosom, bleibt dieses erhalten, im anderen Fall stirbt es ab. Bei interstitiellen Deletionen kann sich im herausgebrochenen Chromosomenstück das Zentromer befinden. Befindet sich am herausgebrochenen Chromosomenstück kein Zentromer, so geht es in der Regel bei der Mitose oder Meiose verloren. Da auf diesem Weg genetisches Material verloren geht, ist der Embryo oft nicht lebensfähig. Bleibt der Embryo trotz Deletion am Leben, so sind häufig schwere Missbildungen die Folge.
Duplikationen:
Duplikationen ereignen sich in den Keimzellen. Unter einer Duplikation versteht man das zweimalige Auftreten von ein und demselben Chromosomenbruchstück im einfachen Chromosomensatz. Voraussetzung für die Entstehung von Duplikationen sind Brüche in zwei Chromosomen. Die Ursache für die Entstehung von Duplikationen ist illegitimes Crossing-over.
Unter Crossing-over versteht man einen Austausch von Chromosomenbruchstücken zwischen Chromatiden homologer Chromosomen während der Meiose. In den Chromatiden treten an identischen Stellen Brüche auf, die so entstandenen Bruchstücke wandern zu dem jeweils anderem, am Crossing-over beteiligten Chromosom und setzen sich in die vorhandene Bruchstelle. Das väterliche Chromosom besitzt nun ein Stück von einem mütterlichen Chromatid und umgekehrt.
Bei einem illegitimen Crossing-over ist es so, dass die beiden Chromatidenbruchstücke sich vereinen und so beide in ein und demselben Chromatid eingebaut werden. Nach der Meisoe existieren nun Keimzellen, die dieses Chromosomenstück zweimal besitzen.
Eine Duplikation hat keine schwerwiegenden Folgen für die Gesundheit des Kindes.
Inversion:
Voraussetzung für einen Inversion sind zwei Brüche auf einem Chromosom. Das herausgebrochene Chromosomenbruchstück wird um 180° gedreht wieder in die Bruchstelle eingebaut. Inversionen können während einer Meiose auftreten.
Auch diese Strukturveränderung hat kaum Folgen für das Kind, außer wenn eine Gensequenz unterbrochen wird.
Translokationen:
Bei einer Translokation wird die Struktur von Chromosomen verändert. Auch bei der Translokation sind Brüche die Voraussetzung. Ein Bruchstück eines Chromosoms kann entweder in einer neuen Lage im selben Chromosom oder in einem anderen Chromosom wieder eingebaut werden. Ein solches Bruchstück kann in jedem anderen Chromosom einbaut werden, nicht nur in homologen. Es können auch Bruchstücke wechselseitig zwischen zwei Chromosomen ausgetauscht werden (reziproke Translokation). Eine nicht-reziproke Translokation liegt vor, wenn ein Bruchstück aus einem Chromosom herausbricht und in einem anderen eingebaut wird.
Wenn bei reziproken Translokationen nach dem Austausch der Chromosomenstücke beide beteiligten Chromosomen ein Zentromer besitzen, können weitere mitotische Zellteilungen ungestört ablaufen. Da kein genetisches Material hinzukommt oder verloren geht, hat diese Art der Translokation keine Auswirkung auf das Kind.
Nach einer Translokation kann es sein, dass ein Chromosom zwei Zentromer besitzt und ein anderes keines. Die Mitose kann daher nicht normal ablaufen, und die Zelle stirbt ab.
Eine andere Form der Translokation ist die Robertson-Translokation. Bei zwei Chromosomen brechen die kurzen Arme in der Nähe des Zentromers ab und die beiden Chromosomen verschmelzen in der Nähe der Zentromer miteinander. Die Zelle enthält nun nur noch 45 Chromosome. Die beiden kurzen Arme sterben ab. Obwohl genetisches Material verloren gegangen ist, ist das Kind phänotypisch meist unauffällig.
2.4.2.3.Genmutationen
Genmutationen sind Änderungen, die nur ein Basenpaar betreffen. Sie sind die am häufigsten beobachteten Mutationen. Es gibt verschiedene Arten von Genmutationen.
Substitution: Bei einer Substitution wird eine einzige Base im Triplet ausgetauscht. Von einer so genannten Samesense-Mutation spricht man, wenn der Basenaustausch ohne Veränderung der Aminosäure einhergeht. Dies ist immer dann der Fall, wenn die dritte Base eines Tripletts gegen eine Base ausgetauscht wird, mit der das Triplet ebenfalls diese Aminosäure codiert. Codiert das neue Triplett aber eine andere Aminosäure, so kann die ganze Polypeptidkette funktionsunfähig werden.
Deletion: Es können entweder ein Basenpaar oder ein oder mehrere Basen-Tripletts verloren gehen. Letzteres führt zum Ausfall von Aminosäuren in der Polypeptidkette. Gehen ein oder mehrere Basenpaare verloren, so verschiebt sich automatisch das Leseraster auf der Polypeptidkette. Durch diese Verschiebung kommt eine komplette Veränderung der Aminosäuresequenz zustande. Dies kann Auswirkungen auf den Menschen haben.
Insertionen: Es können ein oder mehrere Basenpaare neu integriert werden. Es kommt zur Verschiebung des Leserasters.
Duplikationen: Wie bei der chromosomanalen Duplikation entstehen Duplikationen auf Genebene häufig durch illegitimes oder nicht homologes Crossing-over. Hier ist das duplizierte Segment Teil eines Gens oder ein komplettes Gen.
Trinukleotidwiederholungen: Bei diesem Mutationstyp vermehrt sich ein so genanntes Motiv, das aus drei Basen besteht, stark. Es sind die Wiederholungsmotive „CAG“, „CGG“ und „CTG“ bekannt. Mehrere Gene enthalten das Wiederholungsmotiv „CAG“. Normalerweise enthalten diese Gene 10-30 Wiederholungen von diesem Motiv, bei einer solchen Mutation findet man 40-100 Wiederholungen.
Beim Wiederholungsmotiv „CGG“ findet man im pathologischen Fall statt 10-50 Wiederholungen sogar einige hundert bis einige tausend.
Da dieser Mutationstyp erst vor einigen Jahren entdeckt wurde, ist über das Zustandekommen der Wiederholungsmotive noch wenig bekannt. Es wird vermutet, dass eine niedrige Anzahl von Wiederholungen durch Fehlpaarung gegeneinander verschobener DNS- Stränge entsteht. Wenn eine bestimmte Anzahl von Wiederholungen erreicht ist, so wird vermutet, kann es über ungleiches Crossing-over von Schwesterchromariden zu einer starken Verlängerung der einzelnen Gene kommen.[18]
Wiederholungsmotive sind beim „Fragilen X-Sydrom“ entdeckt worden. Man vermutet, dass durch die vielen Wiederholungssequenzen die DNS-Methylierung und die Chromatidenstruktur beeinflusst werden, wodurch bruchanfällige Bereiche der Chromosomen entstehen.[19]
2.5.Diagnosestellung eines genetischen Syndroms
2.5.1. Humangenetische Diagnosestellung eines genetischen Syndroms
Eine humangenetische Diagnose kann zu jedem Zeitpunkt der Entwicklung gestellt werden. Der Anlass für eine solche Diagnose sind oft äußerliche Auffälligkeiten wie Besonderheiten an den Händen, dem Kopf und im Gesicht. Diese Auffälligkeiten nennt man dysmorphologische Merkmale. Treten diese in einer bestimmten Kombination auf, kann es zum Verdacht kommen, dass ein genetisches Syndrom vorliegt.
Zu einer Diagnosestellung eines genetischen Syndroms gehört laut Sarimski „[...] eine detaillierte Dokumentation dieser dysmorphologischen Merkmale, eine Dokumentation der Familiengeschichte, des Entwicklungsverlaufs des Kindes, eine körperliche Untersuchung sowie in vielen Fällen spezielle Blut- und Urintests, sonsographische Befunde, Röntgenaufnahmen und Hör- und Sehtests.“[20] Der Phänotyp eines genetischen Syndroms setzt sich aus den Merkmalen zusammen, die auf diesem Wege diagnostiziert werden können.
Einen Teil der genetischen Syndrome kann man auch mit einer speziellen zyto- oder molekulargenetischen Untersuchung nachweisen.
Eine dieser Untersuchungen ist die Erstellung eines so genannten Karyogramms. Bei dieser Untersuchungsmethode werden die Chromosomen eines Menschen untersucht. Es kann festgestellt werden, ob sie vollzählig sind beziehungsweise ob zu viele von ihnen vorhanden sind und ob es in der Architektur der Chromosome Auffälligkeiten gibt. Mit einem Karyogramm wird der Karyotyp eines Menschen bestimmt. Ein unauffälliger Karyotyp eines Mannes wird als 46, XY beschrieben, der einer solchen Frau als 46, XX. Die Zahl „46“ gibt an, wie viele einzelne Autosome gefunden werden konnten, „XY“, beziehungsweise „XX“ sind die gefundenen Gonosome.
Um ein Karyogramm anfertigen zu können, benötigt man einige Blut- oder Fruchtwassertropfen. Das Karyogramm wird erstellt, wenn sich die Chromosomen gerade in der Metaphase der Mitose befinden, da die Metaphasechromosomen besonders kompakt sind und sich deshalb sehr gut für mikroskopische Untersuchungen eignen. Die Probe wird mit einem Kulturmedium versetzt. Wenn die Zellen beginnen, sich zu teilen, gibt man den Stoff Colcemid hinzu, um die Mitose im Stadium der Metaphase zu unterbrechen. Jetzt wird die Probe tropfenweise auf einen Objektträger gegeben. Hierdurch platzen die Zellen, und die Chromosomen breiten sich aus. Mit Hilfe eines bestimmten Stoffs werden die Chromosomen angefärbt. Von diesen ungeordneten Chromosomen werden Fotos erstellt. Abbildung 1 zeigt ein solches ungeordnetes menschliches Karyogramm.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1[21]
Die einzelnen Chromosomen werden nun ausgeschnitten und zu Paaren geordnet. Immer gleichgroße Chromosomen bilden ein Paar. Die Autosomen teilt man in 7 Gruppen auf. Diese Gruppen werden nach Größe und Form gebildet. Jetzt werden alle Chromosomenpaare durchnummeriert. Die beiden Gonosomen bilden eine eigene Gruppe. Abbildung 2 zeigt ein geordnetes Karyogramm eines Mannes, bei dem keine Abweichungen erkennbar sind.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2[22]
2.5.2. Diagnosestellung auf der Grundlage der Syndromanalyse
Der Begriff der Syndromanalyse geht auf den russischen Neuropsychologen Alexander Lurija (1902-1977) zurück. Der Grundgedanke der Syndromanalyse ist es, „ [...] hinter zahlreichen Symptomen ein Syndrom zu identifizieren, das, bezogen auf die Situation des Patienten, als verständigte Abstraktion betrachtet werden kann.“[23]
Zu Beginn einer solchen Analyse werden alle Symptome betrachtet, die die betreffende Person zeigt. Eine genaue medizinische Untersuchung sowie die Entwicklungs- und Lebensgeschichte der Person sind ebenfalls Inhalte dieser Analyse.
Mit Hilfe einer Syndromanalyse soll also genau wie bei der humangenetischen Diagnostik ein bestimmtes Syndrom diagnostiziert werden. Zusätzlich wird hier versucht zu verstehen, welche Funktion und Ursache die einzelnen Symptome haben. Durch die Kenntnis der Lebensgeschichte kann in einigen Fällen das Zustandekommen von bestimmten Symptomen erklärt werden. Meistens handelt es sich um Verhaltensbesonderheiten, es können aber auch entwicklungsbezogene Dinge erklärt werden. Ein Beispiel dafür ist die schlechte oder fehlende sprachliche Ausdrucksfähigkeit von Kleinkindern. Entweder fördern die Eltern die sprachliche Entwicklung ihres Kindes nicht, da sie selbst stumm sind, oder sie geben dem Kind sehr wenig Ansprache.
Ein weiterer Unterschied zu einer humangenetischen Diagnostik ist, dass auf diesem diagnostischen Weg der Mensch nicht analytisch zergliedert wird, sondern dass die Ganzheit des Menschen im Mittelpunkt stehen soll. Die verschiedenen Ebenen werden nicht getrennt voneinander betrachtet, sondern als Einheit. Es gibt die biotonische, die soziale und die psychologische Ebene. Eine Besonderheit der Syndromanalyse ist in diesem Zusammenhang, dass versucht wird zu verstehen wieso eine Person bestimmte Symptome zeigt. Der Mensch wird als Subjekt betrachtet. Dies soll unter anderem dadurch erreicht werden, dass eine Diagnose „[...] ein Prozeß des Übergangs von verschiedenen Beobachterstandpunkten [...]“[24] sein soll.
[...]
[1] vgl. Spranger 1996, Seite XXV
[2] vgl. Spranger 1996, Seite XXV
[3] Neuhäuser 1990, Seite 102
[4] Burgmayer 1986, Seite 107
[5] vgl. Burgmayer 1986, Seite 107
[6] Knölker 2000, Seite 361
[7] vgl. Dudenredaktion1983, Seite 406
[8] vgl. Neuhäuser 1990, Seite 102
[9] Burgmayer 1986, Seite 107
[10] Internetseite Uni-Hamburg
[11] vgl. Sacks 1997
[12] vgl. Jantzen 1996, Seite 23
[13] vgl. Jantzen 1996, Seite 23
[14] Sarimski 2003, Seite18
[15] Merz 1980, Seite 180
[16] Merz 1980, Seite 180
[17] Christner 2000, Seite 25
[18] vgl. Buselmaier 1999, Seite 67
[19] vgl. Buselmaier 1999, Seite 67
[20] Sarimski 2000, Seite 25
[21] Christner 2000, Seite 26
[22] Christner 2000, Seite 26
[23] Jantzen 1994, Seite 130
[24] Zimpel, 1994, Seite 9
- Quote paper
- Susanne Katharina Heumann (Author), 2004, Erziehung und Förderung von Kindern, bei denen ein genetisches Syndrom vorliegt, welches eine geistige Behinderung beinhaltet, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/90471
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