Diese Arbeit befasst sich im Rahmen einer Fallstudie mit einem jungen Erwachsenen, bei dem das Asperger-Syndrom diagnostiziert wurde. Der erste Teil gibt einen kurzen Überblick zum aktuellen Kenntnisstand in Bezug auf das Asperger-Syndrom. Dabei wird kurz die Entstehung des Begriffs beschrieben und die einzelnen Diagnosekriterien werden vorgestellt. Des Weiteren werden einige zentrale Begrifflichkeiten, die in Verbindung mit Asperger stehen, beschrieben. Dabei wird auf wissenschaftliche Literatur, teilweise auch auf Tagungsberichten von Fachtagungen, zurückgegriffen. Als letztes werden einige der möglichen Diagnose- und Therapieverfahren bei Asperger dargestellt.
Im zweiten Teil der Arbeit werden als Handlungsproblem die für die Fallstudie relevanten Fragestellungen bearbeitet. Für die Fallanalyse werden dabei in Form von Fragebögen wissenschaftliche Methoden angewendet. Des Weiteren werden für die Fallanalyse Protokolle verwendet. Mit diesen Mitteln soll eine Beschreibung des Betroffenen erfolgen.
I. Inhaltsverzeichnis
Abstract
Einleitung
1. Autismus-Spektrums-Störungen
1.1 Asperger-Syndrom
1.1.1 Theory of Mind
1.1.2 Zentrale Kohärenz
1.1.3 Ursachen
1.1.4 Diagnostik
1.1.5 Therapieansätze
2. Fallstudie
2.1. Fallbeschreibung
2.2 Methodik
2.2.1 Protokolle
2.2.2 Fragebogen
2.2.3 Vorbefunde
2.3. Fallanalyse
2.3.1 Soziale Interaktion und Kommunikation
2.3.2 Spezialinteressen
2.3.3 Wahrnehmung
2.3.4 Motorik
2.3.5 Intelligenz
2.3.6 Methodenkritische Betrachtung
3 Zusammenfassung und Fazit
II. Literaturverzeichnis
II. Internetseiten
IV. Abbildungsverzeichnis
Anhang
Abstract
Die vorliegende Arbeit befasst sich im Rahmen einer Fallstudie mit einem jungen Er- wachsenen, bei dem das Asperger-Syndrom diagnostiziert wurde. Es werden zuerst die Charakteristiken des Asperger-Syndroms erläutert und anschlieBend auf die vorliegende Fallstudie angewendet. Diese Untersuchung wird auf Grundlage eines mehrmonatigen Praktikums in einem Autismus- Therapie- Institut und der Befragung des Betroffenen und seiner Angehörigen durchgeführt. Im Zuge dessen wird die vorliegende Diagnose kritisch hinterfragt.
Am Ende der Arbeit stehen Fazit und Schlussfolgerungen.
Einleitung
Die vorliegende Bachelorarbeit befasst sich mit der Thematik des Asperger-Syndroms bei einem Erwachsenen.
Im Rahmen des Studiums der Erziehungswissenschaft hat sich der Verfasser intensiv mit dem Bereich der Sonderpädagogik beschäftigt. Sein besonderes Interesse gilt der Arbeit mit Menschen mit physischen und psychischen Beeinträchtigungen. Diese Nei- gung wurde sowohl durch Fachliteratur als auch autobiografische Werke von Menschen mit Autismus vertieft. In den Jahren 2011 und 2013 hat der Autor auBerdem Praktika in einem Autismus-Therapieinstitut absolviert.
Einige der Klienten des Autismus-Therapieinstituts gehören zum Störungsbild des As- perger-Syndroms. Es hat in den letzten Jahren an Bekanntheit gewonnen. Dies liegt zum einen an den vielen neuen Veröffentlichungen. Dazu gehören sowohl wissenschaftliche Untersuchungen als auch biografische Berichte von Menschen, die selber von Asperger betroffen sind. Aber auch in anderen Medienformen ist das Asperger-Syndrom heute stärker verbreitet als noch vor zehn Jahren, beispielsweise durch Internetseiten oder Dokumentationen im Fernsehen.
In der Pop-Kultur hat es ebenfalls seinen Eingang gefunden. Insbesondere im angel- sächsischen Raum gibt es eine Vielzahl von Spielfilmen (Mozart und der Wal, Adam, Im Weltraum gibt es keine Gefühle, My Name is Khan, Ben X) oder TV-Serien (Dr. House, CSI) in denen die Thematik Asperger behandelt wird.
Auf diesem Wege ist auch der Verfasser das erste Mal mit Asperger in Berührung ge- kommen.
Die Besonderheit der vorliegenden Fallstudie liegt darin, dass die beschriebene Person neben Merkmalen von Asperger auch Merkmale einer zumindest partiellen intellektuel- len Hochbegabung und einer sehr ausgeprägten Reflektionsfähigkeit aufweist, was wie- derum Bezüge zwischen Asperger -Autismus und Hochbegabung zulässt.
Des Weiteren liegt bei dieser Person eine nachgewiesene motorische Behinderung vor, wodurch sich Beziehungen zwischen den einzelnen Behinderungen untersuchen lassen.
Als Fragestellung für diese Bachelorarbeit soll der Prozess der Diagnose verfolgt und die Durchführung einer Therapie beschreiben und reflektiert werden.
Ziel dieser Arbeit ist die Beschreibung des Betroffenen und die Analyse seiner Persön- lichkeit und Fähigkeiten vor dem Hintergrund von Asperger-Autismus. Aufgrund der bereits beschriebenen erhöhten Aufmerksamkeit in Bezug auf AS ist ein erhöhter Be- darf an Fallstudien Betroffener entstanden.
Deshalb ergibt sich folgende Fragestellung, unter der diese Fallstudie bearbeitet werden soll:
- Inwieweit lassen sich die in der Therapie vom Betroffenen X1 gemachten Anga- ben, seine persönliche Entwicklung und seine Persönlichkeitsmerkmale im Hin- blick auf Asperger als charakteristisch beschreiben und inwieweit sind Zusam- menhänge zu sehen zwischen der Autismusdiagnose von X, seiner intellektuel- len Hochbegabung und seiner Körperbehinderung?
Der erste Teil der Arbeit gibt einen kurzen Überblick zum aktuellen Kenntnisstand in Bezug auf das Asperger-Syndrom. Dabei wird kurz die Entstehung des Begriffs be- schrieben und die einzelnen Diagnosekriterien werden vorgestellt. Des Weiteren werden einige zentrale Begrifflichkeiten, die in Verbindung mit Asperger stehen, beschrieben. Dabei wird auf wissenschaftliche Literatur, teilweise auch auf Tagungsberichten von Fachtagungen, zurückgegriffen. Als letztes werden einige der möglichen Diagnose- und Therapieverfahren bei Asperger dargestellt.2
Im zweiten Teil der Arbeit werden als Handlungsproblem die für die Fallstudie relevan- ten Fragestellungen bearbeitet. Für die Fallanalyse werden dabei in Form von Fragebö- gen (siehe Anlage) wissenschaftliche Methoden angewendet. Des Weiteren werden für die Fallanalyse Protokolle verwendet. Mit diesen Mitteln soll eine Beschreibung des Betroffenen erfolgen. Am Ende der Arbeit stehen dann die Beantwortung der wissen- schaftlichen Fragestellung und ein abschlieBendes Fazit.
1. Autismus-Spektrums-Störungen
Das Diagnoseklassifikationssystem ICD-10 zählt Autismus zu den tiefgreifenden Ent- wicklungsstörungen. Dessen Definition beinhaltet eine ab dem Kleinkind- oder Kindesalter beginnende, qualitative Veränderung der individuellen Entwicklung. Der Verlauf der Störung ist fortlaufend und „eng mit der biologischen Reifung des Zentralnerven- systems verknüpft“ und unabhängig von der Intelligenz.3
Besondere Aufmerksamkeit wird dabei auf Verhaltensauffälligkeiten gelegt, welche von der Norm abweichen. Diese Abweichungen beziehen sich auf das Erleben, Denken und Verhalten. Der Zweck eines Klassifikationssystems ist es, im klinischen, wissen- schaftlichen und professionellen Rahmen effektives Arbeiten zu ermöglichen.4
Der gegenwärtige Kenntnisstand grenzt die einzelnen Autismusformen (frühkindliche Autismus, Asperger Syndrom, atypischer Autismus) nicht mehr deutlich voneinander ab. Stattdessen wird übergreifend die Bezeichnung Autismus- Spektrum- Störung ver- wendet.5
In dem Konstrukt der Autismus- Spektrum- Störung werden alle diagnoserelevanten Symptome auf einer Achse der Funktionalität abgebildet. Abhängig vom Schweregrad der Beeinträchtigung wird zwischen Low-Functioning und High-Functioning-Autismus unterschieden. In den Bereich des Low-Functioning Autismus fällt hierbei der GroBteil der Menschen mit frühkindlichem Autismus, während am anderen Ende des Spektrums, im Bereich des High-Functioning Autismus, viele Menschen mit einer Asperger- Diagnose auftauchen.6
Eine in der Forschung häufiger diskutierte Frage ist, inwieweit die Symptome, welche auf dem Spektrum im Bereich des High-Functioning Autismus und somit beim Asper- ger-Syndrom zu finden sind, bereits in den Bereich der Normalität übergehen. Christine PreiBmann, Ärztin und selbst vom Asperger-Syndrom betroffen, bezeichnet diesen Übergang als „flieBend“7.
In der Fachwelt wird deshalb von manchen Forschern ein dimensionaler Ansatz von Autismus vertreten. Dieser geht davon aus, dass sämtliche menschliche Charaktereigen- schaften, also auch jene, die mit Autismus assoziiert werden, bei allen Menschen vor- handen und die Unterschiede lediglich in der Ausprägung dieser Merkmale zu finden sind.8
Die allgemeine Wahrnehmung und Klassifikation von Autismus ist also keineswegs einheitlich. Vielmehr existiert seit einiger Zeit eine Diskussion darüber, was Autismus ist, und was es für die Betroffenen bedeutet.
Teil dieser Diskussion sind auch von Autismus betroffene Menschen, die sich selbst nicht als beeinträchtigt empfinden. So schreibt beispielsweise Nicole Schuster: „Mein Autismus ist für mich eine besondere Weise zu leben, zu denken, zu fühlen und zu han- deln. “9
1.1 Asperger-Syndrom
Beim Asperger-Syndrom10 handelt es sich um eine der tiefgreifenden Entwicklungsstö- rungen, welche den Autismus- Spektrum- Störungen zugeordnet werden. Wichtige Merkmale dieses Störungsbilds sind die auch bei anderen Autismus- Störungen vor- kommende Beeinträchtigung der sozialen Interaktion, das Vorhandensein von stereotyp betriebenen Aktivitäten, Handlungen und Interessen und oftmals motorische Auffällig- keiten. Der Verlauf sprachlichen und intellektuellen Fähigkeiten ist nicht notwendiger- weise eingeschränkt oder verzögert.
PreiBmann schreibt, das auf der Achse der Funktionalität mit dem niedrigsten Schwere- grad eingestufte AS werde meistens erst dann festgestellt, wenn der Betroffene vermehrt mit anderen Menschen interagieren und kommunizieren müsse. Dies könne bereits im Kindergarten oder in der Schule erfolgen, oftmals allerdings auch zu einem späteren Zeitpunkt.11
Die erste Beschreibung von AS geht auf den Wiener Kinderarzt Hans Asperger zurück. Er hatte 1944 in seinem Werk „Die autistischen Psychopathen12 im Kindesalter“ eine klinische Studie über Patienten seiner Klinik verfasst. Ihm waren bei diesen Kindern signifikante Gemeinsamkeiten im Verhalten aufgefallen.
Auf Grundlage der Fallbeispiele von vier Jungen stellt Asperger folgende Symptome für eine „autistische Psychopathie“ fest:
-keine altersgemäBe Entwicklung des Sozialverhaltens und des sozialen Verständnisses
-Schwierigkeiten, mit Gleichaltrigen Freundschaft zu schlieBen
-Auffälligkeiten bei der verbalen und nonverbalen Kommunikation
-auffällige Sprechmelodie und penibler Sprachgebrauch
-ausgeprägter Wortschatz
-qualitativ anderes Gefühlsleben
-Diskrepanz zwischen emotionaler und Intellektueller Entwicklung
-sehr ausgeprägte und eingegrenzte Interessen, die andere Aktivitäten ausschlieBen
-Auffälligkeiten beim Lernen. Kreativität, Interesse und Begabung beschränken sich auf eigene Spezialinteressen
-mangelhaft ausgeprägte alltägliche Selbsthilfefähigkeiten
-unbeholfene Fortbewegung und Probleme bei der motorischen Koordination.13
1.1.1 Theory of Mind
Theory of Mind14 beschreibt die Fähigkeit, psychische Zustände sich selbst und anderen Menschen zuzuschreiben, und “die eigenen Gedanken, Gefühle, Wünsche, Absichten und Vorstellungen und diejenigen anderer Menschen zu erkennen, zu verstehen, vorher- zusagen und in die eigene Planung einzubeziehen“.15 Attwood fasst diese Fähigkeiten unter dem Oberbegriff „Empathie“ zusammen.16
Eine mangelhafte ToM hat zur Folge, dass Menschen mit Autismus Schwierigkeiten haben können, sich in die Gefühlswelt anderer Menschen hineinzuversetzen, die Sicht- weise und das Wissen anderer Menschen in eigene Handlungsabläufe einzubeziehen, zu anderen Menschen freundschaftliche Beziehungen zu entwickeln, Absichten und Interessen anderer Menschen zu verstehen sowie darauf einzugehen und in einer Gesprächs- situation das Interesse der anderen Gesprächsteilnehmer an der eigenen Rede zu regist- rieren und einzuschätzen.
Fehlinterpretation ironischer Bemerkungen, von Witzen oder bildhafter Sprache sowie Schwierigkeiten bei der Artikulation und Einordnung von Gefühlen können ebenso in einer eingeschränkten ToM begründet sein.17
Die Möglichkeit, anhand des Gesichtsausdruckes Gedanken und Gefühle anderer Men- schen zu verstehen, können Menschen mit Autismus oftmals nicht anwenden, da sie sich nicht wie normale Menschen auf die Augen, sondern auf andere Bereiche des Kör- pers oder auf Gegenstände fokussieren.18
Susanne Schäfer, die eine Biographie über ihr Leben mit Autismus verfasst hat, äuBert sich zur ToM folgendermaBen:
Ich habe inzwischen etwas über den Begriff „Theory of mind“ (sic!) gelesen, und ich glaube, ich habe eine vage Vorstellung davon, was das sein soll. Ich wünschte, ich könnte einmal in das Gehirn eines anderen Menschen blicken, um zu sehen, wie groB und in welcher Art der Unter- schied zwischen unserer Denkweise wirklich ist. Es würde besonders interessant sein, in ein Kindergehirn zu gucken. So genau ich mich auch an die Ereignisse meiner eigenen Kindheit erinnern kann, so weiB ich genau, daB (sic!) ich damals nichts besaB, auf das der Begriff „Theo- ry of mind“ (sic!) irgendwie zugetroffen hätte. Ich würde gerne einmal wissen, wie früh die Kleinen das entwickeln und wie es sich anfühlt, es zu besitzen.19
Menschen mit AS werden oft von ihrer Umwelt aufgrund ihrer direkten Art als unfreundlich wahrgenommen, ohne dies jedoch zu bemerken. Das tritt vermehrt dann auf, wenn andere Menschen von ihren Interessensgebieten erzählen, für die der Mensch mit AS sich nicht interessiert. Andererseits führt die direkte Art vieler Menschen mit Asperger zu einer grundsätzlichen Ehrlichkeit.20 21 22
Nicole Schuster spricht in diesem Zusammenhang von einer „autistischen Offenheit“. Sie selbst schreibt dazu:
Schwer fällt es mir, mich in sozialen Situationen konform und erwartungsgemäB zu verhalten. Ich kann mich nicht bei jemandem anbiedern, ihm schmeicheln oder ihn hofieren, nur weil er eine hohe Position bekleidet. Wenn mir jemand unsympathisch ist, kann ich das schlecht vor ihm verbergen.
Die Fähigkeit zu lügen und zu wissen, ab welchem Punkt eine Notlüge angemessen ist, tritt bei Menschen mit AS im Vergleich zu anderen Menschen erst in einem späteren Lebensalter auf. Der Grund liegt in negativen Rückmeldungen auf Ehrlichkeit. Aller- dings fehlt dann noch das Bewusstsein, dass Lügen von anderen Menschen negativ auf- genommen werden, sie werden eher als ein Mittel zur Vermeidung von Schaden oder zur Problemlösung gesehen.
Die Schwierigkeit, die beschriebenen Probleme zu lösen, wird zwar im Zuge des Er- wachsenwerdens und der Reifung geringer, ist jedoch latent vorhanden. Im Kindesalter ist das Konfliktpotenzial im Umgang mit anderen Menschen noch sehr groB, da die Fä- higkeiten zur Perspektivübernahme eingeschränkt sowie, die argumentativen Mittel im Streitfall noch limitiert sind. Fehler werden nicht zugegeben oder korrigiert werden, Zwänge zur Durchführung bestimmter Handlungen sind noch vorhanden und der eigene Standpunkt wird unreflektiert vertreten.
1.1.2 Zentrale Kohärenz
Asperger-Autismus zu betrachten gelingt nicht ohne Berücksichtigung der zentralen Kohärenz. Für Christine PreiBmann führt die Zentrale Kohärenz bei Menschen dazu, dass sie Reize stets in ihrem Bezugssystem zu anderen Reizen und Informationen sehen. Menschen, Objekte und Situationen werden dadurch kontextgebunden wahrgenommen. Bei autistischen Menschen aber ist die zentrale Kohärenz in der Regel nur schwach ausgeprägt. Sie beachten also weniger die Beziehungen und Zusammenhänge von Gegenständen, sondern rich- ten ihre Wahrnehmung auf einzelne und isolierte Details.23
AuBerdem kann es zu Problemen kommen, bei Texten die wesentlichen Aspekte zu erfassen. Für Nicole Schuster, besteht „Ein Bericht oder ein Text nicht aus zusammen- hängenden Gedanken, sondern aus einer Ansammlung von Einzelinformationen (...). Das Gleiche gilt für Geschichten“24 Das Beispiel von Nicole Schuster ist exemplarisch für viele Menschen mit AS. Sie sind oftmals nicht in der Lage, den konkreten Sinn von Geschichten nachzuvollziehen, und können wesentliche Informationen nicht von unwesentlichen unterscheiden. In einer Gesprächssituation ist es sehr wahrscheinlich, dass Menschen mit AS weniger auf die soziale Interaktion als mehr auf Gegenständliches, zum Beispiel sich in der Umgebung befindende Objekte (Muster, Farben), achten.
Allerdings sollte in diesem Zusammenhang auch erwähnt werden, dass durch die Kon- zentration auf Details bei manchen Menschen mit AS auBergewöhnliche Leistungen erst möglich werden. Aufgrund ihrer speziellen Wahrnehmung nehmen sie manchmal Ein- zelheiten wahr, die anderen Menschen gar nicht auffallen. Auch in bestimmten Alltags- situationen kann eine schwache zentrale Kohärenz nützlich sein25.
Diese bietet eine Erklärung für das im DSM-IV festgehaltene Diagnosekriterium von AS, welches die repetitiv und pedantische Befolgung von Regeln beschreibt. 26, Die einmal festgelegten und danach nicht mehr abänderbaren Regeln und Rituale geben Menschen mit AS ein hohes MaB an Sicherheit, da sie Schwierigkeiten haben, die Ko- härenz von sozialen Situationen zu erkennen und sich dementsprechend anzupassen.27
1.1.3 Ursachen
Die Ursachen von AS und anderen autistischen Störungen sind bis heute nicht völlig klar. Es gilt jedoch als gesichert, dass falsche Erziehung nicht ursächlich für AS ist, sondern verschiedene neurologische und biologische Faktoren eine zentrale Rolle spie- len. Genetische Ursachenforschung hat ergeben, dass eine erbliche Komponente, insbe- sondere in der väterlichen Linie, nahe liegt. Untersuchungen der Familienanamnese haben ergeben, dass die Symptome von AS oft in der Verwandtschaft eines Betroffenen gehäuft auftreten.28
Eine weitere vermutete Ursache ist eine Entwicklungsstörung des Gehirns. Einige Stu- dien haben durch das Verfahren der funktionellen Bildgebung gezeigt, dass bei Men- schen mit AS in einigen Hirnregionen eine wesentlich geringere Aktivität festzustellen ist. Diese Hirnregionen sind besonders dann inaktiv, wenn die in der ToM enthaltenen Fähigkeiten gefordert werden. Zurückzuführen ist dies möglicherweise auf eine in einer frühen Entwicklungsphase stattgefundene Fehlentwicklung der Hirnregionen.29 Sie können durch Komplikationen bei Schwangerschaft oder Geburt verursacht werden, beispielsweise in Folge einer Sauerstoffunterversorgung des Gehirns. Es gibt auBerdem Beobachtungen, dass Menschen mit AS ein unterdurchschnittliches Geburtsgewicht und eine geringere GeburtsgröBe aufweisen, oftmals entweder Früh- oder Spätgeburten sind und einen überdurchschnittlich groBen Schädel haben.30
1.1.4 Diagnostik
Bei der Diagnose von AS wird häufig ein Klassifikationssystem angewandt. Die einzel- nen diagnoserelevanten Kriterien sind dort in Kategorien eingeteilt. Entsprechen die Auffälligkeiten einer Person einer der diagnoserelevanten Kriterien, wird sie der Kate- gorie zugeordnet. Für jede Kategorie muss eine bestimmte Anzahl an Kriterien erfüllt sein, damit eine AS Diagnose gestellt werden kann. Eine differenzierte Diagnose ist hier allerdings nicht möglich.
International gebräuchlich sind zwei Klassifikationssysteme: das ICD-10 (International Classification of Diseases)31 der Weltgesundheitsorganisation und das DSM-V (Diagnostic and Stantistic Manual of Mental Disorders) in der vierten Auflage der American Psychiatric Association.32
Beide Klassifikationssysteme durchlaufen wegen des sich ständig verändernden Kennt- nisstandes und des sich aus diesem Grund ständig ändernden Konsens in der internatio- nalen Fachwelt immer wieder Revisionen und Ergänzungen. Zuletzt wurden die Krite- rien der American Psychiatric Association aktualisiert, auf das DSM-IV folgte im Jahr 2013 das DSM-V.
Im DSM-IV wurden noch folgende Kriterien für eine AS-Diagnose aufgeführt:
Kategorie A: Qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion (mindestens zwei der Kriterien müssen erfüllt sein):
A.1: Wesentliche Beeinträchtigung des sozialen Interaktionsverhaltens, welches nicht den verbalen Bereich betrifft, zum Beispiel Augenkontakt, Mimik, Körperhaltung und Gestik.
A.2: Keine dem Entwicklungsstand entsprechende Entwicklung der Beziehung zu Gleichaltrigen.
A.3: Fehlendes Bedürfnis, Freude, Interessen oder Anerkennung mit anderen zu teilen. Dinge, die von Interesse sind oder Freude bereiten, werden beispielsweise anderen Menschen nicht mitgeteilt oder vorgeführt.
A.4: Schwierigkeiten bei der Herstellung sozialer und emotionaler Gegenseitigkeit.
Kategorie B. Eingeschränkte, repetitive und stereotype Verhaltensweisen, persönliche Interessen und Aktivitäten (mindestens eines der Kriterien muss erfüllt sein).
B.1: Intensive Auseinandersetzung mit einem oder mehreren Stereotypien und einge- grenzten Interessen. Inhalt und Intensität sind abnorm.
B.2: Pedantisches Festhalten an bestimmten nicht funktionalen Gewohnheiten oder Ri- tualen.
B.3: Auf motorischer Ebene: repetitive Verhaltensweisen, entweder manuell (Hände, Finger) oder auf den ganzen Körper bezogen.
B.4 Fortlaufende, repetitive Beschäftigung mit einzelnen Teilen von Objekten
Kategorie C: AS führt in klinisch relevanter Weise zu Beeinträchtigungen in sozialen, emotionalen, beruflichen oder anderen Lebensbereichen Kategorie D: Fehlen einer klinisch auffälligen Sprachverzögerung Kategorie E: Fehlen einer klinisch auffälligen Verzögerung der kognitiven Entwicklung. Dies beinhalten auch die altersgerechte Eigenständigkeit, das Anpassungsverhalten an die Umgebung, welches keine sozialen Situationen miteinschlieBt, und das Interesse des Betroffenen an seiner Umwelt.
Kategorie F: Die Diagnosekriterien für andere tiefgreifende Entwicklungsstörungen oder für Schizophrenie werden nicht erfüllt.33
2013 wurde das DSM-V veröffentlicht, in dem AS nicht mehr als Einzelstörung, son- dern als Teil des „Spektrum(s) autistischer Erkrankungen“ aufgeführt wird. Die Be- gründung lautet folgendermaBen:
Die Forscher gehen heute davon aus, dass es sich weniger um unterschiedliche Erkrankungen handelt als um ein Kontinuum von sehr milden bis schweren Verlaufsformen einer Entwick- lungsstörung, die bereits in der frühen Kindheit beginnt. Bei den Symptomen wird unterschie- den zwischen Defiziten in zwei Kategorien: Gestört ist erstens die soziale Interaktion und Kommunikation (zum Beispiel Blickkontakte, Fähigkeit zur Konversation oder Aufbau von Beziehungen fehlen). Zweitens sind repetitive Verhaltensweisen und fixierte Interessen und Verhaltensweisen Merkmale autistischer Störungen. Der Begriff ,mentale Retardierung‘ soil geändert werden in intellektuelle Behinderung ^intellectual disability‘), um die DSM-Kriterien besser den Klassifikationen anderer Fachbereiche (etwa der Erziehungswissenschaft) anzupas Ein weiteres gängiges Verfahren zur Identifikation von Autismus-Merkmalen stellen Fragebögen dar. Je nach Institution, Arzt oder Therapeut kann ein anderer Fragebogen verwendet werden, wobei es für Erwachsene eigene Fragebögen gibt.34 35.
Der Fragebogen erfasst in der Regel Daten zu folgenden Themengebieten: Schwanger- schaft, Geburt, erste Lebensmonate, motorische Entwicklung, Kommunikationsverhal- ten, Spielverhalten, Sprache oder sensorische Auffälligkeiten.
Aus den erhobenen Daten und den Angaben aus weiteren angefügten Unterlagen kann der zuständige Diagnostiker oder Therapeut nach deren Sichtung weitere Vorkehrungen für den Umgang mit dem Patienten36 treffen.
Dennoch kann keiner dieser Fragebögen eine definitive Diagnose im Hinblick auf AS gewährleisten. Es konnten bisher auch keine hinreichenden biologischen und neurolo- gischen Merkmale von AS ausgemacht werden. Somit steht eine Diagnose von AS auf folgender Grundlage: Beobachtbares Verhalten, Interpretation der Fragebögen und an- derer Tests und die Auswertung neuropsychologischer Daten (z.b. EEG).37
Menschen mit AS sind oft noch von weiteren physischen und psychischen Erkrankun- gen betroffen. Differenzialdiagnosen und Begleiterkrankungen sind darum von zentraler Bedeutung, Im folgenden Abschnitt werden einige der möglichen Begleiterkrankungen bei AS aufgezeigt.38
Zu den zentralen Symptomen dieser Störung gehören impulsives Verhalten, motorische Unruhe und Aufmerksamkeitsdefizite. Diese Symptome werden häufig auch als Beglei- tererscheinungen einer autistischen Störung festgestellt, und stellt sowohl eine Komor- bidität als auch eine Differenzialdiagnose dar.
Prof. Dr Beate. Herpertz-Dahlmann rät dazu, dass jedes Kind die Diagnose erhalten solle, die für es am sinnvollsten sei, je nachdem welche der beiden Erkrankungen, ob Asperger oder ADHS, die gröBere Behinderung darstelle.39
Angststörungen oder Phobien gehören zu den häufigsten Begleiterkrankungen bei Men- schen mit AS40. Die am häufigsten genannten Phobien beziehen sich auf Menschenmen- gen, Berührungen und laute Geräusche. Kinder sind häufig zurückgezogen, stellen kei- nen Kontakt zu Gleichaltrigen her und sprechen wenig.
Depression ist eine Begleiterkrankung, die insbesondere mit Beginn der Pubertät oder im Erwachsenenalter auftritt. Häufig geht Depression mit einer sozialen Phobie einher. Gründe für eine Depression oder eine soziale Phobie können in dem zunehmenden Ver- gleich mit Gleichaltrigen, der Entwicklung sexueller Bedürfnisse und der allgemeinen sozialen Isolation liegen. Zu den Folgen einer Depression für den Betroffenen gehören Stimmungsschwankungen, ein negatives Selbstbild und Ess- und Schlafstörungen.
Prof. Dr. Herpertz-Dahlmann zufolge würden Jugendliche mit einer sozialen Phobie häufig aus eigener Initiative für eine AS Diagnose vorstellig werden.41
Bei vielen Menschen mit AS ist oft auch eine Zwangsstörung vorhanden. Zwangsstö- rungen beschreiben das ritualisierte Festhalten an Abläufen und werden im Klassifikati- onssystem ICD-10 unter den Nummern F60.5 (Zwanghafte Persönlichkeitstörung) und F42 (Zwangsstörung) geführt. Beispiele für Zwangsstörungen sind der Zwang zur Reinlichkeit oder der Kontrollzwang. Die Abgrenzung ist hierbei schwierig, da sich die einzelnen Zwänge bei Menschen mit AS nicht von Zwängen bei Menschen ohne AS unterscheiden.42 Jedoch beinhalten die Diagnosekriterien für Zwangsstörungen auch, dass diese den Betroffenen bei der Ausführung normaler Tätigkeiten beeinträchtigen oder ihn quälen.43,44.
Prof. Matthias Dose betont, bei Menschen mit Autismus sei dies häufig nicht der Fall. Auch würden sie die repetitiv und stereotype Ausführung ihrer Aktivitäten meistens nicht als zwecklos oder unangenehm empfinden, sondern sie eher mit Freude und „lust- betont“ betreiben.
Jedoch gebe es einige Symptome der zwanghaften Persönlichkeitsstörung, die auch bei Menschen mit Autismus auftreten könnten. Dazu gehören Perfektionismus, übergenaues Arbeiten, das starre Festhalten an bestimmten Abläufen und Pedanterie. Allerdings würden gleichzeitig zentrale Diagnosekriterien für Zwangsstörungen nicht erfüllt.45
Motorische Störungen werden häufiger im Zusammenhang mit AS beobachtet, sind jedoch kein zentrales Element der Diagnostik. Die am häufigsten beobachteten motori- schen Störungen bei Menschen mit AS sind Störungen des Gangbilds, Hypertonie und Koordinationsstörungen.46
Die Schwierigkeit bei der Diagnose von AS im Erwachsenenalter könnte auch „in unzu- reichenden anamnestischen Informationen zur frühkindlichen Entwicklung“ liegen.47
Es gibt verschiedene Untersuchungen zum Verhältnis männlich:weiblich bei AS- Diagnosen. Eine Studie von Tony Attwood geht davon aus, dass 75 % aller mit AS Di- agnostizierten männlich sind.48 Andere Untersuchungen haben bis zu 90 % männliche Betroffene festgestellt.49
Für Atwood liegt dies aufgrund seiner eigenen klinischen Erfahrung hauptsächlich darin begründet, dass Mädchen und Frauen Kompensationsstrategien für den Umgang mit AS entwickeln. Eine dieser Strategien bestehe beispielsweise darin, durch Beobachtung soziales Verhalten zu lernen und dann zu imitieren, um im sozialen Umfeld nicht weiter auffällig zu werden. Dies führt dazu, dass Mädchen weit weniger als sozial auffällig wahrgenommen werden, ihr Verhalten zeichnet sich hauptsächlich durch Passivität und introvertiertes Auftreten aus.50
Mädchen mit AS würden den Kontakt zu Gleichaltrigen suchen und versuchen, Freund- schaften zu schlieBen. Oftmals hätten sie eine gleichaltrige Person als "beste Freundin" oder "besten Freund", auf die sie regelrecht fixiert seien. Der Wunsch, Freundschaften zu schlieBen, ist laut Atwood bei Mädchen gröBer ausgeprägt als bei Jungen mit AS, und zwar in einem solchen MaBe, dass im Gegensatz zu Jungen nicht von einer „ Unfä- higkeit“ , sondern nur von einem „qualitativen Unterschied“ in Bezug auf soziale Be- ziehungen die Rede ist.51
1.1.5 Therapieansätze
Für die Therapie eines von AS Betroffenen eignen sich mehrere Ansätze. Dazu gehören Ansätze aus der Pädagogik, Psychologie, Psychiatrie, Spieltherapie, Verhaltensthera- pie52, Musiktherapie53 und Tiertherapie54. Laut Elpers wäre auch der Einsatz von Medi- kamenten dann eine Option.55
Sowohl für Attwood56 als auch für PreiBmann57 ist eine gute Beziehung zwischen Therapeut und Patient die Grundvoraussetzung einer erfolgreichen Therapie. AuBerdem solle der Therapeut auf die sprachlichen und kognitiven Bedürfnisse seines Patienten eingehen und diese verstehen.
Eines der wichtigsten Punkte einer Psychotherapie bei Menschen mit AS oder anderen autistischen Störungen ist es, dass der Patient in die Lage versetzt wird, dem Therapeu- ten seine Gedanken und Gefühle mitzuteilen. Gerade hier sein bei Menschen mit Au- tismus jedoch groBe Probleme vorhanden. Dazu schreibt Liane Holliday Willey:„Die Selbstanalyse ist für Asperger- Autisten nicht einfach, besonders für männliche. Manche von uns schaffen es nie, in sich hineinzuschauen und das dann nach auBen zu erklä- ren.“58
Nonverbale Kommunikationsformen für Menschen mit AS sollten in der Therapie als Alternative angewendet werden, zum Beispiel schriftlich, per E-Mail, mit Hilfe der Verwendung anderer Medien oder im so genanten Comic-Gespräch Dort werden Situationen und Gefühle durch Zeichnungen beschrieben. Dies kann auch in Form von Sprechblasen geschehen. Andere neue Medienformen, die im Rahmen ei- ner Therapie eingesetzt werden können, sind Musik, Film, Fernsehen oder Literatur, wenn sich dann durch eine Szene in einem Buch oder Film oder durch eine Textstelle in einem Lied ein Bezug zu den Gefühlen des Patienten findet.
Themen einer Autismustherapie sollten noch Beziehungen und Freundschaften, Sexuali- tät, Wohnen, Schule, Arbeitswelt, Freizeit, Krisen, Familie und die Vermittlung an wei- tere unterstützende Stellen beinhalten.59
2. Fallstudie
2.1. Fallbeschreibung
Im Jahr 2010 wurde bei X ein diagnostisches Erstgespräch in einer Autismustherapie- einrichtung durchgeführt. X wollte eine fragliche AS-Diagnose abklären lassen, nach- dem er sich im Laufe der vorangegangenen Monate autodidaktisch mittels Büchern und Internetrecherchen mit dem Thema beschäftigt hatte, und er im Hinblick auf die eigene Lebenssituation und in Rückschau auf die eigene Entwicklung sehr viele Parallelen sah.
X stellte sich in Begleitung seiner Mutter in der Einrichtung vor. Das Therapieinstitut begrüBt es, wenn bei Erstgesprächen ein Angehöriger dabei ist. So soil gewährleistet werden, dass ein möglichst vollständiges Bild von der Person mit Autismus-Verdacht entsteht. Dies ist insbesondere deshalb wichtig, weil Autismus die Entwicklung eines Menschen von Kindheit an beeinflusst.
In dem Erstgespräch ging es um die Frage, ob die Besonderheiten von X in verschiede- nen Lebensbereichen vor dem Hintergrund von Asperger-Autismus zu sehen sind. Die Daten aus dem Diagnosegespräch und aus dem im Vorfeld des Gesprächs an die Fami- lie ausgegebenen Fragebogens ergaben ein Bild, das einige Hinweise auf Schwierigkei- ten im Erleben zwischenmenschlicher Interaktion erkennen lieB.
Die Vorstellung im Institut bestand aus der Analyse der Vorbefunde und des Fragebo- gens, einem Interview mit der Mutter sowie einem ausführlichen Gespräch mit X von ca. anderthalb Stunden.
Akribisch hatte sich X die Diagnosekriterien von AS erarbeitet und schilderte nun im Detail, warum und in welchem MaBe die einzelnen Kriterien auf seine Person und seine Biografie zutreffen könnten.
X berichtete, dass er sich die Diagnose Autismus im Grunde selbst gestellt hatte. Er war eines Tages zufällig auf die Diagnosekriterien von AS gestoBen und hatte von diesem Moment an eigene Recherchen begonnen. Dies beinhalten das Studium von Fachlitera- tur, den Schilderungen von AS betroffenen Personen und den Gesprächen mit Verwand- ten und Freunde über das eigene Verhalten, insbesondere in der Kindheit.
Schlussendlich war X zu der Erkenntnis gelangt, dass die Merkmale von AS im GroBen und Ganzen auf ihn zu treffen und er dies nun im Rahmen eines Clearings abklären wollte. Dieses Verhalten von X wies auf eine hohe Reflektionsfähigkeit hin, von der die Therapeuten des Autismuszentrums sehr beeindruckt waren, da sie dies bisher nur bei wenigen potentiellen Klienten beobachten konnten. Die im Autismus häufig zuge- schriebene mangelnde emotionale Gegenseitigkeit und die bereits erwähnte mangelnde zentrale Kohärenz sprechen eigentlich gegen eine solche ausgeprägte Reflektionsfähig- keit.
Die Angaben aus der Anamnese ergaben also ein differenziertes Bild, da X sich noch an viele Einzelheiten seiner Entwicklung erinnerte.
Auf Grundlage der Dokumente und der Gespräche kamen die beiden für das Clearing zuständigen Therapeuten zu der Einschätzung, dass, unter Berücksichtigung des bishe- rigen Entwicklungsverlaufs und der aktuellen Symptomatik, folgende Verdachtsdiagno- se vorlag:
Asperger- Störung nach DSM-IV-TR (299.80).
Der anfängliche Verdacht hatte sich im Institut nach Überarbeitung der Informationen aus den beiden Gesprächen erhärtet. Die Kriterien waren erfüllt.
Das Institut sprach letztendlich die Empfehlung für eine Therapie aus.
2.2 Methodik
2.2.1 Protokolle
Die Person, auf der diese Fallstudie basiert, lernte ich während eines Praktikums in ei- ner Autismus-Therapieeinrichtung kennen. Der Kontakt zur Person bestand seit dessen Ersttermin in der Einrichtung und setzte sich während der Therapie fort. Als Praktikant fiel mir während der ganzen Zeit die Aufgabe zu, Protokolle des Erstgesprächs und der Therapiesitzungen anzufertigen. Diese Protokolle bildeten einen wesentlichen Teil der Fallstudie. Erlaubnis des Betroffenen wurde mir erteilt.
2.2.2 Fragebogen
Für die Fallanalyse wurden insgesamt drei Fragebögen verwendet. Zwei Fragebögen wurden von den Eltern des Betroffenen zu Hause bearbeitet, einer vom Betroffenen selbst. Bei den Elternfragebögen handelt es sich um den ASAS (Australische Ein- schätztsskala für das Asperger- Syndrom)60 und um den Fragebogen, der von der Au- tismus Therapieeinrichtung im Vorfeld eines Erstgesprächs verwendet wird . Der Be- troffene füllte den Fragebogen „Autismus Spektrum Quotient- Kurzversion AQ-K“ aus.61 (siehe Anlage)
In beiden Fragebögen soll der Befragte die Häufigkeit eines bestimmten Verhaltens (ASAS), bzw. die Zustimmung zu einer bestimmten Aussage (AQ-K) auf einem Ska- lenniveau einschätzen.
Der vom Autismus-Therapie-Institut erstellte schriftliche Fragebogen deckt verschiede- ne autismusrelevante Themenbereiche ab. Dazu zählen Schwangerschaft und Geburt, Krankheiten, Befunde, Schlaf, Nahrungsaufnahme, Sauberkeit, die ersten Lebensmona- te, motorische Entwicklung, kommunikatives Verhalten, Spiel, Verhaltensauffälligkei- ten und Sprache.
Laut Raab-Steiner und Benesch werden an Fragebögen oft zu hohe Erwartungen ge- stellt. Gerade Laien würden sich von einem Fragebogen oftmals „unbewusste und tief- gründige Erkenntnisse“ erhoffen. Ein Fragebogen helfe lediglich dabei, Einschätzungen zu bestimmten Themen zu erhalten. Für die Evaluation des Fragebogens sei lediglich relevant, was auch tatsächlich gefragt und beantwortet wurde.62
Sämtliche Fragebögen wurden von den Befragten selbstständig und auBerhalb der Ein- richtung bearbeitet. Die Fragebögen wurden per Post gesendet, es wurde lediglich ein ungefährer Zeitrahmen für die Rücksendung des bearbeiteten Fragebogens ausgegeben.
2.2.3 Vorbefunde
Bei X liegt eine Begleiterkrankung in Form einer motorischen Behinderung vor. Als Vorbefund lagen folgende Diagnosen einer Kinderklinik, in welcher sich X vor einigen Jahren in Behandlung befunden hatte, vor: infantile Cerebralparese, spastische Tetra- parese, SpitzfuB beidseitig und beeinträchtigte Handmototik, ebenfalls beidseitig.
Des Weiteren waren folgende Beurteilungen aus dem Bericht der Kinderklinik für die Fallstudie relevant: Intelligenzquotient im verbalen Bereich hoch überdurchschnittlich, im praktischen Bereich hingegen herabgesetzt durch Einschränkungen in der räumli- chen Wahrnehmung, Verlangsamung durch handmotorische Einschränkungen und übergenaues Arbeiten.
Diese zusätzlichen Angaben werden ebenfalls in der Evaluierung berücksichtigten.
2.3. Fallanalyse
2.3.1 Soziale Interaktion und Kommunikation
Die Niederschrift der Autismus-Therapeuten hält fest, dass X im Grunde schon als Kind keine Nähe zu Gleichaltrigen gesucht hat. Andere Kinder aus Kindergarten und Schule, die auf Initiative seiner Mutter zu Besuch kamen, habe er immer zu seinem kleinen Bruder abgeschoben Somit war sein Bruder für X der vorrangige Spielkamerad. Zu Beginn hätten er und sein Bruder vor allem "Rollenspiele unter Einsatz von Stofftieren " gespielt, oder sportliche Spiele wie FuBball im Garten. Da X 3 Jahre älter ist als sein Bruder, fiel es ihm im Kindesalter leicht, bestimmend aufzutreten und die Kontrolle über das Spielen zu haben. X erzählte, er habe sehr viel SpaB am Spiel mit seinem Bruder gehabt, insbesondere an den Rollenspielen.
Ab einem gewissen Punkt sei es jedoch vermehrt zu Meinungsverschiedenheiten mit seinem Bruder in Bezug auf das gemeinsame Spielen gekommen. X wollte weiterhin Rollenspiele spielen, allerdings sollten diesmal "politische Konflikte" das Thema sein. Die Spieler übernahmen dabei die Rolle von Staaten oder Personen, die sich im Krieg befinden, und diplomatische Verhandlungen führen müssen. Sein jüngerer Bruder habe diese Art des Spielens irgendwann entnervt abgelehnt. Ab da seien keine Rollenspiele mehr gespielt worden.
Die Mutter bestätigte im Anamnesegespräch die Schwierigkeiten im gemeinsamen Spiel mit dem Bruder. Die Gründe für diese Probleme hätten für Sie auch darin gelegen, dass es X beim gemeinsamen Spiel, wie zum Beispiel „politische Konflikte“, nicht um das Nachspielen von Gefühlswelten, sondern um Gegenständliches, wie zum Beispiel histo- rische Fakten, gegangen sei. AuBerdem hätte X beim gemeinsamen Spiel mit seinem Bruder immer den Inhalt des Spiels vorgegeben und keine Abweichung geduldet.
Das hier beschriebene Spielverhalten deutet darauf hin, dass X durchaus zum kreativen Spielen in der Lage war. Stofftiere wurden in „als ob“-Spielen „zum Leben erweckt“, ein Spielverhalten, welches Kinder mit AS oder anderen autistischen Störungen selten bis überhaupt nicht zeigen.63 Auch finden sich keine Hinweise auf repetitives oder stereotypes Spielverhalten.
Allerdings wurde das Spielverhalten von X mit seinem Bruder war ab einem bestimm- ten Punkt durch seine Spezialinteressen63 geprägt. Er interessierte sich sehr für politi- sche Konflikte, wollte dies ins Spiel integrieren und überforderte damit seinen Bruder. AuBerdem baut ein Spiel, welches von politischen Konflikten handelt, auf Fakten auf, was wiederum als ein Merkmal des Spielverhaltens von AS-Betroffenen gesehen wird.64 In der Grundschulzeit habe X eigentlich nur einen einzigen Freund gehabt, mit dem er „auch viel Unsinn“ angestellt habe. Dieser Junge sei sein einziger Freund gewesen, und X sei regelrecht fixiert auf diesen Jungen gewesen.
[...]
1 aus Gründen der Anonymisierung wird der richtige Name nicht verwendet.
2 eine vollständige Beschäftigung mit sämtlichen Diagnose- und Therapieverfahren wird im Rahmen dieser Arbeit nicht stattfinden, da eine Bachelorarbeit nicht den Rahmen dafür bietet.
3 Vgl. Weltgesundheitsorganisation, 2007 , URL: http://www.icd-code.de/icd/code/F84.0.html (20.01.2015)
4 Vgl Bölte, 2009, 35
5 Vgl.American Psychiatric Publishing, 2013, URL: http://www.dsm5.org/Documents/Autism%20Spectrum%20Disorder%20Fact%20Sheet.pdf (20.01.2015)
6 Vgl. Universitätsklinik Marburg, 2009, , URL: https://www.uni- marburg.de/fb20/kjp/forschung/aut/ass/tes/fruehkaut (20.01.2015)
7 PreiRmann, 2012 , 8
8 Vgl Bölte, 2009 , 41
9 Schuster, 2007 , 327
10 im weiteren Verlauf der Arbeit wird der Begriff „Asperger-Syndrom“ mit AS abgekürzt.
11 PreiRmann, 2012 , 12
12 Der Begriff Psychopath war zum damaligen Zeitpunkt anders besetzt und hatte nicht die heute gängi- ge, negative Konnotation. Psychopath beschrieb einen Menschen, der Verhaltensauffälligkeiten aufwies und war ein nicht unbedingt abwertend gemeinter Begriff.
13 Vgl. Schirmer,.2003 URL: http://www.dr-brita-schirmer.de/artikel12.html (19.01.2015) und Vgl. Attwood 2007, ,16ff, zitiert nach Asperger, 1944
14 Vgl Attwood, 2007, ,149
15 Vgl Attwood, 2007, ,149
16 Vgl Attwood, 2007, ,149
17 Vgl Attwood, 2007, ,149
18 Vgl Attwood, 2007, ,149
19 Vgl Attwood, 2007, ,149
20 Vgl Attwood, 2007, ,149
21 Schuster,2007, 150
22 Schuster,2007, 150
23 Vgl Attwood, 2007,,150ff
24 Vgl Attwood, 2007,,150ff
25 Vgl Attwood, 2007,,150ff
26 Vgl Attwood, 2007,,150ff
27 Vgl Attwood, 2007,,150ff
28 Vgl. National Institute of Neurological Disorders and Stroke: .2012, URL: http://www.ninds.nih.gov/disorders/asperger/detail_asperger.htm (18.01.2015)
29 Vgl. PreiRmann, 2012 , 9ff
30 Vgl. Atwood, 2007, ,391ff
31 Vgl. Weltgesundheitsorganisation, o.j. URL: http://www.who.int/classifications/icd/en/ (17.01.2015)
32 Vgl. American Psychiatric Publishing, 2013, URL: http://www.dsm5.org/Documents/Autism%20Spectrum%20Disorder%20Fact%20Sheet.pdf (20.01.2015)
33 Vgl. American Psychiatric Association: “Diagnostic criteria for 299.80 Asperger's Disorder”, 1994, URL: http://behavenet.com/node/21484 (16.01.2015)
34 Vgl. Ärzteblatt: “Erste Einblicke in das neue Psychiatrie Handbuch“ URL: http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/40054/DSM-V-Erste-Einblicke-in-das-neue-Psychiatrie- Handbuch (18.01.2015)
35 Vgl. Atwood, 2007, ,49
36 in diesem Zusammenhang wird auch häufig der Begriff Klient mit dem Begriff Patient synonym ver- wendet, wobei Angehörige von Heilberufen Patienten haben und ein Klient jemand ist, der gegen Bezah- lung Hilfe sucht. (vgl. Duden)
37 Vgl. Kamp-Becker,2008 , 224ff
38 Eine genaue Beschäftigung mit sämtlichen Komorbiditäten und Differentialdiagnosen wird es im Rahmen dieser Arbeit nicht geben
39 Vgl. Herpertz-Dahlmann, 2008, 46
40 Vgl.Atwood, , 2007, , 179
41 Vgl.Herpertz-Dahlmann, 2008 , 47ff
42 Vgl.Remschmidt, u. Kamp-Becker, 2007, , 873ff (http://www.aerzteblatt.de/archiv/55038)
43 Weltgesundheitsorganisation, o.J, URL: http://www.icd-code.de/icd/code/F42.-.html (17.01.2015)
44 http://www.icd-code.de/icd/code/F60.5.html
45 Vgl.Dose,2009 (http://www.autismus-karlsruhe.de/resources/ASS-Erwachsene_Neurotransmitter_7- 8-2009.pdf)
46 Vgl. Remschmidt, 2000. (http://www.aerzteblatt.de/archiv/22954/Das-Asperger-Syndrom-Eine-zu- wenig-bekannte-Stoerung)
47 Vgl. Kumbier, 2008 , 132
48 Vgl. Atwood, 2007,59
49 Vgl. Noterdaeme, , 2008
50 Vgl. PreiRmann, 2013, 8
51 Vgl. Atwood, 2007,60
52 Vgl. Schirmer, 2006, 7ff
53 Vgl. Schumacher u. Calvet 2006, 29ff
54 Vgl. Matzies, 2006, 91ff
55 Vgl. Elpers, 2006, 107ff
56 Vgl. Atwood 2007, 377
57 Vgl. PreiRmann 2007, 23
58 Vgl. Willey,, 2001, 87
59 Vgl. PreiRmann, 2007, 5
60 deutsche Übersetzung aus: Attwood, 2000
61 Vgl. Baron-Cohen, 2001, deutsche Übersetzung: Christine Freitag.
62 Raab-Steiner u. Benesch, 2012, 45
63 Vgl Kapitel „Spezialinteressen“
64 Vgl. Attwood, 2007, 75
- Citar trabajo
- Robert Marquart (Autor), 2015, Fallstudie eines Erwachsenen mit Asperger-Syndrom, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/901641
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