In diesem Buch werden unter dem Aspekt der Entfremdung vier literarische Texte aus der DDR interpretiert. Damit verbindet sich der Anspruch, die literarische Entwicklung und ihren Bezug zur Wirklichkeit der DDR an entscheidenden Wendepunkten der DDR-Geschichte mit Hilfe von Beispielen darzustellen. Ausführlich interpretiert werden:
Bertolt Brechts "Buckower Elegien" (1953)
Christa Wolf: "Nachdenken über Christa T." (1968)
Heiner Müller: "Zement" (1972)
Volker Braun: "Hinze-Kunze-Roman" (1985).
Die Interpretationen wollen die Widersprüchlichkeit der Entwicklung der DDR verdeutlichen helfen und sind gleichzeitig Angebote, neu über Entfremdung in der Gegenwart nachzudenken.
Der Autor des Buches, Achim Trebeß, Jahrgang 1953, hat bereits 2001 eine Publikation zum Thema „Entfremdung und Ästhetik“ vorgelegt (Metzler Verlag Stuttgart und Weimar) und 2006 ein „Lexikon Ästhetik. Kunst, Alltag, Design und Medien“ herausgegeben (Metzler Verlag Stuttgart und Weimar).
Vorwort
Der Umgang mit der in der DDR entstandenen Literatur[i] bleibt umstritten, er reicht von der erbitterten Auseinandersetzung wie sie im Literaturstreit um Christa Wolf geführt wurde bis zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises an Volker Braun im Jahre 2000. Wie immer die Wertungen ausfallen, selbst wenn sie die sogenannte ”Wendeliteratur” betreffen, ist der Blick sehr oft nach hinten gerichtet. Ein Paradox: Die Texte werden mit den Augen der Gegenwart betrachtet, aber sie werden (deswegen) gesehen als Teile einer Literatur, die keine Aktualität mehr besitzt. Trotzdem werden viele Texte nach wie vor verlegt und auch gelesen. Hinzu kommt, daß die Äußerung von Meinungen und Urteilen die konkrete, nachprüfbare Analyse viel zu oft überwiegt.
Ich möchte diesen Blickwinkel umkehren, ich möchte versuchen, die Aktualität der Texte in detaillierten Interpretationen zu erschließen, und zwar in Interpretationen, in denen der Kontext der Entstehung der Texte rekonstruiert wird, um die Texte in diesen Kontext stellen und sie so von der Gegenwart her neu befragen zu können. Dieser Kontext ist die DDR - und die veränderte sich, nicht nur die in ihr verfaßten Texte. Um diese Veränderungen in den Blick zu bekommen und um nach Bezügen zwischen Texten und Kontexten fragen zu können, habe ich mich entschlossen, Texte zu wählen, die für bestimmte Perioden der Geschichte der DDR aufschlußreich sein können. Weiterhin hielt ich es für günstig, die Interpretationen um einen Kern zu fokussieren, nämlich um die Auseinandersetzung mit dem Problem der Entfremdung.
Ausgewählt wurden solche Texte, die Konstellationen von Entfremdung in der DDR modellhaft zu erhellen vermögen: die erste Krise der DDR, die am 17. Juni 1953 offen ausbricht (Bertolt BrechtBuckower Elegien); die Zeit der Weichenstellung für die weitere Entwicklung des Sozialismus zu Beginn der sechziger Jahre, in der auch die sich als Sozialisten verstehenden Intellektuellen zu neuen Entscheidungen gezwungen werden und zu gänzlich unerwarteten Einsichten kommen (Christa WolfNachdenken über Christa T.); die Phase der Etablierung des ”realen” Sozialismus, seine sichtbar werdende Stagnation seit den siebziger Jahren (Heiner MüllerZement) und schließlich das Ende der DDR (Volker BraunHinze-Kunze-Roman).
Mit Brecht kann der Ausgangspunkt beleuchtet werden, der für viele Intellektuelle nach dem Faschismus charakteristisch gewesen ist, mit Christa Wolf wird der Bruch vom oft fraglosen Einverständnis mit der sozialistischen Politik und Ideologie zu ihrer Kritik deutlich, mit Heiner Müller werden die Entfremdungswidersprüche nicht nur der Restaurationsphase in ihren Extremen darstellbar und mit Volker Braun schließlich das Zerbrechen der DDR an diesen absurd gewordenen Widersprüchen. Die analysierten Texte gestatten es, einige dieser Widersprüche als auch nach dem Verschwinden der sozialistischen Staaten in Europa aktive Widersprüche zu beschreiben.[ii]
Eine subjektive Seite von Geschichte ist Erfahrung - die in den Texten sich niederschlagende Erfahrung zu erschließen, war das für mich treibende Motiv bei der Interpretation der Texte.[iii] Diesem Motiv kommen die Texte entgegen, weil sich die Autoren und die Autorin in ihnen bemühen, solche Erfahrungen zu artikulieren und produktiv zu machen. Zu diesen Erfahrungen gehört, daß die Hoffnung, in der DDR eine Alternative zur ”alten”, kapitalistischen Entfremdung finden und etablieren zu können, immer wieder in Aporien führte, in Teufelskreise, die ich mich zu kennzeichnen bemüht habe. Auch hier kamen mir die Texte entgegen, denn in jedem von ihnen wird versucht, die eigene Erfahrung so nüchtern wie möglich zu artikulieren. Immer wieder wird dabei Gewißheit zu Hoffnung, stellt sich Hoffnung als Illusion heraus - das ist einer der Teufelskreise, aus dem auszubrechen versucht worden ist. Es gelang nicht, wie wir wissen, und warum es nicht gelang, das könnten die Texte zu verstehen helfen. Doch es gelang die bohrende und nicht nachlassende Befragung eigener Erfahrung, eine Analyse von Entfremdung im Material der Literatur, die nicht nur andere Arten von Analyse übertrifft, sondern die vor allem denen nützlich sein kann, die die Suche nach Alternativen auch heute noch für wichtig halten und sich in die Teufelskreise nicht schicken wollen. Wohl nirgends sonst sind der Zusammenhang und Gegensatz, die je unterschiedlichen Aporien ”alter” und ”neuer” Entfremdung so unerbittlich befragt worden, wie in manchen Texten der DDR-Literatur.
In manchen Texten, nicht in allen. Natürlich ist meine Auswahl subjektiv und jede nachträgliche Erklärung kommt einem Versuch gleich, diese Subjektivität zu verschleiern. Aber einige Gründe gibt es schon, die sie plausibel machen können. Ich habe Autoren und eine Autorin gewählt, die sich positiv auf den sozialistischen Versuch in der DDR bezogen, die aber zugleich bereit waren, ihre Erfahrungen mit ihm auch dann noch auszusprechen, wenn sie ihren eigenen Hoffnungen widersprachen. Diese Widersprüche, die durch die Autoren und ihre Texte gehen, und in denen Widersprüche sichtbar gemacht werden konnten, die die DDR, und nicht nur die DDR, sondern über sie hinaus, Geschichte überhaupt betreffen, waren mein Ansatzpunkt. Deswegen haben mich andere Texte - um zwei Extreme zu nennen: die sich apologetisch auf die DDR bezogen oder sie negierten - nicht interessiert. Auch diese Texte sind aufschlußreich und verdienten ausführliche Analyse,[iv] aber meine Erwartung war, in den von mir ausgewählten Texten mehr über Entfremdungserfahrungen und den Umgang mit ihnen erfahren zu können als in anderen.
Repräsentativ ist die Auswahl nicht, sie bleibt so subjektiv wie die Interpretationen selbst, aber charakteristische Momente eines Teils von DDR-Literatur hoffe ich doch, transparenter machen zu können. Dies umso mehr, als viele der hier analysierten Texte zwar in der sehr umfangreichen Literatur über die DDR-Literatur immer wieder erwähnt, zum Teil auch ausführlicher besprochen werden, doch ich habe keine Arbeit gefunden, in der sie unter dem für die Sozialismusforschung nicht unwichtigen Blickwinkel der Entfremdung eingehend befragt worden sind. So weit ich sehe, gibt es dazu lediglich vereinzelte Äußerungen oder zusammenfassende Aufsätze (vgl. Köhn). Mindestens in dieser Intensität werden also die von mir ausgewählten Texte erstmals unter dem Aspekt der Entfremdung interpretiert.
Aber warum überhaupt Entfremdung? Das ist weder eine literarische noch eine literaturwissenschaftliche, sondern vorzüglich eine philosophische, ökonomische und politische Kategorie. Es ist aber auch eine ästhetische Kategorie, nicht weniger relevant als die der Aneignung, die in der Ästhetik einen hohen Stellenwert besitzt (vgl. Barck u.a.). Darüber hinaus ist es eine Kategorie, die innerhalb der Kritik am realen Sozialismus eine zentrale Rolle spielte, wie sie eine Kategorie ist, mit der ein Grundzusammenhang warenproduzierender Gesellschaften beschrieben wurde; aber nicht nur das, es ist vor allem die Kategorie, mit der Krisenphänomene der Moderne erkundet werden können. An anderer Stelle habe ich versucht, genau diesen Zusammenhang mit Hilfe einer Begriffsgeschichte von Entfremdung deutlich zu machen.[v] Das möchte ich hier nicht wiederholen. Auch eine Begriffsbestimmung von Entfremdung möchte ich nicht geben,[vi] weil es mir nicht darum geht, an literarischen Texten zu zeigen, wie der schon fertige Begriff - den es gar nicht gibt - entfaltet oder mit Inhalt erfüllt wird, sondern umgekehrt darum, an den Texten zu erschließen, was Entfremdung ist, wie sie erfahren und reflektiert wird und welche unterschiedlichen ”Typen” von Entfremdung in den Texten erkennbar werden (ohne daß nun stur nur nach Entfremdung gefragt würde in den Interpretationen, das ist ein Fokus, nicht mehr).
Diese Fragerichtung ist schon deswegen möglich, weil alle Autoren - mit Ausnahme Brechts, aber noch die Ausnahme ist charakteristisch - den Entfremdungszusammenhang und das Entfremdungsproblem selbst als außerordentlich wichtig empfinden, als ein zentrales geschichtliches Problem, mit dem die Literatur und die eigenen literarischen Texte zu tun haben.[vii] Auch ein nur flüchtiger Blick auf poetologische Äußerungen der Autorin und der Autoren gibt das sofort zu erkennen. So entstehen Metaphern für das Entfremdungsproblem, die in ihrer Substanz und Energie noch lange nicht erschöpft sind. Heiner Müller gelingt im Prometheus-Intermedium des StückesZementeine solche Metapher, die ins Gedächtnis zu rufen mir wichtig erschien.
Wichtig war mir dies vor allem deswegen, weil etwas Merkwürdiges zu beobachten ist: In der DDR war das Problem und der Begriff der Entfremdung im offiziellen Diskurs tabuisiert, weil man nicht akzeptieren wollte und konnte, daß Entfremdung - noch dazu erst neu entstandene - auch die Gesellschaften des ”realen” Sozialismus bestimmte. Das durfte nicht sein. Aber heute steht es nicht besser. Je schneller die Globalisierung voranschreitet, desto weniger ist von Entfremdung die Rede. Obwohl kaum weniger und kaum weniger einschneidende Erfahrungen mit Entfremdung unter den Bedingungen marktwirtschaftlicher Globalisierung gemacht werden, ist es gelungen, die Benutzung des Begriffs peinlich erscheinen zu lassen. Der Begriff ist dem Arsenal der untauglichen, aufklärerischen Begriffe zugeordnet worden. Zweifellos ist es ein problematischer Begriff, mit fatalen geschichtsphilosophischen Implikationen, aber einige Vorteile hat er doch, gerade gegenüber heute verwendeten Begriffen: Er ist unmittelbar kritisch, er erlaubt einen komplexen analytischen Zugriff und schon seine Verwendung zwingt, nach Alternativen zur jeweils entfremdeten Gegenwart zu fragen.
Darin nun liegen auch die Stärken - auch die ästhetischen - dieses Teils der DDR-Literatur, von dem hier einige Texte befragt werden sollen: in der Fähigkeit und Bereitschaft zur Kritik und im Bestehen auf Alternativen. Und natürlich im Bemühen um Aufklärung der Bedingungen und Aporien des eigenen Lebens. Und das sollte unwichtig geworden sein?
* * *
Abschließend seien zwei eher technische Bemerkungen gestattet: Ich habe mich bemüht, Texte herauszusuchen, die bekannt sind. Sonst hätte die nacherzählende Wiedergabe der Texte zu viel Platz beansprucht und den Gang der Interpretation immer wieder gebremst. So aber konnte ich auf Textkenntnis vertrauen, die Voraussetzung für das Lesen der Interpretationen ist.
Wenn es um Anmerkungen geht, gibt es zwei extreme Lesertypen: Die einen ignorieren Anmerkungen konsequent und konzentrieren sich auf den Text, die anderen schlagen jede Anmerkung nach. Der letzte Typ wird es mit diesem Buch schwer haben (was er vielleicht nicht verzeihen wird), denn ich habe mich entschlossen, vieles, was nicht unmittelbar in den Haupttext gehört, obwohl es in Einzelfällen auch inhaltlich relevant ist, in die Anmerkungen zu verlegen, damit der Text nicht zur Stopfgans wird. Mir war es wichtiger, die Interpretationen klar zu strukturieren als alles in den Text hineinzutun, was auch für die Interpretationen von Belang sein kann. So finden sich in den Anmerkungen nicht nur weiterführende Hinweise, Ergänzungen und Literaturangaben, wo nötig Hinweise zur Editionspraxis, sondern weitgehend die Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur, Bezüge zu anderen Werken des jeweiligen Autors, und auch inhaltliche Bemerkungen oder kleinere Exkurse. Um die Lesbarkeit des Haupttextes durch diese mitunter längeren Auswüchse nicht zu beeinträchtigen, erscheinen die Anmerkungen nicht direkt unter dem Text, sondern separat im hinteren Teil des Buches.
Das unheimlich schweigende Land
Bertolt Brecht: Buckower Elegien(1953)
Bertolt Brecht
Von der Freundlichkeit der Welt (1921)
Auf die Erde voller kaltem Wind
Kamt ihr alle als ein nacktes Kind.
Frierend lagt ihr ohne alle Hab
Als ein Weib euch eine Windel gab.
Keiner schrie euch, ihr wart nicht begehrt
Und man holte euch nicht im Gefährt.
Hier auf Erden wart ihr unbekannt
Als ein Mann euch einst nahm an der Hand.
Von der Erde voller kaltem Wind
Geht ihr all bedeckt mit Schorf und Grind.
Fast ein jeder hat die Welt geliebt
Wenn man ihm zwei Hände Erde gibt.
Gegenlied zu ”Von der Freundlichkeit der Welt” (1956)
Soll das heißen, daß wir uns bescheiden
Und ”so ist es und so bleib es” sagen sollen?
Und, die Becher sehend, lieber Dürste leiden,
Nach den leeren greifen sollen, nicht den vollen?
Soll das heißen, daß wir draußen bleiben
Ungeladen in der Kälte sitzen müssen
Weil da große Herrn geruhn, uns vorzuschreiben
Was da zukommt uns an Leiden und Genüssen?
Besser scheint’s uns doch, aufzubegehren
Und auf keine kleinste Freude zu verzichten
Und die Leidenstifter kräftig abzuwehren
Und die Welt uns endlich häuslich einzurichten!
Arbeitsjournal7.7.54: ”das land ist immer noch unheimlich. neulich, als ich mit jungen leuten aus der dramaturgie nach buckow fuhr, saß ich abends im pavillon, während sie in ihren zimmern arbeiteten oder sich unterhielten. vor zehn jahren, fiel mir plötzlich ein, hätten alle drei, was immer sie von mir gelesen hätten, mich, wäre ich unter sie gefallen, schnurstracks der gestapo übergeben...”
Von Entfremdung wird hier vorerst wenig zu reden sein. Von Entfremdung wird in der DDR erst dann geredet werden, wenn es die eigenen Widersprüche des Sozialismus sind, mit denen Entfremdung als seine Gefährdung angesehen wird. Das geschieht, nachdem die Mauer steht, zu Beginn der sechziger Jahre. Hier ist es noch die Vergangenheit, die den Blickwinkel bestimmt, von ihr aus werden die Widersprüche der neuen Gesellschaft, die am 17. Juni 1953 zum eruptiven Ausbruch führen, erörtert.[viii] Noch ist es andere Angst, die dominiert, es ist Angst, die aus der deutschen Geschichte stammt. Vor allem geht es um die Folgen des Faschismus. Von den dreißiger Jahren an bis zum Tode Brechts ist Entfremdung, die Brecht kaum interessiert, für ihn vermutlich Teil dessen, was den Kapitalismus vor allem ausmacht: Ausbeutung und Unterdrückung der proletarischen Klasse, bis dahin, daß die Vernichtung nicht nur dieser Klasse droht, sondern die ganzer Völker und, wenn nicht Einhalt geboten werden kann, der ganzen Menschheit, die in seinen Untergang hineingezogen wird. Der Kapitalismus ist für Brecht destruktiv geworden, und Brechts These während der Zeit des Faschismus und danach ist, daß es auf der Basis kapitalistischer Produktionsverhältnisse auch liberalistische Phasen nicht mehr geben kann. Der Faschismusistder eigentliche Ausdruck des Untergangs des Kapitalismus, die letzte historische Gestalt von Entfremdung, und jeder Kapitalismus nach dem Faschismus muß diese Bewegung der Existenzbedrohung wiederholen oder gar verstärken. Das zeigt Brecht die Möglichkeit der atomaren Vernichtung, die jetzt, seit Mitte der vierziger Jahre, akut wird. Angesichts dessen wird die Waffe der Entfremdungskritik stumpf.[ix]
Kapitalismus ist in Faschismus aufgegangen. Das ist ein entscheidendes Motiv für Brecht, auf Stalin auch dann noch zu setzen, wenn die in der Sowjetunion mit Brutalität errichtete Diktatur sichtbar wird.[x] Dieser Haltung soll hier nachgefragt werden und über sie hinaus nach den Widersprüchen des Sozialismus, die in den Gedichten noch als lösbar präsumiert werden, aber bereits auf unlösbare Antagonismen verweisen.
DieBuckower Elegieneignen sich dafür in hervorragender Weise, weil der Zyklus alle Momente der gesellschaftlichen Entwicklung im östlichen Nachkriegsdeutschland zu erfassen sucht, sie in ihrer Widersprüchlichkeit erfassen möchte. Der 17. Juni 1953 ist für Brecht ein überraschendes, bei aller marxistischen Dialektik unerwartetes Ereignis, das ihn zur Orientierung zwingt. Orientierung heißt für Brecht vor allem präzise Beschreibung der Situation, in der sich die Gesellschaft und der Dichter befinden, und die Suche nach den Möglichkeiten, diese Situation im Sinne einer sozialistischen Entwicklung überschreiten zu können. Vorausgesetzt ist für Brecht, daß es diese Möglichkeit gibt. Es gilt, sie zu finden, es gilt, die dem Dichter mögliche, eingreifende Haltung in dieser Situation zu finden. Vorausgesetzt ist ebenso die Möglichkeit, mit Hilfe der Dialektik nach ”falsch” und ”richtig” hinsichtlich dessen, was zu tun ist, klar unterscheiden zu können.
Einige Besonderheiten der späten Lyrik Brechts
Im Exil hatte Brecht nicht nur sein Theaterkonzept durchgreifend verändert, auch seine Lyrik wandelte sich.[xi] In der Theaterarbeit wurde das Lehrstück in den Hintergrund gedrängt,[xii] in der Lyrik die Gedichte des Bertolt Brecht der großen Städte, die derHauspostillewie die unmittelbar agitatorischen. Brecht selbst fällt schon 1938, bei der Herausgabe derSvendborger Gedichte,auf, daß die Texte seit dem Exil karger geworden sind, kühler. Eine wesentliche Ursache dafür sind die ”finsteren Zeiten”, in denen Brecht nun schreibt, die bestimmte Themen und Formen der Lyrik für ihn ausschließen (es gibt kaum Naturgedichte, kaum Liebeslyrik, keine Balladen mehr).
Nach dem Krieg verfaßt Brecht noch einmal, wie schon 1918, ein Satire,Der anachronistische Zug, die Restaurationstendenzen nach 1945 bloßstellt. Die satirische Form, die hier auf eine Kontinuität deutscher Geschichte verweist, behält Brecht auch bei, als er sich in den fünfziger Jahren mit Entwicklungen in der DDR auseinandersetzt. Auch in denBuckower Elegienfinden sich mehrere Texte, die satirischen Charakter haben. Die Satire richtet sich in dieser Zeit gegen Tendenzen des blinden Machtgebrauchs, bei dem der Kontakt mit den Massen und der mit den Künstlern auf der Strecke bleibt.
Brecht reaktiviert das Lied, weil ihm nun ein Publikum zuhörte, das mit dem kleinen Kreis der zwanziger Jahre nicht mehr verglichen werden konnte. Das Lied versprach, auf die Formierung neuer Denkgewohnheiten Einfluß nehmen zu können, mit ihm konnte auf aktuelle Situationen schnell und pointiert reagiert werden. Gerade weil es darauf ankam, jenes Publikum zu gewinnen, das für neue Einsichten offen war, begann Brecht auch, Texte für Kinder zu schreiben. Es sind Gedichte, in denen versucht wird, auf einfachste Weise gesellschaftliche Strukturen und Verhaltensweisen in der Gesellschaft zu erklären und zu bewerten. Diese Kindergedichte gehören in eine Reihe von Texten, in denen neue Mittel erprobt werden. Auffälligstes Kennzeichen dieser poetischen Versuche ist ihre zunehmende Schlichtheit. Brecht beschäftigt sich immer stärker mit der chinesischen Lyrik, die auch seine Prosa beeinflußt, und deren Bedeutung für ihn einhergeht mit der Bedeutung, die er der chinesischen Revolution beimißt. Die Parabel, das Gleichnis wird eine bevorzugte Form der lyrischen Artikulation. Weiterhin werden häufiger lyrische Kurzformen, so das Epigramm,[xiii] verwendet.
Auch die Stoffe der Lyrik verändern sich, Naturgegenstände spielen eine Rolle,[xiv] und Brecht schreibt wieder Liebeslyrik, während gleichzeitig der Tod, die eigene Vergänglichkeit, in vielen Texten thematisiert wird. Dieser Stoffkreis und die schlichten Formen, in denen er auftritt, lassen neue Haltungen zur ästhetischen Gestaltung überhaupt erkennen. Auch in diesen Texten geht es Brecht darum, Widersprüche zu formulieren, um in ihnen agieren zu können. Schon die Texte selbst zielen immer zugleich auf Darstellung und Aktion in Form von Vorschlägen, angebotenen Verhaltensweisen oder Urteilen. Doch ist in ihnen eine ”Rückbindung an die klassische Tradition” (Schuhmann 1977, S. 95) zu beobachten, sowenig Brecht die traditionellen Formen unverändert läßt. Die Klarheit und Prägnanz der antiken Meister (vor allem Horaz fasziniert Brecht), die ästhetischen Positionen der deutschen Klassik (die Brecht kritisch aufarbeitet), werden mit Verfahren der chinesischen Lyrik zusammengeführt. In der chinesischen Lyrik die Brecht heranzieht, geht es um Belehrung auf der Basis einer Eigenschaft, die für Brecht immer wichtiger wird: Weisheit.[xv] Belehrung ist mit Vergnügen verbunden: ”erstaunlich, was für ein esel dieser ausgezeichnete sinologe waley ist. er kann es nicht fassen, daß für den PO CHÜ-I zwischen didaktik und amüsement kein unterschied besteht... in glücklicheren zeitaltern bedeutete lernen ein genußvolles aneignen der künste (im baconischen sinn). die dichtung, in ihren didaktischen wie in ihren anderen werken, vollbringt es, unsern lebensgenuß zu erhöhen. sie schärft die sinne und verwandelt selbst die schmerzen in genuß.” (Brecht 1977a, S. 388f.) Schmerzen in Genuß zu verwandeln, könnte auch ein Motiv beim Schreiben derBuckower Elegiengewesen sein. So könnte der Schmerz produktiv gemacht werden.
Bereits der Rückgriff auf klassische Traditionen signalisiert Elegisches. Mit Beginn der dreißiger Jahre bröckelte der avantgardistische Anspruch auf Zerstörung der bisherigen Kunstformen und Kunstverhältnisse ab. Brecht zog zu jener Zeit gegen die Persönlichkeit in der Kunst zu Felde (z.B. imDreigroschenprozeß) und war bemüht, die klassische Totalität des Kunstwerkes mit Hilfe der Montagetechnik zu destruieren. Der Film bot die Möglichkeit, den Autor als Schöpfer des Werkes in Frage zu stellen und arbeitsteilige Produktionsformen von Kunst hervorzuheben. Der aufkommende und dann herrschende Faschismus aber zwang, das künstlerische wie politische Aufbruchs- und Erneuerungspathos der Avantgarde zu relativieren, und er zwang in klassische Formen zurück: Brecht wollte mit seinen Texten den Widerstand gegen den Faschismus befördern. Die Konzeption der Lehrstücke erwies sich dafür als nicht tauglich.
Nach dem Faschismus ist Brecht bemüht, sich auf einen Entwicklungsprozeß zum Sozialismus hin einzustellen. Er akzeptiert, daß nur so viel Neuerungen durchgesetzt werden können, wie sein Publikum zu verkraften in der Lage ist. Es gilt Formen zu finden, mit denen der avantgardistischen Materialstandard gehalten werden kann, zugleich aber nicht an der Wirklichkeit des Publikums und der der Verhältnisse vorbeigeschrieben wird. So findet eine doppelte Verfremdung statt:[xvi] Die in den zwanziger und dreißiger Jahren entwickelten Verfahren werden durch klassische Verfahren verfremdet, während die klassischen Verfahren so umgearbeitet werden, daß sie für Brecht tauglich sind.[xvii] Doch auch der für das Exil gefundene Gestus wird verfremdet. Die Texte werden karger, aber freundlicher, der agitatorische Gestus weicht dem des Nachdenkens. Die Kargheit der Formen geht nun auf den Leser zu. Der zuweilen angestrengt kollektivistische Gestus früherer Texte kann aufgegeben werden. Das eigene Ich Brechts[xviii] wird bestimmender in den Texten, ohne daß sie aufhören, sich an viele zu wenden. Die Texte sollen den Leser unterhaltend belehren und ihm ermöglichen, sich ihnen gegenüber kritisch zu verhalten. Der Gestus der Erwägung, des Vorführens und Vorschlagens, auch der der Bitte,[xix] hat die des Überzeugens und Forderns abgelöst. Es ist nicht mehr vorrangig der aufklärerisch-revolutionäre Ton der frühen Texte, nicht der entlarvende des Exils, sondern Brecht benutzt sehr elementare Beispiele, die lapidar gegeben werden. Weisheit und Wahrheit sollen sich in den Texten durchdringen.
So auch in denBuckower Elegien,die ihren elegischen Ton vielleicht auch aus dem Abschied von den Jahren der Avantgarde gewinnen. Brecht, der Realist und Optimist, akzeptiert diesen Abschied, es ist ein vorübergehend notwendiges Zurückstecken. Trauer aber signalisierte etwas, das in Brechts materialistisch angewendeter Dialektik nicht aufgehen wollte, auch nicht im Verfremdungsgedanken. Das macht ein neues Problem erkennbar: Die Avantgarde hätte keine Form gehabt, solche Trauer zu artikulieren.
DieBuckower Elegiengehören zu den am meisten interpretierten Gedichten Brechts und gelten als seine reifsten lyrischen Texte.[xx] Diese Gedichte, von denen Brecht selbst nur einige wenige veröffentlicht hat,[xxi] stehen in auffälligem Gegensatz zu anderen Texten dieser Zeit, in denen der didaktische Gestus vorherrscht. Die Elegien zeigen einen Brecht, der sich aus tiefer, schockartig empfundener Verunsicherung herauszuarbeiten sucht.
Der Zyklus trägt die Genrebezeichnung Elegie. Das ist einzigartig für Brecht[xxii] und erklä-rungsbedürftig. Warum gerade die Elegie, ein Genre, das sowohl den künstlerisch-avantgardis-tischen wie den politischen Absichten Brechts denkbar konträr entgegensteht? Ich möchte eine solche Erklärung vor dem Hintergrund der Entstehung der Texte, dem geschichtlichen Einschnitt des 17. Juni 1953, versuchen. Anschließend soll der Frage nachgegangen werden, auf welche besondere Weise diese epigrammatischen Texte Bedeutung konstituieren.
Die Genrebezeichnung Elegie benannte in der Antike Texte, die mit ”milder Wehmut” um einen Verlust klagen, den eines Menschen oder eines Gefühls.[xxiii] Später, in der bürgerlichen Klassik, diente die Elegie dazu, die Unvereinbarkeit von Ideal und Wirklichkeit zu beklagen.[xxiv] Klage mischt sich in diesem Genre mit Entsagung (vgl. Mittenzwei 1987, S. 529f.) und mit Erinnerung an das vergangene Glück, die den Schmerz mildert. Elegie in diesem ”herkömmlichen Sinne”, wie Klaus Schuhmann meint, träfe auf die Brecht-Texte nicht zu. Hier ziele Elegie eher auf ”kritische Selbstbefragung” im ”Spannungsverhältnis zwischen lyrischem Subjekt und objektiver Wirklichkeit” (Schuhmann 1977, S. 108f.). Diese kritische Befragung aber hat mit dem Genre Elegie nur bedingt zu tun. Im Gegenteil muß gefragt werden, wie es gelingen sollte, Elegien zu verfassen ohne nostalgischen Rückblick, ohne eine Unvereinbarkeit von Ideal und Wirklichkeit zu beklagen? Warum setzt sich Brecht einem Genre aus, in dem die Klage den Ton angibt?
Kaum einer der Texte enthält eine Klage im ”herkömmlichen Sinne”. Und doch ist die Genrebezeichnung Elegie ein Hinweis, für den sich Entsprechungen finden lassen. Die Analyse des Zyklus wird zeigen, daß sehr wohl etwas beklagt wird, die Texte machen ein für Brecht unerträgliches Schweigen hörbar, Stillstand muß konstatiert werden. Der Dichter, sitzend in Buckow, muß erkennen, daß der Dialog zwischen ihm und den Arbeitern, zwischen ihm und der Führung der DDR, zwischen den Arbeitern und der Führung nicht stattfindet. Es findet überhaupt kein Dialog statt, nirgendwo. Dies beklagt Brecht, ohnmächtig. Er ruft zum Gespräch mit den Texten, will das Schweigen brechen, mit der ”großen Aussprache”, zu der er Walter Ulbricht im Brief vom 17. Juni auffordert, beginnen. Aber es gelingt nicht, und Brecht alleine ist nicht in der Lage, sie zu eröffnen. Das ist ein für den Diskutierer Brecht, für den die ”große Ordnung” das große Gespräch einschließt, erschreckender Befund. Er sieht sich, wie die Elegiker, verlassen. Ein fataler Zustand für den sozialistischen Dichter.
Werner Mittenzwei weist darauf hin, daß das Genre in betontem Gegensatz zu dem steht, was besonders nach dem 17. Juni an Poesie in der DDR veröffentlicht und gefördert, verlangt wird: der Lobgesang, die odenhafte Begrüßungslyrik, die Beschreibung eines optimistischen Lebensgefühls. Das trifft sicher zu, doch wird in den Elegien Brechts zumindest die Befürchtung deutlich, daß eine Situation entstanden ist, in der Ideal und Wirklichkeit unvermittelbar auseinandertreten, eine Situation, in der entsagt werden müßte. Die Genrebezeichnung ist nicht nur und nicht hauptsächlich polemisch. Es handelt sich auch nicht vor allem um eine Umfunktionierung der Elegie, in dem Sinne wie Mittenzwei darlegt (Mittenzwei 1987, S. 530). Zwar schreibt Brecht keine Elegien im klassischen Sinne, er wandelt das Genre um, aber die Bezeichnung Elegie ist, in ihrem klassischen Sinne, ernstgenommen. Brecht stellt sich der Elegie, mit dem Anspruch, ihrer Haltung nicht zu verfallen. Klage, wie die Furcht, entsagen zu müssen, fast - im letzten Text - tatsächliche Entsagung, finden sich in den Gedichten, aber Brecht will aus der Elegie wieder heraus: mit Ungeduld. Das aber hängt nicht nur von ihm ab - die Genrebezeichnung schon ist eine Kennzeichnung des historischen Standortes. Brecht riskiert das Genre, wie gleichzeitig die Situation, in der er sich befindet, und sein Empfinden dieser Situation, ihm das Genre aufdrängen. Zugleich sollte nicht übersehen werden, daß ihn die hohe Form gereizt haben wird. Brecht, der sich einstmals in den Nischen des Augsburger Theaters an die Seite von Goethe und Schiller postierte, dürfte noch 1953 die Aussicht beflügelt haben, sich neben den Großen der Dichtung einreihen zu können. Noch der Anspruch, im klassischen Genre, in der Höhle des Löwen zu zeigen, wie weit der sozialistische Dichter über die bürgerliche Klassik schon hinaus ist, könnte eine Rolle gespielt haben.
Brecht verfremdet die klassische Elegie: Das Oszillieren zwischen Ruhe und Bewegung, das für die Elegie im Sinne Schillers typisch ist (vgl. Fuhrmann, S. 48), kennzeichnet auch Brechts Texte. Das Motto der Elegien setzt sofort damit ein, wie auch der Eingangstext des Zyklus,Der Radwechsel. Doch ins Gegenteil gewendet. Brecht, in der Ruhe von Buckow und nachdenkend über die Konsequenzen des 17. Juni, wünscht sich Bewegung, für die er keine Anzeichen zu finden vermag. Die Verfremdung der elegischen Tradition wird besonders deutlich, wenn man folgende Sätze Fuhrmanns über die Elegie mit dem TextDer Radwechselvergleicht: ”Dieser thematischen Strukturierung entsprechen die triadischen Zeitebenen: Vergegenwärtigung eines vergangenen oder unerreichbaren idealen Zustandes - Konflikt des lyrischen Ich durch Konfrontation dieses Zustandes mit der Realität der Gegenwart (dieser Moment wird oft gestisch durch ein ‘Warum?’ markiert) - Auflösung der Spannung durch eine (als konkret vorgestellte oder ins Mystische gesteigerte) Zukunftsvision.” (ebd.) Diese Struktur findet sich in dem Text, aber ganz umfunktioniert. Brecht verklärt in diesem Text weder die Vergangenheit noch die Zukunft, und das ‘Warum?’ bezieht sich auf die Ungeduld, dennoch die (Zeit-)Reise fortsetzen zu wollen, obwohl keine Zukunftsvision angeboten werden kann (dies versuchen aber im Rahmen des Zyklus dann andere Texte, vor allemBei der Lektüre eines sowjetischen Buches- eine stark idealisierende Beschwörung, mit Odysseus ist der Mythos aufgerufen - undRudern. Gespräche). Unerträglich ist aber auch in diesem Text vor allem die durch erzwungene Untätigkeit gekennzeichnete Gegenwart. Dieser Zustand ist der Grund aller im Zyklus anzutreffender Klage, sie wird bereits im Motto ausgestellt.
Die Klage färbt die Texte ein, es ist ihr Entstehungsgrund,gegenden sie geschrieben sind. Die unterdrückte Klage noch hat für Brecht die Funktion, das Beklagte zu überwinden. Das zu Beklagende wird als abwesend vorgeführt, aber es soll nicht entsagt, sondern gehandelt werden. Klage und Entsagen setzen voraus, daß es ihr Objekt nicht mehr gibt, daß es in unerreichbare Ferne gerückt ist. Brecht kehrt die Blickrichtung verfremdend um: Beklagt wird nicht, was verloren worden ist, beklagt wird, was noch abwesend ist, obwohl es nah geglaubt wurde. Der 17. Juni hat, wie er schreibt, ”die ganze existenz verfremdet” (Brecht 1977a, S. 515). Das für selbstverständlich angesehene - der Weg der DDR zum Sozialismus - erweist sich plötzlich als fragwürdig. Das ist für Brecht kein Grund zu entsagen. Brecht muß seine Optik auf die Wirklichkeit verändern, längst überwunden Geglaubtes zeigt sich als noch mächtig, als bedrohlich. Trotzdem sieht er Möglichkeiten, neue Haltungen auch nach dieser Verfremdung zu suchen und vorzuschlagen. Die Texte derBuckower Elegiensollen, von der nun sichtbaren Problematik aus, Mut machen, denen, die sie lesen. Auch Brecht selbst will mit Hilfe der Elegien aus der Verunsicherung wieder heraus, auch er will zu den Tagesgeschäften wieder zurückkehren können. Das Ziel, Kommunismus, ist zwar in weitere Ferne gerückt, aber es ist, hofft Brecht, noch erreichbar.
Ist es das auch für Brecht selbst? Die Elegie ist ein sehr intimes Genre, es klagt ein Ich. Brecht beginnt in jener Zeit, über den Tod nachzudenken, sich mit dem eigenen Sterben auseinanderzusetzen. Auch in denBuckower Elegienfindet sich ein Text, in dem Brecht auf sein Alter verweist (Tannen;noch deutlicher die Begrenztheit der Lebenszeit inBeim Lesen des Horaz)[xxv]. Die elegische Färbung mancher Texte könnte damit zu tun haben, daß das Ziel für Brecht, der einst gewiß war, es noch zu erleben, unerreichbar wird. VondiesemGedanken muß er Abschied nehmen. Bekannterweise pflegte Brecht solche eher persönlichen Dinge nicht auszustellen. Dieses persönliche Moment könnte jedoch eine Rolle gespielt haben, wäre aber nicht der Rede wert, wenn nicht noch andere Befürchtungen hinzukämen. Die Analyse des TextesBei der Lektüre eines spätgriechischen Dichterswird zeigen, daß sich die frühere Gewißheit Brechts darüber, daß das Ziel überhaupt erreicht wird, verwandelt. Aus der Gewißheit wird etwas ganz anderes: Hoffnung.[xxvi] Ein gravierender Einschnitt: Der Kommunismus wird von der Wissenschaft zur Utopie. Dieser Text läßt ahnen, daß auch Brechts Ideal in einer Zeit beschworen wurde, in der sein Fall bereits beschlossen war.
Der Gestus keiner der Texte ist (schwermütig) klagend. Einige Texte sind anklagend oder fordernd, es sind die Texte, die sich an Menschen richten, die es besser wissen müßten, an den Sekretär des Schriftstellerverbandes, an Brecht selbst, an die ”Freunde” und die geprügelten Künste. Es sind bittere Texte (Die Lösung), sarkastische (Die Musen) oder sie argumentieren politisch (Die Wahrheit einigt). Andere Texte, die, die auf das Volk zugehen wollen, sind schlicht argumentierende, am Beispiel vorführende; Texte, die vorschlagen, bestimmte Haltungen einzunehmen. Die Haltung der Klage befindet sich nicht unter ihnen. Doch Brecht schlägt diese Haltungen vor, weil sie nicht eingenommen werden. Es sind aber notwendige Haltungen, aus der Sicht Brechts sogar lebensnotwendige. Ihre Abwesenheit beklagen die Texte, und sie beklagen, noch im Argumentieren, im Vorführen, die Möglichkeit, daß diese Haltungen, trotz der Texte, nicht eingenommen werden könnten. Die Genrebezeichnung Elegie bekommt so auch einen warnenden, beschwörenden Charakter: Es könnte etwas verlorengehen, das dann erst wirklich beklagt werden muß. Es könnte eine einzigartige Möglichkeit verlorengehen, deren Verlust Grund zur Klage für alle bietet. Noch in diesem Genre überschreitet Brecht den Blickwinkel des klagenden Individuums.[xxvii]
Die Texte stehen in spannungsvoller Beziehung zu ihrer Genrebezeichnung. Sie wollen die Klage nicht Oberhand gewinnen lassen. Während die traditionelle Elegie sogleich mit der sie tragenden Schwermut eröffnet, muß bei Brecht nach der elegischen Färbung und ihren Gründen erst gesucht werden. Der Titel des Zyklus macht darauf aufmerksam, daß es Gründe zur Klage gibt. Es ist, wie Mittenzwei darstellt, eine Verfremdung, auf die die ungewöhnliche Genrebezeichnung aufmerksam macht: Brecht sieht die vertrauten Dinge plötzlich anders (vgl. Mittenzwei 1987, S. 531). Die Texte zeigen dennoch einen souverän produzierenden Dichter, der der Klage keineswegs verfällt. Die in ihnen verwendeten lyrischen Verfahren werden gegen die elegische Stimmung geführt. Die Elegie, die eine ausgeweitete Form des Epigramms ist, wird auf das Epigramm zurückgeführt,[xxviii] die Gleichnisse vieler Texte verweisen gerade auf Möglichkeiten von Aktivitäten und sollen vermitteln, was Brecht von den chinesischen Dichtern gelernt hat: Weisheit. Oft wird die Natur aufgeboten, um die Argumentationen des Dichters zu stützen. Die Schlichtheit der Texte verweist auf die Tiefe der Probleme, die der Dichter erörtert, wie auf die Plausibilität seiner Vorschläge. Es scheint so einfach und ”natürlich”, die angebotenen Haltungen einzunehmen. Aber es ist dennoch nicht gewiß, daß es geschehen wird. Die unterdrückte, aber noch spürbare Klage verstärkt die Dringlichkeit der Vorschläge. Ein Text,Die Wahrheit einigt, thematisiert dieses Verfahren, das als dialektisches vorgestellt wird:
Freunde, ein kräftiges Eingeständnis
Und ein kräftiges WENN NICHT!
In dieser starken Geste drückt sich die intendierte Umarbeitung der Elegie vielleicht am besten aus. In der Elegie geht es um ein Festhaltenwollen dessen, was verloren ist. Brecht gibt trotz aller Neubesichtigung nichts verloren, sondern wandelt mögliche Resignation in eine aktive Strategie. Darin liegt nun die Gefahr, über notwendige Voraussetzungen der strategischen Gegenbewegung hinweggegangen zu sein. Waszu tun ist, läßt dieser Text offen, und die Analyse aller Texte wird ein Schweigen zutage fördern, für dessen Überwindung sich in ihnen keine über den Wunsch und die Forderung hinausweisenden Anzeichen auffinden lassen. Keine Anzeichen für neue Verhaltensweisen, nach denen Brecht so dringend gesucht hat. Doch er bricht mit der elegischen Tradition bereits insofern grundsätzlich, als es bei ihm nicht die Andeutung eines wehmutvollen Blicks in die Vergangenheit gibt, ganz im Gegenteil, das ”Zurück” gerade wäre tödlich. Dies zeigt ein Text, der klassisch elegisch einsetzt (Vor acht Jahren):
Da war eine Zeit
Da war hier alles anders.
Diese Zeit aber - vor acht Jahren - war die Zeit des Faschismus. Die den Zyklus einleitenden Texte,MottowieDer Radwechsel,orientieren auf Gegenwart und Zukunft.
Für Brecht ist wichtig, daß diese gleichnishaften Texte verstanden werden. Es geht ihm nicht darum, wie lange Zeit angenommen wurde, Bedeutungen eher zu verbergen. Selbst Vollmar, der BrechtsBuckower Elegienerstmals aus politischer Perspektive analysieren will, spricht davon, daß sich Brecht bemühe, ”mit Hilfe der Natursymbolik den politischen Gehalt seiner Gedichte zu verschlüsseln.” Vollmar redet gar von ”Hermetik” (Vollmar, S. 17). Daß auch die schlichten Beispiele auf Bedeutungen verweisen, die der Leser suchen sollte und finden kann, macht der Eingangstext des Zyklus (Radwechsel) klar, in dem die Fragen gestellt werden, in die der Leser hineingezogen werden soll. Doch die komplizierte Struktur der so einfach scheinenden Gedichte, die unvermeidlich ist, muß erläutert werden. Gleich der zweite Text des ZyklusDer Blumengarten, führt den Leser in sie ein.[xxix] Er fordert zur Sinnsuche auf, gerade dort, wo durch Brecht sehr alltägliche Vorgänge dargestellt werden, hier ist es die Beschreibung eines Gartens.
Der Blumengarten
Am See, tief zwischen Tann und Silberpappel
Beschirmt von Mauer und Gesträuch ein Garten
So weise angelegt mit monatlichen Blumen
Daß er von März bis zum Oktober blüht.
Hier, in der Früh, nicht allzu häufig, sitz ich
Und wünsche mir, auch ich mög allezeit
In den verschiedenen Wettern, guten, schlechten
Dies oder jenes Angenehme zeigen.
Der Text erinnert an emblematische Darstellungen, er kann mit ihrer Hilfe zumindest in seiner Vorgehensweise erläutert werden.[xxx] Der Titel des Gedichtes kann als inscriptio gelesen werden, mit dem Unterschied, daß er nicht auf die allgemeine Bedeutung des Vorganges verweist, sondern auf die pictura, den konkreten Garten, der in der ersten Strophe dargestellt ist. Auf Verallgemeinerung und Verallgemeinerbarkeit dessen, was dort dargestellt wird, verweist der Titel aber insofern, als er den besonderen Blumengarten als einen Blumengarten aufzufassen vorschlägt, dessen Besonderheit darin besteht, daß er etwas in seiner Anlage zeigt, das über seine bestimmte Natürlichkeit hinaus Bedeutung haben kann. Dieses Bemerkenswerte liegt in seiner durch menschliche Hand gefügten Anlage, seiner Komposition durch einen Menschen, der die Besonderheiten von Blumen und Wettern kennt und auszunutzen in der Lage ist. Erst dadurch wird die Ansammlung von Pflanzen zu einem Garten. Der Titel spezifiziert dies; es kommt Brecht auf die blühenden Blumen an, die der Garten allezeit hat, der Titel ”Der Garten” alleine würde es nicht ausdrücken. Er wäre allgemeiner, faßte aber nicht, was verallgemeinert werden soll: die weise Anlage des Gartens durch einen Menschen.
Diese Bedeutung des Titels wird jedoch erst nach der Lektüre des ganzen Gedichtes einsichtig und lenkt so die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Titel der folgenden Texte, auf das, was in ihnen, über die konkrete Situation hinaus, gedanklich bearbeitet werden soll. Schon der Titel des nächstfolgenden TextesDie Lösungerfordert diesen Blick, der nun nicht mehr extra ausgestellt wird. DerBlumengartenhat einen bereits zur Lektüre geschulten Leser hinterlassen. Die im nachfolgenden Text durch den Sekretär des Schriftstellerverbandes vorgeschlagene Lösung kann mit diesem Blick auf den Titel nicht nur als falsche verstanden werden, sondern, mit Hilfe eines Hinweises im Text (das Wort ”lösen” erscheint in doppelter Bedeutung), in ihrer tatsächlichen kreuzgefährlichen Verkehrtheit. Die durch den Sekretär vorgeschlagene ”Lösung” ist nicht nur absurd, sie würde zur endgültigen Lösung des Zusammenhangs von Volk und Regierung führen. Der Titel wird so zu einer gewissermaßen dialektisch aufgeladenen inscriptio, zu einer ironischen, wobei die Ironie auf höchste Gefahr verweist.[xxxi]
Die erste Strophe desBlumengartens, vergleichbar der pictura, beschreibt den Garten, vor allem seine Lage. In Naturlandschaft befindet er sich an geschützter Stelle und bietet etwas, was die Naturlandschaft alleine nicht hervorbringt, was aber, mit ihr verbunden, erst seine eigentliche Schönheit auszumachen vermag. Die Besonderheit dieses Blumengartens, das, was es wert macht, sich bei ihm aufzuhalten, wird jedoch in einer Weise beschrieben, die über die bildliche Darstellbarkeit hinausgeht. Die Weisheit des Gärtners zeichnet ihn aus. Der Garten ist durch menschliche Hand so angelegt, daß er Menschen erfreut, weil er allezeit blühende Blumen hervorbringt, je verschiedene. Die Weisheit beim Anlegen des Gartens bestand darin, ihn an geschütztem Ort zu plazieren, Blumen auszusuchen und in ihm anzupflanzen, die in der jeweiligen Jahreszeit Blüten tragen. Die Weisheit seines Anlegers vermittelt zwischen den Möglichkeiten der Natur - verschiedene Blumen zu haben -, ihrer Veränderbarkeit - verschiedene Wetter und Jahreszeiten, Zyklen des Blühens aufzuweisen - und den Interessen des Menschen. Es bedarf der Weisheit, mit diesen Veränderungen und den Möglichkeiten der Natur so umzugehen, daß sie dem Interesse des Anlegers auf möglichst viele blühende Blumen entgegenkommen. Die Natur alleine brächte es nicht zustande.
Die dritte Strophe schließlich, der subscriptio vergleichbar, bietet eine Verallgemeinerung, eine Analogie: Der Autor wünscht sich, auch er vermöge, wie der Garten, allezeit etwas Angenehmes zeigen zu können. Das zielt auf sein Verhalten überhaupt, wird aber noch interessanter, wenn man bedenkt, daß die Produktion des Autors, an die er alle seine Weisheit zu geben sucht, seine Texte sind. Das läßt sich bei Brecht ohne weiteres unterstellen.[xxxii] Der Garten ist Ergebnis einer Produktion, Brecht begreift seine Texte und Aufführungen als seine Produktionen. Dann ließe sich der Wunsch so formulieren, daß der Dichter hofft, seine Texte so produzieren zu können, daß auch sie allezeit etwas - für andere - Angenehmes aufzuweisen vermögen. Kein Ewigkeitsanspruch der Poesie, sondern der, mit Texten, in bestimmten Situationen und gebunden an diese, etwas Angenehmes zeigen zu können, je anderes.
Die Funktion einer subscriptio wird dabei auf doppelte Weise überschritten. Zum einen ist gar kein Zusammenhang mehr denkbar, in dem ein Bild (oder ein Text) für alle anderen Situationen verallgemeinerbar ist. Auch dieser Text, so zeitlos er scheint, ist ein Text in bestimmter Situation und kann es nur sein.[xxxiii] In anderen Zeiten mußte Brecht erklären, daß ein Gespräch über Bäume fast einem Verbrechen gleichkommt, da es das Schweigen über Verbrechen einschließt.[xxxiv] Eine allgemeingültige Poetik, eine die Zeiten überdauernde ”Bedeutung” des Textes läßt sich nicht mehr herstellen. Zum zweiten ist die subscriptio von der pictura nicht klar getrennt. Der Dichter formuliert nicht anhand des Blumengartens, sondern selbst in ihm sitzend. Dabei ist die pictura nicht von der angezielten Bedeutung her entworfen, sondern, ganz materialistisch, es wird die Wirklichkeit, die menschlich veränderte Wirklichkeit, Anlaß, mögliche Bedeutungen in ihr zu finden. Weil es keine ewige Bedeutung gibt, und weil die Bedeutung des Textes, sein Angenehmes, nicht vom reflektierenden Subjekt und seiner subjektiven Einsicht ablösbar ist, so wenig wie von der je anderen Situation und Umgebung, in der sie formulierbar wird, kann der Text auch nicht in allegorischer Manier ‘Die Weisheit’ oder ähnlich überschrieben werden.
Dennoch ist aber durch den Zusammenhang von konkretem Garten und an ihn geknüpften Reflexionen, die auf ganz anderer Ebene liegen, sichtbar geworden, daß hier auf Bedeutungen gezielt wird, die die Ebene der pictura überschreiten. Auch das, was als subscriptio mitgegeben wird, die Schlußfolgerung des Dichters, kann seinerseits auf weitere Möglichkeiten der Übertragung von Bedeutung befragt werden.[xxxv] Der Garten wie das Verhalten des Dichters, seine Produktionen, könnten durchaus ein Modell abgeben für das, was Brecht die ”große Ordnung” nennt, auch sie muß weise angelegt sein, im Frieden mit der Natur und zum Vergnügen der Menschen. Konkret für den 17. Juni hieße das, die Möglichkeiten dieses ”Wetters” zu finden, um etwas zum Blühen zu bringen, das gerade jetzt blühen kann. Pictura und subscriptio sind in ihrer Funktion nicht festgelegt, was subscriptio war, kann pictura werden.
Der Text ist kein Emblem und keine Allegorie, er bringt deren starre Aufteilungen in Bewegung, er fordert aber zum allegorischen Lesen auf. In dem Sinne, daß in seinen bildlichen Darstellungen und in seinen Verallgemeinerungen Bedeutungen gefunden werden können, die zu suchen dem Leser aufgegeben ist. Bedeutungen, die auf einer anderen Ebene als der unmittelbar dargestellten liegen können, Bedeutungen, die die durch den Autor im Text selbst vorgeführten nochmals überschreiten. Zugleich aber sind die Bedeutungen nicht so festgelegt, daß sie ein für allemal fixierbar wären oder fixierbar sein sollten. Auch der einzelne Text will versuchen, in verschiedenen Wettern Angenehmes zu zeigen. Alle seine Elemente können dabei als pictura gedeutet werden, der Text selbst hält sich der Bewegung des Lesers wie dem Wandel der Wetter und Jahreszeiten offen. Diese Offenheit ist das Invariante des Textes, das seine Identität sichert gegen beliebigen Umgang mit ihm. Das kann auch der in den Text schon eingeschriebene Tod sein: Der Text hörte auf, eine Funktion zu haben - und darauf zielt er gerade -, wenn nicht mehr über die Notwendigkeit solcher Weisheit gesprochen werden müßte, wenn sie selbstverständlich wäre. Solange aber, hofft der Dichter, kann der Text sein Angenehmes zeigen - seinen Stachel.
Der Leser ist aufgefordert, das für ihn Angenehme zu suchen - oder den Text zu verwerfen. Daß es nicht nur um Annehmlichkeiten geht, sondern als Angenehmes auch das verstanden wird, das den Leser provoziert, wird im Verlaufe des Zyklus schnell deutlich. Die Texte können nicht konsumiert, in ihnen sollte gesucht werden. Die Suche kann Vergnügen bereiten, Vergnügen aber vor allem dem, der bereit ist, auch Unangenehmes zur Kenntnis zu nehmen, um es zu verändern.
Doch die Schlichtheit und Überzeugungskraft der Beispiele ist auch trügerisch. Der strengen, lakonischen, epigrammatischen Form der Texte, die ausdrücken kann, daß da jemand schreibt, der etwas auf den Punkt zu bringen vermag, worüber er im Klaren ist, steht die Unruhe der wechselnden Gesten des Zyklus selbst gegenüber. Zwar bringt jeder Text etwas auf den Punkt, aber jeder etwas, das den sicheren Gestus anderer Texte stört, so die Unruhe des Eingangs fortsetzend, die nicht stillgelegt werden kann. Im Zyklus finden sich gleichnishafte Reflexionen in quasi ruhig zurückgelehnter Position in märkischer Landschaft (Der Blumengarten; Der Rauch; Tannen), es finden sich polemische Texte (Die Lösung; Der Eiserne), Texte, die eine Ablehnung artikulieren (Große Zeit, vertan), Texte, die Aufforderungscharakter haben (Die Wahrheit einigt), und es werden unruhige Träume erinnert (Böser Morgen; Die Kelle). Der Zyklus enthält Texte, die mit Empörung geschrieben sind (Heisser Tag; Gewohnheiten, noch immer), Texte, die vor nahezu unabwendbaren Gefahren warnen (Der Himmel dieses Sommers), und Texte, die Lösungen anzubieten scheinen (Bei der Lektüre eines sowjetischen Buches). Beunruhigungen werden artikuliert (Der Einarmige im Gehölz; Vor acht Jahren) und sonderbare Zufriedenheit ausgedrückt (Laute). In einem Text nur ist die Unruhe überwunden (Rudern. Gespräche). Hier ist die Fortbewegung mit sich fortbewegender Kommunikation verknüpft, Kommunikation mit Arbeit, Arbeit mit Vergnügen. Der letzte Text des Zyklus aber stellt gegen dieses Gleichgewicht der Gegensätze die Hoffnung, die aus der Zuspitzung von Gegensätzen gerade noch gewonnen werden kann. Die Sammlung ist nicht nur eine ”Montage von Eindrücken”, die ”vielfältige Zusammenhänge” erschließt (Mittenzwei 1987, S. 531), sondern die Texte verweisen auf Gegensätze, die sich nicht vermitteln, auf Fragen, die sich nicht beantworten lassen. Die Ungeduld, die den Zyklus einleitet, wächst bei seiner Produktion, sie wird zur Unruhe, weil die Gegensätze nicht ins Gleichgewicht gebracht werden können. Der Zyklus ist abschließbar dennoch, da die Unruhe ausgesprochen worden ist, da ihre Ursachen dargelegt werden konnten, ohne der Klage zu verfallen. Doch die Texte bleiben zwiespältig.
Entfremdung und Verfremdung
Diese Zwiespältigkeit der Elegien hat zu tun mit der Besonderheit ihrer Entstehung. Aufschlußreich ist, daß Brecht selbst die Situation nach dem 17. Juni als eine ”verfremdung der existenz” bezeichnet hat. Verfremdung war für Brecht bis dahin eine ästhetische Kategorie, hier bezieht er sie auf ein reales Ereignis, das dann - mit denBuckower Elegien- Gegenstand literarischer Verfremdung wird, die wiederum ein traditionelles Genre nutzt, das Brechts bisherige Dichtungskonzeption verfremdet und das selbst verfremdet werden soll. In vierfacher Hinsicht also stehen die Elegien in einem Verfremdungskontext. Nachdem drei dieser Verfremdungen in den vorigen Abschnitten schon beleuchtet worden sind, soll nun gefragt werden, was die Rede von der ”verfremdung der existenz” bedeuten könnte und welche Konsequenzen sie für dieBuckower Elegienhat, bevor mit der Analyse einzelner Texte begonnen wird.
Brecht denkt Verfremdung analog zur Hegelschen Triade: ”Verfremdung als ein Verstehen (verstehen - nicht verstehen - verstehen), Negation der Negation.” (Brecht 1975, S. 311) Brecht legt dabei - im Unterschied etwa zu den russischen Formalisten - den Akzent auf das inhaltliche Moment von Verfremdung. Von daher wird auch der Einsatz der formalen Mittel gesteuert, die diese Verfremdung erst ermöglichen können. Dem Surrealismus beispielsweise wirft Brecht vor, daß die Gegenstände aus der Verfremdung nicht mehr zurückkehren. Ähnliche Bemerkungen finden sich hinsichtlich des Kubismus. Brecht geht es um spezifisch poetische Erkenntnis, die durch Verfremdung gewonnen und vor allem vermittelt werden soll. Das Verfremdungsprinzip ist für Brecht ein poetisches Prinzip unter den Bedingungen des wissenschaftlichen Zeitalters. Es ist nötig, um Realität - die in die Funktionale gerutscht ist und also verfremdet werden muß - überhaupt erkennbar zu machen, und es sind für diese Erkenntnis die modernsten Erkenntnisse der Wissenschaft Voraussetzung, wie die avanciertesten Verfahren der Literatur zur Anwendung kommen müssen. Auf dieser Grundlage kann das hervorgebracht werden, was Brecht den V-Effekt nennt.
Bereits die Terminologie weist auf den Vorrang der Erkenntnis gegenüber den Verfahren, da die Verfremdung nicht schon durch den Einsatz innovativer künstlerischer Mittel gewährleistet wird, sondern Brecht redet erst von Verfremdung, wenn diese Mittel einem bestimmten Ziel dienlich sind. Brecht beschreibt es folgendermaßen: ”Der V-Effekt besteht darin, daß das Ding, das zum Verständnis gebracht werden soll, aus einem gewöhnlichen, bekannten, unmittelbar vorliegendem Ding zu einem besonderen, auffälligen, unerwarteten Ding gemacht wird. Das Selbstverständliche wird in gewisser Weise unverständlich gemacht, das geschieht aber nur, um es dann um so verständlicher zu machen. Damit aus dem Bekannten etwas Erkanntes gemacht werden kann, muß es aus seiner Unauffälligkeit herauskommen, es muß mit der Gewohnheit gebrochen werden, das betreffende Ding bedürfe keiner Erläuterung. Es wird, wie tausendfach, bescheiden, populär es sein mag, nunmehr zu etwas Ungewöhnlichem gestempelt.” (Brecht 1975, S. 304) Damit ist nun zu erläutern, was ”verfremdung der ganzen existenz” durch den 17. Juni bedeuten kann und was dieBuckower Elegienin diesem Zusammenhang leisten sollen.
Der 17. Juni hat etwas Selbstverständliches schlagartig als nicht selbstverständlich erschei-nen lassen, als unerwartet, auffällig, ungewöhnlich. Verunsicherungen vergleichbarer Art gab es in Brechts Leben mehrere Male. Weniger eine Verunsicherung, als vielmehr eine Wende war die Lektüre desKapitalsvon Karl Marx als der junge Dramatiker auf der Suche nach Antwort auf die Frage war, wie der Getreidehandel funktioniere. Dies war ein Anstoß, eine Verfremdung von außen, die das ganze folgende Werk geprägt hat. Brecht selbst hat das als eine entscheidende Zäsur seines Produzierens beschrieben. Eine Verunsicherung, vergleichbarer mit der des Jahres 1953, entstand durch den Machtantritt des Faschismus. Brecht hatte weder mit diesem Machtantritt gerechnet noch damit, daß es den Faschisten gelingen könnte, sich an der Macht zu halten. Er hat im Exil eine Haltung dazu finden müssen, die sein Schreiben veränderte, wie überhaupt die Tatsache faschistischer Herrschaft und die Suche nach Möglichkeiten, ihr als Dichter Widerstand zu leisten, zu neuen poetischen Verfahren und Konzeptionen geführt hatten.
Die Verfremdung des 17. Juni unterscheidet sich von den beschriebenen Verfremdungen jedoch erheblich. Die neue Erkenntnis, die der 17. Juni verursacht, ist nicht eine des Typs, wie dasKapitalsie initiierte, eine Erkenntnis, die für Brecht geschichtsphilosophische Orientierung ermöglichte; im Gegenteil, sie stört die mit dieser Geschichtsphilosophie verbundene Naherwartung eines durch den Sozialismus zu gewinnenden Kommunismus und könnte sogar die Kraft haben, die geschichtsphilosophische These Marx’, der Brecht anhängt, generell in Frage zu stellen. Es könnte sich die gesetzmäßige Entwicklung zum Kommunismus hin als Illusion erweisen, es könnte sich als Illusion erweisen, daß so etwas wie Kommunismus überhaupt möglich wird, und es könnte sich als Illusion erweisen, daß der DDR-Sozialismus ein Schritt in Richtung dieses Kommunismus ist, womit gleichzeitig zur Disposition stünde, daß er sich vom Kapitalismus des Westens Deutschlands grundsätzlich unterschiede. Diese in ihrer Grundsätzlichkeit für Brecht nicht zu überbietende Verfremdung - selbst die Fehleinschätzung um 1933 herum, die den Kapitalismus betrifft, ist gering dagegen -, macht die poetische Auseinandersetzung mit der ”verfremdung der existenz” durch den 17. Juni, wie sie dann in denBuckower Elegienstattfindet, überhaupt erst nötig. Mit der geschichtsphilosophischen Perspektive hätte Brecht seinen Ort als Dichter verloren. Was für DDR-Schriftsteller nach Brecht zum Ausgangspunkt geworden ist, wird hier das erste Mal erfahren: Die klaren gesellschaftstheoretischen Gegenüberstellungen werden fraglich, dieeigeneGrundlage ist schwankend geworden. Spätestens Volker Braun hat in seinem - auf Brecht weisenden - EssayEs genügt nicht die einfache Wahrheit(1966) einen ersten Schluß daraus gezogen.
Brecht kann in denBuckower Elegiennicht mehr aus der sein Verfremdungskonzept kennzeichnenden sicheren Position schreiben. Der gravierende Unterschied zur bisherigen Arbeit besteht darin, daß Brecht diesmal von dem, was als zu Erkennendes in Verfremdungseffekten an ein Publikum mittels Darstellung weiterzugeben sei, nicht ausgehen kann. Er weiß es selbst nicht - ohne daß dieses Nichtwissen ihm ganz bewußt wird, die Texte zeigen es. Diese ”verfremdung der existenz” hat nicht unmittelbar aus ihrer Ungewöhnlichkeit heraus schon die darstellbare Erkenntnis zur Folge - sie wirkt auf Brecht im Gegenteil so, wie es Viktor Schklowski beschrieben hat: als ein Schock, eine Aufstörung der Wahrnehmung, da die alten Muster nicht mehr gelten.
DieBuckower Elegiennun sollen das ”nicht-verstehen” in ein die Negation aufhebendes neues ”verstehen” wandeln. Brecht verfremdet in ihnen nicht souverän für andere, sondern er steckt selbst in der Verfremdung, aus der die Elegien heraushelfen sollen. Auch durch dieses Dilemma ist die Genrewahl Brechts beeinflußt: Er kann nicht Texte schreiben, wie er sie schon immer geschrieben hat, er kann in dieser Situation aber auch nicht mit geübter avantgardistischer Gebärde ein neues Kunststück aus der Tasche ziehen. Die gesellschaftliche Situation und Brechts bisheriges Verständnis von geschichtlicher Perspektive wie seine bisherige Konzeption der Produktion von Kunst - die hier nicht mehr greift -, zwingen ihn in das traditionelle Genre. In ein Genre zugleich, das nur vom Individuum her denkbar ist; Brecht ist alleine, auf sich gestellt, und es sind auchEmpfindungen, die verarbeitet werden müssen. Das Problem, das der 17. Juni stellt, kann mit den bisher von Brecht entwickelten Formen nicht bewegt werden. Die Genrebezeichnung selbst ist schon eine Klage - sie ist die Klage darüber, daß nun auch ihn, Brecht, die Vergangenheit eingeholt und daß sie Macht über ihn hat. Diese Macht nun versucht Brecht, die Elegie verfremdend, zu brechen. Noch die Elegie will Brecht als Verfremdung nutzen, um sich die neue Situation bewußt zu machen, noch innerhalb der so behandelten Elegie sollen die Möglichkeiten von wirksamer Kritik und neuer produktiver Haltung nach diesem Einschnitt gefunden werden.
Die Verfremdung liegt in dieser Situation vor den Texten - die Texte versuchen mit ihren Verfremdungseffekten auf eine Verfremdung zu reagieren, die ohne sie nicht bewältigt werden könnte. Brecht selbst, davon zeugen die späteren Texte, ist davon ausgegangen, sie bewältigt zu haben. Er kann nach dem Zwischenaufenthalt in Buckow mit seinen bisherigen Plänen fortfahren, in denen die Erfahrungen des 17. Juni produktiv ”aufgehoben” werden sollen. So gelingt es nun endlich, eine dramatisch brauchbare Konstellation für denGarbe-Stoff zu finden, indem ein Akt über den 17. Juni aufgenommen werden soll.[xxxvi] DieBuckower Elegienaber haben noch eine andere Dimension, die darin nicht aufgeht.
Ein Satz Adornos kann hier weiteren Aufschluß bringen und an den Entfremdungszusammen-hang heranführen. Adorno beschreibt den Widerstand, den Prousts Texte gegen die entfremdete Welt leisten, folgendermaßen: ”Dieser Widerstand, die zweite Entfremdung der entfremdeten Welt als Mittel zu ihrer Restitution, verleiht dem Raffinierten seine Frische.” (Adorno 1966, S. 97) Auch Brechts Verfremdungsgedanke versucht eine zweite Entfremdung der entfremdeten Welt. Sie soll, schon entfremdet, noch einmal im Text fremd gemacht werden, damit die Entfremdung in ihr erkennbar und - anders als bei Adorno - überwindbar wird. Die erste Schwierigkeit dabei, die sich mit dem 17. Juni stellt, ist schon beschrieben worden: Brecht versucht in denBuckower Elegien, beides zu leisten, die Analyse der Situation wie Vorschläge zu ihrer Veränderung poetisch zu unterbreiten. Die zweite wird im Vergleich mit Proust sichtbar, dem der Satz Adornos gilt. Proust, der die gesellschaftlichen Normen und Inhalte respektiert, wird für Adorno zum authentischen Kritiker der Gesellschaft durch die Struktur seiner Texte. Brecht nun ist gegenüber Proust ein Autor, in dessen Intention es von vornherein liegt, sich Gesellschaft gegenüber kritisch zu verhalten - doch gerade dieBuckower Elegienlassen eine Gegenläufigkeit von subjektiver Intention und sprachlichem Text erkennen. Sie entsteht nicht zuletzt dadurch, daß Brecht in den Elegien als Person so stark anwesend ist wie in wenigen anderen Texten. Er ist von der entfremdeten Situation als Autor selbst betroffen, kann sich ihr nicht gegenüberstellen, will Souveränität ihr gegenüber mit Hilfe der Texte erst erarbeiten, sie aber gleichzeitig in ihnen schon demonstrieren. Die Wahl des Genres Elegie weist - bei aller intendierten Umarbeitung und Verfremdung - auf dieses persönliche Beteiligtsein, auf Ratlosigkeit, während der vorschlagende Gestus der Texte bereits Antworten zu geben versucht. Das macht die Struktur der Texte aus, die gleich im ersten Gedicht deutlich wird: Auch die behauptenden Sätze Brechts erweisen sich als Fragen, deren Antworten dem Autor nicht mehr selbstverständlich - oder gar nicht mehr - zur Verfügung stehen. Gleichzeitig aber wird der Antwortgestus, der didaktische Gestus, nicht aufgegeben. Die Texte sind in sich gegenläufig, in ihnen wird die Möglichkeit von Antworten suggeriert, während sie schon nicht mehr vorhanden sind.
Die Mehrdeutigkeit des Satzes von Adorno kann eine weitere Mehrdeutigkeit der Elegien zu beleuchten helfen. Adornos Formulierung läßt durchaus offen, welche ”Welt” der Text Prousts wiederherstellt: die entfremdete Welt als in ihrer Entfremdung kritisierte oder die Ahnung einer Welt, der mit Hilfe der zweiten Entfremdung ihre Entfremdung genommen worden ist. Keine dieser Lesarten jedoch ließe zu, daß Kritik an Gesellschaft ausgesetzt werden könnte oder sollte - und dies ist ja auch bei Brecht nicht der Fall.
Gesetzt, die Verfremdungseffekte der Elegien - die zweite Entfremdung der Welt - würden die Welt, so wie sie Brecht vorher erschienen war, dialektisch wieder zu restituieren vermögen, die geschichtsperspektivische Möglichkeit Kommunismus also offenhalten, so würde dies für Brecht bedeuten, mit der nun gewonnenen neuen Einsicht und Kritikmöglichkeit an der Überwindung ihrer Entfremdung weiter arbeiten zu können. Die Verfremdung der Texte würde so auf die Verfremdung der Existenz formal und inhaltlich produktiv antworten, am Ende stünde Erkenntnisgewinn, der die bisherige Weltsicht korrigiert, nicht einfach restituiert, sondern restituiert, indem kritisiert wird. Das entspricht sicher der subjektiven Intention Brechts.
Setzt man die andere Möglichkeit, würde es bedeuten, daß die zweite Entfremdung der Welt nichts anderes zu Tage fördern würde als deren Entfremdung selbst, die nun sichtbar wäre. Die Texte würden dann die ”verfremdung der existenz” eher verstärken denn überwinden, sie würden auf eine tiefere Erschütterung als die vorübergehender Verunsicherung der Gesellschaft und des Dichters durch eine soziale Eruption verweisen. Die Texte würden zeigen, daß genau diese geschichtsphilosophische Perspektive, die sie kritisch restituieren wollen, nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Brecht hat einen solchen Schluß nicht gezogen - die Analyse derBuckower Elegienaber kann Indizien für eine solche Konsequenz zutage fördern.
Aus der Gegenläufigkeit dieser beiden Bewegungen gewinnen die Texte ihre Spannung. Ich möchte im folgenden versuchen, diese Spannung aufzuzeigen, indem in meiner Interpretation zum einen die spezifische Struktur von Frage und Antwort innerhalb des Zyklus untersucht und zum anderen der Gegensatz erhellt wird, der darin liegt, daß Brecht mit seinen Texten das für ihn nach dem 17. Juni so dringend notwendige große ”Gespräch” eröffnen möchte, die Texte aber keinen Anhaltspunkt dafür geben, daß es stattfindet, nicht einmal dafür, daß es stattfinden könnte.
Mühen der Ebenen?
Der Eingangstext[xxxvii] [xxxviii] des Zyklus,Der Radwechsel, ist sein schwierigster Text, da er unentwegt Fragen provoziert und keine Antworten gibt - obwohl es anders scheint. Es scheint anders, weil in den ersten beiden Zeilen nichts als eine Situation beschrieben wird und in den folgenden zwei Zeilen starke Behauptungen aufgestellt sind. Lediglich am Schluß des Textes steht eine Frage, die die Behauptungen aber nicht relativiert. Die Frage gerade scheint Antwortcharakter zu tragen. Die Behauptungen provozieren Fragen, die Frage scheint Antwort (und ist es doch nicht). Das gibt die Verunsicherung wieder, die den Zyklus nötig gemacht hat.
Der Radwechsel
Ich sitze am Straßenhang
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?
Der Leser wird in die Verunsicherung des Autors hineingezogen. Alles scheint im Text überschaubar: Es gibt eine einfache Situation, die klare Reflexionen hervorruft, und eine Frage, die zuerst mehr Feststellung scheint, als Frage. Die dann aber doch, als Frage genommen, die ganze Situation verunklärt. Wieso sieht einer die Fortsetzung einer Reise, deren Ausgangspunkt ihm so wenig behagt wie das Ziel, mit Ungeduld?
Der Zyklus derBuckower Elegienist selbst das Resultat einer Unterbrechung - er ist ein Aussetzen der geplanten Produktion Brechts für die Suche nach Antwort auf diese Frage. Nur wenn sie beantwortet wird, ist es möglich, die Fahrt so fortzusetzen, daß am Ziel derjenige, der als anderer dort ankommen wird, etwas machen kann, das ihn vielleicht gerne sein läßt, wo er sein wird. Aus dem Eingangstext läßt sich eine Bedingung dieses Gerne-seins schon ablesen: Eine Situation ohne Bewegung, eine des Stillstands, der erzwungenen Untätigkeit kann nicht positiv bewertet werden. Der ”Wechsel”, das Kommen und Fahren, die ”Ungeduld” bestimmen den Text. Das untätige ”sitzen am Straßenhang” ist nicht zu ertragen[xxxix] - aber es ist eine Folge der Unterbrechung, die erst die Ungeduld und Unruhe hervortreten läßt und ihr Unverständliches, ihr unbedingt zu Erforschendes. Der Zyklus hat beide Gesten: die des ruhigen Überdenkens und die der ungeduldigen Suche nach Möglichkeiten, die Reise fortzusetzen, nach Gründen, aus denen sie fortgesetzt werden kann, weil sie offenbar fortgesetzt werden muß. In ihm wird das ruhige Nachdenken unterbrochen durch beunruhigende Träume, die dem Nachdenken andere Richtungen aufzuzwingen in der Lage sein könnten. Das Ich der Texte schläft unruhig.
In vielen Interpretationen desRadwechselsist versucht worden, Eindeutigkeit zu erreichen: Brecht kommt aus dem Exil (und aus der Vergangenheit des Kapitalismus), er befindet sich in einer Gesellschaft, die meint - auch nach Ansicht Brechts -, auf dem Wege in den Sozialismus zu sein. Brecht will nicht zurück in den Kapitalismus, doch die Hoffnung in den Sozialismus scheint nach dem 17. Juni 1953 auch geschwunden, es bleibt die Ungeduld dessen, der dennoch nicht resignieren kann und will, sondern sich auch auf ungewisser werdende Veränderungen einläßt. - Solche Veränderung scheint gerade stattgefunden zu haben: Der Radwechsel steht in symbolischer Interpretation für den ”Neuen Kurs” den die SED-Führung - für die der Fahrer eintritt (vgl. Link, S. 55) -[xl] noch kurz vor dem 17. Juni eingeschlagen hat und der nun fortgeführt werden soll (und in den Brecht, unterstellt diese Interpretation Links, auch wenig Vertrauen setzt. Es wird ja - mit neuem Reifen, da der alte platzte - derselbe Weg weitergefahren; s. auch Vollmar, S. 94)[xli].
Derartige Interpretationsversuche führen in die Sackgasse. In dem Gedicht gibt es weniges, das wirklich festgehalten werden kann, und dieses wenige sagt auch wenig. Dargestellt ist eine banale Situation: Die unfreiwillige Unterbrechung einer Fahrt, einer Reise, die einen offenbar konkreten Ausgangspunkt und ein konkretes Ziel hat (obwohl beides nicht genannt wird). Um die Fahrt fortsetzen zu können, muß der Fahrer, während der Gefahrene am Straßenhang ungeduldig wartet, den Reifen wechseln. Beide sind zur Änderung ihrer ursprünglichen Absichten gezwungen. Kommunikation zwischen den beiden Personen des Gedichtes gibt es nicht. Sie stehen offenbar in einer hierarchischen Beziehung zueinander. Der eine fährt den anderen, beim Radwechsel arbeitet der eine, während der andere tatenlos die Zeit mit Nachdenken überbrückt.[xlii] Die Fahrt soll weitergehen, die Unterbrechung aber ermöglicht dem Gefahrenen, die Fahrt selbst zu reflektieren, sich eingestehend, weder den Ausgangspunkt der Fahrt noch ihr Ziel zu mögen, dennoch aber die Reise fortsetzen, Zeit nicht vergeuden zu wollen.
Die Provokation des Textes leitet der Parallelismus der Mittelzeilen ein, an den sich die Frage anschließt:
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Diese Parallelisierung der Orte löst der Text durch seine zeitliche Struktur wieder auf, es deutet sich doch eine Hierarchie der drei Orte der Fahrt an: Am wenigsten gerne ist der Gefahrene dort, wo er sich gerade befindet, hier möchte er nicht verweilen. Den Beginn der Fahrt kann man nicht mehr verändern, er ist bereits Vergangenheit. Nur das in der Zukunft liegende Ziel könnte verändert werden, es ist der wichtigste Ort des Textes, der fraglichste zugleich. Offenbar wird das Ziel beibehalten. Warum?
Der Text mit seinen provokant kargen Behauptungen und dem Erstaunen am Ende, zieht den Leser in die Fragen hinein, die Brecht beschäftigen. Vier Texte des Zyklus enden mit Fragen, zweimal sind es rhetorische Fragen (Große Zeit, vertan; Die Lösung), einmal drückt die Frage große Beunruhigung aus (Vor acht Jahren). Hier ist es eine Frage, die - Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft sind aufgerufen - geschichtliche Dimension hat und die im Text selbst nicht beantwortet wird. ImRadwechselläßt sichallesals Frage formulieren:[xliii] Auf welche Veränderung soll mit dem Radwechsel hingewiesen werden? Warum hat das Rad den Dienst versagt: War es alt, wurde schlecht gefahren oder auf schlechten Straßen?
Es ist eine unverhoffte Veränderung eingetreten, etwas ist ausgefallen, hat den Dienst versagt, kann aber relativ problemlos ausgewechselt werden. Problematisch ist offenbar nicht der Radwechsel, problematisch auch nicht der Ausgangspunkt der Fahrt - er kann nicht mehr verändert werden -, problematisch ist die Fahrt selbst. Warum macht es Sinn, sie fortsetzen zu wollen, ungeduldig?
An welcher Stelle mußte die Reise unterbrochen werden, wo sitzt der Gefahrene? Wo kommt das Ich des Textes her? Was ist sein Ziel?
Warum, aus welchen gleichen oder verschiedenen Gründen, ist der Gefahrene nicht gerne, wo er herkommt und nicht gerne, wo er hinfährt? Wäre er gerne anderswo? Das Ziel der Reise zu verändern, verspräche offenbar keine größeres Vergnügen beim Ankommen. Es wird gar nicht erwogen. Warum muß gerade bei diesem Ziel geblieben werden?
Wie hängen der Ausgangspunkt der Fahrt und ihr Ziel zusammen? Warum mußte die Reise unternommen werden, da sie doch Veränderung hinsichtlich des Wohlfühlens des Gefahrenen nicht verspricht? Wodurch ist der Reisende zur Fahrt motiviert?
Welche Beziehungen haben die beiden Personen des Textes? Haben beide das gleiche Ziel, ist das Ziel von ihnen gemeinsam bestimmt, oder ist der eine nur Ausführender der Wünsche oder Befehle des anderen? Warum, wenn die Fortführung der Reise mit Ungeduld erwartet wird, wartet der eine ungeduldig, während der andere (mühselig vielleicht), den Radwechsel ausführt? Warum arbeiten sie nicht zusammen?[xliv] Warum reden sie nicht miteinander?
Hat sich durch die unverhoffte Unterbrechung der Fahrt, durch das Nachdenken beim Radwechsel, irgend etwas verändert? Ist die Entschlossenheit, die Fahrt nun fortzusetzen größer - oder sind es die Zweifel? Kann am Ziel der Reise doch noch erwartet werden, das, was das Ziel fraglich macht, zu beeinflussen? Wird dem Reisenden das Resultat seiner Überlegungen unbehaglich? Warum also sieht der Gefahrene den Radwechsel mit Ungeduld?
Bertolt Brecht, der am 16. Juni 1953 von Buckow nach Berlin eilt, um zu erfahren, was geschieht,[xlv] sitzt nun, im Sommer 1953, wieder in Buckow, fern von Berlin, fern von den Zentren der deutschen Geschichte, fern von der Theaterarbeit, fern vom Streit um ihn selbst, er sitzt im Garten und denkt nach - mit Ungeduld.[xlvi] Nachgedacht werden muß - der 17. Juni erzwingt es. Schon deswegen - ohne daß dies zum Gegenstand des Nachdenkens in Texten gemacht wird -, weil der 17. Juni, die Tiefe des Konfliktes zwischen Parteiführung und Arbeitermassen, von Brecht so nicht vorhergesehen wurde. Brecht wußte um die Gefahren des Versuchs, den Sozialismus nach dem Faschismus aufzubauen, er wußte um den verwirrten Zustand der deutschen Arbeiter, auf die er setzte. Fehler bei der Führung durch die Partei, die er unterstützte, ohne ihr anzugehören, blieben ihm nicht verborgen. Dennoch: Brechts Einschätzung über den Zustand des Sozialismus, der Führung des Landes und der ”Massen” war unzutreffend, wiewohl Brecht nichts so sehr gesucht hat, wie die Analyse der Prozesse in diesem Land, notwendig, um in der Theaterarbeit in sie eingreifen zu können.
Der dritte Text des Zyklus,Die Lösung, wendet sich direkt dem 17. Juni zu, und er zeigt eine Haltung ihm gegenüber, deren Zynismus ironisch entlarvt wird. Genau diese Haltung aber ist es, die publizistische Verbreitung findet, während Brechts Brief an Walter Ulbricht durch dasNeue Deutschlandzur Solidaritätserklärung mit der Regierung verstümmelt wird. Der Sekretär des Schriftstellerverbandes - Kurt Barthel (KuBa) ist gemeint - wirft dem Volk in einem imNeuen Deutschlanddirekt nach dem 17. Juni veröffentlichten Text vor, daß es das Vertrauen der Regierung verloren habe. Brecht hält entgegen:
Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?
Hier ist Brecht sicher, und er kann mit der Frage die Antwort bereitstellen. Die ironisch gestellte rhetorische Frage offenbart den Zynismus und die Absurdität der Lösung Barthels. Aber sie läßt unterschiedliche Antworten zu. Die einfache Antwort, die die ”einfache” Lösung Barthels desavouiert: Man kann das Volk nicht auflösen, man muß mit dem Volk rechnen, das es gibt, und das seine bisherige Geschichte nicht einfach abschütteln kann. Wäre die ”Lösung” also umzukehren, die Frage anders zu stellen? Müßte nicht ein anderes Volk, sondern eine andere Regierung gewählt werden? Das ist die Lösung, die ”das Volk” am 17. Juni vorgeschlagen hat. Nichts in dem Zyklus jedoch deutet darauf hin, das Brecht diese Frage bejaht.[xlvii] Auch diese Antwort bleibt negativ, auch hier sähe Brecht keine Lösung. Beide als unbefriedigend erkennbaren Lösungen entsprechen den wirklichen und gegensätzlichen Antworten, die am und nach dem 17. Juni gegeben wurden.
Was nicht getan werden kann oder sollte, vermag der Text zu klären. Durch das Fehlen einer positiven Antwort wird jedoch der Titel des Gedichtes über die ironische Abfertigung hinaus selbst zur Frage: Was also soll getan werden? Der Horizont der erwartbaren Antworten ist mit der zweifach negativen Antwort auf die rhetorische Frage überschritten. Es müssen andere Lösungen gesucht werden als die im Horizont der gestellten Frage möglichen.
Diese Art zu fragen hat Hans Robert Jauß als lyrische Frage beschrieben: ”eine lyrische Frage verstehen, erfordert, die direkte oder nächstliegende Antwort zu suspendieren, um eine Umkehrung der Blickrichtung zu vollziehen, die im Gedicht vorzüglich durch Fragen eröffnet wird. Solche Fragen direkt zu beantworten, wäre ‘prosaisch’, denn dann würde der eingeleitete Prozeß des weiterfragenden Suchens, in dem sich die ästhetische Konstitution einer neuen Bedeutung vollzieht, unweigerlich auf eine prosaische Aussage reduziert.” (Jauß 1991, S. 425f.) Das entspricht durchaus Brechts Vorgehen - die Frage wird, nachdem die einfachen Lösungen verabschiedet sind, an den Leser weitergegeben, er soll sich auf die Suche nach anderer Antwort begeben. Allerdings schwingt auch hier die schon mehrfach betonte Unsicherheit Brechts mit. Brecht zieht es in anderen Texten aus dieser Zeit vor, dem Leser Fragen aufzugeben, für die der Text mindesten Angebote bereithält, wie sie beantwortet werden könnten. Darauf zielt auch der Verfremdungsgedanke des Didaktikers Brecht; einen, wie Jauß schreibt, ”Horizontwandel vom Gewußten ins Unbestimmte herbeizuführen” (S. 428) ist gewiß nicht das, woraufBrechthinauswill.[xlviii] Aber genau das findet hier statt. Der Text gibt keine Antwort auf die Frage nach der ”wirklichen” Lösung, er deutet auch keine an. Dabei muß bedacht werden, daß Brecht - vielleicht ganz ungewollt - durch die satirische Abfertigung KuBas auf eine thematische Ebene gerät, die erst das Problem, das nach Antwort ruft, verursacht: Durch den Vorgang des Wählens ist der Diskurs der Demokratie aufgerufen, durch das Volk die Frage nach der Volkssouveränität. KuBas Haltung wird mit voller Intention verneint - damit aber ist die ”Lösung” des demonstrierenden Volkes assoziierbar: Weg mit dem Spitzbart! Auch diese Lösung muß Brecht verneinen. Auf dieser Ebene aber vermag er keine andere anzubieten. Seine Lösung - die große Aussprache - liegt, auch wenn es auf den ersten Blick anders scheint, auf einer anderen politischen Ebene. Die Notwendigkeit der Diktatur ist dabei vorausgesetzt, so sehr Brecht ihren Abbau im Auge hat.
Brecht kann das so stehen lassen, weil der Zyklus insgesamt Antworten auf die Frage nach der ”Lösung” bereitzuhalten scheint. Für sie gerade soll dieser antwortlose Text den Leser öffnen. Diese Antworten - in den TextenBei der Lektüre eines sowjetischen Buches; Die Wahrheit einigt; Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters -werden zu prüfen sein. Es kann auch stehenbleiben, weil der Text etwas für Brecht Wichtiges zu leisten vermag: Er stellt das Problem, für das Brecht auf der Suche nach Lösungen ist. Der Text zeigt immerhin, dadurch, daß die ironische Frage nach beiden Seiten hin nur negativ beantwortet werden kann, daß es zwischen Volk und Regierung eine Spannung gibt, die nicht nur aus dem unmittelbaren Vorfeld des 17. Juni - ungerechtfertigte Normerhöhungen etc. - erklärt werden kann. Es ist etwas geschehen, das tiefere Ursachen hat und überdacht werden muß. Das Volk hat sich der Regierung nicht zufällig entgegengestellt. Man kann den Konflikt nicht auf ein ”Fehlverhalten” schieben, weder auf eines des Volkes - das, so KuBa, eine solche Regierung gar nicht zu verdienen scheine -, noch alleine auf eines der Regierung, die es eben mit diesem Volk zu tun hat und Wege finden muß, es zu regieren.[xlix] Der Konflikt ist ebensowenig - wenigstens nicht alleine, nicht vor allem - durch die faschistischen Kräfte zu erklären, die Brecht an jenem Tag wirken sah, und die aus dem Westteil der Stadt zu kommen schienen.
Brecht sieht es so: Es hat Kontakt zwischen Volk und Regierung gegeben - es kommt nun darauf an, ihn auszuwerten. Der Kontakt mit der Arbeiterklasse ”kam nicht in der form der umarmung, sondern in der form des faustschlages, aber es war doch der kontakt. - die partei hatte zu erschrecken, aber sie brauchte nicht zu verzweifeln. ... es gab aufgaben, die sie unter umständen, unter den gegebenen umständen, ohne zustimmung, ja gegen den widerstand der arbeiter durchführen mußte. aber nun, als große ungelegenheit, kam die große gelegenheit, die arbeiter zu gewinnen. deshalb empfand ich den schrecklichen 17. juni als nicht einfach negativ.” (Brecht 1977a, S. 515)
Die Partei aber hat diese Gelegenheit - wenn es eine war - nicht genutzt, sie hat andere Schlußfolgerungen gezogen. Der 17. Juni ist der geschichtliche Punkt, an dem in der DDR gleichzeitig eine stärkere Abgrenzung gegen den westlichen Teil Deutschlands einsetzt - der kalte Krieg nimmt an propagandistischer Schärfe zu -, wie wirtschaftspolitisch, mit dem ”Neuen Kurs”, eine Entwicklung beginnt, die versucht, mit dem Westen gleichzuziehen. Das soll durch eine verbesserte Versorgung der Bevölkerung erreicht werden; es setzt ein, was dann, unter Honecker, auch offen als Wohlstandsorientierung erkennbar wird.[l] Sie soll die Macht sichern. Das ist der faule Kompromiß, der nach dem 17. Juni geschlossen wird. Die mit dem ”Neuen Kurs” auch einhergehenden Demokratisierungsansätze werden bald danach wieder aufgegeben. Sie gefährdeten die Macht und überzeugten die Arbeiter (das Volk) nicht. Auch dies ist eine Reaktion auf das, was Brecht als Kern der Ereignisse unterstellt: ”in dem augenblick, wo ich das proletariat - nichts kann mich bewegen, da schlaue, beruhigende abstriche zu machen - wiederum ausgeliefert dem klassenfeind sah, dem wieder erstarkenden kapitalismus der faschistischen ära, sah ich die einzige kraft, die mit ihr fertig werden konnte.” (ebd.) Die Partei jedoch schien diesen letzten Halbsatz nicht mehr zu teilen, sie reagierte wie KuBa: Das Vertrauen in die Klasse, auf der ihre Macht der Theorie und Propaganda nach basieren sollte, war endgültig verloren. Es blieb dabei, gegen die Forderungen zu regieren, die hier gestellt wurden - Wiedervereinigung Deutschlands auf kapitalistischer Basis -, und ihnen gleichzeitig die Spitze zu nehmen durch Verbesserung der materiellen Lage. Der 17. Juni machte eine Einschätzung, die Brecht schon 1948 getroffen hatte, wahrscheinlich: ”wieder erschwindelt sich diese nation eine revolution durch angleichung. ... zugleich kann dieses deutschland gar nicht mehr begriffen werden ohne dialektik, denn seine einheit muß es durch weitere zerreißung erkämpfen, die freiheit kriegt es diktiert usw usw ...” (S. 439) Seit 1953 steht in Frage, ob eine Revolution durch Angleichung überhaupt Erfolg haben kann.
Der nächste Text,Große Zeit, vertan,fragt nach der gesellschaftlichen Alternative. Eine Gegenüberstellung, die Topos der DDR-Literatur (der Literaturen in beiden Teilen Deutschlands) bereits ist. Doch Brecht fragt weniger nach der Alternative als er sie vielmehr, knapp und ohne Umschweife, abfertigt. Da bedarf es nicht vieler Worte, es ist auch der einzige Text, der sich auf den Westen Deutschlands (oder Europas) direkt bezieht.[li] Ein im Vergleich mit den sonstigen Äußerungen Brechts unideologischer Text, dennoch schon im Titel Ablehnung bekundend.
Neue Städte sind gebaut worden, moderne Städte offenbar, dennoch gehören sie in die Statistik, nicht in die Geschichte. Auch dieser Text schließt mit einer Frage:Was sind schon Städte, gebaut / ohne die Weisheit des Volkes?Die rhetorische Frage bekundet nicht Unsicherheit, sondern Gewißheit. Es lohnt nicht, hier weiter zu suchen,[lii] dahin muß nicht mehr gefahren werden. Dennoch, die Frage, eben als rhetorische, soll überzeugen. An wen richtet sie sich? Wen will Brecht hier überzeugen, daß es nicht lohne, in diese Städte zu fahren, noch weniger, in ihnen zu wohnen?
Offenbar üben diese Städte eine Anziehungskraft aus, der entgegengetreten werden soll. Auf wen haben sie diese Anziehungskraft? In den ersten vier Zeilen spricht ein Ich, Brecht selbst. In den beiden letzten, abgesetzten Zeilen begründet dieses Ich seine Ablehnung: Die Städte sind gebaut ohne die Weisheit des Volkes. Brecht, zu sich sprechend, aber doch auch zu denen, in dessen Namen er ablehnt, meint: Das Volk kann gar kein Interesse daran haben, in ihnen zu wohnen. Zugleich aber soll es ihm doch gesagt sein, denn es scheint gerade das Volk zu sein, das der Anziehungskraft dieser Städte erliegen könnte.
Das Volk kann als ein Adressat des Textes ausgemacht werden. Hierdurch wird das Paradoxe der Situation deutlich, in die Brecht mit seiner Arbeit einzugreifen sucht: Dem Volk selbst sind seine Interessen nicht klar, im Gegenteil, es scheint, daß es sich ganz gegen sie zu verhalten in der Lage wäre. Die Weisheit des Volkes scheint durchaus begrenzt, sie ist in sich widersprüchlich. Werner Mittenzwei führt aus, daß die Figur des Schwejk, die Brecht fasziniert hat, diese Weisheit des Volkes zu verkörpern vermag. Mittenzwei charakterisiert sie: ”Es war die Haltung des Überlebens, indem den Herrschenden nicht widersprochen und dennoch alles getan wurde, um ihre Position zu destabilisieren. Für Brecht bedeutete der Schwejk der dialektisch aufgehobene Held, der Mann, der für niemanden den Helden spielt, auf den die Herrschenden nicht bauen können, obwohl er ihnen nicht widerspricht.” (Mittenzwei 1987, S. 91) Dies aber galt vorher, galt unter den Bedingungen der Klassenherrschaft, galt noch im zweiten Weltkrieg, in den Brecht den Schwejk schickt, soll jedoch nicht mehr gelten nun, da die Klassengesellschaft als überwindbar erscheint.
Im Sozialismus aber, fußend auf der Weisheit des Volkes, schreibt Brecht in einer Situation über das Volk, in der Kontakt zu ihm nicht besteht. SchonDer Radwechselzeigte es: Der denkende und wissende Dichter sitzt am Straßenhang, während der Fahrer stumm arbeitet. Brecht hat nicht Anteil am Arbeiten des Fahrers, auch von dessen Gedanken erfährt man nichts. Der Fahrer schweigt, wie Brecht selbst. Brecht sucht den Kontakt durch seine Produktionen, doch die Texte sind argumentierend gegenüber jemandem, der selbst stumm bleibt. Am 17. Juni hatte das Volk aufgeschrien, ein Gewirr von Stimmen - nun schweigt es wieder. Brecht sieht sich in derselben Situation wie die Regierung. Es muß für das Volk, in seinem Interesse, gegen es gehandelt werden. Der Zyklus versucht zu begründen, warum das so ist, mit ihm versucht Brecht darüber hinaus - und hier unterscheidet er sich von der Regierung -, dem Volk die Mittel bereitzustellen, souveränes Subjekt seiner Handlungen zu werden. Die Texte setzen einen reflektierenden, fragenden, erwägenden Leser voraus, suchen ihn, ganz im Gestus der Avantgarde der zwanziger Jahre, zu ”produzieren”. Die rhetorische Frage will nicht überrumpeln, sondern ein Argument vorführen, sie will auffordern, sich dieser Weisheit würdig zu zeigen. Die neue Fragerichtung aber, die sie eröffnet - warum verhält sich das Volk nicht weise? -, stellt das Vorhandensein dieser Weisheit selbst in Frage. Doch ein Gespräch eröffnet sie auch damit nicht. Da ist ein Rhetor, der nicht einmal weiß, ob er Publikum hat. Aber wo es auch sei, was er auch sagt, er hat das Publikum doch in seiner Hand. Er ist es, der redet. Er hat die Lizenz zum Reden. Brecht ist überzeugt, daß das Gespräch zustande kommen kann, die Texte aber lassen Zweifel hervortreten.
Brechts Überzeugung von der Möglichkeit des Gesprächs und von schon vorhandener ”Weisheit des Volkes” stärkt der TextBei der Lektüre eines sowjetischen Buches.[liii] Er spielt in der Sowjetunion. Die Weisheit des Volkes bewährt sich in diesem Text in der Auseinandersetzung mit der Natur. Der Text läßt sich lesen wie eine Paraphrase des Marxschen Satzes, daß der Kommunismus der vollendete Naturalismus und als vollendeter Naturalismus vollendeter Humanismus sei. Er teilt dessen Illusion. Vorgestellt ist hier ein Zusammenhang von Mensch und Natur, in dem die Natur durch den Menschen bezwungen wird, in einer Weise, die die Natur nicht zerstört, sondern sie bändigt im Interesse der Menschen. Eine Bezwingung der Natur nicht gegen sie, sondern auf der Basis einer engen Beziehung zu ihr, auf der Basis ihres Studiums, um sie, für die Menschen, das Volk, ausnützen zu können. Das Volk kommuniziert mit der Natur.
Es wiederholt sich, was imBlumengartenbereits ”angelegt” war. Doch dieser Text geht über denBlumengartenhinaus.Zwar ist auch hier eine Naturbeziehung dargestellt, in der die Auseinandersetzung mit der Natur nicht um Besitz geführt wird, doch ist ihr Resultat diesmal nicht nur die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, sondern der Kampf befriedet die Natur selbst, befreit auch sie. Die Wolga zu bezwingen, wird keine leichte Aufgabe sein, sie wird sich mit allem, was sie hat, mit ihren vielen Nebenflüssen, gegen den Staudamm wehren. All ihren ”teuflischen Spürsinn” wird sie ausnützen, mit Zorn sich gegen den Staudamm werfen. Sie wird - wie der antike Held Odysseus - listenreich und mit erfinderischem Genie gegen die Menschen vorgehen. Diese aber, besser gerüstet als Odysseus durch Liebe, Gesang und Studium, werden sie bezwingen. Und zwar mit folgendem Resultat:
Und die schwarzen Gefilde der Kaspischen Niederung
Die dürren, die Stiefkinder
Werden es ihnen mit Brot vergüten.
Der Mensch hat die Ungerechtigkeit der - vorher durch Brecht auf vielfache Weise vermenschlichten - Natur beseitigt. Die Natur verhielt sich ungerecht gegen sich selbst (siebentausend Nebenflüsse auf der einen Seite - dürre Stiefkinder auf der anderen). Indem der Mensch diese Ungerechtigkeit durch seine Arbeit ausgleicht, erntet er die Früchte der Natur. Es wird eine Natur geschildert, die sich gegen die Menschen und gegen sich selbst ungerecht verhält. Sie muß mit Liebe bezwungen werden. Das Maß des Menschen wird gegen die Natur durchgesetzt und als ihr selbst zuträgliches behauptet. Wie das (deutsche) Volk, muß die Natur zu ihrem Glück gezwungen werden. Der Weisheit des (russischen) Volkes muß sich auch die Natur fügen.
Das ist die Fiktion, auf der der Gedanke der Weisheit des Volkes in diesem Text beruht, und diese Fiktion wiederum ist selbst durch eine Fiktion vermittelt. Brecht hat die Bezwingung der Wolga und ihre segensreichen Folgen nicht selbst gesehen, sie ist auch noch nicht vollendet, ist Zukunft, und Brecht erfährt von ihrBei der Lektüre eines sowjetischen Buches.[liv] Das ist der einzige Text des Zyklus, in dem die neuen Zeitenalsneue Zeiten beschrieben werden.
Diesen Text herangezogen, wird deutlicher, was Städte, gebaut ohne die Weisheit des Volkes, bedeuten. Es sind die großen Städte des jungen Bert Brecht, die den alten nicht mehr faszinieren können - gebaut gegen die Natur und gegen die Interessen des Volkes. Das Beispiel der Sowjetunion ist die Verheißung für das Volk, das am 17. Juni durchaus artikuliert hat, in diesen anderen Städten wohnen zu wollen. Doch nur an der Wolga wird Geschichte gemacht, und zwar nicht nur mit der Weisheit des Volkes, sondern durch sie, denn die Bezwingung der Wolga fußt nicht allein auf ihrem Studium, sondern auf dem Verhältnis des Volkes zu ihr - Liebe - und auf den Erfahrungen mit ihr, die das Volk gesammelt hat: im Gesang (dessen Stellenwert im Text eines ”elegischen” Dichters, der um Gehör kämpft, nicht unterschätzt werden sollte).
Aber der Text über die fremden Städte enthält noch einen anderen Adressatenbezug. Zwar ist, im Kontext des Brechtschen Werkes, durch den Titel des Gedichtes und die Opposition Statistik - Geschichte m.E. deutlich, daß es sich um die Städte der Klassengesellschaft handelt, doch der Text ist sehr allgemein gehalten.[lv] Der Text, mit seiner rhetorischen Frage, die auch Forderungscharakter annehmen kann, vermag sich auch an jene zu richten, die heute in der sozialistischen Gesellschaft den Bau von Städten zu planen, zu verantworten und durchzuführen haben (z.B. Stalinstadt, später Eisenhüttenstadt). Das Volk auf seiner Seite sehen zu wollen, verlangte, Städte mit seiner Weisheit zu bauen, sie in ihm zu erwecken. Auch in diese Richtung geht das sowjetische Beispiel als Verheißung, mit der Liebe erst kann es gelingen, auch der Gesang der Dichter darf nicht fehlen. Ohne die Weisheit der Massen kann die ”große Ordnung” nicht gebaut werden. Das hat Brecht in einem anderen Text desselben Jahres ausgesprochen.
Frage
Wie soll die große Ordnung aufgebaut werden
Ohne die Weisheit der Massen? Unberatene
Können den Weg für die vielen
Nicht finden.
Ihr großen Lehrer
Wollet hören beim Reden!
Doch die beiden Texte des Zyklus lassen erkennen: Die Weisheit des russischen Volkes kann nur in der Verheißung, die sich als nahe Tatsache ausgibt (”noch vor dem Jahre 1958”), behauptet werden, dem deutschen Volk scheint es an ihr zu mangeln. Worauf aber soll dann gehört werden?
Den Mangel beschreibt Brecht als Resultat der deutschen Geschichte. Wer soll denn hören können, wenn auch das Volk wie die Führung noch immer diese Geschichte im eigenen Verhalten reproduzieren? Keine Antwort darauf in denBuckower Elegien. Die folgenden Texte artikulieren das Erschrecken darüber, wie lebendig die Vergangenheit noch ist.
InGewohnheiten, noch immerwird gezeigt, wie mit dem Volk umgegangen wird, wie es selbst mit sich umgeht, wie ihm noch immer sein Essen angetragen wird, sein nun ihm gehörendes. Schon wird das Essen verteilt, erhält jeder, was ihm zukommen kann, aber er erhält es immer noch von oben, als eine Gnade, die mit Verachtung, herrisch, hingereicht wird und als solche akzeptiert, gegessen.
Die Teller werden hart hingestellt
Daß die Suppe überschwappt.
Mit schriller Stimme
Ertönt das Kommando: Zum Essen!
Das Vergnügen, essen, wird zu einer Pflicht, zu einer ungeliebten. Kälte und Härte sind eingewachsen, und noch einmal werden die Jungen aufgezogen mit dem Minimalprogramm an Freundlichkeit: eine Windel gereicht, das Essen und drei Hände Erde. Das Eigentum des Volkes bleibt ihm fremd, es wird ihm verordnet, immer noch zugeteilt.
Der preußische Adler
Den Jungen hackt er
Das Futter in die Mäulchen.
Und die jungen Adler - werdende Raubvögel - können nichts dabei finden. Es fehlt, was nun möglich sein sollte: Freundlichkeit, Liebe, Genuß, Vergnügen. Gemeinsamen Gesang macht diese Situation nicht möglich. Die Stimme, die zum Essen ruft, ist schrill, sie kommandiert - die Jungen haben den Mund zu halten und zu schlucken.
Die deutsche Geschichte ist aber nicht nur in die Gewohnheiten eingewachsen, sie ist auch noch präsent als gesellschaftliche Struktur. Dies zeigt das StückHeisser Tag. In ihm findet sich eine dem Eingangsgedicht vergleichbare Konstellation, Brecht selbst ist imRadwechselnicht nur ihr Beobachter, sondern ihr Akteur. Da sind Menschen, die von anderen Menschen fortbewegt werden. Doch die Konfrontation inHeisser Tagist ungleich schärfer als imRadwechsel, die Gegensätze sind schreiend. Der Ruderer ist ein Kind, die, die er fortzubewegen hat sind schwer, eine dicke Nonne, dick gekleidet, das Kind muß aus vollen Kräften rudern, um den Kahn vorwärtszubringen, dazu die Hitze des Tages, die die Anstrengung noch wachsen läßt. Nicht das Kind darf sich Erholung, ein Bad gönnen, sondern ein ältlicher Mann im Schwimmanzug, wahrscheinlich ein Priester. Anders als für den Leser, den Brecht durch das krasse Ungleichgewicht zur Empörung aufzureizen sucht, ist die Verteilung der Tätigkeiten und Gewichte in dieser Nußschale für die beiden Gefahrenen die normale, ”gottgewollte” Ordnung.
Doch nicht alleine die alte Hierarchie wird hier in ihrer Ungerechtigkeit dargestellt, sondern auch, daß da die genießen, die des Genusses nicht fähig sind. Die Nonne macht erst gar keine Anstalten zum Bad, sie kann sich nicht mehr bewegen, ist bewegungsfähig nur, wenn sie von anderen fortbewegt wird. Ihr Status als Nonne verbietet darüber hinaus das Bad in der Öffentlichkeit, obwohl sie, ihres Körperumfangs und der dicken Kleider wegen, schwitzen wird. Sie ist unfähig zur Arbeit und zum Genuß. Der Mann wird charakterisiert als ältlich, er trägt den Körper vermutlich gut bedeckende Schwimmkleider und ist wahrscheinlich Priester, was den Gegensatz zur Sinnlichkeit des Bades betont. Dem Kind dagegen, das nur als arbeitend dargestellt wird, nicht beschrieben, wie die beiden anderen, ist immer noch die angestrengte, schwitzende Arbeit die einzige Möglichkeit, seine Sinnlichkeit zu äußern - zu entäußern.
Ein Gespräch zwischen den Klerikern und dem Kind ist unmöglich, schon ein Gespräch im Sinne Brechts zwischen der Nonne und dem Priester ist nicht denkbar. Auch der Gefahrene und der Fahrer imRadwechselunterhalten sich nicht - Arbeit und Denken sind getrennt, Kommunikation findet nicht statt. Hörbar wären nur die Geräusche der Arbeit, die möglicherweise den Nachdenkenden veranlassen, sich abseits, am Straßenhang, Stille zu suchen. Hier jedoch, inHeisser Tag, kann erst gar keine Kommunikation zustande kommen. Im Boot herrscht Ungleichgewicht, Gegensätze bestimmen den Text: jung - alt; leicht - schwer; bewegend - unbeweglich; dünn - dick; unten - oben; Hitze - Kühle; Anstrengung - Untätigkeit.[lvi] Die Gegensätze sind nicht zu vermitteln, das Schweigen ist hier unvermeidlich. Der eigentliche Schock für Brecht besteht darin, daß diese Struktur überdauert hat. Der 17. Juni hat ihm dafür die Augen geöffnet, vorher nahm er so nicht wahr.[lvii] Erschrocken, resigniert, empört wird der Befund wiederholt:
Wie in alten Zeiten! denke ich
Wie in alten Zeiten!
Keine Frage, eine Ausrufung - sie macht bewußt, was ist. Es wird nicht elegisch beklagt, daß diese Zeiten vorbei sind, nicht erfreut ausgerufen, daß es sie noch gibt - umgekehrt: Beklagt wird, daß es sie noch geben kann und ihnen entgegengetreten durch dasWie. Es sind nicht die alten Zeiten, es ist nurwiees in ihnen war.
Bemerkenswert sind zwei Texte, in denen das, was bedroht, noch anders dargestellt wird, in denen auch anderes Schweigen vorgeführt wird. In ihnen geht es nicht nur um die fehlende Weisheit des Volkes, nicht nur um preußische Härte im Verhalten oder noch vorhandene Herrschaftsstrukturen, sondern es wird die Latenz des besiegten Faschismus auch im neuen Deutschland thematisiert.
Der Einarmige im Gehölzverdeutlicht durch den Gang des Textes den Schock, den diese Tatsache verursacht. Wieder scheint es, als würde ein Arbeitender vorgeführt, ein Einarmiger, offenbar im Krieg verwundet, arm, gezwungen, sich durchzuschlagen. Brecht beschreibt äußerst genau die Mühe, die der Mann hat. Er trieft vor Schweiß, muß sich die Stechmücken beim Holzsammeln durch Kopfschütteln verjagen, da die zweite Hand fehlt, die es tun könnte. Mühselig sammelt er das Holz auf. Es scheint, folgt man den bisherigen Deutungsangeboten, die der Zyklus gemacht hat, als sollte beschrieben werden, unter welch schwierigen Bedingungen in dieser Zeit gearbeitet werden muß: Es fehlt am Nötigsten und um es zu erhalten, müssen die, die durch den Krieg gegangen sind, noch einmal alle Kräfte bemühen, aus der Natur holen, was sich finden läßt. Doch was anfangs noch unter das Motiv ”Arbeit” eingeordnet werden konnte, erweist sich als etwas höchst Bedrohliches.[lviii] Der einarmige Holzsammler richtet sich auf, streckt die Hand hoch, um zu spüren, ob es regnet. Dann kippt das Bild. Die Geste erweist sich, mit der letzten Zeile des Gedichtes, als erschreckende:
Die Hand hoch
Der gefürchtete SS-Mann.
Sie sind noch da, sie gehen umher schweigend, versteckt, sie erhalten sich am Leben, und es könnte sein, daß sie warten (schon sammeln sie).[lix] Man weiß es nicht genau - die hochgestreckte Hand kann vieles sagen: Es könnte die Geste des Ergebens sein, es könnte, obwohl der Mann vielleicht wirklich nur geprüft hat, ob Regen fällt, jederzeit der Hitlergruß wieder werden, und obwohl es nur noch eine Hand ist, könnte sie - gestreckt - auch wieder eine Pistole halten.[lx] Mit der gestreckten Hand wird, nach all den Verben der Mühseligkeit, eine sehr starke Handlung ins Bild gesetzt, verstärkt noch durch das Sich-(wieder-)aufrichten. Die Furcht des Autors vor diesen Menschen wird spürbar. Es sind diejenigen, die Brecht mit den Arbeitern am 17. Juni gesehen hat, rote Fahnen verbrennend. Aber es sind nicht nur jene, die in der Zeit des Faschismus Macht hatten, es sind auch alle anderen, die beunruhigen. Auch die, von denen man annehmen darf, daß sie nicht gemordet haben:
Vor acht Jahren
Da war eine Zeit
Da war hier alles anders.
Die Metzgerfrau weiß es.
Der Postbote hat einen zu aufrechten Gang.
Und was war der Elektriker?
Man weiß auch das nicht - niemand redet darüber, auch dieser Text ist stumm. Es sind Leute der Buckower Gegend, Mittelstand,[lxi] Dienstleistende, auf die Brecht angewiesen ist wie sie auf ihn, Menschen, mit denen er in Kontakt steht. Aber es ist ein Kontakt - unter ständigem Geplauder, läßt sich vermuten -, der nichts erfahren läßt. Die Leute reden nicht gerne über diese Zeit. Was sie wissen, behalten sie für sich; wenn sie reden, weiß man nicht, wo die Lügen beginnen könnten.
Der Autor ist ganz auf seine Vermutungen angewiesen. Was haben diese Leute gemacht, während Brecht im Exil war, was denken sie heute? Kann man ihnen trauen? Haben sie schon vergessen? Hoffen sie, nach dem 17. Juni, die alten Zeiten kommen wieder? Was verstecken die Leute in ihren Köpfen?
Brecht hat im Exil, anfangs mit Überzeugung, später mit schwindender Hoffnung, darauf gewartet, daß sich die deutschen Arbeiter gegen Hitler wenden werden. Sie haben es nicht getan. Brecht vermochte es sich zu erklären: Vorne, so Goebbels in dieser Zeit, konnte man sterben, hinten, als Deserteur, war der Tod sicher. Beruhigung verschafft diese Erklärung jetzt nicht mehr.
Gerade dieser Text zeigt, wie dünn der Boden ist, auf dem eine sozialistische Gesellschaft errichtet werden soll. Das StückDie Kelle- ein Traum - zeigt es auf andere Weise. Ein Schuß fällt, während gebaut werden soll. Woher die Kugel kommt, bleibt unerklärlich. Die Gefahr scheint allgegenwärtig, der Traum läßt darstellen, daß sie nicht geortet werden kann. Im Traum kann Brecht dies zugeben. Brecht will nicht, wie KuBa, dem Volk das Vertrauen entziehen, aber er kann auch kein Vertrauen haben. Das Schweigen der Leute muß mißtrauisch machen. Warum wird so viel geschwiegen? Was würden diese Menschen machen, wenn ihnen das Essen nicht mehr, wie sie es gewohnt sind, herrisch gereicht würde? Was würden sie tun, könnten sie tun, was sie tun wollten? Freie Wahlen, eine Forderung des 17. Juni: Wen würden diese Menschen wählen? Noch geht der SS-Mann um, unerkannt - oder kennen die anderen ihn? Die Frage ”waswar der Elektriker?” verweist darauf, daß er anderes als nur Elektriker gewesen sein könnte. Die Metzgerfrau läßt blutiges Fleisch assoziieren, der Elektriker tödlichen Strom.
Wie soll Freundlichkeit aufkommen unter diesen Menschen? Ihre eigenen Gewohnheiten sind nicht freundlich, sie sind verschlossen; die herrische Geste der Macht ist nicht freundlich und kann es nicht sein; und auch Brecht kann das Mißtrauen nicht unterdrücken, so viel er von der Weisheit des Volkes redet. Die unbeantwortbaren Fragen mehren sich. Das Ziel der Reise könnte dem Ausgangspunkt ähneln.
Oder es könnte Schlimmeres am Ende der Reise zu erwarten sein als an ihrem Anfang. Ihr endgültiger Abbruch steht zu befürchten, ohne die Möglichkeit, überhaupt noch irgendwo ankommen zu können. Eine andere Gefahr wird sichtbar, eine ganz neue. Der zweite Weltkrieg hat an seinem Ende eine Vernichtungspotenz hervorgebracht, die es nie zuvor gab. Alles kann durch die Atombomben zerstört werden. Es sind nun trostlose Landschaften vorstellbar, in denen es noch Häuser, Bäume und See(n) geben mag, aber nicht mehr Rauch, der aus den Häusern steigt (Der Rauch). Nach dem Rauch von Auschwitz[lxii] folgte der Bombenpilz von Hiroshima.[lxiii] Wie werden die Leute auf diese Bedrohung reagieren, was werden sie tun? Brecht ahnt es:
Der Himmel dieses Sommers
Hoch über dem See fliegt ein Bomber.
Von den Ruderbooten auf
Schauen Kinder, Frauen, ein Greis. Von weitem
Gleichen sie jungen Staren, die Schnäbel aufreißend
Der Nahrung entgegen.
Hier verkehrt sich die Beziehung von Mensch und Natur auf verhängnisvolle Weise. Was ein Vorgang unter Menschen ist, dem eingehalten werden könnte, erscheint als ein natürliches Geschehen, das sich blind vollzieht, unaufhaltbar. Aber - eserscheintso, von weitem, die Menschen scheinen Stare, sie sind es nicht, sie sind als Menschen in der dritten Zeile kenntlich gemacht. Noch kann Einhalt geboten werden, können die Menschen als Menschen angesprochen, gewarnt werden. Hoffnung und Furcht halten sich die Waage, da es in diesem Text gerade die Menschen sind, die sich als so blind erweisen könnten, die am verletzlichsten sind und die zunehmend Opfer der modernen Kriege wurden: Frauen, Kinder, Greise. Akustisch aber ist nur der Bomber zu hören.
In einem anderen Text hat Brecht gerade Frauen und Kinder - auch die Männer - eindringlich angesprochen, sie bittend, sich das Leben zu bewahren:
Ihr Kinder, daß sie euch mit Krieg verschonen
Müßt ihr um Einsicht eure Eltern bitten.
Sagt laut, ihr wollt nicht in Ruinen wohnen
Und nicht das leiden, was sie selber litten:
Ihr Kinder, daß sie euch mit Krieg verschonen!
Ihr Mütter, da es euch anheimgegeben
Den Krieg zu dulden oder nicht zu dulden
Ich bitt euch, lasset eure Kinder leben!
Daß sie euch die Geburt und nicht den Tod dann schulden:
Ihr Mütter, lasset eure Kinder leben!
In dieser Situation höchster Bedrohung verzichtet Brecht auf den Gestus der Belehrung; er, der vom Faschismus vertrieben wurde, der das Recht hätte zu fordern, bittet. Und er legt diese Bitte dem Präsidenten der Republik in den Mund, dem Brecht das Gedicht schickt, und dessen Titel die von Pieck gebrauchte Eingangsfloskel seiner Reden aufgreift:An meine Landsleute. Auch so sollte von Kommunisten gesprochen werden können, Erbarmen der Menschen mit sich selbst erbittend (in der hier nicht zitierten 1. Strophe).
Brecht ist in seinen letzten Lebensjahren, Höhepunkten des kalten Krieges, nicht müde geworden, vor der Gefahr neuer, größerer Kriege zu warnen. Eine der bekanntesten Warnungen beschließt seinen offenen Brief an die deutschen Künstler und Schriftsteller (1951): ”Das große Carthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.” (Brecht 1977b, S. 167) So versucht Brecht, mit seinen Texten, dem, was in den Elegien als Befürchtung ausgesprochen ist, etwas entgegenzuhalten.
Doch es ist nicht nur die Vergangenheit beunruhigend und es sind nicht nur die anderen. InBöser Morgensteht sich der Dichter selbst gegenüber, hier wird die Frage an ihn gerichtet, kommt sein Verschulden zur Sprache. Brecht imaginiert den 17. Juni als auf sich bezogen.
Heute nacht im Traum sah ich Finger, auf mich deutend
Wie auf einen Aussätzigen.
Daß der Dichter zu jeder Zeit Angenehmes zu zeigen weiß, steht nun in Frage, er konfrontiert sich selbst mit der Arbeiterklasse, und auch hier hat der Kontakt nicht die Form der Umarmung. Klangen andere Zeilen zur Poesie sehr harmonisch und nahezu abgeklärt, wissend, durch Naturbilder gestützt, wird hier alles fraglich. Der Kontakt mit dem Publikum erfolgt im Traum, im Alptraum.[lxiv] Der Dichter muß sich verteidigen:Unwissende! schrie ich / Schuldbewußt.
Der Traum scheint alles zu verkehren, die friedliche Buckower Natur wird häßlich, widerlich, die Beziehung zwischen Mensch und Natur ist gestört, die Pappel einealte Vettel, der Seeeine Lache Abwaschwasser, nicht rühren. So sieht die Landschaft nach dem Traum aus, das erst scheint sie wirklich zu sein, die vorherige Schönheit dagegen erträumt. Nach dem Kontakt mit ihr kann die Wirklichkeit nicht mehr elegisch wahrgenommen werden, nicht mehr idyllisch, sie taugt nicht mehr zum Gleichnis, an ihr läßt sich nichts mehr erklären, sie zeigt sich, wie sie ist: ungeeignet zum guten Leben, und sie zeigt die Gleichnisse, Elegien und Idyllen über sie als Lüge. Der Traum, der diese Veränderung verursacht, macht den Dichter zum Schuldigen. Nicht auf die Partei, nicht auf die deutsche Geschichte, nicht auf die Faschisten, nicht auf ”den Klassenfeind” ist der Finger der Arbeitenden gerichtet, sondern auf Bertolt Brecht. Wieder erfolgt der Kontakt schweigend, die Arbeiter zeigen, reden nicht, der Dichter schreit - zum Gespräch kommt es nicht.
Nur im Traum konnte der Kontakt inszeniert werden, der imRadwechselnicht zustande kommt und der im Theater ersehnt wurde.[lxv] Aber die Rollen sind vertauscht. Nicht Brecht ist es, der etwas zeigt, sondern auf ihn wird gezeigt, nicht er macht Ursachen sichtbar, sondern er ist die Ursache. Nicht er verfremdet, sondern er wird sich selbst fremd. Es ist unbestreitbar ”die Klasse”, die ihm gegenübersteht, die Finger sind zerarbeitet. Noch einmal kann Brecht sich retten: Unwissende! Noch muß, noch kann erklärt werden, noch die Finger der Arbeitenden geben dem Dichter auch recht: nicht nur zerarbeitet sind sie, sie wurden zerbrochen.[lxvi] Ohne Dialektik ist die Lage der Arbeitenden nicht zu begreifen. Es ist die gebrochene Klasse, depraviert, die hier mit Fingern zeigt. Sie weiß nicht um die Gefahren, die ihr drohen, auch ihre Führer sprechen darüber nicht offen.[lxvii]
Aber das Schuldbewußtsein bleibt als letztes Wort. Der Gedichte wegen, die sich als Lügen offenbaren könnten? Der Gedichte wegen, die den Weg zu den Unwissenden nicht finden? Hat der Dichter zu sehr der Regierung und zu wenig der Weisheit der Massen vertraut, sich mit der Regierung zur Diktatur gegen die Massen verschworen?[lxviii] Es ist mit diesem Gedicht ein Abgrund sichtbar geworden, der den ganzen Zyklus in Frage zu stellen vermag. Die Charakterisierung als (Alp-) Traum aber hält die Möglichkeit offen, sowohl die Sicht auf die Natur am (bösen) Morgen wie die Konfrontation als Verzerrung zu deuten.
Nicht nur Brecht trägt Schuld, nicht nur die Arbeiter sind unwissend, und nicht nur auf sie zeigen die Gedichte Brechts. Der TextDie Wahrheit einigtwendet sich direkt an die Parteiführung,[lxix] fordert auf, aus der Konfrontation zu lernen, fordert neuen Umgang mit den Massen. Brecht hat diesen Text im August 1953 geschrieben und sendet ihn sofort an Paul Wandel, den damaligen Volksbildungsminister, ”zu innerem Gebrauch” (Brecht 1983 Bd. 2, S. 662).[lxx] Es wird nicht verlangt, die Diktatur aufzugeben - angesichts des gebrochenen Klassenbewußtseins ist sie für Brecht nötig -, aber es wird angeraten, die Karten auf den Tisch zu legen. Das Vertrauen, das KuBa dem Volk nicht entgegenbringen wollte, wird hier eingeklagt. Die Diktatur kann nur Erfolg haben, wenn die Massen in sie einbezogen werden, so kann sie unnötig werden.[lxxi] Nur so auch kann das eigene Schuldbewußtsein abgetragen werden und das eigene Mißtrauen.
Brecht weist auf sein Angenehmes hin:Freunde, ich wünschte, ihr wüßtet die Wahrheitsetzt der Text ein. Hier spricht jemand, der die Wahrheit offenbar zu wissen meint, der zumindest weiß, daß die anderen, seine Freunde, sie nicht wissen. Merkwürdige Freunde. Es ist nicht das erste Mal, daß Brecht ihnen diese Wahrheit vorführt. Jene Wahrheit, die nur als Widerspruch existiert, in dem gehandelt werden muß, suchend. Doch sie hören ihn nicht. Die Wahrheit steht da, aufgeschrieben, sie ist nicht endgültig, sondern diskutierbar, nur so Wahrheit.
Niemand hört dem Dichter zu: Da ist (vielleicht) ein Publikum, das Volk, das nicht mit ihm spricht, Freunde, mächtiger offenbar als er, über ihm, über dem Volk - und auch sie sprechen nicht mit ihm, so sehr er sich um das Gespräch bemüht. Die Konjunktive im Gedicht zeigen Brechts Zweifel: Wissen die Freunde die Wahrheit, sagten sie sie wenn sie sie wüßten und täten sie es auf die richtige Weise? Mißtrauen vergiftet die Freundschaft. Ein redender Dichter umgeben von sich abwendenden Menschen, für die er spricht. Der Titel schreit es fast; Freunde:Die Wahrheit einigt. Die Kluft zwischen Volk, Führung und Dichter könnte verschwinden. Eine Kassandra-Situation: Jemand, der die Wahrheit weiß, sie ausspricht, wird nicht gehört. Nicht gehört von der Klasse, nicht von ihrer Avantgarde.[lxxii] Im Gegenteil: Die Fingerbeiderzeigen auf ihn.
Denn Brechts eigene Möglichkeiten zu sprechen sind bedroht. Dies wird assoziierbar in dem sarkastischsten Text des Zyklus,Die Musen, dem einzigen, in dem der Name ausgesprochen wird, der für die innere Bedrohung des Sozialismus durch die Sozialisten selbst steht: Stalin (der Eiserne)[lxxiii].
Im April 1953 veröffentlicht Brecht zum Tode Stalins folgende Sätze: ”Den Unterdrückten von fünf Erdteilen, denen, die sich schon befreit haben, und allen, die für den Weltfrieden kämpfen, muß der Herzschlag gestockt haben, als sie hörten, Stalin ist tot. Er war die Verkörperung ihrer Hoffnung. Aber die geistigen und materiellen Waffen, die er herstellte, sind da, und da ist die Lehre, neue herzustellen.” (Brecht 1968 Bd. 2, S. 223) Eine sehr geschickte Stellungnahme, die durchaus offenläßt, ob denn auch Brecht das Herz gestockt habe. Brecht empfiehlt eher, über den Toten und seine Lehren hinwegzugehen und aus der vorhandenen Lehre - es wird vor allem Lenin gemeint sein - neue herzustellen, den Wettern angemessenere. Mußte Stalin für Brecht in der Zeit des Exils unterstützt werden, um Hitler besiegen zu können, so binden sich seine Hoffnungen, auch die in die Sowjetunion, nun nicht mehr an einzelne Politiker, sondern ausschließlich an die Klasse selbst, an ihre Weisheit. Von daher hält Brecht den Stalinismus für ausrottbar. So notiert er, zwei Monate vor seinem Tod, in Buckow die zugänglichen Dokumente des XX. Parteitages der KPdSU studierend: ”Die Liquidierung des Stalinismus kann nur durch eine gigantische Mobilisierung der Weisheit der Massen durch die Partei gelingen. Sie liegt auf der geraden Linie zum Kommunismus.” (S. 224) Das scheint die Wahrheit zu sein, die Brecht weiß. In ihr dürften die beiden größten Illusionen Brechts versammelt sein. Die eine liegt im - von Marx rührenden - Vertrauen in die sozialen Interessen des Proletariats, die den Kommunismus erzwingen werden.[lxxiv] Die andere besteht im Vertrauen, daß die Partei, die die Massen als deren Avantgarde zu mobilisieren hat, wirkliches Interesse an einer Mobilisierung gegen den Stalinismus gehabt hätte.
Die erste Illusion wird in denBuckower Elegienwenigstens vorübergehend und wenigstens bezogen auf die deutschen Arbeiter brüchig. Sie hatten sich am 17. Juni mit einem Verhalten gezeigt, das Brecht nicht verstand. ”Einerseits warf er den Arbeitern ihre ‘richtungslosigkeit und jämmerliche hilflosigkeit’ während der Demonstration am 17. Juni vor, dann wieder beklagte er, wie schnell sie kapitalistischen, ja selbst faschistischen Losungen aufgesessen wären. Hieraus leitete sich die zeitweilige Stimmung ab, die er vor allem in den Elegien ausdrückte, keinen Zugang mehr zu den Arbeitern zu finden, sie in ihren tatsächlichen Interessen nicht mehr zu verstehen.” (Mittenzwei 1987, S. 532) Zeitweilig bleibt dies, weil Brecht noch in denBuckower Elegienseine Stilisierung des Proletariats beibehält und nicht beginnt, nach den wirklichen Interessen der Arbeiter zu suchen. Die Abstraktion Proletariat steht hier gegen die unverständlich handelnden deutschen Arbeiter, mit denen Brecht nicht einig werden kann, die er aber immer noch auf der Folie seiner Vorstellung von der ”Klasse” bewertet. Von dieser Folie ausgehend werden sie kritisiert (Unwissende) wie heroisiert (Weisheit). Darin steckt theologisches Denken, wie Werner Mittenzwei aufgedeckt hat: ”Wenn er [Brecht - AT] auf den Arbeiter im Prozeß gesellschaftlicher Veränderung zu sprechen kam, nahm seine Sprache eine fast biblisch zu nennende Diktion an.” (ebd.) Ähnlich die zweite Illusion, bezogen auf die Interessen der ”Avantgarde” dieser Klasse, der Partei. Sie macht Brecht glauben, sein AufrufDie Wahrheit einigtan Paul Wandel geschickt, könnte gehört werden. Es bleibt auch Brechts Haltung, daß, solange die Massen die Entwicklung noch nicht selbst in die Hand genommen haben (vor allem in Deutschland), ein befohlener Sozialismus besser sei als gar keiner. Deshalb ist das Ziel der Reise so unwillkommen, und deshalb muß sie doch fortgesetzt werden. Kein Sozialismus bedeutet für Brecht Faschismus.
Auch das StückDie Musenmacht Illusionen deutlich. Es handelt von der Kunst, dem Gesang, dem Volk nötig. Die Chancen der Kunst könnten verspielt werden. Unzweifelhaft bezieht sich das Gedicht auf die Formalismusdiskussion, die in der Sowjetunion durch Shdanow mit seiner Polemik gegen einige Komponisten begonnen wurde und in der DDR 1951 durch das Formalismus-Plenum fortgeführt worden ist. Brecht hatte sich schon in den Jahren des Exils mit dem Formalismusvorwurf auseinandergesetzt. Einerseits schien ihm eine Diskussion über Formalismus nötig, gerade angesichts dessen, was in Westeuropa an Kunst produziert wurde (Brechts Antipoden auf dem Theater der Nachkriegszeit waren die existentialistischen Autoren). Andererseits schien ihm die Diskussion selbst formalistisch geführt, in ihr wurde gerade die (moderne) Kunst bekämpft, die für Brecht am besten in der Lage war, sozialistische Impulse freizusetzen. War mit Lukács in dieser Hinsicht noch theoretische Auseinandersetzung möglich, so waren die ”Argumente” des Formalismusplenums der SED von 1951 einfach lächerlich. Brecht hielt sich mit Äußerungen völlig zurück (auch seine Exilpolemiken gegen Lukács hatte er nicht veröffentlicht). Andererseits rückte er von seinem eigenen Standpunkt in der Theaterarbeit, der poetischen Produktion überhaupt, nicht ab und wurde, im Gegensatz zu anderen Künstlern, durch die Formalismuskampagne an der Arbeit kaum gehindert.[lxxv] Es gab zwar die Diskussion um die Lukullus-Oper, aber es gelang hier doch, gemeinsam mit Paul Dessau, gegen den sich die Hauptvorwürfe richteten, tragfähige Kompromisse zu finden.
Vielleicht ist es diese Möglichkeit, die Brechts Haltung in dem Text bestimmt, obwohl ihm nicht entgangen ist, daß durch die scharfe Kampagne andere Künstler in ihrer Produktivität äußerst stark beschnitten wurden[lxxvi] (auch Hanns Eisler), daß in deren Folge auch Kunstwerke vernichtet worden sind (Strempel-Wandbild) oder gar nicht erst produziert wurden (die Musik zumJohannes Faustus).
Merkwürdig an dem Text ist, daß sich der sarkastische Zorn nicht vorrangig auf den Eisernen bezieht, der da prügelt, sondern auf die, die geprügelt werden. Obwohl Brecht in der DDR immer wieder mit fragwürdigen Haltungen zur Kunst konfrontiert wurde und dies auch zum Gegenstand von Texten gemacht hat (Nicht feststellbare Fehler der Kunstkommission)[lxxvii], unterschätzt er in diesem Gedicht die Gefahren der politischen Bevormundung der Künste. Es werden statt dessen die Künste angeprangert. Deren Opportunismus - unnötig, wie es scheint - wird in grellen Farben, angewidert, dargestellt.[lxxviii] Ein lauter Text. Brecht vermischt in diesem Gedicht antike Schönheit mit politischer und sexueller Gewalt. Die Musen, Töchter der Götter, werden unter dem Prügel Stalins zu Huren. Die antike Vorstellung wird in ihr Gegenteil gekehrt. Die Musen berühren nicht, sie werden gezüchtigt. Doch sie leiden nicht nur, sie stöhnen vor Wollust. Die Musen, geprügelt, singen lauter, aber sie klagen nicht. Der Schmerz treibt sie nicht in die Empörung, sondern williger werfen sie sich dem Prügler in die Arme, hündisch. Der Hintern zuckt vor Schmerz / Die Scham vor Begierde.
Das drückt höchste Verachtung aus, Haß. Offen bleibt, wem gegenüber. Die Musen? - denkbar allgemein. Brecht unterläßt hier die in anderen Texten durchaus übliche Konkretisierung. Das Problem dieser Zeit verfehlt der Text.
Einer der wichtigsten Texte des Zyklus ist das GedichtRudern. Gespräche. Hier ist die Unruhe, die viele andere Texte auszeichnet, für einen Moment überwunden. Sie ist nicht zum Stillstand gekommen, aber die Gegensätze sind hier so vermittelt, daß Harmonie aufscheint, Harmonie in der Bewegung von Gegensätzen. Der Text gestaltet das Ziel, an das Brecht gerne gelangen würde. Mensch und Natur sind unterscheidbar, aber einander freundlich.[lxxix] Die Faltboote mit den beiden jungen Männern ”gleiten” vorbei, die Männer sind nackt. Von ihnen geht nichts aus, was Mißtrauen hervorrufen oder Gefahr signalisieren könnte. Jeder von ihnen bewegt sich aus eigener Kraft im eigenen Boot, während sie sich miteinander unterhalten. Arbeit - rudern - dient hier dem Vergnügen der beiden Männer. Sie sprechen miteinander, sind ”ein Gespräch”. Das Vergnügen der Arbeit, des In-der-Natur-seins und der Kommunikation sind in eins gefaßt. Der Text ist ein Gegenstück zuHeisser Tag. Auch deswegen ist wichtig, daß der alte Kahn dieses Gedichtes hier ein modernes, sportliches Faltboot ist. Wer darin sitzt, muß selbst rudern (eigentlich paddeln), hier ist gar keine alte Arbeitsteilung möglich. Die Personen sind nackt, können also nichts verbergen wie vielleicht die Leute inVor acht Jahren. Die beiden jungen Männer nutzen die Natur für ihre Zwecke, indem sie sich ihr anpassen (gleiten) und in ihr arbeiten - sie ist in ihrer Gefährlichkeit bezwungen (Wolga) wie die beiden sie weise nutzen (Der Blumengarten). Der See ist ruhig, kein Bomber stört die Abendstimmung, die durch das Gespräch beherrscht wird - eineneueGewohnheit. Den jungen Männern ist nicht einmal Wind vonnöten - in der Natur arbeitend, vermögen sie sich selbst zu bewegen. Der den Text abschließende Kyklos, ein doppelter Chiasmus, hebt die Harmonie in der ständigen Bewegung hervor:
Nebeneinander rudernd
Sprechen sie. Sprechend
Rudern sie nebeneinander.
Mit einer Utopie aber kann der Zyklus nicht schließen, auch der TextBei der Lektüre eines sowjetischen Buchesbeschließt ihn vermutlich nicht[lxxx] (obwohl sein Titel im Schlußtext aufgegriffen wird), sondern es ist ein historisches Gleichnis, mit dem die Unterbrechung der Fahrt beendet wird - die letzten Zeichen des Zyklus sind drei Punkte. InBei der Lektüre eines spätgriechischen Dichterswird Mut durch das Gleichnis angeboten, gute Hoffnung, nicht mehr. Der Mut und die gute Hoffnung, die die Troer empfanden, als ihr Fall gewiß war. Brecht findet den Mut, diese Wahrheit auszusprechen, die dennoch Hoffnung zu erzeugen vermag. Aber dasWenn nichtfällt so kräftig und überzeugend nicht aus, wie er es sich von den ”Freunden” gewünscht hat. Diese”Wahrheit” steht auch Brecht nicht zur Verfügung. Es ist der einzige Text, in dem Elegisches direkt formuliert ist: Die Totenklage hat bereits begonnen.
So sehr der Zyklus sich mit der Gegenwart beschäftigt hat, mit ihrem Material kann der Mut offensichtlich poetisch nicht gestaltet werden,[lxxxi] aus der Zukunft soll er nicht spekuliert werden, es bedarf der weiten historischen Geste, ihn sich zu machen. Der Zyklus enthält keinen Text, der als Affirmation der DDR-Gegenwart gelten könnte, so sehr Illusion eine seiner Grundlagen ist. Diese Gegenwart wird dennoch nicht negiert, sondern analysiert und kritisiert, soweit es von Brechts Grundlage aus möglich ist. Die DDR galt Brecht schon vorher als transitorisch, nun aber ist die Zukunft dieser Gegenwart fraglich geworden. Auch die Troer also..., sind die letzten Worte des Zyklus, noch mit den drei Punkten auf seine Unabschließbarkeit verweisend. Unabschließbar nicht, weil eben die Geschichte offen ist, sondern unabschließbar, weil eine andere Antwort als die der Troer nicht gefunden werden konnte, die Gegenwart gibt sie nicht her, vorerst: auch darauf mögen die drei Punkte hoffend verweisen.
Unterstellt diese Schlußzeile: Auch die Troer also hatten Mut und gute Hoffnung in aussichtsloser Lage? Oder: Auch die Troer fielen? Geschichte ist kein mythisches Fatum für Brecht. Entscheidung kann nur die Fortsetzung der Reise bringen, da die Denkpause klar gemacht hat, daß das untätige Verweilen in jedem Falle fatal sein würde. Sie muß fortgesetzt werden, weil sie fortgesetzt werden kann, daher die Ungeduld.
Dreimal wird wiederholt, wie wenig es ist, was in dieser aussichtslosen Situation getan werden kann, aber doch getan wird und doch Hoffnung gibt:
Richteten die Troer Stückchen gerade, Stückchen
In den dreifachen Holztoren, Stückchen.
Der Zyklus bleibt nicht ohne Ergebnis, die Reise wird fortgesetzt werden - aber weit beunruhigter als sie angetreten worden ist. Der Radwechsel, die Unterbrechung erst hat erkennen lassen, daß das noch zu erreichende Ziel so ungeliebt sein könnte, wie es der Anfangspunkt der Reise war. Ungewiß ist es allemal.
Dabei ist durchaus ambivalent, worin die Gefahr besteht, die den Untergang gewiß machen könnte. Historisch sind es äußere Feinde, Achill. Bei Brecht aber ist der ”Feind” - Kapitalismus, Faschismus - außen und innen lokalisiert (der Westen in der DDR - keineswegs ein trojanisches Pferd). Hinzu käme - wofür sich in dem Text keine Entsprechungen finden lassen, wohl aber im Zyklus insgesamt: Stalinismus. Ganz unklar dagegen bleibt, woraus die Hoffnung der Troer sich nährt. Kein Wort dazu, nicht einmal - das zeigen die Interpretationen des Textes - eine Andeutung konnte aus dem Text spekuliert werden. Da ist nichts.
Auffällig ist, daß es zu diesem Gedicht kaum Interpretationen gibt, die in irgendeiner Weise einleuchten. Es steht am Rande aller Interpretationen, die ich kenne, während es für mich den Zyklus zu resümieren scheint, die einzige Antwort auf die Frage desRadwechselsgibt, die Brecht finden konnte: Die Fahrt muß fortgesetzt werden, weil es zu ihr keine Alternative gibt. Erst von diesem Ziel aus sind weitere Reisen möglich. Die Ungeduld wächst.
Ganz am Anfang des Zyklus, noch vor dem Eingangsgedicht, in einem kleinen Vierzeiler, der Sammlung als Motto beigegeben, wird von dieser neuen Reise berichtet. Diese Reise, für die es nicht so wichtig wäre, daß das Fahrzeug perfekt funktionierte, bedarf mehr als eines Fahrzeugs, eines Fahrers und einem, der gefahren wird:
Ginge da ein Wind
Könnte ich ein Segel stellen.
Wäre da kein Segel
Machte ich eines aus Stecken und Plane.
Da geht aber kein Wind. Seine Abwesenheit wird beklagt. Ungeduldig beklagt, da die Flaute den Dichter selbst zur Untätigkeit verurteilt.[lxxxii] Er kann nichts tun. Derartiges hatte Brecht noch nie geschrieben, und auch nach der Denkpause des Sommers 1953 in Buckow finden sich solche Töne nicht mehr. Nichtsdestotrotz: Daß da kein Wind ist, heißt für Brecht immer noch nicht, daß er nicht doch aufkommen könnte.[lxxxiii] Deswegen ist der Zyklus geschrieben, das Motto provoziert den Leser, wie es ihn bittet.
Doch weist nichts im Zyklus darauf hin, daß ein Wind sich regen könne. Die Akustik der Texte, das Schweigen, macht es deutlich. Von der großen Aussprache ist nichts zu hören: Es schweigen die Arbeiter, die in den Texten vorkommen, und in den neuen Städten ist auf ein gutes Gespräch nicht zu hoffen. KuBa läßt Flugblätter verteilen. Wo die alten Gewohnheiten noch anzutreffen sind, wird kommandiert und das Maul gehalten, wo die Hierarchien der alten Zeiten herrschen, kann nicht geredet werden. Die Leute schweigen sich über ihre Vergangenheit aus, noch schweigt der SS-Mann, und auch die Freunde antworten nicht, sowenig wie die Bücher und die alten Dichter. Und keiner scheint zuzuhören. Der Eiserne prügelt stumm und die Musen singen lauter vor Schmerz und Geilheit, noch donnert die Wolga ungezähmt, und es fällt ein Schuß. Lediglich die beiden Ruderer sprechen miteinander. Doch der Bomber dröhnt über dem See, während auf den Mauern Trojas die Totenklage schon begonnen hat, und einmal hört man den Dichter schreien: Unwissende.
Der einsame Segler
Doch einen gibt es, der spricht: Brecht selbst. Wie das geschieht, das läßt nun doch auch innerhalb der Texte eine Entfremdungsstruktur hervortreten, die für die DDR charakteristisch ist, obwohl Brecht sie nicht thematisiert.
Vergleicht man dasMottomit demRadwechsel, könnte man denken, daß es gerade nicht fortbestehende Entfremdung ist, die der Dichter in seinem Verhältnis zu den Arbeitern und der Führung beklagt, weil imMottokein Fahrer benötigt wird: Brecht würde, ginge es, das Fahren übernehmen. Brecht ist hier nicht selbst eingebunden in die soziale Arbeitsteilung, die inHeisser Tagdie Welt in Gefahrene und Fahrer unterteilt und die jedem von ihnen absurdes Verhalten vorschreibt. Kommunikation zwischen den Geschlechtern, den Generationen und den sozialen Sphären ist sowenig möglich wie gemeinsame Produktion und gemeinsamer Genuß. ImMottoist Brecht, wie in vielen anderen Texten, alleine. Das gerade istseineSituation. Es sind nicht Gefährt und Fahrer, was er braucht, aber doch Wind, damit die Segel aufgestellt werden können und die Reise weitergehen kann.
In sehr vielen Texten gibt es diese Konstellation. Etwas ist unterbrochen worden, es herrscht - plötzlich - Stillstand, und es ist offen, wie man weiterkommen kann, wie erneut Bewegung - und wohin? - in Gang gesetzt werden könnte. Dem Schweigen der Texte korrespondiert die eingefrorene Bewegung in vielen von ihnen. Brecht ist, wie bei der Suche nach dem Gespräch, abhängig von anderen, er alleine kann nicht erreichen, was zur Produktion von Poesie - und darum geht es imMotto- nötig ist. Aber er ist inallenTexten alleine oder isoliert von den anderen. Brecht leitet die Elegien mit einem Kunststück ein, mit der Absurdität, die ihn selbst betrifft: Er schreibt über und in einer Situation, in der nicht geschrieben werden kann. Brecht ist vom Verstummen bedroht.
Brechts Dichtung sieht sich sozialen Funktionen verpflichtet, sie ist dem avantgardistischen Gedanken der Produktion verbunden, der von ihm politisch interpretiert wird. Brecht begreift seine Texte als Produktionen für Produzenten, die in einem gemeinsamen Prozeß der Produktion stehen und einander dabei nötig haben. Brechts Texte wollen nicht nur aufklären, sondern aufklärend in gesellschaftliche Prozesse eingreifen, in Prozesse, von denen Brecht hofft, daß sie aus der alten Entfremdung und ihren tödlichen Folgen herausführen werden. ImMottomuß jedoch konstatiert werden, daß solche Bewegung nicht vorhanden ist. Noch einmal kann Brecht sich retten, indem er die Bedrohung klagend und fordernd, bittend, artikuliert. So soll Bewegung, aus der Bewegungslosigkeit heraus, provoziert werden. Deutlich aber wird nun in dieser für Brecht einzigartigen Situation, daß da ein (avantgardistischer) Dichter ist, der aus der entfremdeten, arbeitsteiligen Position autonomer Kunst herauswill, aber sie nicht verlassen kann. Es ist nicht nur keine Bewegung da, es könnte auch das Publikum verlorengegangen sein. Es könnte dem Publikum gleichgültig sein, ob sich der Dichter müht, Angenehmes hervorzubringen oder nicht. Dem ist Brecht ohnmächtig ausgeliefert. Diese Ohnmacht wird hier zum ersten Mal erfahren. Brecht sieht sich in der Lage des entfremdeten Dichters, aus der er sich heraus glaubte. Erschreckend ist weniger die zerstörte Illusion, als vielmehr was mit ihr zerstört wurde: Brecht hatte seine ganze Dichtung, ihre Struktur, die Weise ihrer Produktion, die gesamte Existenz als Dichter daran gebunden, die Autonomie gegenüber der Gesellschaft durchbrochen zu haben. Nun ist er seiner Rolle als Dichter ausgeliefert. Zu hören ist vor allem die Stimme des Dichters in ihren wechselnden Tonfällen: klagend, argumentierend, vorführend, verführend, empört, sarkastisch, ironisch, nachdenklich.
Produktion von Dichtung, Produktion der gesellschaftlichen Strukturen und materielle Produktion sind auch innerhalb der sozialistischen Gesellschaft drei voneinander abgegrenzte Bereiche, die je eigene Interessen gegeneinander haben, so sehr der Dichter vorzuführen trachtet, daß seine Interessen mit denen der Arbeiter und denen ihrer Führung identisch sind - daher kritisiert er beide. Das macht die Spezifik dieser frühen Thematisierung von Entfremdung in der DDR aus: Brecht meint noch in den Texten derBuckower Elegiensie sei grundsätzlich überwunden, muß sie aber in der Struktur dieser Texte reproduzieren - wenn er nicht dazu übergehen will, in den Kanon der Schönfärber einzustimmen. Um dies vorzuführen, sei abschließend ein Text herausgegriffen, an dem dies demonstriert werden kann.
Brecht imaginiert sich in dem StückDie Kellein die Rolle des Arbeiters auf dem Bau (in der Stalinallee?). Jan Knopf hat gezeigt, daß der ethische Dativmir meine Kelledarauf verweist, daß die Eigentumsbeziehung zum Werkzeug, mit dem hier gearbeitet wird, eine nichtentfremdete ist. Es handelt sich um Eigentum, das nur als gesellschaftliches vorgestellt werden kann, zu dem der Tätige deshalb eine persönliche Beziehung aufzubauen in der Lage ist. Aber es sind nicht die Arbeiter, die mit der Kelle hantieren, es ist Brecht, der Dichter, der das ihm fremde Werkzeug benutzt, indem er es als eigenes vorführt. Und wiederum nur im Traum ist dieser Rollenwechsel möglich. Aber warum ist er nötig? Vielleicht, weil die Arbeiter nicht wissen, daß es sich um ihr Eigentum handelt, nicht wissen, wie folgenreich dieses Unwissen ist? Doch Brecht hat noch in der Rolle als Arbeiter seine eigene Situation mitgebracht, die Situation des Dichters. Auch als Arbeiter auf dem Bau ist Brecht alleine. Noch mit der Kelle arbeitend, führt er etwas vor, klärt auf - ohne ein Publikum zu haben. Die anderen Arbeiter sind nicht da. Streiken sie? Arbeitet nur noch Brecht, weil die Reise weitergehen muß? Schießt gar das ”Publikum” auf den streikbrechenden Dichter?
In der fremden Rolle des Arbeiters sieht Brecht das Werkzeug so, wie es die Arbeiter offenbar nicht zu sehen in der Lage sind: als eigenes. Brecht, der die Arbeiter als Vorbild für seine Tätigkeit ansieht, der auf ihrer Weisheit bauen will, belehrt sie in seinen Texten. Er kann die eigene soziale Situation auch in der fremden Rolle nicht verlassen. Er bleibt der einsam vorführende Dichter, auf dessen fremdes eigenes Werkzeug dann auch noch geschossen wird - von wem? Ob es die eigenen Leute sind oder fremde, das bleibt in diesem Text unaufgelöst, es ist für Brecht unauflösbar. Was mit dem halben Werkzeug in der Hand des Dichters noch zu bewerkstelligen sein wird, bleibt ebenso offen.
Schüsse jedenfalls hat es gegeben in den Tagen des Aufruhrs - den Sturm am Baugerüst dagegen, den Brecht in einem anderen Text imaginiert (Eisen), der Sturm, der ihm die Segel füllen würde, den Eisernen, Stalin, das ganze Gerüst herunterreißend, gibt es wieder nur im Traum. Die Arbeiter finden sich zudiesemSturm, dem einzigen, der dem Dichter helfen würde, nicht bereit. Auch die Führung möchte diese Wahrheit nicht hören.
Noch in dem harmonischsten Text des Zyklus (Rudern, Gespräche), dem Text, in dem ein Gespräch wirklich stattfindet, in dem die Gegensätze von Produktion, Natur, Gesellschaft, Einsamkeit und Gemeinsamkeit in ihrer Bewegung Schönheit hervorbringen, noch in diesem Text findet man den Dichter an der gewohnten Stelle: Sitzend am Ufer des Sees beschreibt er. Keinen Millimeter konnte er sich aus dieser Position fortbewegen.
Brecht gelingt es, Entfremdung in der DDR, die Gegenläufigkeit der Interessen von politischer Führung, künstlerischer Intelligenz und Arbeitern zu erkennen. Das macht ihm die Reise unbehaglich. Doch obwohl Brecht die Entfremdung sieht, erscheint sie ihm noch als Störung, zu beheben durch den Dialog der Subjekte der Gesellschaft: die Arbeiter, die Führung, die Künstler. Brecht selbst steht bereit. DieBuckower Elegienhaben gezeigt, daß die Situation verfahren ist, wie zugleich jeder Text als Aufgabe gelesen kann, die dem Dichter gestellt ist. Brecht hat mit Hilfe der Klage für sich formulieren können, warum mit der Produktion fortgefahren werden muß. DieseTexte mußten nicht veröffentlicht werden.
Überall zu Hause - überall fremd
Christa Wolf: Nachdenken über Christa T.(1968)
Christa Wolf kommt aus einer anderen Generation als Bertolt Brecht, und sie gehört zu denen, die im faschistischen Deutschland gelebt haben. Das bestimmt ihr Verhältnis zum Sozialismus, es ist anfangs gläubig und unkritisch. Brecht erkennt schon 1953 Gefahren für den Sozialismus, die ihre Generation erst in den sechziger Jahren wahrnehmen wird. ”Ginge da ein Wind”, schrieb Brecht 1953 - ”Wann, wenn nicht jetzt?” fragt, fordert Christa Wolf 1968.[lxxxiv] Auch die Hoffnung, daß es weitergehen wird, wiederholt sich, das Gefühl, keine Alternative zu haben. Doch es sind gegenüber Brecht andere Gefahren, die Christa Wolf artikuliert. Sie reflektiert stärker die inneren Widersprüche der sozialistischen Gesellschaft, und sie stellt schärfere Fragen an sich selbst und ihre Möglichkeiten als Schriftstellerin. Entfremdung als immanentes Problem des Sozialismus wird sichtbar und der eigene Anteil an ihr. Die Kritik an dieser Entfremdung ist analytischer als die Brechts und selbstreflexiver, die eingreifenden Möglichkeiten des Schriftstellers erscheinen fragwürdiger. Das Individuum wird zum Mittelpunkt der Frage nach den Widersprüchen in dieser Gesellschaft.
Das Motiv der Entfremdung bei Christa Wolf
1958, nach dem Germanistikstudium (1949 - 1953) und während ihrer Tätigkeit in Institutionen der Literatur in der DDR,[lxxxv] schreibt Christa Wolf in einer Rezension: ”In unserer Gesellschaft stimmt dieses Grunderlebnis [der Entfremdung - AT] einfach nicht mehr.” (zit. n. Dröscher, S. 30) Dies ist gesagt, fast schon beschwörend, anläßlich des Romans von Rudolf BartschGeliebt bis ans bittere Ende.
Nach 1945 versuchte die junge Frau konsequent mit der Ideologie, die sie während der Zeit des Faschismus verinnerlicht hatte, zu brechen. Der neue sozialistische Staat wird zum unbefragten neuen Anfang. Der Einsatz für ihn fiel um so leichter, da mit ihm die Möglichkeit wirklich menschlicher Gemeinschaft in greifbare Nähe zu rücken schien. Erst sehr viel später wird Christa Wolf bemerken - und als eine der Wenigen auch aussprechen -, daß, bei Wandlung der Inhalte, die Strukturen des Denkens und Verhaltens eine hartnäckige Kontinuität aufweisen. ”Schneller, leichter konnten wir die Irrlehren, die Ideologie des Ungeistes durchschauen, als wir unsere tiefe Verunsicherung, die Verführbarkeit durch Macht, den Hang zu Schwarzweiß-Denken und zu geschlossenen Gedankengebäuden überwinden konnten.” Vom ”Hang zur Ein- und Unterordnung”, von der ”Gewohnheit zu funktionieren”, von ”Autoritätsgläubigkeit, Übereinstimmungssucht” und der Angst ”vor Widerspruch und Widerstand”, vor dem ”Ausgeschlossenwerden aus der Gruppe” ist die Rede (Wolf 1989, S. 449). Das wurde gesagt in der Dankansprache zu einem Preis,[lxxxvi] der in den neunziger Jahren der nun ”Staatsdichterin” genannten Christa Wolf wieder aberkannt werden sollte - eben weil sie, so Ulrich Greiner u.a. im sogenannten ”Literaturstreit” um Christa Wolf, Widerstand in der DDR nicht geleistet habe.
SeitNachdenken über Christa T.ist diese Übereinstimmungssucht Gegenstand der Texte Christa Wolfs, die Texte selbst sind der Versuch, ihrer gewahr zu werden, sie aufzudecken und aufzulösen. Inzwischen ist die Haltung, Widerspruch anzumelden, längst dominant geworden. Dennoch bleibt die Suche nach wirklicher Übereinstimmung, bleibt auch eine Neigung zu abschließbaren Gedankengebäuden und literarischen Texten. Aber sie muß anders erklärt werden, nicht jenseits von Widerspruch und Widerstand, sondern aus Widersprüchen. Es ist nicht einfache Fortsetzung des 1958 Formulierten, wenn Christa Wolf noch 1993 im wieder vereinten Deutschland erklärt: ”Es gehe also um ein ‘Aufbauprogramm’, das eine ‘Reindustrialisierung und aktive Arbeitsmarktpolitik’ garantiere. Das ist wohl richtig, denke ich... und doch ist auch etwas daran nicht richtig, denn alle Rettungsvorschläge sind darauf aus, das alte Monster, die Industriegesellschaft, in ihrem alten Glanz wiederherzustellen, also auch ihre Prioritäten und Werte, also auch ihren Entfremdungseffekt, der dazu geführt hat, daß Menschen sich nur noch über Arbeit definieren und wert finden und mehr Freizeit nicht nur als soziale, sondern auch als existentielle Bedrohung empfinden müssen.” (Wolf 1994, S. 283)
Das ist nicht gedankenlose Kontinuität, nicht, wie 1958, gerichtet gegen das kritische Wort eines Schriftstellers, sondern ist selbst der Versuch, nüchtern Kritik zu üben, selbst eine Form des Widerspruchs. Davor liegt - begonnen mitNachdenken über Christa T.- das Sichtbarmachen von Entfremdung im Sozialismus. Auch 1979, im Brief an Konrad Wolf, als, nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns, bereits klar ist, daß die Intellektuellen in der DDR der Entfremdung in diesem Land nahezu ohnmächtig unterworfen sind, strukturiert die Gegenüberstellung Entscheidungen: ”Woraus ich aber gar nichts an Produktivität mehr ableiten kann, das ist dieses Denken in falschen Alternativen und die daraus abgeleitete oder dadurch gerechtfertigte Praxis. Ein unheimlicher, immer schneller gehender Prozeß der Umwertung aller Werte ist da im Gange, in dessen Verlauf der Teil der Intelligenz, der nach geistigen Alternativen zum Konsumdenken und zur Entfremdungspraxis des Kapitalismus sucht, unter die Räder kommen muß oder mußte...” (S. 75) Noch unter den Rädern jedoch kann das ”Tauschangebot” (CT, S. 53) nicht angenommen werden, noch in dieser fatalen Stellung ist Produktivität möglich, erscheinen andere in aussichtsloserer Situation: ”Ich begann mich zu fragen, wann und aus welchem Grund ich in der deutschen Literatur Zuflucht gesucht hatte; warum ich zurückgegangen war an eine Wurzel der Moderne, der Entfremdung, des Industriezeitalters - wie alles in Deutschland verspätet. Wie ich mich einlebte in die Geisteswelt der Frauen der Romantik, Karoline, Bettine, Nachfahrinnen einer gescheiterten Revolution wie wir. Ihre Lebensläufe, ihre zerreißenden Konflikte. Wie sie daran zugrunde gingen oder etwas daraus machten. Wie in mir selbst eine bange Zeit lang beide Möglichkeiten einander die Waage hielten.” (Wolf 1994, S. 326f.) Selbst als - spätestens mitKassandra- derDialektik der AufklärungHorkheimers und Adornos nahe[lxxxvii] - Entfremdung nicht mehr in sozialistische und kapitalistische unterschieden werden soll, als von der patriarchalischen Zivilisation überhaupt die Rede ist, von unserer Kultur, der Industriegesellschaft, bleibt doch, noch 1994, ein Unterschied: ”Ich habe den Eindruck, viele ehemalige Bürger der DDR nehmen die Erfahrung der neuen Entfremdung, der sie ausgesetzt sind, die Erfahrung auch, daß Offenheit gegen sie verwendet wird, als Vorwand für die Abwehr jeder kritischen Selbstbefragung oder sogar für die Umdeutung der eigenen Biographie.” (S. 335) Neue Entfremdung meint andere Entfremdung.
Entfremdung, die eine und die andere, ihr Zusammenhang, bilden einen der wichtigsten Gegenstände des Nachdenkens Christa Wolfs. Bereits inNachdenken über Christa T.ist Schreiben selbst als Tätigkeit der Entfremdung erkennbar, als Verdinglichung. Dennoch wird festgehalten am Produzieren von Texten und am Versuch, dies in dem Teil Deutschlands zu tun, der nicht durch ”Konsumdenken”, sondern durch unerträgliche ”gesellschaftliche Mauern”, an denen sich die Schriftsteller ”die Stirn wund reiben” (Anna Seghers)[lxxxviii] gekennzeichnet ist.
Warum? Wie unterscheidet sich aus der Sicht Christa Wolfs die eine Entfremdung von der anderen? Welche Erfahrungen stehen dahinter? Welche Illusionen?
Das sind Fragen, die das gesamte Werk Christa Wolfs betreffen, hier aber soll nur der Text untersucht werden, der den Bruch zwischen Übereinstimmung und Widerspruch markiert. Voran eine These, die die Richtung von Antwortversuchen bestimmen kann, die begründen soll, warum ich in diesem Abschnitt suchend vorgehen werde, eher erklärend, denn kritisch (bezogen auf Christa Wolf). In der heutigen Auseinandersetzung fehlt gerade der Versuch der Erklärung. Die laute Kritik an Christa Wolf ist zu voreilig, sie deckt zu, was erst verstanden und erinnert werden sollte. Prämisse dieser Kritik ist das Ausgehen vom Ende der DDR, das Ausgehen davon, daß Kritik von Schriftstellern in der DDR an der DDR, Kritik des Sozialismus überhaupt sein müsse, endend in der Abwendung von der DDR.[lxxxix] Nur dann könne ihr Konsequenz zugesprochen werden.[xc] Entfällt aber so nicht, was für Christa Wolf und andere Schriftsteller ein entscheidendes Motiv des Bleibens wie des Arbeitens darstellte: die Kritik an kapitalistischer Entfremdung? Warum, wenn Entfremdung späterhin als Phänomen der Industriegesellschaft überhaupt beschrieben wird, die Alternativen Sozialismus und Kapitalismus übergreifend, erscheint die DDR dennoch als der aussichtsreichere Ort, Möglichkeiten der Überwindung von Entfremdung zu suchen?
Ich möchte dem Text in einer seiner Intentionen folgen: in dem Versuch, Widersprüche des Sozialismus zu erkunden. Diese Widersprüche beschreibt Christa Wolf sehr präzise. Illusionen beginnen dort, wo Christa Wolf derartige Widersprüche noch als produktiv begreift, obwohl sie es schon nicht mehr sind. Jene Illusionen betreffen vor allem die Stellen, an denen Christa Wolf noch an ein ”oben” appelliert. Kritik wäre auch dort anzusetzen, wo Christa Wolf die Widersprüchlichkeit des Sozialismus eingrenzt, wo die Widersprüche kleiner gesehen werden als sie sind. Das BuchNachdenken über Christa T.bewegt sich - wenn auch mit anderer Position - auf einer Ebene der Auseinandersetzung, die mit der offiziellen noch korreliert: Es geht um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft im Sozialismus, um die Frage, wer sich wem anzupassen, wer sich für wen wie zu verändern habe, damit entstehen kann, was beide Seiten - Christa T. und Christa Wolf wie die Führung des Landes DDR - wollen oder zu wollen vorgeben: Sozialismus. Wer muß sich mit wem in Übereinstimmung bringen?[xci]
Einverständnis mit wichtigen Teilen der offiziellen Ideologie ist dabei noch vorausgesetzt - so brüchig es später wird, bleibt bei der Autorin die Intention auf Sozialismus bestehen. Diese Intention und - zum Zeitpunkt des Schreibens vonChrista T.- auch noch das Einverständnis, führen zur Ausblendung, zur im Werk von Christa Wolf abnehmenden Ausblendung der Spitzen von Widersprüchen, ihrer wirklichen Extreme.
Ist es bewußte Ausblendung? Mangel an Wahrnehmungsfähigkeit und -bereitschaft? Das sind Fragen, die erstmals inChrista T.aufgegriffen werden. Später hat Christa Wolf sich dem Problem gestellt, was geschähe, wären die neuen Widersprüche der sozialistischen Gesellschaft tatsächlich unlösbar. Davon zeugt ihre Auseinandersetzung mit den Frühromantikern. Eine Situation des absoluten Stillstands jedoch sah Christa Wolf nicht erreicht. Noch blieb zumindest der Schriftstellerin Raum, sich zu artikulieren und in der Öffentlichkeit der DDR Wirkungen provozieren zu können. Daß eine solche Situation nicht gesehen wurde, lag nicht mehr an noch falschen Hoffnungen in die Parteiführung, sondern an Hoffnungen in die Menschen, die in der DDR lebten und Lebensräume gewonnen hatten, die es so bisher noch nicht gab. Das galt in besonderem Maße für Frauen. Deshalb konnte Christa Wolf im Vorwort zum Buch von Maxie WanderGuten Morgen, du Schöne(1977) mit Bezug auf den Sozialismus von ”realistischer Utopie” sprechen. Davon ausgehend wurde eine grundlegende Veränderung des politischen Systems in der DDR anvisiert. Das war nicht nur Verblendung. Ausdruck sich bewegender Widersprüche, wachsenden Selbstbewußtseins und Protestes waren die Ereignisse der Jahre 1989/90 - es waren Prozesse, die sich lange vorbereitet hatten, die auch durch Künstler vorangetrieben wurden und in die - bis zum 9. November 1989 - Hoffnungen tatsächlich gesetzt werden konnten.
Verdeckt jedoch blieb oftmals die Dimension von Widersprüchen, die darauf verwiesen hätte, daß der Sozialismus in der DDR bereits hoffnungslos ausgehöhlt war. Verdeckt blieben extreme - aber nichtsdestoweniger charakteristische - Lebenssituationen in ihm: Stasihaft, Altersarmut, Existenzzerstörung und Ausgrenzung von nationalen und religiösen Gruppen in der DDR, aufkommender Neonazismus etc. Ausgeblendet wurden - ein bewußter Vorgang von Ablehnung - Lebenshaltungen, die sich an westlichem Konsum orientierten und die ohne die Mauer nicht zu begreifen waren.[xcii] Ausgeblendet wurden weniger die Haltungen als vielmehr deren wirkliche Ursachen - diese Haltungen wurden nur kritisch-ablehnend zur Kenntnis genommen oder durch Hoffnung überblendet. Das führte zur großen Überraschung und Enttäuschung vieler Intellektueller nach dem 9. November 1989. Auf dieser Ebene war der Kontakt mit dem Publikum lange verlorengegangen. Schriftsteller, für die die Mauer passierbar und Westgeld erreichbar war, wurden als bereits korrumpiert angesehen. Der Konflikt vieler Künstler, bleiben zu wollen und gehen zu müssen, schien auf diese Weise für einige Zeit lösbar, auch der, die kritischen Schriftsteller in der offiziellen Ideologie abzulehnen, antiintellektuelle Vorbehalte zu schüren, aber zugleich ihr internationales Renommee für die Außenpolitik nutzen zu wollen, was andererseits nötigte, wichtige Texte dieser Schriftsteller auch in der DDR veröffentlichen zu müssen und so den Wirkungsraum der Schriftsteller gegen versteinerte Ideologie zu erhalten und - ungewollt, aber unvermeidlich - zu vergrößern. Ein Geflecht von Widersprüchen.
Kritik dieser Art an Christa Wolf ist möglich, berechtigt und soll nicht unterdrückt werden - aber sie bewegt sich außerhalb des Textes und seines engeren Kontextes. Es war Christa Wolf nicht möglich, ihr Stasiproblem, einschließlich ihrer 1965 sicher schon ablehnenderen Haltung zur Stasi, zu thematisieren.[xciii] Das hätte bedeutet, sich die Möglichkeiten zu entziehen, dann noch indenWidersprüchen produktiv zu arbeiten, in denen noch Bewegung provoziert werden konnte.Würde der Durchbruch erreicht, könnteallesneu bedacht werden. Das war der Versuch des Herbstes 1989. Auch daher rührt das - leider nachlassende - Unbehagen vieler DDR-Reformer an Geheimdiensten welcher Art auch immer, ihr - anfängliches - Beharren auf basisdemokratischen Strukturen. Und noch in der Frage, die das BuchNachdenken überChrista T.durchzieht: ”Wann, wenn nicht jetzt?” ist das Unausgesprochene, sogar das noch nicht Wahrgenommene, auch anwesend. Gehen oder bleiben? - das ist eine Schicht dieser Frage, hoffen oder verzweifeln?
An verschiedenen Stellen des Buches wird eine Dringlichkeit deutlich, die sich nur aus dem erklären kann, was an Widersprüchen noch nicht ausgesprochen ist. Das Motiv des Todes - Faschismus, Leukämie, die Krähen- und Krötengeschichte, der Selbstmord-Brief im Frühsommer 1953, die Schüsse in Budapest - wiederholt sich an entscheidenden Stellen im Buch. Der Text fragt einer nach, die zu früh gestorben ist. Schon dies ist eine Provokation im Kontext der Literatur der DDR dieser Zeit. Derart ist anwesend, was auf der Ebene expliziter Reflexion ausgeklammert wurde.[xciv] Nicht finden wird man dagegen, was zu diesem Zeitpunkt viele andere Bücher kennzeichnete, von denen sich dieser Text abhebt: Harmonisierung.
Der Bruch mit der Kulturpolitik - Voraussetzungen des Textes
Dem Text geht ein Bruch voraus - der Bruch mit der Behauptung, daß Entfremdung im Sozialismus bereits überwunden sei. Dieser Bruch resultiert aus Erfahrungen Christa Wolfs mit der Kulturpolitik der DDR, aus Erfahrungen mit der eigenen Rolle als Schriftstellerin. 1958 noch, im Jahr der eingangs zitierten Rezension, gibt es keinen solchen Bruch - alles ist nahezu eindeutig: Die neue sozialistische Gesellschaft ist nicht nur antifaschistisch - konsequent durch die Ausrottung des Faschismus, wie es immer hieß, an seinen Wurzeln: der kapitalistischen Großindustrie -[xcv], die sozialistische Gesellschaft kennt auch keine Entfremdung mehr. Das heißt, so sagt es die Rezensentin, sie ist nicht mehr das in ihr herrschende Grunderlebnis. Grunderlebnis ist Entfremdung in Westdeutschland.
So kann Christa Wolf, ganz unbefangen zu Anfang, ihre Mitarbeit zusagen, als 1959 zwei Männer der Staatssicherheit sie in ihrem Arbeitszimmer der Redaktion derNeuen Deutschen Literaturaufsuchen.[xcvi] Christa Wolf ist bekannt als parteiliche Genossin, sie ist in ihren Rezensionen - bis 1961 veröffentlicht sie vor allem diese - eindeutig, scharf gar, befindet sich in voller Übereinstimmung mit der Politik der Partei und mit den Vorgaben des sozialistischen Realismus. Christa Wolf ist ehrgeizig, ihre Übereinstimmung ist tätig, ihre Überzeugung fest - endlich. So kann sie den Genossen helfen - doch es will nicht recht voran mit der Hilfe. Sie schreibt die geforderten Berichte - aber sie sind sehr allgemein gehalten. Sie akzeptiert einen Decknamen, aber die Stasi beschließt, vorsichtshalber auf eine schriftliche Bereitschaftserklärung zu verzichten. Sie trifft sich in konspirativen Wohnungen, aber sie äußert Unbehagen an dieser Methode. Christa Wolf macht mit, sie stellt nicht in Frage, daß die Genossen tun müssen, was sie tun, aber sie versucht, sich zu drücken, bis schließlich die Stasi selbst auf ihre Mitarbeit wegen Unergiebigkeit verzichtet.
Was tiefes Einverständnis zu sein scheint, ist auch schon Unbehagen, Ausweichen. Unausgetragen noch, soweit gar, daß Christa Wolf die Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit und ihr Ausmaß verdrängt. Weil sie, denke ich, verdrängen mußte, um das Einverständnis noch aufrechterhalten zu können. Die Notwendigkeit der Stasi steht zu dieser Zeit für sie nicht in Frage -[xcvii] man weiß um den ”Gegner” im anderen Deutschland und seine Versuche, im eigenen Land Fuß zu fassen, man weiß um die ”ideologisch zwiespältigen” Diskussionen unter Schriftstellern und weiß, daß sie ernstgenommen werden müssen (gerade, daß sie es werden, macht den Wert des Sozialismus aus). Aber doch ist da ein Unbehagen, vielleicht erste, feine Risse: Wozu dieses Bohren in Privatgeschichten? Wozu die Fragen nach Dingen, die man auch anders erfahren kann? Wozu Decknamen, wozu konspirative Wohnungen, wozu dieser Geruch nach Denunziation und Spitzelei? Christa Wolf entzieht sich sacht und verdrängt.
Späterhin wird es für sie schwieriger zu verdrängen, die Konflikte werden offener. Gerade wenn die Überzeugung echt ist, können die Konflikte nicht ignoriert werden.[xcviii]
17. Juni 1953 - Budapest 1956. Juni 1953 - Budapest 1956;
Der Bruch, der nur auf der Oberfläche einer mit der Kulturpolitik ist, hat tiefere Ursachen, er hat Wurzeln in der jüngsten Vergangenheit des Sozialismus, Wurzeln, die aber erst, als der Bruch da ist, als solche erkannt werden. Ich möchte daher vorgreifen, in doppelter Hinsicht. Einmal, indem ich schon jetzt darstelle, was Christa Wolf erst um das Jahr 1965 herum aussprechbar wird, und zum anderen, indem ich mich schon hier interpretierend auf den TextNachdenken überChrista T.beziehe. Er macht die tieferen Schichten sichtbar, die Grundlage der spontanen Äußerung Christa Wolfs auf dem 11. Plenum des ZK der SED 1965 sind.
Auf zwei wesentliche politische Ereignisse wird im Text Bezug genommen. Versteckt, aber doch erkennbar, erscheint der 17. Juni 1953 - inzwischen ein Tabuthema -, und im entscheidenden 15. Kapitel[xcix] spielen die Ereignisse in Ungarn 1956 eine wichtige Rolle.
Es ist ein zentraler Konflikt der Christa T., der neuen Welt unbedingt verbunden zu sein und sich in ihr doch so zu verhalten, daß auf sie mit Unverständnis reagiert wird. Mit den Maßstäben derjenigen gemessen, die diese neuen Menschen sind oder sich für sie halten, erscheint Christa T. - so auch in den Kritiken des Buches in der DDR - als Außenseiterin, als sonderbar, anmaßend, sie erscheint fremdartig, übersensibel. Günter, ein Kommilitone aus der Leipziger Studienzeit, ihr zugetan, bringt es auf den Punkt: ”Er glaubte zu fest daran, daß alles Bestehende nützlich zu sein habe, und es quälte ihn die Frage, wozu eine Erfindung von ihrer Art [nämlich Christa T. - AT] nötig gewesen war, ‘bei allen guten Ansätzen’, die er ihr ja zugestand.” (CT, S. 87)
Auch Christa T. sucht im Konfliktfall die Schuld bei sich. Dieser Fall tritt ein, als Günter in eine für ihn tragische Situation gerät. Günter, dessen Nützlichkeit für ihn und andere außer Frage steht, wird plötzlich, als Einzelner, von der Macht des Kollektivs, die er selbst als dessen Funktionär verkörpert, erdrückt. Anlaß ist eine Liebesgeschichte, eigentlich zwei in einer. Kostja, die große Liebe von Christa T., die an dieser Geschichte zerbricht, nahm die Freundin Günters, Inge, quasi im Vorbeigehen, mit. Günter, dem niemand große Gefühle zugetraut hat, kommt zu Fall, in aller Öffentlichkeit. In seiner Prüfung, einer Unterrichtsstunde überKabale und Liebe, die er geben muß, gut vorbereitet, bis hin zu den Antworten der Schüler, bricht er aus dem Konzept. Er kann nicht mehr mittragen, was er den Schülern als Antwort suggeriert hatte: ”Unglückliche Liebe sei, in der neuen Gesellschaft, kein Grund mehr, sich umzubringen. Alle waren sich einig: Soweit hatten wir es schon gebracht.” (S. 69) Günter stellt sich gegen die Schüler und streitet ”für die Tragödie in der modernen Liebe” (ebd.). Er stürzt - alle sehen es mit an, alle tun mit, selbst bestürzt, über ihn, über sich, über ihre Rolle in der Tragödie, die sie nicht spielen, sondern die sie plötzlich selbst verursachen.
Günter verliert sein Funktion, er wird abgeurteilt vom Chor seines eigenen Kollektivs. ”Günter aber würde nicht als Günter abgeurteilt werden, sondern als Beispiel, wohin ein Mensch gerät, der dem Subjektivismus verfällt.” (ebd.) Alle, Kostja, Inge, auch Christa T., auch die Ich-Erzählerin, stimmen dem Urteil zu.
Am Abend desselben Tages schreibt Christa T. einen Brief an ihre Schwester, den sie nie abgeschickt, einen Abschiedsbrief. Sie kann nicht mittun (und hat es doch bereits getan) und wirft sich vor: ”Welch eine Vermessenheit: Man könnte sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf ziehen. Glaub mir, man bleibt, was man war: lebensuntüchtig. Intelligent, nun ja. Zu empfindsam, unfruchtbar grübelnd, ein skrupelvoller Kleinbürger...” (S. 72) Christa T. übernimmt das fremde Bild, das sich die anderen von ihr machen, sie übernimmt es aber mit ihrem eigenen Raster: lebensuntüchtig - unfähig zur Veränderung. Und sie übernimmt es auch nicht - es gelingt ihr, und dies wird es sein, was sie am Leben hält, auch andersherum zu sehen, das andere, die anderen als fremd zu beschreiben. Ein zentraler Satz des Buches, ein Fazit, das nicht geduldet werden soll: ”Mir steht alles fremd wie eine Mauer entgegen. Ich taste die Steine ab, keine Lücke.” (ebd.) Die beiden tödlichen Möglichkeiten, den Konflikt zu bewerten, stehen sich hart gegenüber: ”Keine Lücke für mich. An mir liegt es.” (ebd.)
Der Brief ist eines der wenigen Ereignisse, das relativ genau datiert wird: ”im Frühsommer dreiundfünfzig” (ebd.) ist er geschrieben worden. Die Frage, die den Selbstmord-Brief einleitet, lautet: ”Wann - wenn nicht jetzt?” (ebd.)
Es werden nicht die politischen Vorgänge des 17. Juni reflektiert, auch nicht deren Inhalte, das Geschehen des Textes ist weit weg davon. Nur diese Frage Christa T.s, eingeführt als die einer zum Selbstmord bereiten, die am Schluß des Buches an seine Leser als eine Frage auf den Bestand des Sozialismus weitergegeben wird, zeigt den Einschnitt, die Bedrohung, die empfunden wurde. Die aufgebrochenen Konflikte im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft sind Konflikte, schon im scheinbar Kleinen tragisch, die das Individuum in seiner Substanz, wie die Gesellschaft in der ihren, in Frage stellen können. Es ist ein Konflikt auf Leben und Tod - nach beiden Seiten hin, Individuum und Gesellschaft sind gleichermaßen bedroht. Fremdheit ist das Stichwort, durch das er formulierbar wird.
Heinrich Mohr beschreibt den Konflikt folgendermaßen: ”Die Wahl des Datums für den Selbstmord-Brief ist natürlich nicht zufällig, die Kongruenz nicht zu übersehen. Christa T.s ‘Lebensschwäche’ ist ja sozialer, politischer Natur. Ein bestimmtes Individuum weiß nicht mehr, wie es in einer den Sozialismus aufbauenden Gesellschaft leben soll, und fügt gleichwohl hinzu: ‘Das alles ändert nichts, unlösbarer Widerspruch, an meiner tiefen Übereinstimmung mit dieser Zeit.’” (Mohr, S. 51; CT, S. 73)
Zwei Dinge wären hinzuzufügen: Es wird nicht nur die Lebensschwäche der Christa T. konstatiert, sondern die der Gesellschaft, auch ihr Überleben steht in Frage, denn sie kann nicht überleben - nicht als Sozialismus -, wenn diese Fremdheit in ihr empfunden wird, nicht nur durch Christa T., sondern auch durch Günter, der Individuum nicht sein darf. Das ist nicht ausgesprochen, nicht direkt, nicht durch Christa T., auch nicht explizit durch die Erzählerin, aber es ist sichtbar durch den doppelten Kontext, in dem die Frage gestellt wird: ”Wann, wenn nicht jetzt?”.[c] Entscheidend an der Stelle im Brief, in der Christa T. ihre Übereinstimmung mit der Zeit konstatiert, ist nicht allein diese, sondern die Einfügung: ”unlösbarer Widerspruch”. Das ist ein tödlicher Widerspruch: Als Individuum in einer Gesellschaft nicht leben zu können, deren Zentrum, so ihr Anspruch, dieses Individuum ja gerade in seiner Individualität sein soll - darauf beruht die Übereinstimmung. Sie beruht auch darauf - und deshalb wird nach Tauschangeboten der Kopf nicht gewendet -, daß, selbst wenn dieser Widerspruch unlösbar wäre, er in der anderen Gesellschaft, mit ihrer Entfremdung, gar nicht erst entstehen kann. Doch der Widerspruch ist auch unlösbargeworden, weil Christa T. selbst die Hand zu Günters Verurteilung gehoben hat. Lebensschwäche doppelt: das mitgetragen zu haben und es nicht mittragen zu können. Die Hand gehoben zu haben und damit nicht leben zu können - nicht leben zu können damit, daß die Hand nicht bedenkenlos gehoben werden konnte.
Hieran erweist sich aber zugleich, daß der unlösbare Widerspruch, den dieser - nicht abgeschickte - Brief konstatiert, der Widerspruch, der zum - nicht ausgeführten - Selbstmord hätte führen können, noch nicht wirklich unlösbar ist, es gibt noch Bewegungsmöglichkeiten. Das Gleichgewicht der Perspektiven kann verschoben werden. Nicht Christa T. selbst vermag es (zumindest vermag sie es nicht auszusprechen), aber die Erzählerin: vom ”An mir liegt es” zu ”Keine Lücke für mich”; von ”unlösbarer Widerspruch” zu ”Wann, wenn nicht jetzt?”;[ci] vom für Christa T. unlebbaren Protest zumNachdenken überChrista T.
Was der Brief als Tatsache formuliert, Fremdheit, zeigt das Buch als Gefahr. Was subjektives Fazit der Christa T. im Frühsommer dreiundfünfzig ist, wird durch den Text des Buches zur Gefahr für die Gesellschaft. Das Buch ist Einspruch gegen die Selbstmordabsicht, wie es Einspruch ist gegen die Entfremdung in der sozialistischen Gesellschaft, es trägt deren Widersprüche aus, indem es ihren Anspruch konkretisiert: Sozialismus kann nur sein, wenn Menschen wie Christa T. nicht als Abweichung gelten, sondern als das, was jeden Tag gesucht und propagiert wird: als der neue Mensch. Sozialismus kann nur sein, wenn vom Individuum ausgegangen wird. Dieses Motiv des Schreibens erscheint am Anfang des Textes als Lektüreanweisung. ”Und bloß nicht vorgeben, wir täten es ihretwegen [über sie nachdenken - AT]. Ein für allemal: Sie braucht uns nicht. Halten wir also fest, es ist unseretwegen, denn es scheint, wir brauchen sie.” (CT, S. 8)[cii] Noch deutlicher im Fazit Christa T.s nach dem Selbstmord-Brief: ”Anpassen lernen! Und wenn nicht ich es wäre, die sich anzupassen hätte? - Doch so weit ging sie nicht.” (S. 76) Erst die Ich-Erzählerin geht so weit und meint, so weit gehen zu können. DieserGesellschaft kann man es abverlangen, sich an die Individuen, die sie ausmachen sollen, anzupassen. Zugleich ist ein Punkt erreicht, an dem man so weit gehen muß - nichts ist mehr selbstverständlich.
Erkennbar auf die politische Dimension gerichtet ist die Stelle des Buches, die sich auf die Ungarn-Ereignisse bezieht. Diese Ereignisse zwingen, die eigene Position genauer zu bestimmen, sie haben Konsequenzen.
Bevor aber Konsequenzen gesucht werden, wird im Text betont, was sich nicht verändert hat: ”Es kam eine Nacht, die ungewöhnlich finster war. Zufällig saßen wir beisammen und hörten aus allen westlichen Rundfunkstationen neben den Berichten über Kämpfe in Budapest das große, kaum unterdrückte Hohngelächter über das Scheitern dessen, was sie ‘Utopie’ nannten. Jetzt denkt die Cousine, sie hat recht behalten, sagte Christa T.” (S. 130)
Der Gedanke, Sozialismus, wie ihn die drei Hauptpersonen des Buches, Christa T., die Ich-Erzählerin und Christa Wolf, sich vorstellen, könnte Utopie sein, entsteht nicht. Das Wort Utopie ist hier noch nicht zwischen Anführungsstriche geraten, sondern es ist ein Wort, das zwischen Anführungsstriche gehört. So sehr Christa Wolf später - auch das BuchChrista T.einbeziehend - Aufrechterhalten und Ermöglichen von Utopie wichtig werden wird, ein Motiv ihres Schreiben,[ciii] so wenig wird hier die Kennzeichnung Utopie für den Sozialismus zugelassen. Jenes ”Wann, wenn nicht jetzt?”, mit dem das Buch endet, ist weniger Ausdruck von Utopie als vielmehr Aufforderung zu tun, was getan werdenkann: jetzt. Erst wenn dies nicht geschieht, wird Sozialismus utopisch - Utopie ist hier noch etwas, das vermieden werden kann.
Das gilt auf der Ebene des gesprochenen Wortes der Protagonistinnen. Der Text aber macht zugleich deutlich, daß es gerade die utopische Dimension dieser Gesellschaft ist, die sie auszeichnet. Der Sozialismus, wie ihn die Heldinnen des Buches entwerfen, ist, wie sie selbst, erst auf dem Wege zu sich, und es gibt für ihn kein Ankommen. Diese utopische Dimension, die nicht zur ”Utopie” verfestigt werden soll, ist es, die in Gefahr gerät, wenn den Individuen Selbstverwirklichungsmöglichkeiten verbaut werden. Dann entsteht Fremdheit. Es gibt für die Protagonistinnen des Buches keinen Zweifel an den Potenzen des Sozialismus und auch keinen Zweifel daran, daß trotz der Veränderungen, die diese Nacht nach sich zieht, trotz der Konsequenzen, die nun nötig sein werden, die Cousine nicht recht behält, das Tauschangebot immer noch - leicht - ausgeschlagen werden kann. Die Cousine, im Westen lebend - eine aus der Reihe der Gegenfiguren -[civ], ist eine andere Möglichkeit von Christa T. (”Nicht nur das Land, jeden von uns gibt es doppelt: als Möglichkeit, als Un-möglichkeit” (S. 123)[cv]: schön, wohlhabend, etabliert. Sie ist einverstanden mit sich und ihrem Bild von der Welt zwischen ”Terror” und ”Freiheit” (S. 125): ”Warum soll Siegfrieds unmoralisches Geld nicht euer moralisches Leben ein bißchen verschönern...” (ebd.) Daß aber Geld, die Entfremdungsmacht par excellence, die Existenz bestimmt - das ist kein Weg für die Hauptfiguren des Textes.[cvi] Obwohl Bedauern anklingt, daß die Cousine nun, nach dieser Nacht, noch einen Schritt wegrücken wird, die Haltung der beiden Mädchen ihr noch unverständlicher erscheinen muß. Die Moral ist beschädigt durch die Schüsse in dieser Nacht. Bedauern auch und Resignation gar, weil die erneuerte Ablehnung im Angesicht der Nachrichten aus Budapest Verhärtung einschließt; es muß trotziger gesagt werden: So wollen wir nicht leben.[cvii] Auch das, wobei man bleiben kann, ist nun brüchiger. Um so wichtiger ist Klarheit bei den Konsequenzen, bei dem, was zu tun ist.
Worin allerdings das Finstere der Nachrichten dieser Nacht besteht, das bleibt selbst dunkel. Der Schock resultiert wohl daraus, daß hier, erstmals in der Lebensgeschichte der Figuren, Sozialisten gegen Sozialisten kämpfen. Das ist der Widerspruch, der zwingt, sich zu verhalten. Wo sich die Figuren in diesem Kampf aber einordnen, das bleibt ungesagt. Zum einen wäre eine Parteinahme für die Aufständischen in der DDR der sechziger Jahre nicht druckbar gewesen, zum anderen ist fraglich, ob sie für die Autorin denkbar war. Der Abschnitt thematisiert dagegen die Suche nach Beantwortung genau dieser Frage: Was sollte Sozialismus sein?
Die Nacht markiert einen Einschnitt. Von nun an wird die eigene Entscheidung für den Sozialismus als geschichtliche erkennbar. Das eigene Verhalten ist beladen mit Geschichte, es ist nicht voraussetzungslos. Bei der Entscheidung zu bleiben, kann von nun an heißen, Schuld anderer mittragen zu müssen. Es ist daher nötig zu wissen, was man tut, wo man lebt, was passiert. Die Glaubenssätze müssen der Wahrheit weichen - ”die Rolle der eisern Gläubigen war abgesetzt”, wir mußten ”uns daran gewöhnen (...), in das nüchterne Licht wirklicher Tage und Nächte zu sehen.” Das schließt ein, ”daß wir alle unseren Anteil an unseren Irrtümern annehmen mußten, weil wir sonst auch an unseren Wahrheiten keinen Anteil hätten.” (S. 130f.) Unschuld ist nicht mehr möglich. Doch es entsteht die Hoffnung, durch das Abstreifen des Glaubens Eigenes zu gewinnen. Nicht nur zu folgen dem, was von den Alten in ihren Kämpfen vorgegeben wurde, sondern, sich in ihrer Geschichte sehend, auch abkoppeln zu können von ihnen, Geschichte in die eigene Hand zu nehmen. Nicht Finsternis - ”Lichtwechsel” ist das Wort, das diesen Abschnitt strukturiert. Nüchternes Licht wirklicher Tage und Nächte. ”Nichts ist so schwierig wie die Hinwendung zu den Dingen, wie sie wirklich sind” (ebd.). Sich dieser Schwierigkeit zu stellen ist die Konsequenz, die in dieser Nacht gezogen wird.
Wahrheit kann nicht mehr von Institutionen und Ideologien entgegengenommen werden. Das Individuum selbst wird zur Instanz der Wahrheitsfindung, die Wahrnehmung muß für die Wahrheit geöffnet werden (literarisch setzt hier Christa Wolfs Konzept der ”subjektiven Authentizität” an). ”Die Erzählerin hält daran fest, daß die Fähigkeit, die Verhältnisse so zu sehen, wie sie wirklich sind, und den Erkenntnissen entsprechend zu handeln, im Subjektiven begründet liegt. Man kann das, worauf es ankommt, nicht erkennen, wenn die Augen nicht darauf eingestellt sind. Nicht die Doktrin ermöglicht die richtige Einstellung der Augen, sondern das Wahrnehmungsvermögen des Individuums... Damit gewinnt das ‘Wissen’ von Außenseitern eine Schlüsselfunktion.” (Mauser 1987, S. 15) Wolfram und Helmtrud Mauser beschreiben, daß nach dieser Nacht die Suche nach dem Übersehenen beginnt und daß diese Suche das Kapitel insgesamt strukturiert, sie ist nicht nur auf das politische Geschehen bezogen, sondern auch auf das private (S. 215ff.). Hier wird deutlich - durch die neue Instanz Subjektivität, Individualität - wie wichtig Christa T. als Person ist, nicht nur für die Erzählerin, sondern für die Gesellschaft überhaupt. Mit neuen Augen wird gesucht: ”Da ich auf einmal bemerkte, was andere - vielleicht - an ihr übersehen haben, ihre Schüchternheit zum Beispiel, muß ich mich natürlich fragen, was ich an ihr niemals gesehen haben mag und niemals werde sehen können, weil meine Augen nicht darauf eingestellt sind. Denn Sehen hat mit einem herzhaften Entschluß nicht viel zu tun. So will ich denn auf der Suche nach dem Übersehenen noch einmal zu ihr ins Krankenhaus gehen” (CT, S. 127). Hier ist der blinde Fleck angesprochen, den Wahrheitssuche einschließt, gerade wenn sie ans Individuum gebunden wird - nur das Individuum andererseits aber ist fähig, seine Augen neu einzustellen aufgrund von Erfahrungen. Es ist zugleich ein Motiv angeschlagen, das schon in diesem Buch eine wichtige Rolle spielt und inKassandrazentral wird: das des Sehens, der Seherin. Das Buch schließt auch ein Kapitel über einen Wahrsager ein, und es selbst hat schon ‘Kassandra-Struktur’: Es wird in ihm etwas gesehen, das, wenn es nicht geglaubt wird, tödlich werden kann für die Gemeinschaft. Die unwirksame Wahrheit ist tödlich für Individuum (das daran erstickt) und die Gesellschaft (die verblendet ins Unheil rennt). Auch das steht hinter dem ”Wann, wenn nicht jetzt?” InNachdenken über Christa T.ist es noch stärker auf die Gesellschaft bezogen, inKassandraauf das Individuum: Es kann nicht mehr damit gewartet werden - angesichts der atomaren Bedrohung -, auch die undenkbaren Möglichkeiten zu bedenken, sie auszusprechen ohne Rücksicht auf Folgen, nicht an der Wahrheit zu ersticken, um nicht mit allen und allem vernichtet zu werden.
Nun erst, obwohl der Blick auf sie erstmals ungetrübt kritisch ist, liegt die Verantwortung nicht nur bei der Gesellschaft, sondern ist dem Individuum selbst aufgeladen, der Ich-Erzählerin, der Autorin, dem Leser.[cviii] Sozialismus und Wahrheit sind nichts mehr, was den einzelnen äußerlich sein kann, ihnen gegeben oder von ihnen entgegengenommen wird. Nichts wird entstehen, was nicht durch sie selbst ausgetragen worden ist. Der finsteren Nacht folgt unmittelbar ein Abschnitt, in dem die erste Geburt Christa T.s dargestellt wird. Das ”Licht der Welt” zu erblicken ist Resultat eines schmerzhaften Prozesses: ”Ihre erste Geburt, die in diese Zeit fiel, war schwer. Das Kind lag schlecht. Sie brachte Stunden mit nutzlosen Anstrengungen zu. Natürlich erlahmte sie, aber sie flüchtete sich nicht in das Gefühl, ungerecht gequält zu werden. Sentimentalität stand ihr nicht einmal jetzt zur Verfügung, sie konnte nicht vergessen, daß sie das Kind wollte und daß der strenge Rhythmus von zerreißender Anstrengung und Entspannung nötig war, es hervorzubringen.” (S. 131)
Die finstere Nacht jedoch, so scharf der Lichtwechsel ist, läßt die Wahrheit noch dunkel: ”Wir wußten ja selbst nicht, was für eine Nacht das war, wir haben Jahre gebraucht, es zu wissen.” (S. 130) Nicht nur, daß dieses spätere Wissen nicht mitgeteilt wird, beunruhigt, mehr noch die Frage, die sich anschließt: ”Ja, ein plötzlicher Lichtwechsel hatte stattgefunden, vorausgesehen hatten wir ihn nicht. Erst später fragten wir uns: Warum eigentlich nicht?” (S. 130f.) Worin liegt das Unvermögen? Darin, daß die Wahrheit sich verbirgt, daß sie endgültig nicht zu haben ist? Daß man erst am Ende eines Prozesses weiß, was er war? Daß man, trotz allem Vorsatz, der Wahrheit doch ausgewichen ist? Mit der Verabschiedung des Glaubens wird die Gefahr des Irrtums unermeßlich.[cix]
Das 11. Plenum des ZK der SED. Plenum des ZK der SED;
In den fünfziger Jahren überwog das Einverständnis zwischen Parteiführung und Schriftstellern über die Funktion sozialistischer Literatur. Auch Konflikte wurden - so in der Lukullus-Debatte - als Konflikte auf der Basis gemeinsamer Anschauungen und Ziele begriffen. Die Auffassung, daß Literatur dem Aufbau des Sozialismus zu dienen habe und daß Sozialismus eine bestimmte Art von Literatur verlange, war nicht strittig. Im Kontext der Formalismusdiskussion ging der Streit vor allem darum, welche Art von Literatur dies sei. Unversöhnlich wurde der Streit, je deutlicher sich herausstellte, daß sich nicht nur die Auffassungen über die Literatur, sondern die über den Sozialismus unterschieden. Auch dann erst wurden Generationsunterschiede zwischen den Schriftstellern ein relevantes Problem (wie das Verhältnis Christa Wolfs zu Anna Seghers zeigen könnte). Widersprüche im Sozialismus, die durch die Ereignisse des 17. Juni, die Entstalinisierungsversuche in der Ära Chrustschow und die Budapester Vorgänge erfahren wurden, führten noch nicht zur Wahrnehmung grundsätzlicher politischer Unterschiede - auch Brechts Kritik an der Regierung und Partei, am Verhalten im Juni 1953, ging noch davon aus, daß hier Korrekturen möglich seien und auch erfolgen würden.
Christa Wolf hat es in dem Text über Christa T. präzise beschrieben: ”Wir wußten ja selbst nicht, was für eine Nacht das war, wir haben Jahre gebraucht, es zu wissen.” Fast zehn Jahre, denn erst mit dem 11. Plenum der SED im Jahre 1965 wurde der Konflikt offen und wurde ahnbar, daß die Probleme auf dem Gebiet der Kunst und Literatur mit unterschiedlichen Haltungen zu diesen politischen Ereignissen verbunden waren. Der Bau der Mauer - Hoffnung auf eine eigenständige Entwicklung des Sozialismus auf Seiten der Schriftsteller; Hoffnung, nun mit allen Abweichungen endgültig fertig werden zu können auf Seiten der Parteiführung - beschleunigte den Differenzierungsprozeß, der 1965 von Christa Wolf als erster Bruch erfahren wird[cx] und 1976, mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns, endgültig zum Gegensatz sich auswächst.
Die Arbeit anNachdenken überChrista T.fällt in die Zeit dieses ersten großen Konfliktes, er hat bereits das Schreiben des Textes beeinflußt. Deshalb sollen wichtige Stationen dieses Konflikts im folgenden dargestellt werden.
Auf dem VI. Parteitag der SED 1963 wurde der ”Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse” verkündet und das ”Neue ökonomische System der Planung und Leitung” etabliert, das helfen sollte, den Sozialismus nicht nur auf dem Gebiet der Produktionsverhältnisse, sondern in allen gesellschaftlichen Bereichen durchzusetzen. Daher kamen zu diesem Zeitpunkt ”Randbereiche” der Gesellschaft in den Blick, und zwar vor allem diejenigen Bereiche, in denen es scheinen mochte, daß der Sozialismus noch am wenigsten Fuß gefaßt habe. Mit der ”Kunst und Kultur” wurde nicht eine beliebige gesellschaftliche Sphäre herausgegriffen, sondern diejenige, die der Durchsetzung der Doktrin der SED-Führung am widerständigsten war, gerade weil die Künstler sich als Sozialisten begriffen. Die Auseinandersetzung mit den Künstlern für sich entschieden zu haben - so das unerklärte Ziel des 11. Plenums -, hieße, allen abweichenden Meinungen und Verhaltensformen den Boden künftig entziehen zu können.
Zwei Jahre nach dem Plenum, auf dem VII. Parteitag, nachdem die Parteiführung meinte, aus der Auseinandersetzung auch mit den Schriftstellern und Filmemachern siegreich hervorgegangen zu sein, wurde der Sozialismus in der DDR als ”entwickeltes gesellschaftliches System” beschrieben. Damit sollte ausgedrückt werden, daß der Sozialismus nicht mehr nur Kernbereiche der Gesellschaft, sondern sie in ihrer Ganzheit erfaßt habe.[cxi] Doch während auf der einen Seite die Erfolgsbilanzen zu dominieren beginnen, werden auf der anderen, durch viele Künstler, die Defizite in den Blick genommen.
Das 11. Plenum des Jahres 1965 war auch ein wirtschaftspolitisch entscheidender Einschnitt. Es gab Anfang der sechziger Jahre den Versuch, die im Lauf der Entwicklung des Sozialismus aufgebrochenen ökonomischen Widersprüche zu lösen. Es war der einzige wirkliche Reformansatz, der in der DDR bis 1989 versucht worden ist. Problematisch war zu dieser Zeit nicht nur, daß sich innerhalb der Wirtschaftsstruktur Disproportionen herausgestellt hatten, sondern vor allem, daß die Planwirtschaft selbst, mit ihrem Zentralismus, ihren nicht unmittelbar ökonomischen Kriterien, einer Modernisierung der Industrie im Wege stand. Ohne Modernisierung aber mußte sich der Abstand zu den Industrien der westeuropäischen Länder rapide vergrößern. Der nach dem 17. Juni mit dem Volk geschlossene Kompromiß erforderte dagegen, ein hohes industrielles Niveau zu halten, um die Konsumbedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Durch das auf dem 11. Plenum fortgeführte ”Neue Ökonomische System der Planung und Leitung” der Wirtschaft sollte Zentralismus abgebaut und Entscheidungen auf niedrigere Ebenen verlagert werden. Der Spielraum der ”Eigenverantwortlichkeit” der Betriebe sollte vergrößert werden. Das war eine tatsächliche Modernisierungsnotwendigkeit, sie kollidierte aber mit der gegenläufigen Tendenz, entsprechende Modernisierung im politischen System zu vermeiden. Das wurde im Laufe der Zeit auch für die Wirtschaft kontraproduktiv und führte letztlich zum Scheitern der Reform, wurde aber auf dem Plenum vorerst für die Kulturpolitik verheerend.
Darin bestand der Widerspruch des Plenums: Auf der Ebene der Wirtschaft gab es Reformansätze - auf der Ebene der Kulturpolitik dominierte ein harter Kurs zur Machterhaltung und zur Konservierung des politischen Systems. Es war dieser Widerspruch, den die Künstler in Texten und Filmen zu artikulieren versuchten. Die Filmemacher vor allem drängten auf eine der Wirtschaftspolitik folgende Modernisierung - und das hieß Demokratisierung - des politischen Systems, die kulturelle Vielfalt, eine Vielfalt von Lebensmöglichkeiten einschließen sollte. Es war einerseits eine Situation erreicht, in der grundlegende Reformen möglich schienen - daher das Engagement der Künstler, daher die Zustimmung (wie sie sich auch im Diskussionsbeitrag von Christa Wolf findet) zur Wirtschaftspolitik -, andererseits sollten Reformen strikter als vorher verhindert werden. Dahinter standen wiederum die die Führung der DDR niemals verlassende traumatische Angst vor einem neuen 17. Juni, die Angst vor den Folgen der Entstalinisierung wie sie in Ungarn 1956 sichtbar wurden und Beunruhigung angesichts der im Jahre 1963 auf der Kafka-Konferenz in Prag artikulierten Reformbestrebungen der Intelligenz. Schlagwort der sich in der CSSR noch zuspitzenden Diskussion war Entfremdung, und dabei ging es um das auch von Christa Wolf inNachdenken überChrista T.thematisierte Verhältnis von Individuum und Gesellschaft.
Dramatischer wurde die Situation dadurch, daß es noch 1964 scheinen konnte, als stünde man auch auf dem Gebiet der Kultur vor wichtigen Reformen. So konnte Christa Wolf glauben, sich mit ihrem Diskussionsbeitrag auf dem Plenum in einem Konflikt innerhalb der Parteiführung zu bewegen. Denn 1964, auf der ”Zweiten Bitterfelder Konferenz”, forderte Walter Ulbricht ”geradezu auf, ‘neue Methoden der Planung und Leitung der Kultur und Kunst’ anzuwenden und analog der Wirtschaftsentwicklung ‘Experimente’ einzuleiten. Unter anderem orientierte er auf die Verkleinerung der ‘Zahl der Instanzen’ und die Vereinfachung des ‘Apparates’ in Kultur und Kunst.” (Knoth, S. 65) Auch andere Äußerungen Ulbrichts deuteten auf Reform im Kulturbereich, so sagte er noch vier Wochen vor dem Plenum zu Günter Witt (dem Verantwortlichen für die DEFA, also die Filmproduktion!): ”Der Weg von euch ist richtig; bitte, auf keinen Fall zu den Mitteln der Administration greifen. Bleibt bei der Diskussion!” (zit. n. Witt, S. 260) Diskussionen fanden in dieser Zeit noch öffentlich statt, sogar durch das Fernsehen wurden sie provoziert. Es war die Zeit der ”Prisma”-Sendungen, in denen erstmals in der DDR investigativer Journalismus, besonders bezogen auf die Wirtschaft, betrieben wurde. Eine Sendereihe, die schnell Popularität gewann.[cxii]
In diesen Jahren wurden die Weichen für die weitere Entwicklung des Sozialismus gestellt, das führte zu Machtkämpfen innerhalb der Parteispitze, auch zu Machtkämpfen innerhalb des sozialistischen Lagers. Siegfried Seidel, ein Mitarbeiter Erich Apels, des Funktionärs (einem der wenigen ohne antifaschistischen Hintergrund)[cxiii], der die Wirtschaftsreform in der DDR verkörperte, und der sich einige Tage vor dem 11. Plenum erschoß, beschreibt die Situation folgendermaßen: Nach der Ära Chrustschow gab es die Möglichkeit, den Sozialismus auf einem Wege voranzutreiben wie er sich durch die Entwicklungen in der CSSR angedeutet hatte. ”Wenn die DDR den Kurs der Jahre 1963-1965 weitergegangen wäre und gemeinsam mit der CSSR 1968 eine Entwicklung zur Erneuerung des Sozialismus (eine vorgezogene Perestroika) vollzogen hätte, wäre es auch für die Sowjetunion schwieriger geworden, mit militärischen Mitteln diesen Prozeß zu stoppen. Deshalb... kam Breshnew, Ende November 1965, eine Woche vor dem Selbstmord Apels, nach Berlin zu einem Geheimbesuch. Dabei hat er offensichtlich die ultimative Forderung gestellt, daß die SED ihre bescheidenen Sonderwege einstellt. Ulbricht hat wahrscheinlich erst abgewehrt, aber die Gruppe um Honecker hat Breshnew unterstützt. Apel war in einer schwierigen Situation. Er sah sein Lebenswerk... gefährdet, denn ohne Veränderungen im Handel mit der SU hatte die DDR keine Chance, als Industrieland im Wettbewerb zu bestehen.” (Seidel, S. 254f.)
Diese internen Machtkämpfe der SED-Führung wurden auf dem 11. Plenum entschieden. Es war nicht zufällig das Plenum, auf dem erstmals Erich Honecker das Hauptreferat hielt. Ulbricht, , stimmte in den Chor gegen die Künstler ein. Die Wut der gesamten Führung richtete sich gegen die Künstler, die in ihrem Erneuerungswillen noch weiter gehen wollten als es jedem in der Parteispitze denkbar war. Auf ihrem Rücken wurde der Machtkampf ausgetragen. Das fiel um so leichter, als mit der Orientierung auf Volksverbundenheit im künstlerischen Schaffen latent vorhandene antiintellektuelle Haltungen der Bevölkerung genutzt werden konnten (ungebrochenes Erbe des Faschismus bzw. von Teilen der deutschen Arbeiterbewegung). Für die Künstler setzten sich nur wenige ein. Auch deswegen, damit dies so bleibe, wurde der Bitterfelder Weg, der neben vielen Absurditäten tatsächliche Annäherungen zwischen Künstlern und Arbeitern mit sich gebracht hatte, abgeblasen. Nach beiden Seiten hin - hinsichtlich der Konflikte in der Führung und hinsichtlich der mit den Künstlern - wurde das Machtmonopol wiederhergestellt.
1964 ist für Christa Wolf das Jahr der Verunsicherung, das dem Konflikt vorausgeht. Noch auf der 2. Bitterfelder Konferenz hält Christa Wolf eine Rede, die dem Bitterfelder Konzept verpflichtet bleibt[cxiv] und in der sie sich zur Kulturpolitik der DDR bekennt. Es ist aber schon das Jahr, in dem, durch die Auseinandersetzungen um denGeteilten Himmel, deutlich wird, daß es stärker werdende dogmatische Tendenzen in der Kulturpolitik gibt, die die künstlerische Produktivität beeinträchtigen können. Der Streit um dieses erste aufsehenerregende Buch Christa Wolfs wird zu jener Zeit aber noch abgeschwächt dadurch, daß Christa Wolf den Heinrich-Mann-Preis für den Text erhält (durch den Einsatz von Alfred Kurella, einem Ideologen der Partei). Obwohl das Buch schon erhebliche Kritik an Verhältnissen in der DDR äußert (scharfe Einwände gegen den Text werden in der halleschen Parteizeitung ”Freiheit” erhoben), obwohl auch in ihm schon vom Schema des sozialistischen Realismus abgewichen wird (Typen sind nur noch die negativen Figuren im Buch), kann es noch integriert werden.[cxv] Das ist möglich, weil im Text die Entscheidung für die DDR durch die Heldin Rita eindeutig getroffen wurde und weil der Roman noch in die Literaturnorm einzupassen ist (es ist ein klassischer Entwicklungsroman mit linearer Erzählperspektive)[cxvi], zugleich aber qualitativ aus der übrigen Produktion herausragt. Der Text ist außerdem ein vorzeigbares Ergebnis des Bitterfelder Weges, denn das Waggonwerk Ammendorf ist ein zentraler Ort des Buches.
Verunsicherung bei Christa Wolf entsteht durch eine Rede Stefan Heyms, die auf einem internationalen Schriftstellerkolloquium im Dezember 1964 in Weimar gehalten wird. Christa Wolf teilt nicht die Positionen Heyms, der sich unversöhnt gegen die Zensur stellt und die DDR-Kulturpolitik, faktisch schon als unsozialistische, scharf kritisierte. Diese Schärfe konnte Christa Wolf nicht akzeptieren, doch ihre eigene Reaktion darauf ist nun vorsichtiger. Sie stellt in ihrer Replik Fragen an sich selbst - und zieht die Grenze. Es ist bereits der Gestus des ”Nachdenkens”. Noch aber sind die Fragen rhetorischer Art, erst das BuchChrista T.erweist die Fragen der Rede als so einfach nicht auflösbar, wiewohl das Fazit, die Antwort der Rede, noch das Buch strukturiert: ”Leide ich vielleicht an Schizophrenie? Leide ich vielleicht an jener Art von ‘revolutionärer Disziplin’, die Stefan Heym vorhin als ‘Unterordnung’ definierte, und die mir in dieser Form nicht als revolutionäre Disziplin bekannt und akzeptabel ist? Ich hoffe, daß ich an beidem wenig oder immer weniger leide. Eher leide ich an einem zu stark entwickelten Vorstellungsvermögen. Ich kann mir nämlich zum Beispiel vorstellen, wie ich heute wäre, hätte ich seit 1945 in Westdeutschland gelebt.” (zit. n. Dröscher, S. 66).
Aber der Vorwurf der Unterordnung, obwohl (und weil) Heym ihn nicht an Christa Wolf persönlich gerichtet hat, wird weiter arbeiten in der Autorin, die zu dieser Zeit anChrista T.schon schreibt. Denn Christa Wolf mußte hinnehmen - und dies spricht nun ohne ihr Zutun für Unterordnung, sie wird in diese Rolle gedrängt -, daß in der DDR nur ihre Rede auf diesem Kolloquium, nicht auch die von Heym veröffentlicht wurde. Es ist ein Punkt erreicht, an dem alle Entscheidungen auch Entscheidungen in bezug auf die anderen Schriftsteller in der DDR sind. War es bisher leicht für Christa Wolf - etwa in der Diskussion um Wolfgang Schreyer, in Äußerungen über Manfred Bieler und Walter Kaufmann - Position gegen Autoren zu beziehen (darüber auch redete sie mit der Stasi - vgl. Vinke, S. 118f. und S. 125f.), so deutet sich jetzt an, daß ihre Entscheidungen nicht nur die Voraussetzungen für das eigene Schreiben betreffen werden. Es deutet sich an, daß Wahrheit gegen Widerstände gesagt werden muß und daß man, selbst, wenn man Wahrheiten anderer nicht teilt, vorsichtig mit seinem Urteil sein muß, um der eigenen Wahrheit Raum zu verschaffen wie der subjektiven Wahrheitsfindung anderer.[cxvii] Denn schließlich, ein weiteres Detail, war das zweite Filmprojekt Christa Wolfs (nach der Verfilmung desGeteilten Himmels),Fräulein Schmetterling, gefährdet.[cxviii]
Dem Plenum gehen andere Alarmzeichen voraus - Zeichen, die darauf deuten, daß ein Kampf im Gange ist, der noch nicht entschieden war. Die Kampagne vor dem Plenum erweckt den Eindruck, das schon in seinem Vorfeld die Probleme mit den Schriftstellern ”gelöst” werden sollten, und das Plenum diese Lösung lediglich zu bilanzieren hätte. Diese Vermutung läßt das einige Wochen vor dem Plenum stattfindende Treffen Walter Ulbrichts mit Schriftstellern aufkommen. Dieses Treffen, sein Verlauf, die Rednerliste, seine Resultate, war minutiös geplant.[cxix] Mit den Abweichungen sollte aufgeräumt und dafür das offensichtlich erwartete Einverständnis der Mehrheit der Schriftsteller eingeholt werden. Die minutiöse Planung läßt darauf schließen, daß man zwar mit Schwierigkeiten rechnete, sie aber durch eben diese Planung bereits zu überwinden geglaubt hatte. Schon auf der Treppe, beim Eintritt in das Staatsratsgebäude, bemerkt Hans Koch[cxx] zu Christa Wolf: ”Heute sollen wir hier geschlachtet werden!” (Wolf 1991b, S. 263)
Es gelang den Schriftstellern aber, die Pläne gründlich durcheinanderzubringen. Bereits auf diesem Treffen polemisiert Ulbricht gegen den Vorabdruck zu einem geplanten Buch Werner Bräunigs,Rummelplatz, der dann auf dem 11. Plenum Hauptstreitpunkt wird, und schon hier stellt sich Christa Wolf in einem spontanen Diskussionsbeitrag Ulbricht entgegen. Sie relativiert die Attacke Ulbrichts gegen Bräunig, sie skizziert die Lage der Jugend in der DDR und nennt Gründe für Fehlentwicklungen, sie konstatiert geistige Leere und daß der sozialistische Staat den Jugendlichen als fremde Institution gegenübertrete (vgl. Agde, S. 137).[cxxi]
Ulbricht erwidert: ”Das ist eine Selbstüberschätzung, daß Sie die Fehler besser sehen als wir.” (zit. n. Agde, S. 136)[cxxii] Damit ist die Spaltung in ”ihr” und ”wir” offenbar. Die Künstler sind geschockt, die andere Seite, wegen des Widerstandes, auch. ”Die Organisatoren und ihre präparierten Beiträger äußern sich gar nicht, auch Erich Honecker nicht, der... in drei Wochen[cxxiii] das Referat auf dem 11. Plenum halten wird. Von der Parteispitze spricht nur Kurt Hager. Das Nebeneinander der zwei Gruppierungen wird gelegentlich zum offenen Gegeneinander. Die Konfrontation wird offenkundig... Die Redelust bleibt gering, immer wieder muß Walter Ulbricht zu Wortmeldungen auffordern...” (S. 136f.)
Das Treffen geht unentschieden aus - die Schriftsteller haben die Angriffe pariert (Christa Wolf wird auch durch Anna Seghers unterstützt)[cxxiv], und die Führung übergeht die Argumentationen der Schriftsteller. Hinterher hört Christa Wolf von der persönlichen Referentin Hagers: ”Ihr wißt gar nicht, was ihr heute hier abgewehrt habt!” Und Christa Wolf weiter: ”Da wurde mir klar, daß man diese Niederlage wohl nicht einstecken würde. Aber zunächst schien es, als sei wirklich ein Angriff gegen die Kunst abgewehrt worden.” (Wolf 1991b S. 264f.)
Entgegen den sonstigen Gewohnheiten ist die Berichterstattung über das Treffen spärlich, im Hintergrund wird das Plenum vorbereitet, noch gründlicher diesmal, es ist, wie es nun Gewohnheit wird, eine politische Inszenierung. ”Nach Überzeugung der Organisatoren durfte es nicht bei diesem Ergebnis bleiben. Das Gespräch als Test hatte ihnen bewiesen, daß sie andere Diskutanten brauchten, nicht Künstler, sondern Politiker und Funktionäre. Ihre Mannschaft mußte anders formiert sein und mit dem richtigen Material vorprogrammiert werden. Außerdem mußten Mehrheiten anders verteilt und die Auftritte von Mitdiskutanten besser plaziert werden. Würde zusätzlich eine öffentliche Erwartung geschaffen werden, auf die die Spitze dann reagieren könnte, so müßte der nächste Versuch ‘erfolgreich’ werden.” (Agde, S. 141) In den verbleibenden Wochen wird die Entscheidung gefallen sein, das Thema Kultur neben der Wirtschaft zum Schwerpunkt des Plenums zu erheben.[cxxv]
Das Plenum selbst - eindeutig in Atmosphäre und Schärfe als Abrechnung mit den Schriftstellern geplant, die stille Wut um den Selbstmord Apels, des Wirtschaftsfunktionärs, im Hintergrund -[cxxvi] bringt das Faß zum Überlaufen.[cxxvii] Christa Wolf ist hocherregt.[cxxviii] Es fällt das erste Mal das Wort, das die Position vieler Künstler in der DDR lange Zeit kennzeichnen wird und das auch in die Frage ”Wann, wenn nicht jetzt?” eingegangen ist: Warnung. ”Ich habe den Eindruck”, sagt Christa Wolf in einem spontanen Diskussionsbeitrag, ”daß durch diese Tagung, ...die Gefahr besteht..., ...bestimmte Errungenschaften, die durch die Bitterfelder Konferenz und auf ihrer Grundlage geschaffen wurden..., wenn nicht zurückzunehmen, so doch zu stoppen. Und ich möchte euch vor dieser Gefahr warnen, die ich in vielen Institutionen sehe.”
[...]
[i] Der Streit, was nun DDR-Literatur sei, ob es so etwas überhaupt gäbe, soll mich hier nicht beschäftigen. Ich beziehe mich auf Texte, die in der DDR entstanden sind und auf sie als einer Ausprägung von Geschichte reagieren. Mehr ist für den vorliegenden Zusammenhang nicht wichtig.
[ii] Daß das Werk der Autoren dabei zurücktritt, ist für drei der Interpretationen relativ unproblematisch: Bei denBuckower Eleginehandelt es sich um einen späten Gedichtzyklus, da ist - was die DDR betrifft - nachher nichts gravierend anderes hinzugekommen, und auch die Analyse früherer Brecht-Texte über die DDR brächte nicht sehr viel Neues, da Brecht so lange Zeit in der DDR nicht gelebt hat, und gerade dieBuckower Elegienseine schonungslosesten und ergiebigsten Texte sein dürften. Bei der Interpretation des Textes von Christa Wolf war es möglich, über die exkursorische Thematisierung des Entfremdungsmotivs in späteren Äußerungen auch veränderte Haltungen und Texte wenigstens schlaglichtartig einzubeziehen. Volker Brauns Roman reflektiert das nahe Ende der DDR, und in dieser Hinsicht ist auch von Braun zu DDR-Zeiten nichts mehr geschrieben worden, das darüber wesentlich hinausgehen würde. Für die Interpretation des Stücks von Müller bleibt ein Problem, daZementzwar für den Müller der siebziger Jahre charakteristisch ist, nicht aber in gleichem Maße für spätere Zeiten. Dem habe ich zu begegnen versucht, indem ich in den Anmerkungen auf spätere Entwicklungen verweise.
[iii] Daraus ergab sich auch der methodische Ansatz: Das Aufschließen geschichtlicher Erfahrung ist das Grundmotiv der literarischen Hermeneutik von Hans Robert Jauß. Seiner Methode fragendem Suchens ist meine Arbeit verpflichtet. Voraussetzung für Jauß war dabei die Rekonstruktion des geschichtlichen Horizonts, um durch die Differenz zur Gegenwart das erfahren zu können, was den eigenen Horizont verändern kann. Ich halte diesen Weg für den Umgang mit der Literatur in der DDR für unverzichtbar, aber kaum beschritten.
Methodisch ist das allerdings nicht zu leisten, ohne von der Möglichkeit literarischer Widerspiegelung von Wirklichkeit auszugehen. Da der Streit um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Widerspiegelung fast so etwas zu sein schien wie die Scheidelinie des Ost-West-Konfliktes auf dem Gebiet der Literaturwissenschaft und Ästhetik - in dessen Ergebnis der Gedanke der Widerspiegelung, wie des öfteren zu hören ist, endgültig irrelevant geworden sei -, bedarf dieses Vorgehen, will man es nicht verschleiern, einer Begründung. Ich will einige Punkte zusammentragen:
- Ich orientiere mich am Widerspiegelungsverständnis von Wolfgang Heise. Widerspiegelung ist für Heise eine Kategorie, die im Zusammenhang der Produktion und Rezeption von Kunst gedacht werden muß, und so ist Widerspiegelung für ihn nicht als Resultat zu fixieren, sondern sie ist ein Prozeß. Es macht gerade das Zentrum des Widerspiegelungsgedankens von Heise aus, daß die im Kunstwerk gespiegelte Welt immer eine Welt ist, die durch das Subjekt gegangen ist, und daß es gerade das Verhältnis des Subjekts zu dieser Welt ist, in dem Abbildung gesucht werden sollte, die wiederum nur rezeptiv erschlossen werden kann - und nie endgültig. Die Momente der Relativität von Abbildung und Wahrheit sind sowenig fixierbar wie diese selbst - beides wird bewußt im Prozeß der reflektierenden und argumentierenden Auseinandersetzung, dessen Abbruch erst beides endgültig preisgeben würde. Es ist also nicht möglich, Widerspiegelungsresultate endgültig zu fixieren, wie es auf eine Dimension von Kunstprodukten zu verzichten hieße, würde nicht nach ihrem Verhältnis zur Welt interpretativ gefragt.
- Man kann zeigen, daß theoretische Ansätze, die sich dezidiert gegen den Widerspiegelungsgedanken aussprechen, oftmals ohne Momente von Widerspiegelung nicht denkbar sind, wie etwa Adornos Formgesetz. Auch die literarische Hermeneutik Hans Robert Jauß’ muß Momente von Widerspiegelung integrieren, da sonst der Anspruch, die geschichtlich relevante Frage zu rekonstruieren, auf die ein literarischer Text eine Antwort darstellt, nicht einzulösen wäre, da sowohl Frage wie Antwort auch im Text gesucht werden. Unbedingt nötig ist jedoch eine klare Abgrenzung zum Widerspiegelungsdenken von Georg Lukács, und noch mehr von den ihm folgenden oder anderen Dogmatisierungen und Verengungen des Gedankens.
- Des weiteren ist es offenbar völlig üblich, davon auszugehen, daß in literarischen Texten Entfremdungsphänomene widergespiegelt werden, wie auch davon ausgegangen wird, daß Literatur mit dem Entfremdungsproblem in Zusammenhang gebracht werden kann (nicht immer auf die Weise sozusagen ”unmittelbarer” Widerspiegelung von Wirklichkeit, sondern als Problem etwa der literarischen Form, was jedoch nicht ausschließt, daß es sich um einen Widerspiegelungszusammenhang handelt, verzichtet man auf eine enge Auffassung von Widerspiegelung). Man tut dies oftmals, ohne sich weiter um die methodische Implikation, damit dem Widerspiegelungskonzept zuzuarbeiten, zu scheren, vielleicht gar, ohne um sie zu wissen (vgl. dazu Anmerkung 7).
Gleiches gilt aber auch für Interpretationen, die sich nicht auf das Entfremdungsproblem fixieren. Alle mir bekannten Interpretationen derBuckower ElegienBertolt Brechts - östlicher wie westlicher Herkunft - versuchen, anhand der literarischen Texte vor allem die Frage zu beantworten, wie Brecht zu den Ereignissen des 17. Juni 1953 und zur DDR überhaupt gestanden habe, und wie diese Ereignisse in seinen Texten erscheinen. Andersherum: Mir ist gar keine Interpretation bekannt, die wesentlich anderes tut, als diesen Fragen nachzugehen - selbstverständlich auf ganz unterschiedlichen methodischen Wegen und mit ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Ohne implizit eine Widerspiegelungsbeziehung anzuerkennen, scheint mir dieses Vorgehen nicht möglich.
- Schließlich kann ich mich auf die Autoren und die Autorin der zu interpretierenden literarischen Texte selbst berufen, für sie ist es selbstverständlich, daß ihre Texte Wirklichkeit widerspiegeln - wie es selbstverständlich ist, daß sie darin nicht aufgehen. Nicht nur für Heiner Müller ist das Entscheidende an der Kunst das, was sie zu bewegen in der Lage ist, und nicht das, was man an ihr festzustellen sucht. Dennoch ist auch in seinen Texten - die ganz wesentlich gegen das Vergessen arbeiten wollen, gegen das Vergessen geschichtlicher Erfahrung - vorausgesetzt, daß diese geschichtlichen Erfahrungen in den Texten erscheinen, mit denen sie sich auseinandersetzen, die sie ”unmöglich” machen wollen. Auch daß die eigene Stellung als Autor und Autorin mit dem Entfremdungsproblem im Zusammenhang steht, wird reflektiert. In welcher Differenziertheit all das jeweils geschieht, und wie sich die Auffassungen und literarischen Strategien unterscheiden, wie sie sich von Brecht über Wolf und Müller bis zu Braun wandeln, das werden Gegenstände der Interpretationen sein. Weil es den Autoren darum geht, mit den Texten Wirklichkeit zu bewegen, nicht alleine abzubilden, und weil ich darin, und in der Art und Weise, wie das geschieht, ein Spezifikum der Literatur in der DDR sehe, wird selbstverständlich auch meine Frage nach dem Zusammenhang von Literatur in der DDR und Entfremdung den Rahmen des Widerspiegelungsgedankens überschreiten.
[iv] Andere Auswahlkriterien sind selbstverständlich denkbar, man hätte stärker konfrontativ verfahren und etwa Texte von Günter Kunert, Uwe Johnson, Monika Maron oder von Autoren des sogenannten Prenzlauer Bergs heranziehen können. Mit Sicherheit wäre diese Konfrontation für das Entfremdungsproblem aufschlußreich geworden, und es ist zu hoffen, daß in der weiteren Beschäftigung mit der Literatur in der DDR auch dieser Versuch unternommen wird. Hier jedoch wurde darauf verzichtet. Für alle ausgewählten Texte ist charakteristisch, daß sie den Widersprüchen des Sozialismus auf der Spur sind und damit zugleich den Widersprüchen des Entfremdungsproblems in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auf diese Weise kann es vielleicht besser gelingen als durch Konfrontation die offenen Enden geschichtlicher Problematik sichtbar zu machen. Konfrontative Texte fixieren sich mitunter zu sehr auf das Problem DDR und weniger auf das in ihr sichtbar werdende geschichtliche Problem.
[v]Entfremdung und Ästhetik. Eine begriffsgeschichtliche Studie und eine Analyse der ästhetischen Theorie Wolfgang Heises, Metzler, Stuttgart 2001, 533 Seiten. Dieses Buch ist die Publikation der ersten beiden Teile meiner 1999 an der Universität Konstanz verteidigten Habilitationsschrift. Das hier vorliegende Buch enthält den dritten, leicht überarbeiteten Teil. In dem bei Metzler publizierten Buch findet sich auch ein Exkurs zur Entfremdung im realen Sozialismus.
[vi] Doch ich möchte so etwas wie eine Begriffsstruktur wenigstens skizzieren: Etwas Eigenes, von dem man sich entfremdet hat, von dem man sichselbstentfremdet hat (an Fremdes), soll wieder zurückgeholt werden, wieder (oder überhaupt) in Eigenes, Gewolltes, Beherrschtes verwandelt werden. Der Entfremdungsbegriff im philosophischen Sinne wird nahezu durchgehend so gebraucht, daß es etwas dem Menschen (als Individuum, als Glied eines sozialen Zusammenhangs oder als Menschheit) Eigenes, nicht nur Nahes, gibt (oft von der menschlichen Natur ausgehend), das durch sein eigenes Verschulden, durch seine eigene Tätigkeit, ihn deformierende oder knechtende, ihn unterwerfende Macht über ihn bekommt. Die eigenen Produkte, einschließlich der Verhältnisse zwischen den Menschen, entziehen sich der Kontrolle und verselbständigen sich. Vorausgesetzt ist die Versachlichung des ursprünglich Eigenen, seine Form als Produkt, als Entäußertes, vorausgesetzt ist Arbeitsteilung als Möglichkeit von Entfremdung, als ihr Entstehungsgrund. In der Entfremdungsbeziehung ist immer Fremdes eingeschlossen, nämlich das, woran man sich entäußert, wie andererseits das dabei entstehende nicht allein dingliche Produkt sich dem Produzenten entziehen, in Hände oder Situationen kommen kann, in denen die ursprüngliche Intention des Produzenten sich verkehrt. Entfremdung im philosophischen Sinne kann jedoch nicht am Individuum diskutiert werden, obwohl der Entfremdungsbegriff auf das Individuum zielt. Entfremdung entsteht innerhalb der Beziehungen von Menschen.
Die Phänomene der Entfremdung werden in unterschiedlichen Termini reflektiert - z.B. als Entäußerung, Veräußerung, Fremdheit, Verdinglichung und Entzweiung (auch als Sünde). Das Problem, an dem sich die Beteiligten dieser Diskussion, die bereits Jahrhunderte anhält, abarbeiten, lautet: Wie kann man, nachdem der Mensch sich als ein entfremdetes Wesen erfuhr, und diese Entfremdung Resultate hinterließ, die geschichstsbestimmend wurden, wieder in den alten Zustand zurück, der der alte nicht mehr sein kann? Die Antworten darauf sind höchst unterschiedlich, wie schon die verschiedenen Termini zeigen, in denen seit der Aufklärung Krisenphänomene reflektiert werden. In dieser Reflexion gerade liegt die Spezifik des Begriffs Entfremdung, wie er seit Rousseau entwickelt wurde. Es ist nicht nur ein Begriff, mit dem ”die Auflösung der alten und die Entstehung der modernen Welt in der Geschichte ihrer begrifflichen Erfassung” [Koselleck, S. XIV] verfolgt werden kann, sondern der Entfremdungsbegriff reflektiert die Moderne selbst, in ihrer Problematik, ihrer Verkehrung und Entzweiung. Zugleich ist es ein Begriff, der stets doppelte Funktion hat: Als Beschreibung von Entfremdung ist er - mehr oder weniger - empirisch fundiert (und meist unmittelbar kritisch), wie er in der Suche nach der Überwindbarkeit von Entfremdung, die oftmals aber die Beschreibung der Sache schon vorstrukturiert, ”zukunftsprägend” [S. XVIII] ist.
[vii] Nur nebenbei sei erwähnt, daß die Beschäftigung mit dem Zusammenhang von Entfremdung und Literatur nicht ungewöhnlich ist. Ich nenne im folgenden willkürlich zusammengestellt die Namen einiger Schriftsteller und Schrifstellerinnen wie literarischer Gegenstände, die unter dem Blickwinkel der Entfremdung in neuerer Zeit befragt worden sind (das Wort Entfremdung erscheint bereits im Titel oder Untertitel jeder der folgenden Publikationen): Argentinische Literatur (Röhl-Schulze 1990); Samuel Beckett (Gölter 1976; Martini 1979; Fritsch 1990); Saul Bellow (Bischoff 1975); Heinrich Böll (Sa 1993); John Cheever (Kuhli-Kortmann 1994); Marie von Ebner-Eschenbach (Snapper 1979); Englische Kurzgedichte (Böck 1993); Marieluise Fleißer (Döppner-Henrich 1996); Max Frisch (Cordora 1982); Gabriel García Márquez (Decker 1985); Joseph Heller (Fritsch 1990); Wolfgang Hildesheimer (Andersson 1979); Franz Kafka (Anz 1992); Hermann Kant (Hoyt 1986); Doris Lessing (Spiegel 1980); Sowjetprosa (Meichel 1981); Peter Weiss (Vance 1982) Weitere Autoren und Autorinnen, die unter dem Blickwinkel der Entfremdung befragt wurden: Virginia Woolf, James Joyce, William Golding, Wolfram Koeppen, Nathalie Sarraute, Michel Butor; Robbe-Grillet, Gerard Bessette, Jean Basile, Rejean Ducharme, Carson McCullers, J.D. Salinger, James Purdy, Alan Sillitoe, heavy metal music... Die Suche nach Entfremdungsphänomenen in literarischen Texten ist also ein eingeführtes Thema. Es erfreut sich bis in die jüngste Zeit ungebrochener Beliebtheit (anders als der Entfremdungsbegriff auf philosophisch-ökonomischer, politischer und ästhetischer Ebene).
Dritter Teil
Entfremdung und Literatur in der DDR. Ausgewählte Interpretationen
I. Bertolt BrechtBuckower Elegien
[viii] Die aktuelle Diskussion darum, wie der 17. Juni 1953 zu beschreiben und zu bewerten sei, ob es sich um einen Arbeiter- oder Volksaufstand handelte, um einen konterrevolutionären Putschversuch unter Beteiligung faschistischer Kräfte oder um einen Kampf für demokratische Rechte, kann hier nicht berücksichtigt werden. Für Bertolt Brecht war entscheidend, daß sich Arbeiter gegen die sozialistische Regierung aufgelehnt hatten - diese unstrittige Tatsache kann hier genügen, unabhängig davon, was der 17. Juni möglicherweise noch gewesen ist.
[ix] Andererseits ist Brechts Verfremdungsbegriff auf die Entfremdungsproblematik bezogen. Das allerdings wäre ein eigener Gegenstand, der in der Brecht-Forschung m.E. noch nicht ausreichend behandelt ist. Dem hier nachzugehen, würde den Rahmen einer Textinterpretation überschreiten. Einige Bemerkungen zum Verhältnis von Verfremdung und Entfremdung finden sich in meinem Artikel ”Realismus - Verfremdung als Ent-Fremdung? Realismusdiskussion und russischer Formalismus”, in: Weimarer Beiträge, Berlin und Weimar Heft 12/1989.
[x] Brecht schreibt noch 1956, also nach denBuckower Elegienund wenige Wochen vor seinem Tod: ”Der Ausbruch aus der Barbarei des Kapitalismus kann selber noch barbarische Züge aufweisen.” (Über die Kritik an Stalin, in: Brecht 1968 Bd. 2, S. 223) Im gleichen Text wird deutlich, daß Brecht dennoch die Gefahren nicht übersieht, wiewohl er sie für überwindbar hält: ”Eine der schlimmen Folgen des Stalinismus ist die Verkümmerung der Dialektik. Ohne Kenntnis der Dialektik sind solche Übergänge wie die von Stalin als Motor zu Stalin als Bremse nicht verstehbar. Auch nicht die Negierung der Partei durch den Apparat. Auch nicht die Verwandlung von Meinungskämpfen in Machtkämpfe.” (S. 224) Eine differenzierte Einschätzung der Haltung Brechts zum Stalinismus - unter den Voraussetzungen des Kenntnisstandes seiner Zeit - gibt Peter Bormans (in: Fuegi u.a.).
[xi] Schuhmann, Schwarz und Knapp (letzterer in: Text und Kritik) setzen Einschnitte mit den Jahren 1939 und 1948 an.
[xii] Obwohl Brecht in den fünfziger Jahren Absichten geäußert hat - im Zusammenhang bspw. mit dem Hans Garbe Stoff (Büsching-Fragment) -, es zu reaktivieren. Das aber ist nicht geschehen (sieht man von der Bearbeitung derMutterfür die Aufführung am Berliner Ensemble 1951 ab).
[xiii] Die epigrammatischen Texte Brechts haben als Vorbild sowohl die antike Epigrammatik wie die chinesische Lyrik, insbesondere die Po Chü-yis und Lu Yüns (s. Schwarz, S. 100, S. 124ff.). Doch ist die Aufnahme chinesischer Tradition m.E. weniger dadurch gekennzeichnet, daß auch hier epigrammatische Verfahren bereits gefunden werden können (wie Schwarz nachzuweisen sucht), sondern Brecht interessiert der Gestus der Texte: Belehrung durch Weisheit. Brecht selbst spricht von einer ”Sprachwaschung” die er mit den Epigrammen in der Exilzeit vorgenommen habe (Brecht 1964, S. 90).
[xiv] Wie sich die Naturbeziehung in der späten Lyrik verändert hat, beschreibt Klaus Schuhmann: ”Die Natur beeindruckt weder durch ihre Weite... noch durch ihre gewaltige Größe. Das Ich wird nicht von ihr überwältigt... Nicht die wilde Vegetation wird verherrlicht, sondern ein Blumengarten...” (Schuhmann, S. 127) Die Landschaft ist ”anthropozentrisch auf den Menschen bezogen” (Schwarz 1978, S. 100).
[xv] Zum Verhältnis Brechts zum Konfutianismus, Mohismus und Taoismus siehe das Buch von Han-Soon Yim. Zu anderen Auffassungen Brechts hinsichtlich der Weisheit siehe das Buch von Neumann.
[xvi] Brecht ändert seine Selbsteinschätzung folgendermaßen (im August 1940): ”wichtig ist in unseren werken auch die technik des neuanfangens, von solchen entwickelt, welche die tradition beherrschen, denn der neu anfangende, der die tradition nicht beherrscht, fällt leicht unter die herrschaft der tradition zurück. am sichersten geht man, wenn man uns als die dialektiker unter den bürgerlichen dichtern anführt und benutzt. damit stehen wir in einer reihe mit den bürgerlichen politikern, welche die sache des proletariats zu der ihrigen gemacht haben.”(Brecht 1977a, S. 96) DieBuckower Elegiensind m.E. auch der Versuch, dennoch aus der Tradition, sie umarbeitend, herausblicken zu können. Das Genre Elegie benutzen zu müssen und ihm doch nicht als traditionellem Muster zu erliegen, dürfte ein wichtiger Ertrag für Brecht gewesen sein, möglicherweise ließ sich auch alleine daraus Hoffnung gewinnen: Trotz allem ist man über das bürgerliche Zeitalter bereits hinaus. Brechts Buckower Elegien müssen vor dem Hintergrund derRömischen Elegienund derDuineser Elegiengesehen werden.
[xvii] Etwas emphatisch und harmonisierend formuliert Claude Hill: ”Der Kreislauf der lyrischen Entwicklung hat sich geschlossen. Von den schrillen Ausbrüchen des anarchischen Nihilisten verlief er über die aufpeitschenden und beizenden Kampflieder des Polemikers bis zu den distanzierten und epigrammatischen Aussagen eines seines klassischen Status bewußten Meisters der deutschen Sprache.” (Hill, S. 194)
[xviii] Schwarz (Schwarz, S. 100), Schuhmann (Schuhmann, S. 103) und Mennemeier (Mennemeier, S. 213) meinen, daß in den Texten derBuckower Elegiendas empirische Ich Brechts spricht (wenn ein Ich in den Texten erscheint). Es ist jedoch Fuhrmann zuzustimmen, wenn sie davon ausgeht, daß zwischen empirischen Ich und lyrischem Ich in denBuckower Elegienzu unterscheiden sei (Fuhrmann, S. 49f.). Es gibt hier keine Identität, es ist bis jetzt aber unklar geblieben, welche interpretatorischen Erträge diese Unterscheidung bringt. Für mein Vorgehen ist wichtig, daß es der Dichter Brecht ist, der in den Texten spricht, daß er der Beobachter ist, von dem her beschrieben wird, daß er noch in der Rolle des sprechenden Ich als Brecht kenntlich bleibt. Im Rahmen dieser applikativen Interpretation kann nicht genauer nach den Differenzierungen gefragt werden.
[xix] Auch in derHauspostillegibt es, Villon aufgreifend, Bittgesänge, dort aber sind sie parodistisch angelegt, in den späten vierziger und den fünfziger Jahren bittet Brecht tatsächlich.
[xx] Dieser Standpunkt mußte sich allerdings erst durchsetzen, er setzte voraus, politische Klischees abzustreifen, wie sie auch in dem Theaterstück von Günter GrassDie Plebejer proben den Aufstand(1966) sichtbar sind (Grass wirft Brecht gerade anhand derBuckower ElegienRückzug ins Private vor). Hannah Arendt meint, daß Brecht in Ost-Berlin der künstlerischen Impotenz zum Opfer gefallen sei, die politische Distanz verloren habe, und daß mit denBuckower Elegiennicht viel Staat zu machen sei, aus dieser Zeit gäbe es kein großes Gedicht Brechts mehr (wiedergegeben nach Vollmar, S. 131).
[xxi] Die Editionspraxis ist äußerst uneinheitlich. Brecht selbst hat zu Lebzeiten nur 6 der Elegien publiziert (vgl. Knopf 1986a, S. 121f.). Als Textgrundlage dient mir die Ausgabe des Aufbau-Verlages der Werke Brechts, Band VII. In dieser Ausgabe enthält der Zyklus 21 Texte. Klaus Schuhmann berichtet, daß im Sommer 1953 im Gartenhaus Brechts ”ein Zyklus aus zwanzig Texten” entstand, von denen siebzehn heute unter dem TitelBuckower Elegienbekannt sind.” (Schuhmann, S. 108) Im Anhang der zugrundegelegten Ausgabe heißt es: ”Eine Auswahl der hier abgedruckten Gedichte erschien in Heft 13 der ‘Versuche’ und in der Zeitschrift ‘Sinn und Form’ (1953) Vier Elegien (‘Der Himmel dieses Sommers’, ‘Die Kelle’, ‘Die Musen’ und ‘Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters’) sind gegenüber der Suhrkamp-Ausgabe, wo sie in Band VIII stehen, hier aufgenommen worden.” (Brecht Gedichte VII, S. 174) Eine Begründung dafür wird nicht gegeben. Ich beziehe mich im Interesse meiner Fragestellung auf diese umfangreiche Ausgabe, weil sie m.E. am besten wiedergibt, wie Brecht in diesem Sommer gedacht hat. Alle 21 Texte sind im Sommer 1953 in Buckow entstanden. (Insgesamt jedoch gibt es 31 Texte die in dieser Zeit geschrieben worden sind - vgl. dazu Lyon, S. 66f. - und zu denBuckower Elegiengerechnet werden könnten. Knopf hat 24 davon zusammengestellt und behauptet, die authentische Reihenfolge rekonstruiert zu haben (vgl. Knopf 1986a, S. 121f). Wieweit diese Zuordnung jedoch legitim ist, verlangte präzise Forschung mit dieser Fragestellung, die hier nicht zu leisten ist. Der meiner Interpretation zugrundegelegte Textkorpus reicht aus, um der oben formulierten Fragestellung präzise nachgehen zu können.). Siehe dazu auch die Anmerkungen 35 und 98.
[xxii] Es gibt allerdings einige zusammengehörende Texte, die Brecht im Exil - angeregt durch Eisler - geschrieben hat und die, ohne diesen Titel zu tragen, von ihm des öfteren ”Hollywooder Elegien” genannt worden sind (vgl. dazu Fuhrmann, S. 55ff.)(imArbeitsjournal, entstanden und so genannt auf Anregung Eislers, der auch den TextAn die Nachgeborenenin seiner Vertonung ”Elegie” betitelt (vgl. Thiele, S. 47 und 49)). Dies dürfte jedoch eine eher ironisch-sarkastische Benennung sein und gleichzeitig, wie Thiele vorführt, auf den Gegensatz von ”Traumfabrik” und ”Kunst der alten Welt” (Thiele, S. 67) verweisen. Lediglich dieBuckower Elegiensind unmißverständlich so genannt. Die Provokation der Genrebezeichnung der 1953 entstandenen Texte ergibt sich daraus, daß sie in der DDR geschrieben sind, in einem Land, das den Sozialismus aufzubauen sich anschickte, einen Versuch, den Brecht unterstützte. Klagelieder sollten durch diesen Versuch gerade unmöglich gemacht werden. Erst jetzt jedoch wählt Brecht selbst und sehr bewußt die Bezeichnung ”Elegie”. Übereinstimmung zwischen den beiden ”Elegie”- Sammlungen besteht aber darin, daß Brecht die Texte in Situationen schreibt, die seine Wirkungsmöglichkeiten einschränken oder einzuschränken drohen. Es wird möglicherweise auch die Herausforderung der berühmten Elegien Goethes, Rilkes und Hölderlins eine Rolle gespielt haben. Thiele formuliert eine anderes Motiv, das ich für gegeben halte: ”Schließlich mögen die elegischen Gedichte in einer Zeit, in der die Formalismusdiskussion noch in Erinnerung war (...), Hinweis darauf sein, wie weitgefaßt Brecht selbst mit literarischen Formen arbeiten wollte.” (Thiele, S. 113f.) - Des weiteren finden sich einzelne Texte, die von der Brecht-Forschung als Elegien gedeutet worden sind (ohne daß Brecht sie so genannt hätte), z.B. An die Nachgeborenen(1938},Deutschland(1933),Deutschland 1952(1952). Andere Texte nennt Thiele:Vom armen B.B.; Der große Oktober; Deutschland, du blondes, bleiches; O Deutschland, bleiche Mutter; O Deutschland, wie bist du zerrissen; Nach dem Tod meiner Mitarbeiterin M.S.(Thiele, S. 46) Eine Arbeit, die sich mit der Elegie im Werk Brechts beschäftigt, gibt es meines Wissens bisher nicht (Ansätze hinsichtlich der Lyrik finden sich bei Thiele; Mennemeier versucht, Elegisches auch in Brechts Dramen aufzuweisen (Mennemeier, S. 201ff.)). Auch gibt es keine theoretischen Äußerungen Brechts zur Elegie. Dennoch kann davon ausgegangen werden, daß Brecht schon vor den Buckower Texten Erfahrung mit der Umarbeitung des Genres gemacht hat. Im Vordergrund aber steht es erst jetzt.
[xxiii] Die frühe griechische Elegie war jedoch nicht vor allem durch ihren Gegenstand, sondern durch das Metrum, das elegische Distichon, bestimmt. Thematische Konkretisierung erfuhr die Elegie erst in hellenistisch-römischer Zeit (Witzmann, S. 26). Brecht übernimmt weder die strenge Metrik - die Verse seiner Elegien sind freirhythmisch (erinnern aber zuweilen an das Distichon) -, noch den offen klagenden Ton. Aber dieBuckower Elegienerinnern ebenso Hexameter, die jedoch nicht rein erfüllt werden, und der Zyklus setzt mit beklagenswerter, erzwungener Untätigkeit ein. Die Konjunktive, die das Motto des Zyklus bestimmen (jede Zeile setzt konjunktivisch ein), verweisen dabei darauf, daß es Grund zu großer Klage gibt (ohne daß geklagt wird), wie, daß noch auf andere Entwicklung gehofft werden kann. Sie wird erwartet und soll mit den Texten provoziert werden. Die Elegie bekommt bei Brecht transitorischen Charakter.
[xxiv] Schiller schreibt: ”Entweder ist die Natur und das Ideal ein Gegenstand der Trauer, wenn jene als verloren, dieses als unerreicht dargestellt wird.” (Schiller, S. 317) Brecht nun stellt in diesen Texten Natur (die Wolga inBei der Lektüre eines sowjetischen Buches) und Ideal als erst zu erreichendes dar. Die Klage, daß das zu Erreichende ferner und gefährdeter ist als vorher angenommen, läßt nicht entsagen, sondern neue Haltungen suchen.
[xxv] Ich teile hier Thieles Auffassung, der vor allem das Motiv ”Zeit” als bestimmend für den Text ansieht und das Motiv der Sintflut mit Revolution in Zusammenhang bringt. Die Sintflut vernichtet in der Bibel eine alte, verderbte Welt und mit ihrem Abflauen beginnt ein neues Zeitalter (vgl. Thiele, S. 90 und S. 91f.). Gegen Thiele aber meine ich, daß Brecht darauf referiert,nichtlänger als die Sintflut dauern zu können. Er wird nicht erleben, was ihr folgt. Ihr Abflauen ist ein Prozeß, kein plötzlicher Wechsel, Brecht fühlt sich am Beginn dieses Prozesses. Es ist, denke ich, auch Trost, den Brecht hier beim Lesen des Horaz findet.
[xxvi] Diese Wandlung der Gewißheit in Hoffnung (Utopie), wird ein Merkmal für große Teile der DDR-Literatur bleiben.
[xxvii] Knopf: ”Das lyrische Ich ist kein isoliertes elegisches Ich der Gattungstradition; es wertet diese vielmehr... um. Die Elegien erfassen nicht subjektive Gestimmtheiten, sie suchen nach der allgemeinen Lage, scheuen aber auch vereinzelten Aktionismus.” (Knopf 1986a, S. 37)
[xxviii] Verbindendes Element beider ist formal das Distichon (an das Brechts Texte zuweilen erinnern), auf inhaltlicher Seite die Reflexion (ausgehend von einem Ich) (vgl. Thiele, S. 45, S. 115). Thema der Reflexion ist, was Brecht in seinem Brief an Ulbricht gefordert hat, die Bilanz des Erreichten und Nicht-Erreichten im Spannungsfeld von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
[xxix] Brecht hat zu Lebzeiten nur 6 der Texte veröffentlicht,Der Blumengartenleitet diese Veröffentlichung ein.
[xxx] Jürgen Link hat seine Brecht Interpretation auf einer am Emblem orientierten Symboltheorie aufgebaut. Das führte m.E. zu recht problematischen Ergebnissen, die Knopf dargestellt hat (vgl. Knopf, 1986a, S. 194ff.) Es gibt bei Brecht keinen festlegbaren Sinnkanon und keinen privilegierten Leser (dies durch ”automatisierte Kollektivsymbole”, wie Link es versucht, einfach zu ersetzen ist kraß unhistorisch). (Die Problematik der Interpretation Links - alles, jedes Wort als verschlüsseltes Symbol zu begreifen - entsteht m.E. aus einer irrigen Annahme über Brechts Intentionen. Dahinter steht die lange Zeit verbreitete Annahme, Brecht habe nicht offen sprechen können und deshalb seine ”wahren Ansichten” kompliziert versteckt.) Dennoch macht der Vergleich mit emblematischer Struktur - heuristisch angewendet, behutsam - m.E. Sinn, gerade weil dieser Kanon zerbrochen werden soll, aber dennoch Sinnsuche organisiert. Die Texte sollen auf höchst Bedeutsames verweisen und ihre Schlichtheit soll diese Bedeutsamkeit hervorheben. Es ist m.E. nicht zu leugnen, daß einige Texte an die emblematische Dreiteilung von inscriptio, pictura und subscriptio mindestens erinnern. (In BrechtsKriegsfibelist diese Struktur sogar unverkennbar. Auch hier aber wird die Pictura nicht auf die Bedeutung hin konstruiert, sondern Wirklichkeit - bzw. Fotos - auf mögliche Bedeutungen befragt, ausgedeutet.) Die Texte gehen über die Struktur des Epigramms in seinem Zusammenhang von ”Gegenstand und Deutung” (Schwarz) schon insoweit hinaus, als der Titel an prominenter Stelle einbezogen werden muß. Zugleich werden durch den Vergleich Besonderheiten des Brechtschen Vorgehens deutlich. Das ändert nichts daran, daß viele Texte des Zyklus, wie Schwarz es tut, als ”epigrammatische Kurzgedichte” bezeichnet werden können. Schwarz schreibt: ”Damit weist das Gedicht [Der Radwechsel- AT] sehr deutlich eine epigrammatische Struktur auf, die traditionsgemäß durch ‘jenes Doppelverhältnis von <Gegenstand> und <Deutung>‘ geprägt ist und deren ästhetische Wirksamkeit man in den Qualitäten der Kürze (brevitas), Anmut (elegantia) und Scharfsinn (acumen) ausgedrückt fand.” (Schwarz, S. 122f.) Charakteristisch für viele Texte ist ihre Mittelachsenstruktur:Der Radwechsel; Große Zeit, vertan; Böser Morgen, Gewohnheiten, noch immer; Der Rauch. Diese Gedichte sind deutlich dreigeteilt, sie setzen meist ein mit einer Beschreibung (oder einer Feststellung), es folgt eine Frage oder eine Behauptung und im dritten Teil eine Schlußfolgerung (im Eingangstext ist diese Schlußfolgerung charakteristischerweise eine Frage). - Kersten macht auf Lessings Bemerkungen zum Epigramm (Sinngedicht) aufmerksam (in: Text und Kritik, S. 66), das sich dadurch auszeichne, daß es Erwartung wecke und Aufschluß gebe. Dies ist auch bei Brecht der Fall, wobei Aufschluß nicht geliefert, sondern durch den Leser geleistet werden muß und die Lektüre nicht im Aufschließen enden soll, sondern Erkenntnisse, letztlich Handlungen des Lesers provozieren will. Brecht will auf den Wind, der im Motto des Zyklus als fehlend beklagt wird, nicht nur warten, sondern zu seinem Aufkommen beitragen.
[xxxi] Die Ironie steht zugleich im Gegensatz zur Elegie - Ironie und Elegie vertragen sich nicht. Brecht klagt nicht über KuBas Funktionärshaltung (KuBaläßtFlugblätter verteilen, tut es nicht selbst, wie Tradition in der Arbeiterbewegung), er macht ihn und sie lächerlich. - Die Erwähnung der Stalinallee mag hier tatsächlich, wie einige Interpreten meinen (Knopf, Fuhrmann), auf über KuBa hinausgehendes Verhalten von Funktionären (Politikern) verweisen, wie es Brecht imTurandot-Stück, das er gleichzeitig mit denBuckower Elegienneu bearbeitet, an Hitler vorgeführt hat. Dennoch ist Skepsis angebracht: Die Parallelisierung der Denkfigur sollte nicht als eine von Brecht beabsichtigte Parallelisierung von Stalin (oder Stalinismus) und Hitler angesehen werden, für die es bei Brecht keinerlei sonstige Belege gibt, im Gegenteil. Dennoch verweist die Brauchbarkeit der Denkfigur für beide darauf, daß solche Parallelen tatsächlich existieren (in dieser Richtung läßt sich die Interpretation Thieles lesen (Thiele, S. 76f.)). Wichtig dagegen ist, daß hier die Stalinallee als Ort des Aufstandes in diesem Zusammenhang (Funktionärsverhalten) erscheint. Dadurch wird angedeutet, daß der Aufstand und Stalinismus möglicherweise in einer Relation stehen.
[xxxii] Das äußerst kunstvoll gebaute Gedicht verweist zugleich in seinem Bau selbst darauf, es stellt dieses Angenehme aus durch seine vielfältigen Assonanzen, das ”raffinierte Geflecht von a-, i- und o-Tönen, verbunden mit (an Konsonanten gebundenen) Alliterationen...” (Knopf 1986a, S. 44) Darüber hinaus verweist der Titel auf den ”Garten der Poesie”, noch deutlicher in Verbindung mit dem Wort ”angenehm” (‘prodesse et delectare’) (vgl. Thiele, S. 105). Dennoch geht das Gedicht auch darin nicht ”allegorisch” auf: Brecht ist nicht nur die Poesie, sondern eine bestimmte Haltung wichtig, Weisheit, und diese als Verbindung von Natur, Arbeit und Vergnügen. Auch dies aber nicht allegorisch festgefügt, da die Weisheit mit Veränderlichkeit gekoppelt ist.
[xxxiii] Auch setzt der hier dargestellte Garten ein bestimmtes Klima voraus, einen Garten in Kalifornien mußte Brecht anders beschreiben (vgl. Garden in progress- auch das gesellschaftliche Klima ist ein anderes).
[xxxiv] InAn die Nachgeborenen(1938):Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt.In diesen Zeiten sah Brecht dieNaturohne Geduld.
[xxxv] Zum Beispiel: Das Gedicht ist nicht nur ein Lob der Weisheit, sondern auch eines der Arbeit, sie gerade verheißt, die Natur dem Menschen angenehm machen zu können. Weisheit ist hier untrennbar mit Arbeit verbunden. Darauf nimmt der TextBei der Lektüre eines sowjetischen Buches noch einmalBezug. Im Unterschied zu diesem Text aber ist Arbeit hier nicht an Nützlichkeit orientiert, sondern an Vergnügen - es ist kein Gemüsegarten, sondern ein Blumengarten.
[xxxvi] Dennoch wird dieses Stück nicht fertig, kann Brecht es nicht bewältigen. Einige Monate nach seinem Tod aber erscheint im Maiheft derNeuen Deutschen Literatur(1957) ein Stück mit dem TitelDer Lohndrückerdes Autors Heiner Müller (damals wird auch noch Inge Müller als Autorin genannt), in dem der Stoff anders angegangen und bewältigt wird.
[xxxvii]Wahrnehmung(1949)
Als ich wiederkehrte
War mein Haar noch nicht grau
Da war ich froh.
Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns
Vor uns liegen die Mühen der Ebenen.
[xxxviii] Die Reihenfolge der Texte - mit Ausnahme des Mottos - ist umstritten. Es kann aber davon ausgegangen werden, daß die Reihenfolge der ersten drei Texte -Der Radwechsel; Der Blumengarten; Die Lösung-Brechts Intention entspricht; alle Ausgaben verfahren so, wenn auchDer RadwechselundDie Lösungin den 6 von Brecht noch zu Lebzeiten publizierten Elegien nicht enthalten sind. Knopf z.B., der seine Anordnung auf Brechts Manuskriptmappen zurückführt, verfährt ebenso (obschon mir seine Zusammenstellung auch problematisch erscheint - es ist schwer einsehbar, daß Brecht den Zyklus mit dem TextLauteabgeschlossen haben sollte).
[xxxix] Knopf bemerkt hier eine weitere Verfremdung der abendländischen Lyriktradition, in der die Kontemplation eine bevorzugte Haltung sei (vgl. Knopf 1986a S. 40f.).
[xl] Den Interpretationsversuchen Links stand auch Heise ablehnend gegenüber. Ich hatte als Student in dem von Wolfgang Heise und Michael Franz 1980 veranstalteten Oberseminar ”Ästhetik des Gedichts” mich mit der Analyse desRadwechselsvon Link zu beschäftigen - die Absurdität dieser Interpretation wurde schnell sichtbar. - Unfreiwillig komisch dagegen wirken Interpretationsversuche, in denen der 17. Juni gar nicht zur Sprache kommt, wie zum Beispiel der Versuch Hugo Dittberners (in: Text und Kritik) (vor allem bei der Analyse vonBöser Morgen). Auf andere Weise die von Vollmar, in der nun alles in zuweilen obsessiver Weise (vgl. Vollmar S. 95ff.) nur auf den 17. Juni zugeschnitten wird. Diesen Interpretationen liegt u.a. vollständiger Mangel an Kenntnis über die DDR-Wirklichkeit zugrunde, der durch Vorurteile, die die Texte Brechts bestätigen sollen (bei Link mit bombastischem Theorieaufwand), überspielt wird.
[xli] Auch Thiele kommt mit diesem Text nicht zurecht (Thiele S. 101ff.). Hier macht es im übrigen einen Unterschied, ob der empirische Brecht oder der ”Text-Brecht” gesehen wird. Der empirische fuhr seine geliebten Autos selbst, der im Text wird gefahren - weil es wichtig ist für das Gedicht. Daß Brecht dem Fahrer nicht hilft, kennzeichnet eine soziale Beziehung, nicht eine moralisch verwerfliche Haltung, wie es das Gedicht Karsunkes unterstellt (s. Thiele, S. 103).
[xlii] Daß es sich bei dem Gefährt, das im Text nicht bezeichnet ist, um einen Bus handeln könnte (Vollmar, S. 94), halte ich bei der dargestellten Figurenkonstellation für wenig wahrscheinlich. Dann hätte Brecht, würde nicht nur naturalistisch wiedergegeben, auch über die anderen Fahrgäste geredet.
[xliii] Diese Tatsache wäre für mich das stärkste Argument dafür, diesen Text als den Eingangstext des Zyklus anzusehen, wie gleichzeitig dafür, den TextBei der Lektüre eines spätgriechischen Dichtersals sein (mindestens gedankliches) Ende. Dafür sprechen vor allem die drei Punkte, mit denen der Text endet. Auch die Troer also..., das ist die Antwort, die Brecht findet, zu finden vermag. In diesem Text zugleich ist als einzigem ein Moment von Elegie eindeutig identifizierbar: Die Totenklage ist bereits angestimmt, dennoch...
[xliv] Diese Frage provoziert besonders die Lyrik Brechts. Knopf beschreibt den Widerspruch: ”Derjenige, der sich für diese Verbindung [von Arbeit und Ruhe - AT] eingesetzt hat, hier gespiegelt im Rollen-Ich des sprechenden Elegikers, hat keinen Anteil, keinen realen Anteil an der Arbeit zum Weiterkommen, angesetzt verharrt er in Beobachtung, wo er mitwirken wollte und lieber im Prozeß selbst reflektierte.” (Knopf 1986a, S. 41) Diese Art Reflexion - charakteristisch auch für die elegische - wird negativ konnotiert, doch der Dichter ist zu ihr gezwungen.
[xlv] Siehe Mittenzwei 1987, S. 482.
[xlvi] Daß der 17. Juni für Brecht auch ein Problem der ”Geschwindigkeit” darstellt, macht schon sein Brief von diesem Tag an Walter Ulbricht, von dem nur der letzte, affirmative Satz veröffentlicht wurde, deutlich: ”Die große Aussprache mit den Massen über das Tempo des sozialistischen Aufbaus wird zu einer Sichtung und zu einer Sicherung der sozialistischen Errungenschaften führen.” (Brecht 1983 Bd. 2, S. 655) Es ist unsicher geworden, was überhaupt schon erreicht worden ist und wie schnell ”fortgefahren” werden kann. Die Unterbrechung der Fahrt ist auch nötig - sie kann nicht einfach fortgesetzt werden: Das Rad muß erst gewechselt sein.
[xlvii] Auch diese Verneinung hat noch einen doppelten Sinn: Zum einen glaubt Brecht nicht, daß mit einer neuen Führung - welche sollte es sein? - etwas gewonnen wäre. Zum anderen glaubt Brecht nicht an den Sinn von freien Wahlen in dieser Situation. Freie Wahlen, so steht zu befürchten, würde die Preisgabe des Versuches bedeuten, auf deutschem Boden Sozialismus möglich zu machen. Hier aber wird der Zwiespalt der Texte folgenreich: Wenn es richtig ist, daß mit dem 17. Juni die sozialistische Perspektive überhaupt zur Disposition steht, auf welcher Grundlage kann dann weiterhin von der Notwendigkeit diktatorischer Formen ausgegangen werden? - Dieses Problem stellen die Texte, es soll hier nicht Brecht angelastet werden. Für Brecht haben auch dieBuckower Elegienzum Resultat, daß es zu einer sozialistischen Entwicklung keine Alternative gibt und das weiterhin, so sehr die Gewißheit geschwunden scheint, Hoffnung auf ihre Möglichkeit zu setzen ist.
[xlviii] Auch die Lösung Roman Jakobsons, die Jauß erörtert, die Umwendung vomWasauf dasWie, auf die Selbstreferentialität des Textes durch die Veränderung der Fragerichtung, würde Brecht ablehnen. Es träfe den Text nur insofern, als er eben durch die Antwortlosigkeit danach zu fragen provoziert, warum hier nicht geantwortet wird - relativ unabhängig vom Inhalt der Fragestellung. Es trifft viel eher zu, was Jauß anhand der Ergänzung der Formel Jakobsons durch Ricoeur zusammenfaßt: ”Das besagt für die poetische Funktion von Frage und Antwort, daß lyrisches Fragen nicht im Antwortlosen endigen muß, sondern durchaus auch eine bestimmte Antwort durch die Umwendung vomWasauf dasWieim Ausdruck steigern und wieder ins Offene stellen kann.” (Jauß, S. 429) Das geschieht hier, nur mit dem Unterschied, daß der sozialistische Dichter Brecht die Antwort lieber gäbe, statt sie ins Offene zu stellen. Daran schließt sich eine theoretische Frage, die hier nicht behandelt werden kann: Ist die Steigerung desWasnur als Öffnung ins Unbestimmte denkbar; gibt es Differenzierungen innerhalb der Polarität von unzweideutig klarer oder unbestimmt offener Frage?
[xlix] Dafür spricht, daß Brecht in dem Text nicht von Aufruhr, Umsturz oder - wie später üblich - von konterrevolutionären Vorgängen spricht, sondern von einem Aufstand (dieses Wort ist positiv besetzt). Zugleich spricht er nicht gegen die Regierung, sondern gegen KuBa, dessen Vorschläge falsch sind. Daraus ist ersichtlich, daß die Konfrontation unvermeidlich war, daß beide Seiten je etwas Berechtigtes vertraten. Das gerade zwingt zum genauen Nachdenken, sonst werden ”Lösungen” fatal.
[l] ”Der ‘Neue Kurs’ nach 1953 brachte in der Wirtschaftspolitik neue Schwerpunkte, vor allem eine starke Aufwertung der Konsumgüterindustrie zuungunsten der Schwerindustrie. Bisher wurden ‘in der DDR hauptsächlich die Industriezweige gefördert, die nicht unmittelbar Konsumgüter produzierten’ (Angelika Trebeß: Gesellschaftliche Begründung für Industrieformgestaltung in der DDR von 1956 bis 1976, Diplomarbeit, eingereicht an der Humboldt-Universität zu Berlin, Juli 1981, S. 9). Hier fand eine Verlagerung statt, die anfangs ins andere Extrem umschlug, die Schwerindustrie stark beeinträchtigte.” (Trebeß, Achim: Die Formgestaltung im Neuen Deutschland, Manuskript (1981), S. 5) Eine der dem Juni unmittelbar folgenden Losungen, die auch Brecht, verständlicherweise, unterstützt, lautet: ”Dem Volke mehr und bessere Konsumgüter” (zit. n. ebd.). Im ”Jahr der großen Initiative”, 1954, wurde darauf orientiert, für eine Milliarde Mark zusätzliche zum Plan Konsumgüter zu produzieren. In dieser Zeit entstand auch eine der einflußreichsten Losungen in der DDR: ”So wie wir heute arbeiten, wird morgen unser Leben sein” (zit. n. ebd.) (später kürzer und eingängiger: Wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben). Im Zuge dieser Neuorientierung wurde auch der Formalismusdiskussion ihre Schärfe zeitweilig genommen. Durch Bemühungen Brechts u.a. gelang es bspw. die Kunstkommission aufzulösen und ein Kulturministerium einzurichten, dessen Minister Becher wurde. In Künstlerkreisen wurde von ”Liberalisierung” geredet (vgl. ebd.). Durch diese Orientierung auf Produktion von Massengütern und durch das Nachlassen des Formalismuskriteriums, öffneten sich neue Möglichkeiten für künstlerische Gestaltungen auf diesem Sektor, Formgestaltung wird wichtig. Dies aber auch eine Reaktion auf Entwicklungen in westlichen Ländern. Zunehmend wird deutlich, daß viele Maßstäbe aus dem Westen gewonnen werden, gegen den ununterbrochen polemisiert wird. Zugleich wird nach dem 17. Juni versucht, bürokratisches Verhalten im Umgang mit den Arbeitern abzubauen, die Rechte der Gewerkschaften zu stärken usw. Dies aber hat keine strukturellen Konsequenzen hinsichtlich des politischen Systems. Auch Brecht klagt solche Konsequenzen meines Wissens nicht ein.
[li] Knopf nimmt in seine Zusammenstellung der Elegien u.a. noch den TextLebensmittel zum Zweckauf. Er stellt sich einem ähnlichen Problem, hier aber wird das Volk mit Verachtung beschrieben (die Metapher des Metzgers und des Schlachtviehs ist eindeutig besetzt bei Brecht). Das dürfte der Grund sein, aus dem Brecht diesen Text nicht mit anderen Elegien veröffentlicht hat (in der Aufbau-Werkausgabe ist der Text nicht enthalten, er wurde erst 1980 entdeckt; Lyon führt ihn in seiner Chronologie mit der auch für die anderen Elegien verwendeten Entstehungszeit 1953 an). Die Haltung des Textes ist m.E. nicht typisch für Brecht, in ihm wird der Widerspruch vonGroße Zeit, vertaneliminiert. Ich verzichte deswegen auf eine Interpretation, möchte den Text aber an dieser Stelle wiedergeben:
Lebensmittel zum Zweck
An Kanonen gelehnt
Teilen die Söhne Mac Carthys Schmalz aus.
Und in unendbarem Zug, auf Rädern, zu Fuß
Eine Völkerwanderung aus dem innersten Sachsen.
Wenn das Kalb vernachlässigt ist
Drängt es zu jeder schmeichelnden Hand, auch
Der Hand seines Metzgers.
Das Stück ist aber insoweit interessant, als es der einzige Text aus dem Umkreis der Elegien ist, in dem das Volk sich tatsächlich in Bewegung befindet (der Text stellt ein Gegenstück zumMottodar - auch hier wird jede Möglichkeit -auf Rädern, zu Fuß- genutzt, um ”vorwärtszukommen”). Er ist interessant darüber hinaus, weil nach dem Juni 1953 die DDR-Regierung versucht, genau diese Haltung einzunehmen: das Volk zu gewinnen, indem es abgespeist wird.
[lii] Noch mehr als zwanzig Jahre später, darauf werde ich eingehen, wird Christa Wolf inNachdenken über Christa T.ähnlich lakonisch formulieren: ”Unter den Tauschangeboten ist keines, nach dem auch nur den Kopf zu drehen sich lohnen würde” (CT, S. 53). Diese Negation ist eine der wesentlichsten identitätsstiftenden Momente unter Teilen der linken Intelligenz in der DDR. Sie ist eine Scheidelinie.
[liii] Auf die Vorlage des Textes und die Veränderungen, die Brecht vornimmt, geht Knopf ein (Knopf 1986a, S. 105ff.). Vorlage ist das BuchEin Strom wird zum Meervon Wassili Galaktionow und Anatoli Agranowski.
[liv] Brecht - der der Texte - ist also weder in die westlichen Städte noch an die Wolga gefahren. Schwarz meint, daß Brechts TextGroße Zeit, vertan”dem demokratischen Wiederaufbau im Westen Deutschlands keine Rechnung” trägt” (Schwarz, S. 105). Das ist richtig, sollte aber den kalten Krieg nicht vergessen lassen. Brecht - der empirische - ist in den Westen gegangen, hat sich der Diskussion gestellt und ist energisch für die deutsche Einheit und gegen Wiederbewaffnung und Kriegsvorbereitung eingetreten. Ihm wurde mit Haß begegnet. Mittenzwei beschreibt das in seinem Buch (Mittenzwei 1987, bes. S. 564 - 584). Das, was hier die BILD-Zeitung am 20. August 1961 gewohnt drastisch ausdrückt, ist die Haltung, die auch zu Aufführungsboykotten Brechts im Westen Deutschlands geführt hat: ”Millionen verfluchen diesen Namen [Brecht - AT] seit dem 17. Juni - und seit dem 13. August verursacht er uns Übelkeit” (zit nach Hohnhäuser, in: Text und Kritik, S. 193). Es sei die Bemerkung des damaligen Außenministers, Heinrich Brentano, erinnert, der sagte: ”Aber ich bin wohl der Meinung, daß die späte Lyrik des Herrn Brecht nur mit der Horst Wessels zu vergleichen ist.” (zit. n. ebd, S. 195)
[lv] Der Text gibt keine eindeutigen Hinweise. Schwarz geht davon aus, daß es sich ausschließlich um die westlichen Städte handelt, Knopf, Fuhrmann und Thiele meinen, nur östliche Städte seien gemeint. Ich denke, daß Brecht durchaus beide Lesarten provozieren wollte (Statistik verweist sowohl auf Profit wie auf Abrechnungsmentalität - vertane Zeit darauf, daß Chancen nicht genutzt, bzw. gar nicht erst in Anspruch genommen wurden; für westliche Städte spricht auch, daß deren Existenz hier den Bauarbeitern, die auf die Straße gingen, entgegengehalten wird: Sie bauen bereits an anderen Städten - so man sie läßt). Gerade dadurch wird der Text spannend: In der einen Lesart - westliche Städte - wendet er sich an das Volk, in der anderen - DDR-Städte (Stalinstadt, später Eisenhüttenstadt) - an die Regierung (bzw. die für Bauwesen verantwortlichen). Das entspräche der Haltung Brechts in den Elegien, daß beide Seiten zum Nachdenken aufgefordert werden müssen, macht zugleich den Widerspruch deutlich, in dem sich Brecht bewegt: unterstellt wird Weisheit des Volkes, unterstellt wird die Position der Regierung (bzw. der Partei) als Avantgarde - die Notwendigkeit der Belehrung durch Brecht dementiert dies zugleich. Brecht muß das Volk auf seine Weisheit hinweisen (es über sie aufklären), die Regierung auf das, was sie eigentlich wissen müßte. Gewiß jedoch ist, daß diese Städte, wo sie auch liegen, nicht das Ziel der Reise sein können. Dort würde Brecht nicht hinfahren, schon gar nicht mit Ungeduld. - Eindeutig wird die von Brecht konstatierte Zwiespältigkeit des Volkes in ihrem Verhältnis zum Westen, wenn man den TextLebensmittel zum Zweckeinbezieht (s. Anmerkung 52). Hier ist gar keine Weisheit (das macht den Text indieserHinsicht untypisch für Brecht).
[lvi] Der ebenfalls im Text präsente Gegensatz von weiblich-männlich bleibt ohne inhaltliche Relevanz.
[lvii] Auch dieses Resultat seiner Überlegungen spricht Brecht noch 1953 in anderer Form aus. So in einem Vortrag vor der Akademie: ”Wir haben, um es plump auszudrücken, weniger Neues, mehr Altes. Große Teile der Bevölkerung sind noch tief in kapitalistischen Vorstellungen befangen. Bei der Zertrümmerung dieser Vorstellungen muß auch die Kunst mithelfen. Wir haben allzufrüh der unmittelbaren Vergangenheit den Rücken zugekehrt, begierig, uns der Zukunft zuzuwenden. Die Zukunft wird aber abhängen von der Erledigung der Vergangenheit.” (zit. n. Schwarz, S. 116)
[lviii] Verstärkt noch dadurch, ist die Pointe des Gedichtes erst einmal offenbar, daß das Holzsammeln im Sommer noch ein anderes Motiv möglich macht: das des Brandstiftens (vgl. dazu Knopf und Fuhrmann) (Reichstag, Columbushaus; s. Anmerkung 73). Wofür wird hier Holz gesammelt?
[lix] Am 25.7.45 listet Brecht imArbeitsjournalMeinungen auf, die er ”eher nicht” teilt. Darunter befindet sich die folgende: ”daß der faschismus nicht diskreditiert ist und man hier nicht weiß, daß die deutsche bourgeoisie ihr debakel ihm zu verdanken hat.” (Brecht 1977a, S. 405) Das bezieht sich auf Amerika, wird aber wohl von Brecht auch für Deutschland angenommen. Diese Annahme revidieren dieBuckower Elegien.
[lx] Besonders deutlich durch das isoliert stehendeDie Hand hoch. Das kann auch als Befehl gelesen werden.
[lxi] Daß Brecht im Mittelstand die Gefahr eines Wiedererstarkens des Faschismus und den ”eigenen Westen” in der DDR sah, macht sein Brief an Paul Wandel vom August 1953 deutlich (vgl. Anmerkung 82). Die Arbeiter hält Brecht aus dieser Einschätzung heraus.
[lxii] Von diesem Rauch allerdings redet Brecht wenig - die Judenvernichtung und die Frage nach ihren Gründen beschäftigt ihn nicht vorrangig. So auch kann es kommen, daß Brecht, dem zu Zeiten ein Gedicht über Bäume ein Verbrechen bedeutete (und der mit Adorno im Exil - problematischen - Kontakt hatte), diesen Rauch möglicherweise nicht bedenkt, seinen Text schreibend. Wichtig dagegen ist für Brecht der Rauch der Trümmer seines zerstörten Landes, so in dem TextDie Rückkehr. Darin folgt der Heimkehrer Brecht den Flugzeugschwärmen, die die Heimat bombardieren. Ihm ist klar, daß er nicht nur willkommen geheißen wird. Bezogen auf den 17. Juni erinnert ihn die ”Rauchwolke des Columbushauses” an die ”Rauchwolke des Reichstagsgebäudes” (n. Schuhmann 1977, S. 112). (Daß das Rauch-Motiv in anderen Texten Brechts Konnotationen hat, die auf Nihilismus bzw. Vergänglichkeit verweisen - vgl. Knopf 1986a, S. 195 - spielt hier m.E. keine Rolle. Interessant vielleicht, daß es in anderen Texten auch für kapitalistische Arbeit im Faschismus steht:Aus den Schloten der Munitionsfabriken / Steigt Rauch(zit. n. Kersten, in: Text und Kritik, S. 68) Im Kontrast dazu wird klarer, warum Brecht im Text derElegienHaus, See und Bäume so eindringlich vor Augen führt. Wichtig ist, woheraus der Rauch steigt.)
[lxiii] Daß es nureinFlugzeug ist, zudem eines das ”Bomber” genannt wird, scheint mir darauf zu verweisen.
[lxiv] Nicht mit gleicher Haltung, aber doch als Alptraum ist der 17. Juni auch von der Parteiführung verarbeitet worden - ein Trauma. Noch im Sommer 1989 (am 31. August) wird Stasichef Mielke, in verworrener, senil-gefährlicher Rede, seine Mitarbeiter fragen: ”Ist es so, daß morgen der 17. Juni ausbricht?” (zit. n. Mitter, S. 125) - Brecht gelang es offenbar tatsächlich, das Trauma mit Hilfe der Elegien zu verarbeiten, produktiv zu machen. Das war sein Vorschlag.
[lxv] Aber auch dort, trotz großer Erfolge, nicht stattfindet. Brecht notiert am 4.3.1953: ”unsere aufführungen in berlin haben fast kein echo mehr. in der presse erscheinen kritiken monate nach der erstaufführung, und es steht nichts drin... das publikum ist das kleinbürgerpublikum der volksbühne, arbeiter machen da kaum 7 prozent aus.” Brecht muß in die Zukunft ausweichen: ”die bemühungen sind nur dann nicht ganz sinnlos, wenn die spielweise späterhin aufgenommen werden kann, dh wenn ihr lehrwert einmal realisiert wird. (das gilt, obwohl wir alles tun, für jetzt, für die theaterabende, für das publikum von jetzt unser bestes zu liefern.)” (Brecht 1977a, S. 514f.)
[lxvi] Schwarz meint: ”Denn wann sonst wären Arbeiterfinger ‘gebrochen’ worden (und nicht nur das!) als beim blutig unterdrückten Aufstand der ostdeutschen Arbeiter am 17. Juni 1953?” (Schwarz, S. 119) Ich denke, daß Brecht sich hier darauf bezieht, daß die ”Klasse” durch den Faschismus gebrochen wurde. Im Umkreis des 17. Juni finden sich viele Äußerungen Brechts, die ihren depravierten Zustand hervorheben. Daß der Aufstand niedergeschlagen wurde, ist nichts, was Brecht beklagt ((vgl. Brecht 1968 Bd. 2, S. 225f.)). Seine Argumentation zielt vor allem darauf, nun die Konsequenzen zu ziehen, notwendige Veränderungen einzuleiten, das Gespräch mit den Arbeitern zu eröffnen. Gespräch deswegen, weil beide Seiten, die in den Texten konfrontiert werden, Arbeiter und Regierung, in ihm zu lernen hätten, keiner es ohne den anderen und ohne das Gespräch mit ihm vermag.
[lxvii] Es ist nicht, wie Schwarz in seiner Interpretation meint, der Brief an Ulbricht oder der am 23. Juni imNeuen Deutschlandveröffentlichte, der über dieses Unwissen Aufschluß gibt, sondern der - von Schwarz noch nicht gekannte - an Paul Wandel (vgl. Anmerkung 82).
[lxviii] Darauf verweist das Wort ”aussätzig”. So hat Brecht etwa zur gleichen Zeit auch Stalin bezeichnet:
ALS DER HELFER erschien, war er
Aussätzig. Aber der Aussätzige half doch.(zit. n. Knopf 1986a, S. 106)
[lxix] Auf der Ebene von Führern, die als Beispiel hingestellt werden, handelt der Text: Cäsar, Lenin. Der eine im Plural - Cäsaren -, wie er waren alle vergangenen Führer, der andere im Singular, einzigartig. Genau umgekehrt ist jedoch der Satz der Cäsaren hierarchisch von oben an das Volk gerichtet, während Lenin durch das ”wir” in es einbegriffen ist (bzw. sich selbst in es hineinstellt), auch in die Niederlage, die nicht nur seine wäre, sondern die des Volkes. Das macht die Anrede ”Freunde”, ”Brüder” legitim und angemessen. Brecht spricht als einer, der zum ”wir” gehört, und so nicht nur entgegenzunehmen hat. Darin liegt aber für die anderen, jene über ihm, die Verpflichtung zu hören. Tun sie es nicht, das die Warnung des Gedichtes, die auch den Titel bestimmt, zerbricht das ”wir”. Das Gedicht gewinnt seine Notwendigkeit daraus, daß die Freunde es gerade nicht Lenin gleichtun, sondern sich verhalten wie die Cäsaren. Hier wird das ”müde fliehend” bedeutsam: Eine Schlacht ist verloren worden, wirklich verloren aber hätten ”wir” erst, wenn dieses Eingeständnis müde geflohen und nicht die Kraft gefunden wird, aus der Niederlage Schlußfolgerungen zu ziehen. Wahrheit wird in dieser Situation zum eigentlichen ”Lebensmittel”, sie stünde den Cäsaren gerade nicht zur Verfügung, sie wäre aber, was das Volk mit seinen Führern erst wirklich einigen könnte. (Hieraus ist geschlossen worden - vgl. Vollmar -, daß sich Brecht gegen den oben geschilderten faulen Kompromiß des ”Neuen Kurses” wendet. Dies möge der Fall sein, zu beachten aber ist, daß Brecht andererseits höhere Produktivität und höhere Normen für erforderlich hielt. Die Wahrheit auszusprechen, daß gearbeitet werden muß, obwohl morgen nochkeinMehl kommt, scheint mir Brecht näher zu sein.)
[lxx] Brecht legt in diesem Brief dar, daß er den Text nicht veröffentlichen möchte (es geht ihm offenbar darum, daß die ”Freunde” selbst zu reden anfangen). Brecht schreibt weiter: ”Die Wahrheit, die wir unserer Arbeiterschaft sagen sollten, ist meiner Meinung nach: daß sie in tödlicher Gefahr ist, von einem neu erstarkenden Faschismus in einen neuen Krieg geworfen zu werden; daß sie alles tun muß, die kleinbürgerlichen Schichten unter ihre Führung zu bringen. (Wir haben unsern eigenen Westen bei uns!)” (Brecht 1983 Bd. 2, S. 662) Die geforderte Aufarbeitung des Faschismus als inneres Problem der DDR erfolgte nicht, ebensowenig die im Brief an Ulbricht geforderte Revision des Erreichten.
[lxxi] So sieht es Brecht (bereits in den späten dreißiger Jahren): ”Es müssen jene Diktaturen unterstützt und ertragen werden, welche gegen diese Zustände der ökonomischen Art vorgehen. Das sind nämlich Diktaturen, welche ihre eigene Wurzel ausreißen.” (Über die Diktaturen einzelner Menschen, in: Brecht 1968 Bd. I, S. 155)
[lxxii] Vollmar beschreibt dies in bedenkenswerter Weise folgendermaßen: ”Die DDR war in den fünfziger Jahren ein Land im Umbruch, das den Sprung nach vorn in die sozialistische Wirklichkeit nicht wagte. Brecht handelte aus der DDR-Sicht ‘linksradikal’, wenn er in der Literatur konsequent sozialistisch arbeitet. Darauf zu reagieren, hatten die offiziellen Stellen kein Vorbild.” (Vollmar, S. 26)
[lxxiii] Es ist Spekulation, aber es könnte unterstellt werden, daß dies auch in dem Gedicht eine Rolle spielt, dasEisenübertitelt ist und in dem ein anderer, erträumter Sturm den ”eisernen” (Bauschragen) abwärtsreißt. Überdauern konnte diesen Sturm nur, was aus Holz war, flexibel, nicht starr. Diese flexible Haltung könnte auch dem Autor ersparen, vom Sturm fortgerissen zu werden. Eine sehr ambivalente Überlegung, aber sie ließe sich auch auf denBlumengartenbeziehen und auf das Motto des Zyklus: FürdiesenSturm, erhofft im Gegensatz zu dem vom 17. Juni, geht noch kein Wind. (Jan Knopf hat eine ähnliche Interpretation dieses Textes versucht, er stützt sich darauf, daß in den Typoskripten des Textes das ”eiserne” groß geschrieben sei:Den Bauschragen riß er / Den Eisernen, abwärts.vgl. Knopf 1986a S. 73ff., S. 124 und S. 18) - In diesem Text taucht - vielleicht erstmals - eine Metapher auf, die in der DDR-Literatur als Metapher für die DDR noch Karriere machen wird: der Bau.
[lxxiv] Es ist vielleicht nicht nur Marx, sondern auch die Liebe zu Margarete Steffin, einer von unten, die das Proletariat idealisieren läßt (aus dem Brecht nicht stammt), in ihr gibt es es wirklich, mit seiner (ihrer) Weisheit. Sie zugleich hat den Wert der Dichtung Brechts für das Proletariat erkannt (vgl. Brechts GedichtDie gute Genossin M.S.).
[lxxv] Eine knappe und äußerst präzise Darstellung der Haltung Brechts zum Formalismusthema und zur Formalismusdiskussion in der DDR gibt Mittenzwei (Mittenzwei 1987, S. 372 - 482). Mittenzwei legt unter anderem dar, daß sich die Haltung des Publikums durch die Formalismusdiskussion verändert hatte. Das ”Gespräch” auch hier erschwert, Brecht war mit wachsender Ablehnung konfrontiert.
Ebenso stellt Mittenzwei sehr minutiös das Verhalten Brechts am und um den 17. Juni herum dar. Dieses Kapitel des Buches von Mittenzwei (S. 482 - 510) ist für diesen Abschnitt der Arbeit vorausgesetzt.
[lxxvi] Brecht selbst hat auf die Mitarbeit Theo Ottos, den er sehr schätzte, verzichtet, da er ins Kreuzfeuer der Kritik geriet und demBerliner Ensembleso ”schaden” konnte (vgl. Mittenzwei 1987, S. 454 f.).
[lxxvii] Dieses Gedicht sei hier wiedergegeben, weil es eine ganz andere Haltung Brechts zeigt, diese ist für ihn eher charakteristisch als die in denMusenfestzustellende. Der Text wurde am 11. Juli 1953 in derBerliner Zeitungveröffentlicht:
Nicht feststellbare Fehler der Kunstkommission
Geladen zu einer Sitzung der Akademie der Künste
Zollten die höchsten Beamten der Kunstkommission
Dem schönen Brauch, sich einiger Fehler zu zeihen
Ihren Tribut und murmelten, auch sie
Zeihten sich einiger Fehler. Befragt
Welcher Fehler, freilich konnten sie sich
An bestimmte Fehler durchaus nicht erinnern. Alles, was
Ihnen das Gremium vorwarf, war
Gerade nicht ein Fehler gewesen, denn unterdrückt
Hatte die Kunstkommission nur Wertloses, eigentlich auch
Dies nicht unterdrückt, sondern nur nicht gefördert.
Trotz eifrigsten Nachdenkens
Konnten sie sich nicht bestimmter Fehler erinnern, jedoch
Bestanden sie heftig darauf
Fehler gemacht zu haben - wie es der Brauch ist.
Besonders interessant die letzte Wendung: Hier wird der ”Brauch” - vielleicht unfreiwillig - doppelsinnig. Ist es anfangs der Brauch, sich Fehler zu zeihen, so am Schluß auch der, sie zu machen. Dadurch ist der Text kein geschlossener Kreis, so sehr er das Sich-im-Kreise-drehen beschreibt.
[lxxviii] Er scheint auch unmittelbarer Wut zu entspringen, der Wut, daß direkt nach dem 17. Juni nicht die große Aussprache beginnt, sondern Lobeshymnen gefordert und geschrieben werden.
[lxxix] Technik, Modernität ist - auch gegen die Tendenz zur Idylle - aufgerufen durch das Wort ”Faltboot”. Ein Industrieprodukt (in dem man allerdings paddelt, nicht rudert. Das aber würde den Gedichttitel ruinieren - vorausgesetzt, Brecht kannte den Unterschied. Der Titel braucht das langgezogene ‘u’).
[lxxx] Er hat allerdings den Zyklus der 17 Texte beschlossen, von dem Schuhmann in seiner Interpretation ausgeht (vgl. Schuhmann, S. 125) (er befindet sich auch - als letzter Text - unter den 6 von Brecht selbst noch veröffentlichten Elegien). Doch selbst wenn die von den Herausgebern der Aufbau-Werkausgabe vorgenommene Reihung der Texte nicht authentisch sein sollte, scheint es doch so, nimmt man die bisher analysierten Texte und ihre Befunde, daß Brechts Nachdenken im Sommer 1953 nur zu dem Schluß kommen kann, den dieses Gedicht (Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters) festhält. Für diese Position des Gedichtes in der Sammlung spricht auch, daß es, gemeinsam mit dem Motto des Zyklus (vgl. dazu den letzten Abschnitt des Textes), die Genrebezeichnung, wie Brecht sie verstanden haben will, transparent macht. Betrachtet man den ganzen Zyklus als Elegie, setzt er tatsächlich mit der Klage sofort ein: Da ist kein Wind. Der Zyklus endet - gewissermaßen folgerichtig - mit der klassischen Totenklage, die die Troer, ihrem Untergang entgegensehend, schon angestimmt haben. Aber sie klagen nicht nur, sondern in dieser Situation noch wird Hoffnung entfaltet und Tätigkeit. Mit diesem Ausblick kann der Zyklus enden, es ist - nebenRudern. GesprächeundBei der Lektüre eines sowjetischen Buches- der einzige Text, in dem ”Produktion” im Sinne Brechts (gerade noch) stattfindet. Das Motto zeigte, daß sie unmöglich ist, aber der Konjunktiv des Mottogedichtes ist am Schluß des Zyklus zum Indikativ geworden. Es ist dennoch kein geschlossener Kreis. Der letzte Text resümierte nach dem Gestus Brechts: In Erwägung, daß... (immer noch alte Gewohnheiten herrschen, der SS-Mann umgeht, die Arbeiter um ihre Interessen nicht wissen und die Partei nicht um ihre Aufgaben etc.), läßt sich doch festhalten, daß noch etwas getan werden kann (besser: getan werden muß). - Eine authentische Reihenfolge der Texte ist jedoch nicht überliefert (auch Knopf kann sie nicht mit Sicherheit behaupten) (vgl. Knopf 1986a, S. 123).
[lxxxi] Dennoch enthält der Titel des Gedichtes einen sehr versteckten und auch sehr widersprüchlichen Hinweis auf die Gegenwart. Das hat Theodore Fiedler aufgedeckt (vgl. Knopf 1986a S. 197 und 1986a S. 95ff.) Der ”spätgriechische Dichter” auf den Brecht sich hier bezieht, ist kein antiker Dichter, sondern ein griechischer Dichter des 19/20. Jahrhunderts: Konstantin Kavafis (1863 - 1933). Übersetzungen seiner Texte waren 1953 im Suhrkamp Verlag erschienen und ein Text dieser Ausgabe (Troer) enthält alle Motive des Brechtschen Gedichtes. Dieser Text jedoch endet mit der Totenklage, die Brecht voranstellt (vgl. dazu Anmerkung 105)
[lxxxii] Knopf weist darauf hin, daß dieser Text sich auf ein Gedicht Horaz’ bezieht, den Brecht 1953 in Buckow gelesen hat. Segel setzen steht hierbei für Bücher schreiben, Poesie verfassen (vgl. Knopf 1986a, S. 35). Knopf zeigt zugleich, daß mit diesem Motto schon die spezifisch Brechtsche Elegie vorgestellt wird: ”Wenn da Windstille herrscht, gibt es keine Schilderungen von Taten mehr, höchstens Klagegesänge, Elegien. / Aber, und dies zeichnet den Dichter Brecht aus, die Klage formuliert sich als Hoffnung, als Aufruf, daß es weitergehen möge.”(S. 36) Fuhrmann kann mit einer frühen Äußerung Brechts (1926) stützen, daß mit Wind gesellschaftliche Bewegung gemeint ist und daß Brecht nicht auf den Wind von morgen setzen will, sondern daß nur in dem des jeweiligen Heute gesegelt werden kann (Fuhrmann, S. 72f.). Den aber gibt es nicht. Die Konjunktive des Textes gerade können dennoch ausdrücken, daß etwas zwar gegenwärtig nicht da ist, aber erwartet wird. Der Dichter ist bereit, er wartet mit Ungeduld. Das Gedicht müßte zur ”echten” Elegie werden, fiele auch die Zukunft windstill aus.
[lxxxiii] Darauf verweist bereits der das Gedicht auszeichnende Widerspruch: ”Daß nicht gedichtet werden könnte [eigentlich: kann - AT], sagt das Gedicht dichterisch.” (Knopf 1986a, S. 37) Es sagt es aber zugleich noch mit den alten Mitteln, der traditionellen lyrischen Haltung, die überschritten werden soll, aber vorerst nicht überschritten werden kann: der der Kontemplation (vgl Knopf 1986a, S. 203). Auch sie eine Form des Schweigens, gegen die sich Brecht wehrt. Vollmar hat gezeigt, daß Brechts Technik, klassische Versmaße zu erinnern (Daktylos, Hexameter, Distichon, Blankvers), aber das Aufgehen in ihnen zu verweigern, gegen ”eine Haltung des passiven Abwartens” gerichtet ist (Vollmar, S. 86).
[lxxxiv] Im Dezember 1968 erscheint eine Teilauflage des BuchesNachdenken über Christa T., der Text aber liegt, bis auf das 19. Kapitel, das erst 1968 geschrieben wird, seit März 1967 vor (vgl. Drescher S. 25 ff.).
[lxxxv] 1953 - 1959: Schriftstellerverband; ZeitschriftNeue Deutsche Literatur, Arbeit im Verlag ”Neues Leben”.
[lxxxvi] Geschwister-Scholl-Preis der Stadt München, 1987.
[lxxxvii] Kritik an zweckrationaler Vernunft durchzieht von nun an das Werk Christa Wolfs, vor allem inKindheitsmuster, StörfallundKassandra.Das besondere Verhältnis Wolfs zur Moderne besteht darin, daß nie eindeutige Ablehnung ausgesprochen wird, auch hier dominiert das Nachdenken, am deutlichsten in den beiden gegenläufigen Tendenzen imStörfall- der Reaktorkatastrophe einerseits, der Gehirnoperation des Bruders andererseits. Auch hier wird einem Widerspruch nachgeforscht, nicht vereinseitigt, obwohl der Widerspruch durch die Autorin nicht gelöst werden kann. Daß Christa Wolf dieses Problem in dieser Weise schon zur Entstehungszeit vonChrista T.beschäftigt, belegt der EssayLesen und Schreiben: Einerseits: ”Die Prosa dagegen... Was soll sie denn diesen nüchternen, stracks vorwärtsschreitenden Leuten erzählen? // Der Prosaautor, der ‘raunende Beschwörer des Imperfekts’..., was sagt er seinen Zeitgenossen, die dabei sind, den stromlinienförmigen Menschen zu konstruieren, fähig, sich allen Anforderungen der Zivilisation anzupassen?” (Wolf 1968, S. 189) Andererseits: ”Andere sehen einen Ausweg in einem ‘Zurück zur Natur’, in einem romantischen Unsinn, der die Technik ächtet, die doch das einzige Mittel ist, die sprunghaft wachsende Menschheit zu ernähren und zu kleiden: eine naive Welt- und Lebenshaltung läßt sich nicht konservieren.” (S. 219) Verantwortung ist eines der wichtigsten Motive des Werks von Christa Wolf, sie zwingt in die Widersprüche, läßt nicht zu, sie zu vereinseitigen.
[lxxxviii] Ein Satz Anna Seghers’, der Christa Wolf, häufig zitiert, als ein Leitfaden bei ihrer Auseinandersetzung mit der romantischen Literatur, besonders der weiblichen, gilt, den Anna Seghers natürlich auf die Klassengesellschaften bezog, nicht auf die sozialistische. Es kann aber kein Zufall sein, daß hier das Wort ”Mauer” eine zentrale Position hat (kein Zufall wenigstens der Rezeption des Satzes durch Christa Wolf; inChrista T.,im Selbstmordbrief, taucht das Wort an entscheidender Stelle, mit identischer metaphorischer Verwendung, wieder auf), sowenig nur, aber vielleicht auch, das bedeutendste Stück sozialistischer Architektur damit gemeint sein wird.
[lxxxix] W. Bialik hat sich mit diesen Tendenzen auseinandergesetzt (vgl. Bialik, S. 87), alles notwendige Material zu dieser Art von Kritik findet sich in den Büchern von Ankum und Behn; Heinrich Böll beschreibt den deutsch-deutschen Standard an Christa Wolfs RomanKindheitsmuster: ”Ich habe den Eindruck, daß Christa WolfsKindheitsmusterin der DDR nicht sehr freundlich aufgenommen worden ist, weil sie - und gar nicht einmal sie, sondern ihre Heldin Nelly Jordan, ach wie kompliziert ist das mit Staaten und Autoren! - die flaggenhaft demonstrative Belobigung der dort herrschenden Gesellschaftsordnung, wenn nicht verweigert, so doch nicht deutlich genug gezeigt hat. Und hier, in der Bundesrepublik, hat man ihren Roman mit peinlicher Herablassung behandelt, wohl auch, weil sie - und eben wiederum nicht sie, sondern diese Nelly Jordan - die ausdrückliche, demonstrative, flaggenhaft gezeigt Ablehnung der anderen Gesellschaftsordnung verweigert.” (Böll, S. 93)
[xc] Diese Kritik ist im übrigen billig - das wird nicht nur Christa Wolfs Verhalten auf dem 11. Plenum des ZK der SED 1965 zeigen, sondern zeigt schon die kleine Tatsache, daß Christa Wolf heute von dieser Kritik einen Titel geerbt hat, der früher Anna Seghers zugedacht wurde: Staatsdichterin (Knipp, S. 355). Es war aber ebendiese Kritik, die ehemals versucht hatte, Christa Wolf und Anna Seghers in Gegensatz zu bringen, damals war Christa Wolf für diese Kritik noch das Gegenteil von dem, wofür man Anna Seghers hielt. Differenzierung schließt sich da von selbst aus. - Diese Kritik an Christa Wolf ist im Laufe der Jahre auch nicht origineller geworden. Wolf selbst schildert sie bereits in ihrem Diskussionsbeitrag auf dem 11. Plenum: ”Man hat zu mir gesagt [in Kiel, bei einer Diskussion - AT]: Wie stehen sie zur Gesellschaftskritik, zur Kritik in der Literatur? - Daraufhin habe ich geantwortet: Literatur ist ohne Kritik nicht denkbar. Aber was sie meinen ist etwas anderes, Sie meinen Kritik an den Grundlagen unserer Gesellschaft. - Ja. - Dann sagte ich: Dazu stehe ich negativ, absolut. - Warum? Dann können Sie keine gute Literatur machen, entgegnete man mir.” (Wolf 1991a, S. 338) Dasselbe gilt übrigens hinsichtlich der Einschätzung westdeutscher Schriftsteller durch die ostdeutsche Kritik, dem stellt sich Christa Wolf im erwähnten Diskussionsbeitrag - kritisch - wenige Sätze später.
[xci] Der ”Übergang vom Ich zum Wir”, in dieser Zeit propagiert (wobei die SED, ihre Führung, sich als Wir behauptet und als vorgeblich kollektives Entscheidungssubjekt setzt), und die damit einhergehende Rede von der ”sozialistischen Menschengemeinschaft” wird mitChrista T.zurückgenommen: Das Ich rückt in den Mittelpunkt - aber unter der Voraussetzung des Wir (eines Wir als Gemeinschaft von Individuen, Assoziation). Um es mit den Worten Lothar Kühnes zu formulieren: Es gilt das ptolemäische Weltsystem - aber unter der Voraussetzung des kopernikanischen. Diese Formulierung kennzeichnet zugleich die unlösbare Aufgabe, die man sich aufgeladen hatte (denn die Systeme sind nicht zu verbinden). Diese Unlösbarkeit weist auf die nach wie vor offenen Fragen, auf denen Christa Wolf besteht. Darauf werde ich in der Textinterpretation eingehen.
[xcii] Andererseits sind es gerade die Jahre 1963-1965 in denen von Künstlern nun die versprochenen und erhofften Konsequenzen des Mauerbaus eingefordert werden. Der Aufschwung der Literaturproduktion -Ole Bienkopp(Strittmatter),Der Bau(Müller) ,Spur der Steine(Neutsch), die sog. Lyrik-Bewegung, die ”Plenumsfilme” usw. - alles ging davon aus, daß nun endlich die dem Sozialismus tatsächlich eigenen Widersprüche sichtbar werden, und nun die Zeit sei, daran zu gehen sich mit ihnen auseinanderzusetzen und nicht mit irgendwelchen Gegnern.
[xciii] Nachdem nun viele ”Stasiverwicklungen” auch von bekannten DDR-Autoren offengelegt worden sind (Wolf, Müller, Reimann, Strittmatter, gar Heym), läßt sich für eine Reihe von ihnen so etwas wie eine Typik feststellen: Die Autoren verpflichteten sich zumeist in den fünfziger Jahren - im Wunsch, dieser deutschen Alternative uneingeschränkt zur Verfügung zu stehen, mit allen Hoffnungen auf eine wirkliche sozialistische Entwicklung -, sie führten Gespräche, die in wohl keinem Fall den Charakter von Denunziation oder Spitzelei hatten, und sie beendeten ihre Mitarbeit meist in den sechziger Jahren (Heiner Müller, der an allem Interessierte, was Erfahrung verspricht, Einsicht in das Getriebe der Geschichte, auch hier eine Ausnahme) - von da an werden die ehemaligen Mitarbeiter meist selbst zu Bespitzelten.
[xciv] Heinz-Dieter Weber hat für dieKindheitsmustergezeigt, daß die Schreibart von Christa Wolf ihr eigentümliche rhetorische Leerstellen ermöglicht, die Fragen des Lesers provozieren, in jenem Fall die nach dem Weiterwirken von Handlungsmustern, die Faschismus möglich gemacht haben (Weber, S. 44ff.). Mit ihnen wird über das Dargestellte hinausgewiesen, unterstützt durch die Fragestruktur vieler Texte Christa Wolfs.
[xcv] Daran kann auch 1965, dem Jahr des Bruches, noch festgehalten werden. Es ist das Jahr des Auschwitz-Prozesses, den Christa Wolf sehr genau verfolgt hat, und der die gravierenden Unterschiede in der Auseinandersetzung der beiden Teile Deutschlands mit dem Faschismus bestätigte. Es ging dort ihrer Meinung nach darum, in einem Kriminalprozeß, diese Dimension des Faschismus auszusparen. So sehr Christa Wolf später die Verdrängungen in der DDR, den Antifaschismus, soweit er künstlich und verordnet war, zu kritisieren in der Lage ist - ihr Buch ”Kindheitsmuster” wirkte äußerst störend -, blieb doch Einverständnis darin, daß der Zusammenhang von Faschismus und Kapitalismus grundsätzlicher Art ist.
Hinzu kommt, daß zur selben Zeit auch in der DDR Prozesse gegen Kriegsverbrecher stattfanden, die anders gehandhabt wurden und auch zu anderen Urteilen führten: ”Gerade in diesen Jahren fand einer der Höhepunkte der Verfolgung von Nazi- und Kriegsverbrechen in der DDR statt, der Prozeß gegen den KZ-Arzt Fischer (allerdings auch die Verfahren gegen Globke und Oberländer, die damals sehr viel Stoff gaben, die Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik Deutschland zu führen) oder in Erfurt das Verfahren gegen Blösche, der sozusagen traurige Berühmtheit durch das bekannte Bild des jüdischen Jungen erreicht hat, der mit erhobenen Händen im Warschauer Ghetto steht...” Blösche ”wurde 1966 zum Tode verurteilt und auch hingerichtet.” (Plath, S. 33)
[xcvi] Vgl. dazu das Buch von Hermann Vinke.
[xcvii] Rosemarie Heise, die Frau Wolfgang Heises und damals die Nachfolgerin Christa Wolfs in der Redaktion derNeuen Deutschen Literatur, wird ebenfalls von zwei Herren besucht, und sie schreibt Christa Wolf 1993 in einem Brief: ”Alles, was er [F. J. Raddatz, anläßlich der Stasidiskussion um Christa Wolf - AT] vorzubringen hatte, beruht... auf zwei falschen Prämissen: der Gleichsetzung der Nazis mit den kommunistischen ‘Henkern’, mit denen Du Dich an einen Tisch gesetzt hättest, und dem völligen Ignorieren des Kalten Kriegs vor der Mitte der sechziger Jahre. Natürlich gab es keine von den Amerikanern abgeworfenen Kartoffelkäfer, aber Diversion und skrupellose Versuche aller Art, die DDR kaputt zu machen, gab es ja weiß Gott, ‘Quatsch’, Christa, war das nicht, den geglaubt zu haben Du Dich quasi entschuldigtest! Eben deshalb hielten wir doch eine Sicherheitstruppe für richtig und notwendig, nur sahen wir, was allmählich erstens aus unserem Staat und zweitens aus dieser Truppe wurde - und trauten unserer Erkenntnis nicht, wollten ihr nicht trauen.” (in: Vinke, S. 301) Dies gibt m.E. das damalige Denken exakt wieder. Rosemarie Heise beschreibt übrigens auch die Reaktion Wolfgang Heises auf die Stasibesuche in der Redaktion: ”Es gab dann zwei oder drei Treffs in einer Wohnung im Plänterwald. Dem Mann, über den ich berichtet hatte, habe ich das übrigens damals sofort gesagt [Es war offenbar auch schon damals klar, daß hier Unheimliches geschieht. - AT]. Ohne lügen zu müssen, hatte ich ein positives Porträt abgeliefert, es nur mit kleinen, harmlosen Schatten versehen, die auch nicht erfunden waren, aber in keiner Weise staatsfeindlich. Man wollte aber mehr und mehr, auch über andere, wissen, und als ich Wolfgang fragte, wie ich mich da rauswinden soll, sagte er ruhig: sag einfach, du willst nicht mehr, du wirst sehen, sie akzeptieren es, du mußt nur bestimmt sein. Er hatte recht - jedenfalls bis auf weiteres, denn seit 1965 waren wir dann die Observierten.” ( S. 300f.) 1965 wurde der Entfremdungsartikel Heises veröffentlicht.
[xcviii] Wohl aber wandelt sich gewissermaßen die Ursache, die Zusammenarbeit mit der Stasi, als persönliches Faktum, weiterhin zu verdrängen; zugleich wandelt die Stasi ihre Haltung zu Christa Wolf, sie nun wird, seit 1968, über Jahrzehnte, Objekt der Ausspitzelung.
[xcix] Wolfram und Helmtrud Mauser haben dieses Kapitel interpretiert.
[c] Die Frage taucht noch ein drittes Mal im Buch auf - dort zielt sie darauf, daß, trotz allem,jetztgelebt werden muß und soll: ”Da aber die Zukunft immer vor uns hergeschoben wurde, da wir sahen, sie ist nichts weiter als die Verlängerung der Zeit, die mit uns vergeht, und erreichen kann man sie nicht - da mußte eines Tages die Frage entstehen:Wiewerden wir sein?Waswerden wir haben? // Obwohl zum Innehalten die Zeit nicht ist, wird einmal keine Zeit mehr sein, wenn man jetzt nicht anhält. Lebst du jetzt wirklich? In diesem Augenblick, ganz und gar? // Wann, wenn nicht jetzt?” (CT, S. 99f.)
[ci] Wie dringend gerade diese Frage in dieser Zeit war, zeigt der Erinnerungsbericht Christa Wolfs an das 11. Plenum des ZK der SED 1965, in dem sie über 25 Jahre danach, ganz unwillkürlich, scheint mir, sofort wieder in Erinnerung tritt: ”Wir, meist Angehörige einer Generation, die in diesem Lande engagiert lebten, die Konflikte sahen, hatten ein sehr starkes Gefühl von der Gefahr, in die dieses Gemeinwesen geraten würde, wenn die Widersprüche nicht in produktiver Weise ausgetragen würden. Wir dachten, wenn nicht jetzt, dann ist es zu spät.” (Wolf 1991b, S. 266) (Die Umformulierung zeigt, daß in einer Situation erinnert wird, in der offensichtlich ist, daß es zu spät wurde.)
[cii] Später, bei der Beschäftigung mit der Frühromantik, wird Christa Wolf formulieren: ”Sie sind die ersten, die es bis auf den Grund erfahren: Man braucht sie nicht.” (zit. n. Hirdina, S. 142) - Bereits der Titel des Buches über Christa T. ist eine Lektüreanweisung. Dem Rezipienten nicht nur mitgeteilt, daß in diesem Text über Christa T. nachgedacht wird, sondern, wie beim Lesen schnell klar wird, daß ”wir” selbst über sie nachdenken sollten. Sehr zu Beginn des Textes wird uns nahegelegt, wie wir das tun sollten: ”Und bloß nicht vorgeben wir täten es [nachdenken, ihr nach-denken - AT] ihretwegen. Ein für allemal: Sie braucht uns nicht. Halten wir also fest, es ist unsretwegen, denn es scheint, wir brauchen sie.” (S. 8) Nicht nur der Satz selbst macht es klar, sondern bereits das ”wir”, das, wäre es nicht eine Lektüreanweisung, hier als pluralis majestatis erscheinen müßte, also im gegebene Kontext völlig unangemessen. Durch das ”wir” und den Satz insgesamt, werden wir aufgefordert, das Nachdenken über Christa T. als ein Nachdenken zu betreiben, das uns selbst betrifft. Gemeint sind m.E. nicht allein die damaligen Kommilitonen von Christa T. oder die Generation dieser Leute. Denn wenn man einbedenkt, daß das ”wir” in der DDR immer die Gemeinschaft der im Sozialismus Lebenden einschließt, ist klar, daß hier nicht nur die Gemeinschaft der Leser, sondern die ganze Gesellschaft aufgefordert wird nachzudenken und sich dann womöglich zu ändern - denn wozu sonst, wenn nicht zur Änderung sollten ”wir” das Nachdenken gebrauchen?
[ciii] Vgl. dazu: Mauser, S. 73ff.
[civ] Andere sind: der Medizinstudent (ehemaliger Schüler Christa T.s), der Schriftsteller Blasing, Gertrud Dölling, der Schuldirektor, Schüler Christa T.s, die Straßenbahnschaffnerin. Es fällt auf, daß in diesem Text ”der Gegner” keine eigene Figur hat. Ist im 1963 erschienenen Roman Erwin StrittmattersOle Bienkoppbei aller Differenzierung die Konstellation noch eindeutig, beginnt sie hier zu verschwimmen. Gegner Oles sind auf der einen Seite der Sägemüller Ramsch (er steht für den alten Klassenkonflikt, den er restaurieren will und geht dann folgerichtig in den Westen) und auf der anderen die Dogmatikerin Frieda Simson. Die Gegenfiguren inChrista T.sind zwar schemenhafter gezeichnet, aber differenzierter konzeptualisiert, ”der Gegner” ist nicht als Person zu fassen, sondern hat sich in Verhaltensweisen von konkreten Leuten aufgelöst, die sehr differenziert zu beurteilen sind. Erschrecken ist angebracht gegenüber dem Verhalten einiger Schüler (das Muster der Gewaltanwendung sitzt trotz Sozialismus tief), Ohnmacht gegenüber der gewalttätige Unterdrückung durch den Mann akzeptierenden Straßenbahnschaffnerin (die Christa T. im Krankenhaus trifft), Verachtung nicht ohne Verständnis gegenüber dem Opportunismus Blasings (des Schriftsteller, der schreibt, was gut bezahlt wird), Ablehnung der Lebenshaltung der Cousine (Leben, das um Geld zentriert ist), Verständnis und Distanz gegenüber der Haltung des Schuldirektors, der einer anderen Generation angehört usw. Fast alle diese Figuren, soweit sie nicht nur eine Rolle ganz am Rande spielen, sind selbst als widersprüchliche entworfen. Die Extrempunkte dabei sind einerseits Gertrud Dölling - die den von der sozialistischen Gesellschaft angebotenen Weg ohne jeden Widerspruch akzeptiert hat und so menschliche Substanz verliert, und die Cousine. Beides eher eindeutige Figuren - die Cousine aber lediglich ganz blaß gezeichnet (wohl deswegen, weil dieser Menschentyp des Westens nicht wirklich gekannt ist - eine Faktum, auf das schon Anna Seghers Christa Wolf nach ihrer Lektüre desGeteilten Himmelaufmerksam gemacht hat (vgl. einen Brief Anna Seghers an Christa Wolf, in: Drescher 1989, S. 11)).
Interessant wäre es, das Buch in einer Reihe zu untersuchen, in der das Motiv des Todes Gegenstand ist. Stirbt Ole Bienkopp noch daran, daß seine (abweichenden) Ideen der Gesellschaft voraus sind (aber von ihr - deckungsgleich - eingeholt werden), ist sein Tod insofern tragisch, so stirbt Christa T. doch schon an der Gesellschaft, daran, daß ihr Anspruch auf Individualität, den sie mit der Gesellschaft als deckungsgleich empfand, in ihr nicht eingelöst werden kann, obwohl sie ihn andererseits bereits lebt. Dieser Tod ist Tod auf Grund eines nicht zu überbrückenden Widerspruchs, und es ist - anders als bei Bienkopp - nicht mehr gewiß, daß er überbrückbar sein wird. Dagegen ist die Heldin aus der in den achtziger Jahren erschienenen und großes Aufsehen erregenden Novelle Christoph HeinsDer fremde Freund(eine Ärztin), schon tot, obwohl sie noch lebt und keinerlei Mangel (mehr) empfindet. Der Text beginnt und endet mit dem Satz: ”Es geht mir gut.” Das der Zustand der DDR in den achtziger Jahren.
[cv] Christa T. stirbt an Leukämie, und es läßt sich sagen, daß sie ohne die DDR, wie sie war, vielleicht nicht an Leukämie gestorben wäre. Die Cousine lebt weiter, kann man vermuten. Aber, und das ist entscheidend für das Verständnis des Textes, als Christa T. hätte Christa T. im Westen gar nicht leben können. Ihre Hoffnungen hätten nicht entstehen können, dieses Leben, veränderbar, nicht gelebt werden können. Das ist das Problem, das Christa Wolf beschäftigt, und sie formuliert auch dieses Problem in ihrem Diskussionsbeitrag auf dem 11. Plenum: ”Als ich aus Westdeutschland zurückkam, beschäftigte mich tief das Problem des Menschentyps, der sich wohl in beiden deutschen Staaten als auch bei uns in der DDR in bestimmten Schichten der Bevölkerung unter der Jugend, in bestimmten Berufen ganz differenziert entwickelt. Das ist eine typische Literaturfrage.” Es schließt sich eine Polemik gegen das Konzept des Typischen an. (Wolf 1991a, S. 342)
Andererseits hat dieses Doppelt-sein noch eine andere Dimension, die deutlicher auf Entfremdung verweist. Christa Wolf formuliert sie in denKassandra-Vorlesungen: ”So als gäbe es jedes Land zweimal. Als gäbe es jeden Menschen zweimal: einmal als ihn selbst und als mögliches Objekt einer künstlerischen Darstellung; zweitens als Objekt der Statistik, der Publizistik, der Agitation, der Werbung, der politischen Propaganda.” (zit. n. Jäger 1989, S. 327) Dies allerdings nachChrista T.und die dort ausgesprochene Doppelung relativierend.
[cvi] ”Das nicht.”, wie es an anderer Stelle bei Christa Wolf heißt (Wolf 1968, S. 193). Um das zu verdeutlichen, ein Vergleich, der kein intertextueller und auch zeitlich nicht deckungsgleich ist, aber unterschiedliche Konsequenzen erkennen läßt. Der Text von Christa Wolf beginnt folgendermaßen: ”Nachdenken, ihr nach-denken. DemVersuch, man selbst zu sein.” (CT, S. 7) Der Roman Heinrich Bölls - bereits 1953 publiziert -...und sagte kein einziges Wort, muß folgendermaßen beginnen: ”Nach dem Dienst ging ich zur Kasse, um mein Gehalt abzuholen.” (Böll, Leipzig und Weimar 1987, S. 5). Hier wirddie Geschichte eines Scheiterns erzählt, die das Scheitern eines Individuums (mehrerer Individuen) an und in der Gesellschaft ist, in der es lebt, hier wird am Westdeutschland der Nachkriegszeit mit aller Härte tatsächlich gelitten - von Selbstverwirklichung kann keine Rede sein, wenngleich sie als Anspruch, Wunsch, Forderung des Erzählers, des Autors auch diesen Text leitet. Und noch in seinem letzten Roman schreibt derselbe Autor (mit deutlicher Sympathie für die Figur, die spricht) in dem BuchFrauen vor Flußlandschaft(1985), das sich mit dem inneren Zustand der Bundesrepublik beschäftigt: ”Und doch - beim Studium habe ich so manches erfahren, auch, als ich in der Bank arbeitete - wo das Geld so hingeht und von wo es zurückkommt, verdreifacht, verzehnfacht, verhundertfacht: Öl, Waffen, Teppiche und Mädchen, die sich besaufen oder betäuben müssen, um nicht ständig zu kotzen, und die dann kotzen müssen, weil sie sich besoffen haben, umnichtzu kotzen... Was sonst ist es denn als Klassenkampf? Und auf den Partys sehen sie sie dann besoffen und kotzend, die die Mädchen zum Kotzen zwingen - es ist ein Kotzklassenkampf.” (Böll, Leipzig und Weimar 1986, S. 42) Auch hier wird die Frage ‘bleiben (können) oder gehen (müssen)’ erörtert, als alternative Orte kommen Kuba und Nikaragua in Frage - aber auch hier wird, aus ganz unterschiedlichen Gründen, geblieben.
[cvii] Die Szene mit der Cousine folgt unmittelbar vor der finsteren Nacht: ”Christa T. hatte mit uns das Glück, in dem Alter, in dem man mit Leidenschaften rechnet, gezwungen zu werden, sich selbst hervorzubringen. Das kann dann der Maßstab bleiben, andere Reize werden schal sein; wenn jemand, die Cousine zum Beispiel, ihr vorhält, der Mensch sei käuflich, kann sie nur die Augenbrauen hochziehen, was sehr arrogant aussieht.” (CT, S. 130) Dieser Arroganz folgt dann sofort der Fall: Die Nachrichten aus Budapest, die den Maßstab nicht zerstören, aber die moralische Reinheit. Deutlich macht der Text auch, ohne darauf einzugehen, daß die Nachrichten durchöstlicheRundfunkstationen offenbar nicht zu erhalten waren.
[cviii] Das ist die moderne Situation, in die das Individuum gestellt ist - insofern ist dieses Buch beteiligt am Modernisierungsversuch des Sozialismus. Modernisierung einesGemeinwesens, in einem Gemeinwesen, das ist der Versuch und der Konflikt Christa Wolfs. Daß in der Frage Individuum und Gesellschaft ein Modernisierungsproblem steckt, ist nicht unbemerkt geblieben. Es ist oft formuliert worden, hier eine zugespitzte Formulierung von Volker Braun aus dem Jahre 1969: ”Auf dem VI. Deutschen Schriftstellerkongreß wurde gefordert, nicht mehr [nach der CSSR 1968 - AT] von ‘Ansprüchen des Individuums an die Gesellschaft’ zu reden, da es diese Ansprüche nicht zu geben habe. / Das blieb unwidersprochen. Ein paar kleine Fragen als Antwort: Verlangen Bürger nicht, was sie von der Gesellschaft verlangen, von sich [Gemeinwesen - AT]? Von wem denn da? Ist die Gesellschaft eine Instanz außerhalb der Bürger, die irgendwie über ihnen thront? Muß man sich ihr nähern auf Knien, seinen Zehnten, nein, seinen Ganzen abliefern (...) Deutet also der Satz nicht auf eine überhebliche, feudale Haltung des Sprechers? ... Ist das kein Obrigkeitsdenken? Und wird da nicht Untertanengeist verlangt? Ist das eine sozialistische Theorie oder Scholastik..., finsteres Mittelalter? Na also, ist das nicht dummes Geschwätz?” (zit. n. Krogmann, S. 94)
Das spezifische Modernisierungsproblem, das viele Intellektuelle in der DDR beschäftigte, war die Frage ob sich Gemeinwesen, Gemeinschaftlichkeit und Demokratie verbinden lassen, ob ein demokratisches strukturiertesGemeinwesenmoderner autonomer Individuen möglich sei. Alle Kritik an der Politik des realen Sozialismus - unter diesem Blickwinkel - lief darauf hinaus, daß die Bedingungen verstellt würden, die dieses Experiment möglich machen konnten. Klar war, daß erst der Beginn des Experiments in der Wirklichkeit - nicht nur in theoretischen oder literarischen Texten -, die Frage seines Gelingens beantworten konnte, wie klar war, daß nur der reale Sozialismus, als sich erst modernisierende Gesellschaft, nichtkapitalistisch, die Voraussetzungen bot, es beginnen zu können. Deshalb mußte einerseits Kritik scharf ausgesprochen, andererseits die Existenz des Sozialismus gewahrt werden. Erst die Jahre ab 1985 - in dem mit Gorbatschow das Experiment tatsächlich in Angriff genommen wurde (nachdem alle vorherigen Versuche, vor allem der von 1968, mit Gewalt beendet wurden) - machten deutlich, daß es nicht gelingen konnte (schon, weil es begonnen wurde erst, als die alte Macht nicht mehr in der Lage war, die ökonomischen und sozialen Probleme, die sich in den Ländern des Sozialismus explosiv angestaut hatten, zu lösen. Es war insofern nicht der Beginn des Experiments, sondern die ‘Machtübergabe’ bereits der letzte Versuch, die Macht dennoch auf irgendeine Weise bewahren zu können. Das Experiment politischer Modernisierung begann, den Akteuren selbst nicht bewußt, als die ökonomische Modernisierung bereits gescheitert war). Das jedoch hat, gerade im Angesicht der nun schärfer werdenden Probleme des modernen Kapitalismus, die Frage nicht beantwortet.
[cix] An einer späteren Stelle ist die andere Seite angesprochen: ”Sie beharrte darauf. Wir müssen wissen, was mit uns geschehen ist, sagte sie. Man muß wissen, was mit einem geschieht. // Warum denn? Und wenn es uns lähmen würde? // Sie hielt dafür: taub und blind könne man nicht handeln, es sei denn taub und blind.” (CT, S. 140) Es schließt sich eine Auseinandersetzung mit Formen von Wahrheiten an - Wahrheit der Geschehnisse und Wahrheiten des wissenschaftlichen Zeitalters (vgl. dazu auch den Essay Christa WolfsLesen und Schreiben).
[cx] Schon 1964 deutet es sich an: Den Kritikern desGeteilten Himmelhielt Christa Wolf vor: ”Nein, es ist etwas anderes da, als ihr wollt, weil wir über Parteilichkeit und das Positive und über das Glück und andere Dinge verschiedener Meinung sind.” (zit. n. Dröscher, S. 66) Hier aber kann und soll noch diskutiert werden. [Es wäre interessant zu untersuchen, wie sich der Adressatenbezug Christa Wolfs wandelt - nicht nur in ihren literarischen Texten. Ist derGeteilte Himmel- aus einer Position, die sich, so möglicherweise die Annahme Christa Wolfs, von der der Partei nicht unterscheidet - ein Buch, das Erziehungsprozesse in der Gesellschaft fördern will, so richtet sichChrista T.- wieder dieses ”Wann, wenn nicht jetzt?” - sowohl an die führenden Leute der Gesellschaft, wie an die Leser; diesmal nicht mit Erziehungsabsicht (nicht mehr gegenüber den normalen Lesern, wohl aber spürbar ein Konzept der ”Fürstenerziehung”), sondern will Mut machen zum eigenen Nachdenken, zum Stärken der eigenen Subjektivität, dem Bestehen auf Individualität, so sind spätere Bücher Wolfs - etwaKein Ort. Nirgends- unmittelbar aus einer die Autorin selbst drängenden Problematik hervorgegangen, setzen ein intellektuelles Publikum voraus und arbeiten nicht mehr mit der ”Fürstenaufklärung”, sondern mit der Entschlossenheit, den Gegensatz offen zu markieren. Soll noch ein Dialog zustande kommen, müßten sich die Fürsten nun auf die Ebene und das Thema der Schriftstellerin einlassen. Der Dialog ist nicht ausgeschlossen, abgebrochen, von ihrer Seite, aber nun setzt sie die Bedingungen, unter denen sie bereit wäre, ihn zu führen. Dieselbe Haltung beginnt Christa Wolf nach 1976 allen Gremien gegenüber zu entwickeln, in denen sie noch Mitglied ist. Später verläßt sie sie nach und nach.] Der Bruch hat auch unmittelbar physische Folgen. Heise wird wegen seines Entfremdungsartikels gemaßregelt und muß sich in psychatrische Behandlung begeben, von Christa Wolf ist eine Herzattacke im Anschluß an das 11. Plenum bekannt (vgl. Hörnigk, S. 120) - der inChrista T.wichtige Satz eines Arztes, ”Gesundheit ist Anpassung” hat auch diesen Hintergrund. Beide, Wolf und Heise, trafen sich dann in Beelitz und unternahmen lange Spaziergänge, auf denen sehr viel geredet wurde (s. Wolf 1995).
[cxi] Bezogen auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, auf das sich die Künstler zu konzentrieren begannen, hat Ruth Reiher das offizielle Verständnis, mit dem auch Christa Wolf sich auseinandersetzen mußte, folgendermaßen beschrieben: "Da die offizielle Politik von der innenpolitischen Einheit ausging und die DDR als eine sozial und ideologisch undifferenzierte Gemeinschaft proklamierte, determinierte dieser Topos der Gemeinsamkeit auch die öffentlich-politische Kommunikation. Die vorhandenen innergesellschaftlichen Konflikte wurden auf die außenpolitische Folie projiziert und damit scheinbar ihrer innenpolitischen Brisanz entkleidet. Das vermittelte Bild gesellschaftlicher Wirklichkeit war durch drei Merkmale gekennzeichnet:
1. Harmonie der gesellschaftlichen Beziehungen,
2. Primat der Gesellschaft gegenüber dem Individuum und Anpassung des Individuums an die Gesellschaft,
3. Abgrenzung der DDR-Gesellschaft gegen die sog. westliche Welt.
Bis zum Ende der sechziger Jahre wurde die Spezifik der gesellschaftlichen Beziehungen in der DDR in dem Begriff der 'sozialistischen Menschengemeinschaft' gefaßt. Als positiv wertendes Fahnenwort stand es für ein politisches und gesellschaftliches Programm. Es charakterisierte undifferenziert alle Bürger als eine durch die sozialistische Idee vereinigte und in sich homogene Menschengruppe. Den Begriff der 'sozialistischen Menschengemeinschaft' prägte Walter Ulbricht, Erich Honecker sprach von der 'Gemeinschaft ... der sozialistischen Menschen' und Kurt Hager von der 'Vereinigung aller Seiten des gesellschaftlichen Lebens zu einem harmonischem Ganzen'. // In einer Gemeinschaft, als deren Hauptmerkmale Harmonie, Eintracht und innerer Friede proklamiert wurden, konnte auch das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum nur als ein vollkommen einvernehmliches erscheinen. Die Entfaltungsmöglichkeiten des einzelnen waren festgelegt durch die Leitidee von der 'sozialistischen Persönlichkeit'. Deren Prototyp war primär eingebunden in den produktiven Prozeß ('Streben nach Höchstleistungen'), war hochqualifiziert und gebildet. Die 'allseitig gebildete sozialistische Persönlichkeit' war geprägt durch 'staatsbürgerliches Denken und Handeln', durch 'Verantwortungsbewußtsein für den Staat'. Und in diesem staats- und gesellschaftszentrierten Sinne hatte sich die 'sozialistische Persönlichkeit' 'ins Ganze der sozialistischen Gesellschaft harmonisch einzuordnen, in Übereinstimmung mit den Interessen und Zielen der Gesellschaft zu leben'. // Das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft wurde also vornehmlich unter dem Aspekt der Anpassung des einzelnen an die gesellschaftlichen Ziele gesehen. Dem lag die Wunschvorstellung derParteials der 'führenden Kraft der Gesellschaft' zugrunde, daß sie einen solchen Prozeß lenken und leiten könne. Seinen sprachlichen Ausdruck fand diese Idealkonstruktion in der Verwendung der Nomina actionis wie 'Bildung', ‘Entwicklung' und hauptsächlich 'Formung'. //... 'Formung' und 'Menschengemeinschaft' als zwei Metaphern zur Charakterisierung der sozialen Beziehungen thematisieren den von der Partei erstrebten Wunsch nach Angepaßtsein des einzelnen sowie den Harmoniegedanken als Ganzes." (Reiher, S. 149f.)
[cxii] Vgl. dazu Ina Merkel (Hgn.):Wir sind doch nicht die Meckerecke der Nation! Briefe an das Fernsehen der DDR, erw. Neuausgabe, Berlin 2000.]
[cxiii] Apel arbeitete während des Krieges im Raketenzentrum Peenemünde.
[cxiv] Es kann hier nicht darauf eingegangen werden, daß die Bitterfelder Idee - neben ihren verheerenden Folgen - mit ihren zwei Seiten - Schriftsteller in die Betriebe - Greif zur Feder, Kumpel - den Interessen, den politischen und literarischen, der Schriftsteller selbst entgegenkam (Franz Fühmann hat das beschrieben und sein unvollendetes ”Lebenswerk”, der Text an dem er sich gescheitert sah,Bergwerk, geht auf diese Zeit zurück; vgl. aber auch Äußerungen von Brigitte Reimann und Christa Wolf selbst).
[cxv] Vgl. dazu die Analyse von Dröscher, S. 50 - 53, aber auch die von Heinrich Mohr.
[cxvi] Die Traditionalität des Romans - im Vergleich mit Uwe JonsohnsMutmaßungen über Jakob- ist zum Anlaß genommen worden zu behaupten, daß Christa Wolf aus den Sozialismus-Vorstellungen der Parteiführung nicht herausfällt, sondern sich - auf dieser formalen, tieferen Ebene - in vollem Einverständnis mit ihnen befindet (vgl. Soholm). Auf das Modernitätsproblem wird an anderer Stelle zurückgekommen werden.
[cxvii] Auch die Stasi registriert - andersherum freilich - diese Verunsicherung. Es heißt in einer Einschätzung: ”1963 vertrat sie z.B. die Meinung, daß sie das schreiben werde, was und wie sie es für richtig hält. // Anfang 1964 äußerte sie ihr Unverständnis darüber, daß Stefan Heym kritisiert wurde (offenbar im Zusammenhang mit seinem Buch ‘Der Tag X’). // Auf dem Schriftsteller-Kolloquium im Dezember 1964 in Berlin trat die Genn. Wolf jedoch in einem Diskussionsbeitrag sehr positiv gegen die negativen Auffassungen Stefan Heyms auf. // 1964 im Wohngebiet geführte Ermittlungen besagen, daß die Genn. Wolf in der Straßenparteigruppe aktiv mitarbeitet und als aktive und pflichtbewußte Genossin geschätzt wird.” (zit. n. Vinke, S. 23)
[cxviii] Die weitere Entwicklung beschreibt Christa Wolf: ”Ich möchte noch erklären, warum der FilmFräulein Schmetterlingnicht fertiggestellt wurde. Er war während des 11. Plenums noch nicht in einem so fortgeschrittenen Stadium wie die meisten anderen Filme, mit Ausnahme vonSpur der Steine. Er konnte nicht vorgeführt werden und geriet noch nicht ins Zentrum der Kritik. Es wurde erlaubt, an ihm weiterzuarbeiten. Es wurde ein Rohschnitt hergestellt, und diese Rohschnitt wurde im Frühsommer 1966 im Filmbeirat der Hauptverwaltung vorgeführt.” (Wolf 1991b, S. 270) Infolge der sich anschließenden Diskussionen wurde die Produktion des Films abgesetzt, das heute noch vorhandene Material lohne die Rekonstruktion nicht.
[cxix] Vgl. dazu den Aufsatz von Günter Agde.
[cxx] Hans Koch, Dogmatiker par excellence (wenn auch nicht ohne Verdienste - u.a. Herausgabe von Texten Marx’, Engels’, Lenins zur Kultur und Kunst), damals erster Sekretär des Schriftstellerverbandes, später hoher Funktionär der Akademie für Gesellschaftswissenschaften, starb in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre durch Selbstmord, weil er, läßt sich vermuten, Auseinandersetzungen nach einer Rede fürchtete, die Konrad Naumann, Parteisekretär von Berlin, in der Akademie gehalten hatte und die zu dessen Sturz führte. Nach der Leiche Kochs wurde monatelang gesucht. Von vielen wurde dieser Selbstmord als Tragikomödie wahrgenommen (das Komische, Groteske überwog bereits).
[cxxi] Das kann hier nicht Gegenstand sein, es sei lediglich darauf hingewiesen, daß die Probleme der Jugend - Spitze des Eisberges: die Beatmusik - in dieser Zeit eine große Rolle spielten und heiß diskutiert wurden. Auch hier wurden Unterschiede zwischen Parteiführung und z.B. FDJ sichtbar. Ein Jugendkommunique wurde diskutiert in dieser Zeit. Das BuchNachdenken über Christa T.setzt sich auch mit diesen Problemen auseinander, besonders da, wo die Konflikte beschrieben werden, auf die Christa T. als Lehrerin trifft.
[cxxii] In einem anderen Zusammenhang, typisch Ulbrichtsche Argumentation (sie wird auf dem Plenum wiederholt) - fällt das Stichwort Entfremdung: ”Ich kann nicht zulassen, daß Skeptizismus propagiert wird, und dann in den Plan hineinschreiben, daß die Arbeitsproduktivität um 6% erhöht wird. Wenn wir die Propaganda des Skeptizismus zulassen, senken wir die Erhöhung der Arbeitsproduktivität um 1%. Skeptizismus, das heißt Senkung des Lebensstandards, ganz real, so wird bei uns gerechnet. Die Entfremdungspropaganda hat die Bevölkerung in einigen Volksdemokratien so und so viel vom Lebensstandard gekostet. Das kann man in einzelnen Ländern genau berechnen.” (zit. n. Agde S. 140) Dies zugleich die Argumentation des ökonomischen Flügels in der Parteispitze, der durch Erich Honecker und Paul Fröhlich angeführt wird (vgl. dazu Agde, S. 144). Es wird versucht, alle Bereiche der Gesellschaft in dieses Kosten-Nutzen Denken einzubeziehen, bis dahin, daß überlegt wird, finanzielle Konsequenzen für ”künstlerische Machwerke” zu ziehen (vgl., S. 145). Hier wird deutlich, daß spätestens 1965 - neuen Schwung erhält dies durch die Machtübernahme Honeckers 1971 (wenn auch anfänglich einhergehend mit einer Liberalisierung der Kulturpolitik) - die Unterschiede zwischen Kapitalismus und Sozialismus hinsichtlich des ökonomischen Denkens schwinden, der ökonomische Flügel ist ein Modernisierungsflügel auf der Basis vormoderner politischer Herrschaft. Ursprüngliche Akkumulation.
[cxxiii] An anderer Stelle ist von 6 Wochen die Rede.
[cxxiv] Die Reaktion Anna Seghers’ nach dem Plenum, nach ihrem Diskussionsbeitrag, beschreibt Christa Wolf folgendermaßen: ”Anna Seghers, die als Präsidentin des Schriftstellerverbandes anwesend war, lud mich ein, mit ihr ins Ostasiatische Museum zu gehen. Ich wehrte ab: Nicht unbedingt jetzt! Doch, sagte sie. Gerade jetzt. - Und dann gingen wir über die breite Straße vor dem ZK, sie sehr bekümmert, ich nahm sie am Ellenbogen und sagte: Laß dich nicht überfahren! Ach, sagt sie, ich hab schon einmal, nachdem ich überfahren worden war, sehr gut schreiben können. - Sie meinte ihren Unfall damals in Mexiko, wonach sieAusflug der toten Mädchenschrieb. // Und dann ging sie mit mir also ins Ostasiatische Museum, und als wir zu der Prozessionsstraße kamen, zum Ischtar-Tor, sagte sie: Guck mal, damals war es verboten, überhaupt Menschen darzustellen, und solche schönen Sachen haben die gemacht. Die Menschendarstellung ist doch bei uns nicht verboten. Und das andere, glaub mir, geht alles vorbei. Und sie hat mit mir eine Wette abgeschlossen: In einem Jahr ist ‘das’ vorbei. Da habe ich gesagt: Nein, keinesfalls. Wir wetteten um einen Kaffee. Wir haben nie wieder darüber gesprochen.” (Wolf 1991b, S. 268) Und doch - ganz Unrecht hatte Anna Seghers nicht. Christa Wolf kann tatsächlich, nachdem sie überfahren wurde, sehr gut schreiben, ihr vielleicht bekanntestes Buch, eine Menschendarstellung. Und auch: Gerade jetzt - das Plenum ist der Punkt, an dem die Besichtigung der Geschichte durch die Künstler einsetzt, der Sozialismus auf seine historischen Wurzeln und Parallelen befragt wird. Ein Resultat dessen in der theoretischen Auseinandersetzung ist dargestellt worden: Bahro beschreibt die Ähnlichkeit des Sozialismus zur asiatischen Produktionsweise. - Übrigens ist die präzise Darstellung - auch intertextuell (es gibt in Christa T. mindestens einen direkten Bezug auf Anna Seghers, (vgl. C.T. S. 33)) - des Verhältnisses von Wolf zu Seghers ein Desiderat der Forschung. Ich denke aber, daß erst durch das Verhältnis zu Anna Seghers das zu Ingeborg Bachmann verstanden werden kann, Christa Wolf bewegt sich auch hier in einem Widerspruchsfeld.
[cxxv] Wie auch immer, das Treffen, seine Vorbereitung, seine Konsequenzen und die Folgen des Auftretens Christa Wolfs machen deutlich: Worte (und Texte) von Schriftstellern waren politisch relevant, hatten Einfluß auf Entscheidungen in der Führung dieses Landes. Nach dem 11. Plenum allerdings ändert sich dies - der Einfluß der Schriftsteller findet nun auf anderer Ebene statt, die Leser werden zum wichtigsten, alleinigen Partner. Es bleibt aber die Erfahrung - und sei sie negativ, durch Zensur (dasmachte sie zugleich unerträglich und aushaltbar) - in den Widersprüchen dieses Landes Bewegung provozieren zu können. Die Grenzziehung aber - was kann noch hingenommen werden, was muß mit schärfster Reaktion, notfalls dem Verlassen des Landes, beantwortet werden? - wird immer schwieriger, quälender. Der 4. November 1989 schien denen recht zu geben, die blieben, der 9. denen, die gingen.
[cxxvi] Dieser Hintergrund war bekannt. Christa Wolf berichtet in ihren Erinnerungen: ”Uns allen war klar, daß das Plenum unter dem Zeichen dieses Selbstmordes stand, und wir alle haben ihn mit den sowjetischen Handelsverträgen in Verbindung gebracht. Es wurde gemunkelt, die DDR sollte durch diese Verträge in eine Lage gebracht werden, daß sie nicht mehr eigenständig wäre, daß sie sich ausverkaufen ließe. Das habe er, Apel, nicht mittragen wollen.” Sie schreibt: ”Es war eine düstere Atmosphäre auf diesem Plenum.” (Wolf 1991b, S. 265)
[cxxvii] Betroffen war übrigens auch Heiner Müller. Schon wegen seines 1961 an einer Studentenbühne uraufgeführten StückesDie Umsiedleringab es Streit und ein Verbot - dies betraf nun einige Jahre danach sein StückDer Bau, das erst 16 Jahre später an der Volksbühne aufgeführt werden konnte (Erstveröffentlichung war allerdings bereits 1965 inSinn und Form: Durch diese Veröffentlichung wurde der Stein ins Rollen gebracht). Das hat Müllers Arbeit nicht unwesentlich beeinflußt.
[cxxviii] Auch - nicht alleine deswegen, das soll hier nicht unterstellt werden -, weil die eigene Arbeit ganz unmittelbar betroffen ist. Christa Wolf behauptet zwar in ihrer Erinnerung an das 11. Plenum: ”Unmittelbar danach [nach dem Plenum - AT] begann meine Arbeit anNachdenken über Christa T.” (Wolf 1991b, S. 267) Dies wird insoweit zutreffen, als der Hauptteil des Textes danach entstanden sein wird, seine Schärfe, seine endgültige Struktur und vielleicht auch die Frage ”Wann, wenn nicht jetzt” ihren Platz bekam (der Text wird 1967 dem Verlag übergeben). Vorarbeiten lassen sich aber bis auf das Jahr 1963 zurückverfolgen (vgl. Dröscher), und so trifft es das eigene Vorhaben, die eigene schriftstellerische Existenz, wenn ”an den ‘Plenumsfilmen’ das Auseinanderdriften von Individuellem und Gesellschaftlichem als Merkmal der sozialen Entfremdung des Individuums bemängelt” wird (Haucke, S. 113).
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- Prof. Dr. Achim Trebeß (Author), 1999, Teufelskreise - Entfremdung und Literatur in der DDR, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/90193
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