Anorexia nervosa, im Folgenden auch Anorexie oder Magersucht genannt, ist ein seit ca. 100 Jahren bekanntes Krankheitsbild, das seither großes Interesse weckt. Seit dieser Zeit wird zunehmend Literatur zur Problematik, Entstehung und Behandlung der Magersucht sowie zu Zwecken der Aufklärung veröffentlicht. Im Zentrum stehen dabei fast ausschließlich die magersüchtigen jungen Frauen bzw. ihre Symptomatik.
Bei meiner Literaturrecherche stellte ich fest, dass sich kaum eine Abhandlung mit Blick auf die HelferInnen finden lässt. Bestenfalls wurde die Rolle der HelferInnen unter dem Aspekt beleuchtet, wie sie zu sein und zu arbeiten haben, damit es gut für die magersüchtigen jungen Frauen ist. Es ist aber kaum etwas darüber zu erfahren, was die Arbeit für Auswirkungen auf die HelferInnen hat und was sie in ihnen auslösen kann.
Dies motivierte mich im Rahmen meiner Diplomarbeit die HelferInnen in den Mittelpunkt zu stellen. Ich möchte u.a. der Frage nachgehen, welche Schwierigkeiten und Belastungen die Arbeit mit magersüchtigen Frauen für die HelferInnen mit sich bringen kann. Ich gehe davon aus, dass die Arbeit mit anorektischen Frauen spezifische Schwierigkeiten und Belastungen für die HelferInnen birgt. Weiterhin möchte ich mein Augenmerk darauf richten, ob und wie die Arbeit Alltagsgewohnheiten der HelferInnen sowie deren Beziehung zu zentralen Themen der Magersucht, nämlich Essen und Gewicht verändern kann.
Da ich die HelferInnen in den Mittelpunkt stellen wollte, lag es nahe, sie im Rahmen von Interviews selbst zu Wort kommen zu lassen. Deshalb habe ich eine explorative Studie mittels eines halbstandardisierten Fragebogens durchgeführt.
Die interviewten HelferInnen, allesamt SozialpädagogInnen, SozialarbeiterInnen oder Erzieherinnen, sind in unterschiedlichen Einrichtungen beschäftigt. Dadurch sollte gewährleistet sein, dass Unterschiede im Aufgabenbereich erfasst werden können.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Blick auf die Problematik der Klientinnen
2.1 Epidemiologie der Magersucht
2.2 Diagnostische Kriterien der Anorexia nervosa
2.3 Somatische Folgen der Anorexia nervosa
2.4 Sonstige Folgen
3 Blick auf die Problematik der HelferInnen
3.1 Das Burnout-Syndrom
3.2 Die berufliche Deformation
3.3 Die sekundäre Traumatisierung
4 Methodisches Vorgehen
4.1 Stichprobenbeschreibung
4.1.1 Exkurs: Statistische Angaben und geschätzte Anzahl anorektischer junger Frauen in Freiburg Stadt bzw. im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald
4.1.2 Die InterviewpartnerInnen
4.1.3 Aufgaben der Befragten in der Arbeit mit Magersüchtigen
4.2 Das Erhebungsverfahren
4.3 Die Interviewfragen
4.4 Das Auswertungsverfahren
5 Überlegungen zu möglichen zusammenhängen verschie- dener Merkmale und der Beantwortung einzelner Fragen
5.1 Das Alter
5.2 Das Geschlecht
5.3 Die Berufserfahrung
5.4 Die Kontakthäufigkeit
5.5 Der Aufgabenbereich
5.6 Beruf - Privat
6 Auswirkungen durch die Arbeit mit Magersüchtigen auf das Team
6.1 Haben Sie in der Arbeit mit magersüchtigen jungen Frauen schon einmal im Team gearbeitet? Haben Sie Auswirkungen durch die Arbeit auf das Team bemerkt?
6.2 Auswirkungen durch die Arbeit auf das Team
6.3 Exkurs: Wie das Team in den Augen der Befragten arbeiten muss
6.4 Exkurs: Die Bedeutung eines gut kooperierenden Teams für die Magersüchtige
7 Schwierigkeiten in der Arbeit mit Magersüchtigen
7.1 Ist die Arbeit mit Magersüchtigen Ihrer Erfahrung nach besonders schwierig?
7.2 Worin sehen Sie Schwierigkeiten?
8 Belastungen in der Arbeit mit Magersüchtigen
8.1 Erleben Sie die Arbeit mit Magersüchtigen als belastend?
8.2 Welcher Art sind diese Belastungen?
9 Umgang mit den Belastungen - Bewältigungsversuche
9.1 Haben Sie Versuche unternommen, mit diesen Belastungen umzugehen? Was waren das für Versuche?
9.2 Exkurs: Das Salutogenese-Modell nach Aaron Antonowsky
10 Gefühle, die nach einem zeitintensiven Tag mit Magersüchtigen auftreten können
10.1 Erleben Sie Tage, an denen Sie viel Zeit mit Magersüchtigen verbringen? Erleben Sie nach einem solchen Tag bestimme Gefühle?
10.2 Wie würden Sie diese Gefühle beschreiben?
11 Veränderungen von Alltagsgewohnheiten durch die Arbeit mit Magersüchtigen
11.1 Wenn Sie zurückdenken, haben Sie den Eindruck, dass sich durch die Arbeit mit magersüchtigen jungen Frauen etwas in Ihren Alltagsgewohnheiten verändert hat?
11.2 Was hat sich verändert?
12 Veränderungen in der Beziehung zum Thema Essen durch die Arbeit mit Magersüchtigen
12.1 Wenn Sie zurückdenken, haben Sie dann den Eindruck, dass sich etwas in Ihrer Beziehung zum Thema Essen verändert hat?
12.2 Was hat sich verändert?
13 Veränderungen in der Beziehung zum Thema Gewicht durch die Arbeit mit Magersüchtigen
13.1 Wenn sie nochmals zurückdenken, haben Sie dann den Eindruck, dass sich durch die Arbeit etwas in Ihrer Beziehung zum Thema Gewicht verändert hat?
13.2 Was hat sich verändert?
13.2.1 Exkurs: Die feministische Betrachtung der Magersucht
14 Wie wäre es, wenn Sie sich jedwede Unterstützung in Ihrer Arbeit mit Magersüchtigen wünschen könnten? Welche Wünsche hätten Sie?
15 Darstellung der wesentlichen Aussagen und Inhalte des Interviews sowie Anregungen für Handlungsmöglichkeiten
16 Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Anhang
A) Das Interview
B) Die InterviewpartnerInnen
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
Anorexia nervosa, im Folgenden auch Anorexie oder Magersucht genannt, ist ein seit ca. 100 Jahren bekanntes Krankheitsbild, das seither grosses Interesse weckt.[1] Seit dieser Zeit wird zunehmend Literatur zur Problematik, Entstehung und Behandlung der Magersucht sowie zu Zwecken der Aufklärung veröffentlicht. Im Zentrum stehen dabei fast ausschließlich die magersüchtigen jungen Frauen bzw. ihre Symptomatik.
Bei meiner Literaturrecherche stellte ich fest, dass sich kaum eine Abhandlung mit Blick auf die HelferInnen[2] finden lässt.
Dies motivierte mich im Rahmen meiner Diplomarbeit die HelferInnen in den Mittelpunkt zu stellen. Ich möchte u.a. der Frage nachgehen, welche Schwierigkeiten und Belastungen die Arbeit mit magersüchtigen Frauen für die HelferInnen mit sich bringen kann. Ich gehe davon aus, dass die Arbeit mit anorektischen Frauen spezifische Schwierigkeiten und Belastungen für die HelferInnen birgt. Weiterhin möchte ich mein Augenmerk darauf richten, ob und wie die Arbeit Alltagsgewohnheiten der HelferInnen sowie deren Beziehung zu zentralen Themen der Magersucht, nämlich Essen und Gewicht verändern kann.
Ausgangspunkt für meine Überlegungen war zunächst ein sechsmonatiges Praktikum in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik. Ich hatte in diesem Rahmen selbst intensiven Kontakt zu Magersüchtigen, u.a. auch deshalb, da ich in der Bezugspflege einer Magersüchtigen mitarbeitete. Ich habe gespürt, wie schwierig und belastend für mich die Arbeit oft war. Diese Schwierigkeiten und Belastungen in der Arbeit mit Magersüchtigen äußerten sich in einer anderer Form als im Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit anderen Krankheitsbildern. Gleichzeitig habe ich bemerkt, dass ich mich durch die Arbeit verstärkt mit Themen wie Essen, Gewicht und Frausein konfrontiert sah.
Im Rahmen eines Seminars bin ich darauf gestoßen, dass man psychosoziale Arbeit nicht nur mit dem Blick auf die KlientInnen, sondern auch mit dem auf die HelferInnen betrachten kann und sollte.
Dadurch sensibilisiert, fiel mir bei meiner Literaturrecherche zu Magersucht mehr und mehr auf, dass selten etwas über die HelferInnen geschrieben wird. Bestenfalls wurde die Rolle der HelferInnen unter dem Aspekt beleuchtet, wie sie zu sein und zu arbeiten haben, damit es gut für die magersüchtigen jungen Frauen ist[3]. Es ist aber kaum etwas darüber zu erfahren, was die Arbeit für Auswirkungen auf die HelferInnen hat und was sie in ihnen auslösen kann.
Durch meine eigenen Erfahrungen während des Praktikums und die Anregungen des Seminars bezüglich der Helferarbeit stand der Fokus meiner Arbeit fest: die HelferInnen.
Da ich die HelferInnen in den Mittelpunkt stellen wollte, lag es nahe, sie im Rahmen von Interviews selbst zu Wort kommen zu lassen. Deshalb habe ich eine explorative Studie mittels eines halbstandardisierten Fragebogens durchgeführt.
Die HelferInnen, allesamt SozialpädagogInnen, SozialarbeiterInnen oder Erzieherinnen, sind in unterschiedlichen Einrichtungen beschäftigt. Dadurch sollte gewährleistet sein, dass Unterschiede im Aufgabenbereich erfasst werden können.
Meine Arbeit bezieht sich ausschließlich auf magersüchtige Mädchen und Frauen. Zum einen entspricht dies dem repräsentativen Verteilungsbild. Mädchen und Frauen sind ca. 15 - 20mal häufiger betroffen als Jungen bzw. Männer[4]. Zum anderen gibt es zu Magersucht bei Männern bisher sehr wenig Literatur. Ich beschränke mich deshalb auf Mädchen und Frauen und verwende im Zusammenhang mit Magersüchtigen ausschließlich die weibliche Form. Dabei möchte ich in keiner Weise die Notwendigkeit der Beachtung von Männern mit Essstörungen untergraben.
In der Arbeit bezeichne ich anorektische Frauen auch als Magersüchtige. Ich möchte ausdrücklich betonen, dass ich diese Formulierungen nur zur besseren Lesbarkeit verwende. Angemessener wäre die durchgängige Bezeichnung „magersüchtige bzw. anorektische (junge) Frauen“, um die Betroffenen nicht auf ihr Symptom zu reduzieren.
Ferner soll damit nicht der Eindruck erweckt werden, dass es die typisch Magersüchtige gäbe. Dem ist nicht so.[5] Es gibt zwar eine Reihe von Gemeinsamkeiten, aber jede Einzelne ist auch innerhalb ihrer Krankheit ein Individuum. Dieses Faktum möchte ich durch die o.g. Formulierungen in keiner Weise missachten.
Ich möchte Ihnen nun den Aufbau der Arbeit vorstellen.
Zu Beginn der Arbeit richte ich den Fokus auf die Problematik der Klientinnen. Um die spezifischen Schwierigkeiten und Probleme der HelferInnen durch die Arbeit mit Magersüchtigen verstehen zu können, muss man zunächst einen Einblick in das Krankheitsbild Magersucht haben. Diesen Einblick stelle ich an den Anfang. Ich gehe dabei zunächst auf die Epidemiologie der Anorexie ein. Danach stelle ich die diagnostischen Kriterien gemäß des DSM-IV respektive des ICD-10 vor. Darauf aufbauend nenne ich mögliche somatische sowie sonstige Folgen, die für die Klientinnen aus ihrer Magersucht resultieren.
Im Anschluss daran schwenke ich den Blick auf die Problematik der HelferInnen und damit auf den eigentlichen Schwerpunkt meiner Arbeit. Ich lege die Besonderheiten für HelferInnen in der psychosozialen Arbeit allgemein dar, um dann mit einem ersten Blick auf die Arbeit mit Magersüchtigen näher ins Detail zu gehen.
Für meine eigenen Überlegungen hinsichtlich Schwierigkeiten und Belastungen in der Arbeit mit Magersüchtigen sowie Auswirkungen der Arbeit auf die HelferInnen, habe ich die Konzepte des Burnout-Syndroms, der beruflichen Deformation sowie Untersuchungsergebnisse zu Belastungen und Auswirkungen auf die HelferInnen in der Arbeit mit Traumatisierten herangezogen. Ich versuche, sowohl die Konzepte als auch deren Bedeutung für meine Arbeit transparent zu machen. Gleichzeitig möchte ich verdeutlichen, warum diese Konzepte aus meiner Sicht nicht ausreichend für die Arbeit mit Magersüchtigen sind und folglich weiterführende Überlegungen angestellt werden müssten.
Nach dieser Heranführung an das Thema Magersucht und den daraus resultierenden Problematiken werde ich dem Leser mein methodisches Vorgehen bei der Planung und Durchführung der explorativen Studie vorstellen. Ich beschreibe dem Leser die Stichprobe und stelle die Interviewfragen und deren Hintergründe sowie das Auswertungsverfahren des Interviews vor. Ziel ist es, dem Leser damit verständlich zu machen, wie ich zu den Fragen gelangt bin und was meine jeweilige Intention hinter den Fragen war.
Anschliessend möchte ich der Frage nach möglichen übergreifenden Zusammenhängen verschiedener Merkmale und der Beantwortung der Fragen nachgehen. Sollte sich bestätigen, dass es spezifische Schwierigkeiten und Belastungen in der Arbeit gibt sowie Auswirkungen der Arbeit auf die HelferInnen möglich sind, möchte ich folgende weiterführende Überlegung anstellen: sind Helferinnen durch die verstärkte Konfrontation mit prädisponierenden Faktoren der Magersucht, wie z.B. Frauenbild und Schlankheitsideal, stärker belastet und beeinflusst in ihrer Beziehung zu Essen und Gewicht als Helfer, da eine höhere Identifikation mit den Klientinnen bestehen kann?
Danach widme ich mich der Auswertung der konkreten Antworten der HelferInnen zu den einzelnen Fragen. Ich nenne die Einrichtung, in welcher der jeweilig zitierte Befragte arbeitet, nur dann, wenn es meines Erachtens einer besonderen Hervorhebung bedarf oder der Verdeutlichung des Zitats dient.
Ich möchte mit möglichen Auswirkungen auf das Team beginnen, um danach das Individuum HelferIn in den Mittelpunkt zu rücken. Ich bearbeite die Frage nach (spezifischen) Schwierigkeiten und Belastungen in der Arbeit mit Magersüchtigen und möglichen Bewältigungsstrategien. Eine weitere Frage beschäftigt sich mit den durch die Arbeit ausgelösten Emotinen.
Im Anschluss möchte ich der eingangs erwähnten Hypothese nachgehen, ob und inwiefern durch die Arbeit Alltagsgewohnheiten der HelferInnen verändert werden können. Gleiches gilt für die Einstellung zu den Themen Essen und Gewicht.
Die letzte Frage des Interviews betrifft die Unterstützungswünsche der HelferInnen für die Arbeit. Ich möchte in der Auswertung aufzeigen, was die HelferInnen sich wünschen, um die Arbeit für sich und die Klientinnen gut leisten zu können.
Abrunden möchte ich die Auswertung, indem ich die wesentlichen Inhalte und Aussagen des Interviews nochmals aufgreife und zusammenfasse. Ich möchte weiterführende Überlegungen dazu anstellen und mögliche Handlungsoptionen ableiten und vorschlagen. Diese Inhalte werde ich in Kapitel 15 darstellen.
Am Ende dieser Arbeit möchte ich meine dahinterstehenden Intentionen und Ausgangsüberlegungen sowie die diesbezüglich erhaltenen Ergebnisse reflektieren und dazu Resumee ziehen.
Ich möchte den Leser noch darauf hinweisen, was ihn in dieser Arbeit nicht erwartet. Ich werde keinen ausführlichen, sondern lediglich einen kurzen Überblick der Magersucht im Rahmen dieser Arbeit bieten können. Dies ist schon allein darin begründet, dass die HelferInnen im Zentrum stehen. Ich werde im Überblick versuchen, die Aspekte herauszuarbeiten, die für einen ersten Eindruck sowie für das Verständnis der Situation der HelferInnen notwendig sind. Bis auf einen Exkurs zur Betrachtung der Anorexie aus feministischem Blickwinkel stelle ich keine theoretischen Schulen zur Ursachenklärung der Magersucht im Speziellen vor. Wen die verschiedenen Erklärungsmodelle sowie Therapieformen interessieren, möchte ich an dieser Stelle auf die einschlägige Literatur verweisen.
2 Blick auf die Problematik der Klientinnen
In diesem Kapitel möchte ich den Blick auf die Problematik der Klientinnen richten. Es ist erforderlich, einen Einblick in das Krankheitsbild der Anorexia nervosa zu haben, um die daraus resultierenden spezifischen Probleme für die HelferInnen besser verstehen und nachvollziehen zu können.
Innerhalb dieses Kapitels bzw. der gesamten Arbeit biete ich nur einen überblicksartigen Abriß darüber, was Magersucht ist und was es heißt, magersüchtig zu sein. Grund dafür ist, dass die zentrale Stellung innerhalb dieser Arbeit den HelferInnen zukommen soll.
Für eine Gesamtbetrachtung der Magersucht, falls eine solche überhaupt möglich ist, möchte ich auf die Fachliteratur verweisen. Vorschläge hierzu sind im Literaturverzeichnis zu finden.
Zunächst gehe ich auf die Epidemiologie der Anorexie ein. Danach stelle ich die diagnostische Kriterien der Magersucht vor. Im Anschluss daran benenne ich mögliche somatische Folgeschäden und Komplikationen sowie sonstige Folgen der Anorexie für die Magersüchtigen. Da es sich bei der Anorexie um eine Krankheit mit möglicherweise tödlichem Ausgang handelt[6], ist es meines Erachtens wichtig, auch die somatischen Folgen zu kennen, wenn man (potentiellen) Kontakt mit Magersüchtigen hat.
2.1 Epidemiologie der Magersucht
Anorexia nervosa ist eine Erscheinungsform von Essstörungen. Am häufigsten davon betroffen sind Frauen. Das Haupterkrankungsalter liegt zwischen dem ca. 13. und 30. Lebensjahr[7], wobei der Erkrankungsgipfel ca. im Alter zwischen 15 und 20 Jahren liegt[8]. Darum wird im Deutschen auch häufig der Begriff Pubertätsmagersucht verwendet. Die Betroffenen werden zunehmend jünger, so dass Ersterkrankungen bereits vor dem 10. Lebensjahr möglich sind.[9] Auch Franke (1994)[10] gibt an, dass das Erkrankungsalter in den letzten 20 bis 25 Jahren stark nach unten gegangen ist.
Die Prävalenzrate (Häufigkeit) in der oben genannten Hauptrisikogruppe liegt bei 0,5 bis 0,8%[11]. Nach Csef (1997)[12] haben Studien (z.B. von Feiereis 1989) eine Häufigkeitszunahme der Anorexie in den letzten zwei Jahrzehnten belegt.
2.2 Diagnostische Kriterien der Anorexia nervosa
Zur Diagnose einer Anorexia nervosa können zwei unterschiedliche Diagnoseverfahren, das DSM IV der American Psychiatric Association sowie die ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation herangezogen werden.
Die diagnostische Kriterien gemäß des DSM-IV sind[13]:
A) Das Mädchen bzw. die Frau weigert sich, ihr Körpergewicht auf dem Minimum des ihrem Alter und ihrer Größe entsprechenden Gewichts zu halten.
B) Sie zeigt trotz bestehenden Untergewichts ausgeprägte Ängste vor einer Gewichtszunahme oder davor, zu dick zu werden.
C) Die Wahrnehmung der eigenen Figur und des eigenen Körpergewichts ist bei dem Mädchen bzw. der Frau gestört. Das Körpergewicht oder die Figur hat einen übertriebenen Einfluss auf die Selbstbewertung. Der Schweregrad des gegenwärtig geringen Körpergewichts wird geleugnet.
D) Bei Mädchen bzw. Frauen, die bereits menstruierten, ist eine Amenorrhoe festzustellen, d.h. mindestens drei aufeinander folgende Menstruationszyklen bleiben aus.
Der Gewichtsverlust wird gemäß der ICD-10[14] durch folgende Maßnahmen selbst herbeigeführt:
a) „Vermeidung von hochkalorischen Speisen; sowie eine oder mehrere der folgenden Verhaltensweisen:
b) selbst induziertes Erbrechen;
c) selbst induziertes Abführen;
d) übertriebene körperliche Aktivitäten;
e) Gebrauch von Appetitzüglern oder Diuretika“ (Entwässerungspräpara-
te).
Unabhängig voneinander unterscheiden das DSM-IV und die ICD-10 zwei Untertypen der Anorexia nervosa[15]:
1. Die restriktive Form der Anorexie: Der Gewichtsverlust wird ohne selbstinduziertes Erbrechen oder Missbrauch von Laxantien (Abführmittel), Diuretika oder Klistieren (Einläufe) herbeigeführt. (Auch asketische bzw. passive Form der Anorexie genannt.)
2. Die bulimische Form der Anorexie: Der Gewichtsverlust wird zusätzlich durch Erbrechen oder Missbrauch von Laxantien, Diuretika oder Klistieren herbeigeführt. Unter Umständen erfolgen diese aktiven Maßnahmen in Verbindung mit Heißhungerattacken. (Auch aktive Form oder Binge-Eating bzw. Purging-Typus genannt.)
2.3 Somatische Folgen der Anorexia nervosa
Dieses Kapitel soll einen Überblick über die wichtigsten potentiellen somatischen Folgen und Komplikationen der Magersucht bieten.[16]
Die häufigsten Begleiterscheinungen einer Anorexie[17] sind Elektrolytstörungen, d.h. Störungen bzw. Mangel im Salzhaushalt des Körpers[18] sowie eine Verschiebung des ph-Wertes des Blutes. Die Ursache dieser Störungen liegen sowohl im extremen Fasten, als auch im Erbrechen sowie dem Diuretika- und Laxantienabusus. Diese Elektrolytstörungen können zu Herzrhythmusstörungen führen.
Durch das unausgewogene Fasten der Magersüchtigen entsteht zudem ein Vitamin-, Mineralstoff- und Folsäuremangel. Dies kann zu Blutbildveränderungen wie Anämie (Blutarmut) und Nervenschädigungen führen.
Durch Vitamin-D-Mangel kann in Verbindung mit anderen Begleiterscheinungen der Magersucht[19] eine Knochenerweichung sowie Osteoporose auftreten.
Eine zunehmende Beeinträchtigung der Nierenfunktion kann eine weitere Folge sein. Diese ist zunächst rückbildungsfähig. Durch langjährigen Kaliummangel kann die Niere aber dauerhaft geschädigt werden, so dass eine chronische Niereninsuffizienz (Funktionsschwäche der Niere) entsteht.
Bei schnellem Gewichtsverlust greift der Körper zu einer Gegenmaßnahme, einer Art „Energiesparprogramm“. Er arbeitet sozusagen „auf kleiner Flamme“, so dass das Gewicht nicht weiter sinkt. Dieses „Energiesparprogramm“ äußert sich z.B. in Durchblutungsstörungen, in einer Amenorrhoe sowie in niedrigem Blutdruck, der zu Schwindel und Kreislaufstörungen führt. Durch diese Gegenmaßnahme bleibt der Körper und somit die Magersüchtige selbst leistungsfähig und funktionstüchtig mit einem in der Regel plötzlichen Zusammenbruch.
Durch dauerhaften Laxantienabusus kann zunehmend Obstipation (Verstopfung) eintreten.
2.4 Sonstige Folgen
Durch den Hungerzustand können psychopathologische Phänomene hervorgerufen werden, die gleichzeitig zur Aufrechterhaltung der Krankheit beitragen. Somit entsteht eine Art Teufelskreis.
Die Mangelernährung kann u.a. eine Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit, Interesselosigkeit, Stimmungslabilität sowie Entschlusslosigkeit bewirken. Diese krankheitsunterhaltenden Faktoren können eine negative Rückkopplung auf das Selbstkonzept der magersüchtigen Frau haben, was den pathologischen Umgang mit Nahrung intensiviert.[20] Denn die Magersüchtige sieht ihren Gewichtsverlust als Leistung an, der ihr eine positive Selbstverstärkung verschafft und auf dem sie ihr Selbstbewusstsein aufbauen kann.[21]
Magersüchtige beschäftigen sich in extremen Ausmaß mit Essen. Ihre Gedanken kreisen ständig um Nahrung, Essen und Dicksein.[22] Durch die überwiegende Auseinandersetzung mit diesen Themen, dem abnormen Essverhalten sowie der Stimmungslabilität, die bis zu Depressionen reichen kann, wird der soziale Rückzug der Betroffenen forciert. Durch den sozialen Rückzug werden die Defizite im Selbstwertgefühl und der Selbstwahrnehmung verstärkt. Um die vermeintlich fehlende Attraktivität zu erreichen, wird diese an einen weiteren Gewichtsverlust gebunden.[23]
Zusammenfassung:
Magersucht ist eine psychosomatische Krankheit[24], welche durch extremes Abmagern der Klientinnen gekennzeichnet ist und im Extremfall tödlich endet. Die Folgen der Mangelernährung reichen sowohl in den somatischen, wie auch in den psychischen und psychosozialen Bereich hinein. Kennzeichnend ist die Krankheitsuneinsicht oder das Krankheitsleugnen der Klientinnen (siehe diagnostische Kriterien).
Nach dieser Einführung in die Problematik der Klientinnen möchte ich im nun folgenden Kapitel die Problematik der HelferInnen in den Mittelpunkt stellen.
3 Blick auf die Problematik der HelferInnen
Wie bereits in der Einleitung erwähnt, bin ich durch ein Praktikum in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik auf die Problematik der HelferInnen in der Arbeit mit Magersüchtigen aufmerksam geworden. Während der Literatursichtung habe ich ein breiteres Verständnis für psychosoziale Arbeit allgemein bzw. für die Arbeit mit psychisch kranken Menschen sowie für die Arbeit mit Magersüchtigen im Speziellen bekommen.
Dabei wurde immer deutlicher, dass psychosoziale Arbeit in besonderer Weise die ganze Person der HelferInnen fordert.[25] Von HelferInnen wird erwartet, dass sie sich in ihre KlientInnen einfühlen, deren Perspektive einnehmen können und gleichzeitig die notwendigen Grenzen aufrechterhalten. Bei psychosozialer Arbeit entstehen persönliche Beziehungen. HelferInnen haben nicht nur Teil an den Problemen ihrer KlientInnen, sondern vielmehr auch an deren emotionalen Zustand und deren Leid.[26] Die Konfrontation mit den Emotionen und dem Leid der KlientInnen ist ein zentraler Punkt in der Arbeit. Geht es den KlientInnen besser, sind sie auf die Hilfe nicht mehr angewiesen und bleiben weg. Nur selten haben die HelferInnen in der gleichen Intensität am Wohlergehen der KlientInnen, wie an deren Leid teil. Fast ausschließlich das Leid der KlientInnen zu erleben kann auf Dauer sehr belastend sein. Hinzu kommt oftmals das Gefühl der HelferInnen, nicht genug zu tun, sei es für einzelne KlientInnen oder in der gesamten Arbeit.[27] Dies kann gleichsam belastend sein.
Schafft es der Helfer nicht, mit diesen Belastungen umzugehen, so wird er „manövrierunfähig“. Er wird müde und erschöpft und erlebt seine Arbeit womöglich als sinnlos. Seine Kreativität wird durch die Last erdrückt.[28] Dies mag nicht nur den Beruf, sondern auch sein Privatleben betreffen.
Dörner u. Plog (1996)[29] bezeichnen den psychiatrisch Tätigen als „Ersatzspieler“ für Personen aus dem sozialen Umfeld der KlientInnen. Meiner Meinung nach kann man generell HelferInnen der psychosozialen Arbeit darunter subsumieren. Als „Ersatzspieler“ haben HelferInnen nach Dörner u. Plog die Aufgabe, herauszufinden, „wie die eigentlichen Spieler zusammen spielen“[30], welche Anteile an der derzeitigen Situation von dem einen, welche von dem anderen „Spieler“ stammen, wie sich das „Zusammenspiel“ wechselseitig bedingt und welche neuen Wege möglich und sinnvoll sind. Dies setzt aber gleichzeitig die Bereitschaft der HelferInnen voraus, sich auf Übertragungen und Gegenübertragungen einzulassen und sich damit aktiv und reflektiert, evtl. auch innerhalb eines Teams, auseinanderzusetzen. Folglich ist psychosoziale Arbeit nicht nur eine Arbeit für und mit anderen, sondern bedeutet eine aktive Auseinandersetzung mit sich selbst.
Des Weiteren addiert sich ein gesellschaftlicher Aspekt hinzu. Psychosoziale Arbeit erfährt in unserer Gesellschaft häufig nicht den Stellenwert, den sie verdient. Dies gilt insbesondere für die Arbeit mit psychisch Kranken.[31] Psychisch krank zu sein findet in unserer Gesellschaft geringere Akzeptanz als eine rein somatische Erkrankung. Sie kann oftmals eine ausgrenzende Wirkung haben. Psychisch Kranke, insbesondere psychosomatisch Erkrankte, werden häufig stigmatisiert.[32] Durch die geringe gesellschaftliche Akzeptanz dieser Krankheiten widerfährt den HelferInnen in diesen Arbeitsbereichen oftmals eine geringe Wertschätzung.[33] Gleichzeitig ist im Mangel an Anerkennung für die Arbeit nach Gillespie et al. (1984)[34] ein Belastungsmoment zu sehen, das bei HelferInnen zu Erschöpfung und Resignation führen kann.
Die Arbeit mit Magersüchtigen ist ein Teilbereich psychosozialer Arbeit. Gerlinghoff (1988) schreibt diesbezüglich[35]: Die anorektische Behandlung „reicht sehr weit in Bereiche der menschlichen Beziehung ganz allgemein, berührt Fragen des Umgangs miteinander und der Lebensführung ebenso wie das Selbstverständnis des Therapeuten.“
Trotz ausführlicher Recherchen habe ich keine Hinweise auf Forschung zum Thema Schwierigkeiten, Belastungen und Auswirkungen der Arbeit mit Magersüchtigen auf die HelferInnen finden können. Weder bei Literaturrecherchen noch bei gezielten Anfragen, z.B. bei ANAD e.V.-pathways in München oder beim Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim (ZI), konnte ich entsprechende Hinweise oder gar Ergebnisse diesbezüglich erhalten. Ein Mitarbeiter des ZI gab bei einem Telefonat zur Auskunft, dass sie eine Betrachtung aus dieser Perspektive bisher noch nicht in Erwägung gezogen und folglich auch noch keine Studien durchgeführt hätten.
Bisher wurden nur wenige Untersuchungen zu Auswirkungen psychosozialer Arbeit auf HelferInnen durchgeführt. Ähnliches gilt für die Bewältigungsforschung. Bislang standen in der Bewältigungsforschung die KlientInnen im Mittelpunkt. Zum Teil wurden bereits Untersuchungen zu den Bewältigungsversuchen von Angehörigen durchgeführt. Zur Bewältigung von Schwierigkeiten und Belastungen von HelferInnen durch ihre Arbeit gibt es allerdings nur sehr wenig Material.
Belastungen in der Arbeit sind bereits besser erforscht. Im Folgenden möchte ich darauf näher eingehen. Ich stelle Untersuchungen vor, die zu Belastungen von HelferInnen bereits durchgeführt wurden. Ich komme auf die Kozepte des Burnout-Syndrom, der berufliche Deformation sowie der sekundäre Traumatisierung zu sprechen. Das Konzept der sekundären Traumatisierung befasst sich nicht nur mit Belastungen, sondern auch mit Auswirkungen der Arbeit auf die HelferInnen. Diese drei Konzepte dienten mir als Anregung, meine Überlegungen bezüglich der Arbeit mit Magersüchtigen weiterzuverfolgen. Allerdings sind sie meines Erachtens nicht ausreichend und auch nicht durchgängig passend. Meine Vermutungen sind dahingehend, dass die Arbeit mit Magersüchtigen spezifische Schwierigkeiten und Belastungen für die HelferInnen birgt. Die Konzepte des Burnout bzw. der beruflichen Deformation sind sehr weit gefasst und deshalb meiner Meinung nach wenig geeignet, diese Spezifika in ihrem Ausmaß zu erfassen. Das Konzept der sekundären Traumatisierung hingegen ist meines Erachtens bereits zu speziell auf die Besonderheiten der Arbeit mit Traumatisierten konzipiert.
Deshalb konnten mir die Konzepte nur als Anregung dienen. Um die Besonderheiten der Arbeit mit Magersüchtigen ausfindig zu machen, führte ich die explorative Studie durch.
3.1 Das Burnout-Syndrom
Der Begriff Burnout wurde 1974 sowohl von Freudenberger als auch von Ginsburg geprägt. Untersuchungen in diesem Bereich gab es allerdings schon früher.[36]
Unter Burnout ist eine allgemeine Ermüdungserscheinung aufgrund von Belastungen in Familie oder Beruf zu verstehen. Sie äußert sich in emotionaler Erschöpfung, verminderter Leistungsfähigkeit sowie Depersonalisierung bzw. Dehumanisierung.[37]
Ursprünglich wurde Burnout an HelferInnen untersucht. Hierzu möchte ich einige Beispiele anführen, auch um die Vielfältigkeit der Ursachen zu verdeutlichen.
In einer Studie[38] von Pines et al. (1978) mit HelferInnen ergab sich eine Korrelation zwischen Erfolglosigkeitsgefühlen mit Burnout. Burke et al. (1984) fanden Zusammenhänge zwischen Stress, emotionaler und physischer Belastung sowie persönlicher Auseinandersetzungen und Burnout heraus. Bei der Untersuchung von Rubington (1984) stieß man ebenfalls auf Stress als belastendes Moment. Bei Untersuchungen mit SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen fanden Meyer et al. (1982) u.a. eigene ungelöste Probleme und Unstimmigkeiten zwischen den eigenen Zielen und denen der Institution als Burnoutkorrelate. Gillespie et al. (1984) nennen u.a. einen Mangel an Anerkennung als mögliche Ursache für Burnout.
Die genannten Belastungsmöglichkeiten wurden, wie oben bereits erwähnt, in Studien mit Personen aus der Berufsgruppe der HelferInnen gewonnen. Dabei wurde das Aufgabenfeld der HelferInnen meist nicht näher spezifiziert. Alle genannten Merkmale sind nicht an eine bestimmte Klientel gebunden.
Ferner haben andere Untersuchungen[39] gezeigt, dass das Phänomen des Burnout nicht nur für die Berufsgruppe der HelferInnen, sondern für die unterschiedlichsten Berufsgruppen, wie z.B. Bibliothekare (Studie von Neville 1981), Manager (z.B. Untersuchung von Nelson 1980), sowie für Arbeitslose (z.B. Studie von Amundson & Borgen 1982) zutrifft.
Ich fasse zusammen:
1. Als Ursachen für Burnout werden nur sehr globale Merkmale beschrieben, welche die jeweiligen spezifischen Aufgaben und daraus resultierenden Belastungen eines jeden Aufgabenfeldes nicht in Betracht ziehen.
2. Burnout ist nicht berufsspezifisch. Das Erschöpfungssyndrom kann bei Personen jeglicher Berufsgruppen auftreten.
3. Burnout betrifft nicht nur Berufstätige, wie die Studie von Amundson & Borgen (1982) zeigt.
Aus diesen Gründen ist das Konzept des Burnout-Syndroms meines Erachtens zu unspezifisch, um die besonderen Schwierigkeiten und Belastungen der Arbeit mit Magersüchtigen, zu erfassen und den HelferInnen somit gerecht zu werden. Es ist eine genauere und eingehendere Betrachtung der Situation der HelferInnen notwendig.
Einen Schritt konkreter hinsichtlich spezifischer beruflicher Belastungen von HelferInnen ist das Konzept der beruflichen Deformation von Fengler. Dieses möchte ich im nun folgenden Kapitel kurz vorstellen.
3.2 Die berufliche Deformation
Fengler (1992)[40] definiert als berufliche Deformation „alle Schädigungen, Verformungen, Fehlentwicklungen, Abnutzungen, Verschleißerscheinungen, Erstarrungen, Fehlorientierungen, Entfremdungen, Realitäts- und Wahrheitsverluste und Verkennungen im Erleben, Verhalten und Denken, die im Laufe der Berufstätigkeit und durch die Berufstätigkeit bedingt auftreten.“ Deformationen sind in der Person, in der Interaktion, im Team oder auch in der Institution anzutreffen. Berufliche Deformationen können sich in „charakteristischen seelischen Vorgängen“[41] äußern, wie beispielsweise[42]:
1. als Überidentifikation des Helfers über ihr eigenes Potential hinaus mit den KlientInnen selbst oder mit bestimmten Werten,
2. als Wahrnehmungsselektion bzw. Interessenverarmung, durch die nur noch die Aspekte des Lebens von Bedeutung sind, zu denen eine Verbindung mit dem Beruf hergestellt werden kann,
3. darin, dass Gefühle, die im Beruf erwartet werden, abrufbar anstatt spontan sind.
Verhaltensweisen beruflicher Deformation sind überall dort anzutreffen, wo Deformationen im Denken, Fühlen und Handeln zu finden sind.
Zur Entstehung beruflicher Deformation gibt es eine Anzahl von Theorien, auf die ich in der Arbeit nicht eingehen werde. Interessenten seien auf Fengler (1992) verwiesen.
Auch wenn sich Fenglers Konzept der beruflichen Deformation deutlicher als das Burnout-Konzept auf die spezifischen Belastungen und deren Folgen für HelferInnen bezieht, ist es mir dennoch zu unkonkret für mein Thema. Es handelt sich um Aspekte, welche für die Helferarbeit generell zutreffen.
Mir hingegen ist es ein Anliegen, zu zeigen, dass diese allgemeineren Überlegungen zwar wichtig, aber nicht ausreichend sind. Gerade die Arbeit mit Magersüchtigen birgt Schwierigkeiten und Belastungen, die von solchen unspezifischen Ansätzen nicht erfasst werden können, für die HelferInnen und deren Entlastung aber von größter Wichtigkeit sind. Erst wenn man um die spezifischen Schwierigkeiten und Belastungen weiß und diese anerkennt, kann man Unterstützungsmöglichkeiten andenken und anbieten, die diese spezifische Problematik erfassen und für Abhilfe sorgen können. Letztlich kommt es dann nicht nur den HelferInnen zu Gute, sondern gleichfalls den Klientinnen.
Innerhalb meiner Recherchen bin ich auf einige wenige Bereiche gestoßen, die sich mit Schwierigkeiten und Belastungen spezifischer Tätigkeitsbereiche von HelferInnen befassen. Ein Beispiel hierfür sind die Untersuchungen von Herschbach (1991a, 1991b) sowie Brandt (1990) über Belastungen und Belastungsverarbeitung von ÄrztInnen und Pflegekräften im Krankenhaus, insbesondere im onkologischen Bereich.
Ein weiteres Aufgabenfeld psychosozialer Arbeit, in dem die Auswirkungen der Arbeit auf die HelferInnen bereits weitreichender untersucht worden sind, ist die Arbeit mit Traumaopfern. Die Erkenntnisse dieser Untersuchungen stelle ich im Folgenden dar.
3.3 Die sekundäre Traumatisierung
Die Traumaforschung ist einer der wenigen Bereiche, in denen in jüngster Vergangenheit der Blick auf konkrete Auswirkungen der Arbeit auf die HelferInnen gerichtet wird. Die entsprechenden Überlegungen und Erkenntnisse werden mit dem Begriff der sekundären Traumatisierung bzw. secondary traumatisation bezeichnet.
Bevor ich näher auf das Konzept der sekundären Traumatisierung eingehe, lassen Sie mich zunächst mit einem Blick auf die Traumaopfer beginnen.
Trauma wird definiert „als ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.“[43]
Ich ziehe die aus der Forschung gewonnenen Ergebnisse in meiner Arbeit u.a. deshalb heran, weil sich meines Erachtens Parallelen in den Berufsfeldern von HelferInnen in der Arbeit mit Traumaopfern und HelferInnen in der Arbeit mit Magersüchtigen finden lassen können.
Traumatisierend kann u.a. das Erleben von sexuellem Missbrauch sein. Hieraus resultiert ein Berührungspunkt mit Essstörungen, welche u.a. Folge sexuellen Missbrauchs sein können.[44] Von Schmidt und Humfress (1996)[45] durchgeführte Studienvergleiche ergaben, dass ca. 25-30% der an Magersucht oder Bulimie erkrankten Frauen in ihrer Kindheit einen sexueller Missbrauch erlebt haben.
Richtet man nun das Augenmerk auf die HelferInnen, so hat sich in klinischen Studien gezeigt, dass HelferInnen durch die Arbeit mit Traumaopfern erhebliche Auswirkungen erfahren können: „Trauma ist anste-ckend.“[46]
Die HelferInnen erleben teilweise ähnliche Gefühle von Angst, Wut und Verzweiflung wie die Opfer, wenn auch in etwas abgeschwächter Form. Wie die Traumatisierten können auch die HelferInnen posttraumatische Belastungssymptome zeigen, wie z.B. Alpträume, Zwangsvorstellungen, Gefühle der Niedergeschlagenheit bis hin zu Depressionen. Durch ständige Konfrontation mit Traumata kann auch das eigene Grundvertrauen des Helfers erschüttert werden. Der Helfer wird sich seiner eigenen Verwundbarkeit bewusst. Nicht nur das sichere Welt- und Selbstverständnis des Opfers mitsamt der Überzeugung, alle Situationen aus sich selbst heraus kontrollieren zu können wird erschüttert, sondern auch das des Helfers.[47]
Selbst wenn man nicht davon ausgehen kann, dass alle Essgestörten traumatisiert sind, so können die genannten Überlegungen heuristisch auf die Arbeit mit Magersüchtigen übertragen werden. So vermute ich, dass die häufige oder ständige Konfrontation mit einem Thema, das zentrale Bereiche des eigenen, alltäglichen Lebens berührt, spezifische Auswirkungen auf die HelferInnen hat. So wie die Arbeit mit Traumatisierten die eigene Einstellung zu Sexualität, Gewalt und Schuld beeinflussen kann[48], ist meine Hypothese, dass durch häufigen oder ständigen Kontakt mit Magersüchtigen die eigene Einstellung u.a. zu Nahrung, Essen, Gewicht und Frausein beeinflusst werden kann. Denn dies sind zentrale Themen in der Arbeit mit Magersüchtigen.
4 Methodisches Vorgehen
In diesem Kapitel stelle ich das Interview vor. Zunächst beschreibe ich die Stichprobe. Im Anschluss erläutere ich das Erhebungsverfahren und die Interviewfragen. Mit der Vorstellung des Auswertungsverfahrens beende ich dieses Kapitel.
4.1 Stichprobenbeschreibung
Um aufgrund der geringen Anzahl an Interviews[49] berufsgruppenspezifische Unterschiede weitgehendst auszuschließen, beschränkte ich mich bei meinen InterviewpartnerInnen auf SozialarbeiterInnen, SozialpädagogInnen und Erzieherinnen.
Die Befragten arbeiten in unterschiedlichen Einrichtungen mit unterschiedlichen Aufgabenbereichen. Dadurch konnte ich Vermutungen und Überlegungen anstellen, ob Unterschiede in der Beantwortung der Fragen z.B. mit unterschiedlichen Aufgaben in der Arbeit mit Magersüchtigen oder unterschiedlichen Arten des Kontaktes zusammenhängen.
Ursprünglich wollte ich nur mir unbekannte HelferInnen befragen, um das Ergebnis nicht durch unterschiedliche Bekanntheitsgrade und daraus resultierender Offenheit bzw. Verschlossenheit zu beeinflussen. Aufgrund der geringen Anzahl von Einrichtungen, die mit Magersüchtigen arbeiten und zum Teil mangelnder Bereitschaft, am Interview teilzunehmen, führte ich das Interview doch auch mit mir bekannten Personen durch. Diese sind im weiteren Verlauf mit einem „ * “ gekennzeichnet.
Nur drei von 27 angefragten Einrichtungen der stationären Jugendhilfe gaben an, zur Zeit eine oder mehrere magersüchtige Bewohnerinnen zu haben.[50] Einige wenige äußerten, dass sie grundsätzlich Magersüchtige oder auch Mädchen mit anderen Essstörungen aufnähmen, seit mindestens drei Jahren aber keine mehr bei ihnen gewohnt hätte. Die Antwort der übrigen Einrichtungen war in der Regel, dass sie konzeptionell nicht die Möglichkeit hätten, Magersüchtige aufzunehmen. Einige wenige gaben ein „Gott sei Dank haben wir die nicht.“ zur Antwort. Ebenfalls vereinzelt wurde die Meinung vertreten, dass es wohl keine oder zumindest nicht mehr viele Magersüchtige gäbe.
Entgegen dieser Aussagen gaben zwei Mitarbeiter kinder- und jugendpsychiatrischer Kliniken[51] an, dass die Zahl der Magersüchtigen bei ihnen zugenommen habe:
Herr K.: „Wir haben zunehmend mehr Magersüchtige und Bulimikerinnen.“[52]
Herr Q*.: „Die Zahl der Magersüchtigen hat, seit du nicht mehr da bist (August 1998, Anm. d. Verf.), wahnsinnig zugenommen. Man kann schon sagen, wir sind eine Anorexiestation. Wir haben immer mindestens sechs Anorexien, also die halbe Gruppe.“
Aus diesen Aussagen ergibt sich die Frage, wohin die innerhalb der Kliniken zunehmend vertretenen magersüchtigen Jugendlichen entlassen werden, wenn eine außerfamiliäre Unterbringung in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung angebracht und erforderlich ist.
Durch diese sich widersprechenden Antworten angeregt, wollte ich herausfinden, wie viele magersüchtige junge Frauen es ungefähr in Freiburg bzw. im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald geben könnte.
4.1.1 Exkurs: Statistische Angaben und geschätzte Anzahl anorektischer junger Frauen in Freiburg Stadt bzw. im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald
Nach Auskunft des Amtes für Statistik der Stadt Freiburg leben in Freiburg Stadt (Stand 31.12.1998) 44412 junge Frauen im Alter zwischen 15 und 30 Jahren. Die Prävalenzrate liegt bei Frauen zwischen dem 13. und 30. Lebensjahr nach Csef (1997)[53] bei 0,5 bis 0,8%. Demnach müssten allein in Freiburg Stadt ca. 220-360 Frauen zwischen 15 und 30 Jahren an einer Anorexia nervosa erkrankt sein.[54]
Im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald (ausgenommen Stadt Freiburg) müssten bei einer Gesamtpopulation von 42240 Frauen ca. 210 bis 340 Frauen in dieser Altersklasse magersüchtig sein.
Insgesamt könnte man von ca. 430 bis 700 anorektischen Frauen im Alter von 15 bis 30 Jahren in Freiburg Stadt plus Landkreis ausgehen.
Bei einer angenommenen gleichmäßigen Verteilung auf die einzelnen Lebensjahre und der Prämisse, dass Jugendhilfemaßnahmen bis zum 21. Lebensjahr greifen können, könnte man die Anzahl anorektischer junger Frauen im Alter von 15 bis 21 Jahren auf ca. 190 bis 300 schätzen.
Selbst wenn man nicht davon ausgehen kann, dass für alle eine stationäre Jugendhilfemaßnahme notwendig ist, wird anhand der meines Erachtens nicht geringen Zahl magersüchtiger junger Frauen die Frage, wo sie bei Bedarf einen Platz in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung finden, noch brisanter.
4.1.2 Die InterviewpartnerInnen
Befragt wurden neun HelferInnen im Alter von 31 bis 48 Jahren. Die Stichprobe setzt sich aus vier Frauen und fünf Männern unterschiedlicher Tätigkeitsbereiche zusammen. Vier Interviewpartner arbeiten in kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken. Zwei Helferinnen und ein Helfer sind in der stationären Jugendhilfe tätig. Zwei Interviewpartnerinnen arbeiten in Beratungsstellen für Mädchen und Frauen.
(1) Frau C., 32 Jahre, Erzieherin und Sozialpädagogin, tätig in der stationären Jugendhilfe. Sie arbeitet seit drei Jahren mit magersüchtigen jungen Frauen.
(2) Herr F*., 39 Jahre, Sozialarbeiter, tätig in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik. Er arbeitet seit 9 ½ Jahren mit Magersüchtigen.
(3) Herr G*., 33 Jahre, Sozialpädagoge, tätig in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik. Er arbeitet seit zwei Jahren mit Magersüchtigen.
(4) Herr I., 31 Jahre, Sozialpädagoge, tätig in der stationären Jugendhilfe. Er arbeitet seit eineinhalb Jahren mit Magersüchtigen.
(5) Frau J., 48 Jahre, Erzieherin, tätig in der stationären Jugendhilfe. Sie arbeitet seit 14 Jahren mit Magersüchtigen.
(6) Herr K., 34 Jahre, Sozialpädagoge, tätig in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik. Er arbeitet seit vier Jahren mit Magersüchtigen.
(7) Frau N., 38 Jahre, ehemals Verwaltungsangestellte, jetzt Sozialarbeiterin und Yoga-Lehrerin, tätig in einer Beratungsstelle für Mädchen und Frauen. Sie arbeitet seit vier Jahren mit magersüchtigen Frauen.
(8) Herr Q*., 33 Jahre, Sozialpädagoge, tätig in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik. Er arbeitet seit vier Jahren mit Magersüchtigen.
(9) Frau S., 40 Jahre, Sozialarbeiterin mit Fortbildungen in Gesprächstherapie, systemischer Therapie sowie Themenzentrierter Interaktion, tätig in einer Suchtberatungsstelle für Mädchen und Frauen. Sie arbeitet seit einem Jahr mit Magersüchtigen.
Fast alle InterviewpartnerInnen haben regelmäßigen und häufigen Kontakt mit Magersüchtigen. Acht der neun Befragten gaben tägliche Kontakte oder eine Kontakthäufigkeit von zwei bis drei Mal pro Woche an.
Sieben haben an jedem Arbeitstag Kontakt mit Magersüchtigen.
Nur eine sprach von mindestens einem Kontakt pro Woche, eher häufiger.
4.1.3 Aufgaben der Befragten in der Arbeit mit Magersüchtigen
Sowohl im klinisch-psychiatrischen Bereich wie auch in der stationären Jugendhilfe gehört die Betreuung durch den Alltag zu den Aufgaben der Befragten.
Für HelferInnen, die innerhalb einer Klinik mit Magersüchtigen arbeiten, fällt zudem die Aufgabe an, die Frage der Nachsorge zu klären. Dazu gehören u.a. Gespräche mit den Eltern und der Patientin bzgl. der längerfristigen Planung nach dem stationären Klinikaufenthalt, die Suche nach einer geeigneten Einrichtung für eine längerfristige Nachsorge und Vorbereitung bzw. Arrangement der vorgesehenen nachstationären Maßnahmen.
Die Befragten aus der stationären Jugendhilfe haben u.a. die Aufgaben, mit den Jugendlichen Normalität zu leben und sie auf ein selbständiges Leben vorzubereiten. Beziehungsarbeit und eine gemeinsame Freizeitgestaltung sind dort weitere Aufgabenschwerpunkte.
Hauptaufgabe für die beiden Helferinnen in Beratungsstellen ist die Beratung. Ferner sind sie für Weitervermittlungen der Klientinnen an andere Stellen zuständig.
4.2 Das Erhebungsverfahren
Bei meiner Befragung handelt es sich um ein problemzentriertes, exploratives Interview. Explorativ bedeutet nicht repräsentativ. Es soll dazu dienen, auf das Thema aufmerksam zu machen und die Notwendigkeit für weitere Untersuchungen aufzuzeigen.
Das Verfahren ist offen, halbstrukturiert und qualitativ. Da ich die Ansichten der Interviewten in den Vordergrund stellen möchte und sie frei äußern können sollten, was ihnen wichtig ist, handelt es sich bei den meisten Fragen um offene.
Vorteile offener Fragen sind u. a.[55]:
¨ Man bemerkt unmittelbar, ob die Interviewten die Frage richtig verstanden haben.
¨ Die Interviewten können ihre ganz persönliche Sicht und Deutung darlegen.
¨ Die Befragten können während des Interviews selbst Zusammenhänge entwickeln.
¨ „Die konkreten Bedingungen der Interviewsituation können thematisiert werden.“
Nachteile offener Fragen sind unter anderem darin zu sehen,
¨ dass die Befragten abschweifen oder gar phantasieren können,
¨ dass die Antworten der Befragten häufig nicht so vollständig wie bei geschlossenen Fragen sind.
Mir erschien es wichtig, die ersten und spontanen Einfälle der Interviewten zu erfahren. Bei Antwortvorgaben kann es passieren, dass die Befragten Antworten geben, die sie bei einer offenen Frageformulierung nicht geäußert hätten.
Halbstrukturiert ist das Interview deshalb, weil ich Leitfadenfragen als wesentliche Bestandteile des Interviews festgelegt habe. Dennoch bleibt es möglich, ad-hoc-Fragen, die nicht im Leitfaden enthalten, aber situationsangemessen sind, unmittelbar in das Interviewgespräch einfließen zu lassen. Den Interviewten ist es ebenfalls möglich, klärende Nachfragen zu stellen.[56]
Befragte neigen dazu, selbst dann zu antworten, wenn sie zu dem Thema scheinbar nur wenig wissen. Sie formulieren die Frage dann so um, dass sie diese beantworten können. Das Gleiche kann ebenso bei Verständnisschwierigkeiten eintreten.[57] Deshalb habe ich den Fragen 6 bis 11 jeweils eine Filterfrage vorangestellt. Dadurch wird zum einen die Bedeutung der Frage für die Interviewten herausgestellt. Zum anderen unterstreicht eine Filterfrage die Möglichkeit, nicht zu antworten.[58]
4.3 Die Interviewfragen
Der gesamte Fragebogen ist im Anhang zu finden.
Die Intervieweinleitung soll die Befragten an das zentrale Problem „Auswirkungen der Arbeit mit magersüchtigen jungen Frauen auf die HelferInnen“ heranführen und ihr Interesse dafür gewinnen.
Das Problem selbst habe ich in Teilaspekte aufgeschlüsselt, die mittels der einzelner Fragen angesprochen werden.
Nun stelle ich das Interview vor und erläutere kurz die einzelnen Aspekte:
A) Die Fragen 0 bis 2 nach Alter, Geschlecht und Beruf gehören zu den standarddemographischen Daten. Sie bieten die Möglichkeit, Unterschiede und Parallelen in der Beantwortung der Fragen mit diesen Daten in Verbindung zu bringen.
B) Fragen 3 und 5: Mit der Frage nach der Einrichtung erfahre ich den Arbeitsbereich des jeweiligen Helfers. Konkretisiert wird dieser Aspekt durch die Angabe der persönlichen Aufgaben in der Arbeit mit Magersüchtigen. Denn die Art des Kontaktes wird nicht durch die allgemeinen Angebote der Einrichtung bestimmt. Vielmehr stellt das eigene Aufgabenfeld die Grundlage für Art, Intensität und Häufigkeit des Kontaktes. So lassen sich mögliche Unterschiede in Schwierigkeiten, Belastungen und Auswirkungen eventuell durch unterschiedliche Aufgaben in der Arbeit erklären.
C) Frage 4: Es soll herausgefunden werden, ob die Dauer der Arbeit mit Magersüchtigen bzw. die Kontakthäufigkeit einen Einfluss auf die zentralen Aspekte des zu untersuchenden Problems haben. Die Beschränkung auf das letzte halbe Jahr ist in Zusammenhang damit zu sehen, dass Erinnerungen mit der Zeit verblassen können. Daher soll gewährleistet sein, dass im letzten halben Jahr Kontakt stattgefunden hat und somit die Erinnerungen noch eher aktuell sind.
D) Frage 6: Die Frage nach den Schwierigkeiten in der Arbeit spricht die kognitive Ebene an. Mit ihr sollen Situationen, Momente, Aspekte etc., die nicht oder kaum mit (starken) Emotionen einhergehen, erfasst werden.
E) Frage 7: Ich möchte mit der Frage herausfinden, ob die Arbeit mit Magersüchtigen nur Auswirkungen auf Einzelpersonen oder womöglich auch auf Teamprozesse und -dynamiken hat.
F) Frage 8: Die Frage nach den Belastungen richtet sich im Gegensatz zu der Frage nach den Schwierigkeiten an die emotionale Ebene. Belastungen können mit Gefühlen wie z.B. Trauer, Hilflosigkeit, Deprimiertheit, aber auch Wut und Aggression einhergehen. Der Unterschied zu Schwierigkeiten besteht darin, dass bei jenen weniger Gefühle im Spiel sein müssen. Was schwierig ist, muss nicht gleichzeitig als belastend erlebt werden. Die transaktionale Stressdefinition nach Lazarus[59] sieht in Belastungen ein bestehendes Ungleichgewicht zwischen den Anforderungen, die eine Person an sich selbst stellt bzw. die von außen an sie gestellt werden und dem Maß an Reaktionsmöglichkeiten, das ihr zur Verfügung steht.
Belastungen resultieren folglich daraus, dass der Betreffende keine, wenige oder bisher erfolglose Möglichkeiten hat, den Anforderungen zu entsprechen. Folglich ist das Erleben von Belastungen immer subjektiv.
An die Frage nach den Belastungen schließt sich die Frage nach dem Umgang mit diesen an, um mögliche Bewältigungsstrategien herauszufiltern.
G) Frage 9: Mit Hilfe der Frage nach den Gefühlen, die nach einem intensiven „Anorexietag“ auftreten können, möchte ich herausfinden, welche emotionalen Reaktionen durch die Arbeit ausgelöst werden können.
H) Frage 10: Die Frage nach einer möglichen Änderung in den Alltagsgewohnheiten soll klären, ob und inwieweit die Arbeit sich auf den privaten und/ oder beruflichen Alltag der HelferInnen auswirkt.
I) Frage 11: Mit der Frage nach einer Einstellungsänderung zu den Themen Essen und Gewicht soll in Erfahrung gebracht werden, ob sich meine Vermutungen bestätigen, dass durch einen intensiven oder häufigen Kontakt mit Magersüchtigen die eigene Beziehung zum Thema Essen bzw. Gewicht beeinflusst oder verändert werden kann (siehe auch Kapitel 3.3).
J) Frage 12: Mit der abschließenden visionären Frage nach Unterstützungswünschen möchte ich herausfinden, was nötig ist, um mit Magersüchtigen arbeiten zu können, wo noch zu wenig oder gar keine Unterstützung geboten ist.
Die Reihenfolge der Fragen im Interviewverlauf ist bewusst gewählt. Nach eingangs allgemeineren Fragen, die sowohl zum Thema hinführen, als auch ein gegenseitiges Annähern der Befragten und der Interviewerin ermöglichen sollen, werden die Fragen zunehmend persönlicher. Mit einer „Entspannungsfrage“ nach eigenen Visionen soll das Interview am Ende abgerundet werden.
[...]
[1] Vandereycken et al. 1992, S. 203
[2] Wo es möglich ist, verwende ich in der Arbeit die Doppelform HelferInnen. Ansonsten benutze ich der Einfachheit halber die männliche Form.
[3] vgl. z.B. Reich 1997, S. 66; Herzog, Zeeck 1997, S. 77; Behandlungskonzept der Anorexia nervosa des Klinikums der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychosomatik, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter, unveröffentlichtes Skript ohne Jahresangabe, ohne Seitenzahl
[4] vgl. Steinhausen 1993, S. 172
[5] vgl. Franke 1994, S. 18
[6] Nach Laessle, Pirke (1997, S. 599) zeigen die meisten Studien zum Langzeitverlauf der Anorexie, dass „ca. 30% der Fälle vollständig gebessert sind, 35% etwas gebessert sind, 25% der Fälle chronisch krank bleiben und ca. 10% verstorben sind“ (z.B. Hsu 1988; Engel 1990)
[7] Csef 1997, S. 383
[8] Herpertz, Senf 1997, S. 10; Gerlinghoff et al. 1988, S. 13
[9] vgl. Köhle et al. 1996; eigener Erfahrungswert in meinem Praktikum
[10] Franke 1994, S. 23
[11] Csef 1997, S. 383
[12] ebd.
[13] Saß et al. 1998, S. 228
[14] Dilling et al. 1993, S. 200
[15] Saß et al. 1998, S. 228, Dilling et al. 1993, S. 200
[16] als Quelle dient im gesamten Überblick Jacobi et al. 1996, S. 128f
[17] Die genannten Folgen/ Komplikationen gehören ebenso größtenteils zu denen einer Bulimie (Ess-Brechsucht). Darauf wird aber nicht weiter eingegangen.
[18] z.B. Kochsalz-, Kalium- oder Magnesiummangel
[19] siehe Jacobi et al. 1996, S. 129
[20] Steinhausen 1993, S. 175
[21] vgl.Bruch 1988, S. 20
[22] Steinhausen 1993, S. 172f
[23] vgl. Laessle, Pirke 1997, S. 621
[24] Erpen 1994, S. 56
[25] Beerlage, Kleiber 1998, S. 327
[26] vgl. Ajdukovic 1997, S. 225
[27] Dörner, Plog 1996, S. 47
[28] vgl. ebd., S. 47
[29] ebd., S. 48
[30] Dörner, Ploog 1996, S. 47
[31] vgl. Badische Zeitung vom 11. Oktober 1999, S. 11: „Körper und Seele gehören zu-sammen“ sowie Franke 1993, S. 134
[32] vgl. Badische Zeitung vom 11. Oktober 1999, S. 11: „Körper und Seele gehören zu-sammen“
[33] vgl. Äußerungen wie: „Das färbt doch ab, wenn du mit psychisch Kranken arbeitest“, „Das ist doch keine richtige Arbeit mit den Spinnern.“
[34] Gillespie et al. (1984) in Fengler 1992, S. 123
[35] Gerlinghoff 1988, S. 212
[36] Burisch 1994, S. 4
[37] nach Enzmann, Kleiber 1989
[38] Die folgenden Studienergebnisse sind Fengler 1992, S. 122ff entnommen.
[39] Studien entnommen aus Burisch 1989, S. 10
[40] Fengler 1992, S. 32
[41] vgl. ebd., S. 35
[42] vgl. ebd., S. 35
[43] Fischer, Riedesser 1998, S. 79
[44] vgl. z.B. Baeck 1994, S. 11
[45] Schmidt, Humfress 1996, S. 55
[46] Herman 1998, S. 193
[47] vgl. z.B. Hermann 1998, S. 93; Fischer, Riedesser 1998, S.189; Ajudkovic 1997, S. 226; Wilson 1989, S. 205
[48] vgl. Hedlund, Eklund 1986, S. 62
[49] Vorgabe: mindestens sechs, höchstens zehn Interviews, da es sich um eine explorati-ve Studie handelt
[50] aus dem Gesamtraum von Lörrach im Süden bis Karlsruhe im Norden sowie Donaue-schingen im Osten
[51] zur näheren Beschreibung der InterviewpartnerInnen siehe Kapitel 4.1.2 bzw. Anhang
[52] Nach Krüger et al. (1997, S. 38) berichten zwischen 7-40% der Magersüchtigen von bulimischen Phasen. Es gibt auch Bulimikerinnen, die zuvor Magersüchtig waren (ebd., S. 40).
[53] Csef 1997, S. 383
[54] Da die Verschlüsselungskategorien der Stadt Freiburg 6-15 Jahre bzw. 15-18 Jahre sind, kann ich die 13-15-jährigen nicht einbeziehen.
[55] Mayring 1996, S. 51
[56] Mayring 1996, S. 52
[57] Foddy 1993, S. 8 sowie S. 34, dt. Übersetzung der Verfasserin
[58] ebd., S. 101, dt. Übersetzung der Verfasserin
[59] Faltermaier 1998, S. 305
- Citation du texte
- Tanja Beckhaus (Auteur), 1999, Auswirkungen der Arbeit mit magersüchtigen jungen Frauen auf ihre HelferInnen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/90100
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