In dieser Arbeit wird die anhaltende bildungspolitische Diskussion zur „Ausbildungsreife“ der nachwachsenden Generation, die mit mangelnden schulischen Kenntnissen und Einstellungen zu Arbeit und Lernen begründet wird, näher untersucht.
Seit Jahren wird im traditionellen Sektor der dualen Berufsausbildung die mangelnde bzw. fehlende „Ausbildungsreife“ für die Nichtbesetzung von betrieblichen Ausbildungsplätzen und die damit verbundene Jugendarbeitslosigkeit verantwortlich gemacht. Konstatiert wird, flankiert durch die PISA-Studien, den allgemeinbildenden Schulen, dem Elternhaus und dem sozialen Umfeld der Jugendlichen die Verantwortung für die erheblichen Kompetenzdefizite. Die Frage, ob die Jugendlichen nicht selbst verantwortlich für ihr Scheitern sind wird immer wieder in die Diskussion eingebracht. Das mangelnde Passungsverhältnis zwischen dem Angebot an Ausbildungsstellen und der Bewerberzahl blieb dagegen lange Zeit unbeachtet.
Aus diesem Dilemma entwickelte sich als Lösungsansatz das sogenannte Übergangssystem heraus. Den dort aufgelaufenen Schülerinnen und Schüler wurde ein breites Set von Defiziten attribuiert. Mangelnde Kulturtechniken, Lernschwächen, fehlende Sozialkompetenzen, schlechte Schulnoten, unzureichende Arbeitsmotivation und Engagement oder Pünktlichkeit wurden den Jugendlichen zugeschrieben. Die mangelnde „Ausbildungsreife“ Jugendlicher beherrscht seit Mitte der 1990er Jahre den bildungspolitischen Diskurs.
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Ausbildungsreife
2.1 Vorbemerkung
2.2 „Ausbildungsreife“ – Versuch einer Definition
2.3 Berufsbildungsgesetz/Handwerksordnung
2.4 Bundesinstitut für Berufsbildung
2.5 „Nationaler Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs“
2.6 Allianz für Aus- und Weiterbildung
2.7 Feststellung der „Ausbildungsreife“
2.8 Diagnostisches Instrument zur Feststellung der „Ausbildungsreife“
2.9 Einschätzung des diagnostischen Instrumentes
2.10 Politische Einordnung
2.10.1 Sicht der Wirtschaft
2.10.2 Sicht der Gewerkschaften
2.11 Zwischenfazit
3 Die neue Generation „Z“
3.1 Jugendkulturen
3.2 Lebenswelten und Werteorientierung
3.3 Schule und Lernen
3.4 Berufliche Orientierung
4 Übergang Schule – Beruf
4.1 Die biografische Lage der Jugendlichen
4.2 Entwicklungsaufgaben
4.3 Berufsorientierung als Identitätsmanagement
4.4 Differenzierung benachteiligte Jugendliche
4.4.1 Typus 1: Marktbenachteiligung
4.4.2 Typus 2: Schulische Überforderung und Leistungsmisserfolg
4.4.3 Typus 3: Außerschulische Überforderung und Lebensprobleme
4.4.4 Typus 4: Sinn- und Identitätssuche
4.4.5 Typus 5: Jugendliche mit Multiproblemlagen
4.4.6 Typus 6: Protest- und Autonomiebeweise
4.4.7 Typus 7: Migrationshintergrund
4.5 Übergangssystem
4.5.1 Bildungsgänge und Fördermaßnahmen
4.5.2 Durchlässigkeit und Übergangsquoten
5 Betriebliche Einstiegsqualifizierung
6 Vorzeitige Lösung von Ausbildungsverträgen/Ausbildungsabbrüche
6.1 Vorzeitige Vertragslösung versus Ausbildungsabbrüche
6.2 Gründe für vorzeitige Vertragslösungen bzw. Ausbildungsabbrüche
7 Betriebliches Ausbildungspersonal
7.1 Ausbilderinnen und Ausbilder
7.2 Situation des Ausbildungspersonals in den Betrieben
7.3 Veränderte Rolle
7.4 Berufspädagogische Professionalisierung
8 Anforderungen an die Professionalität des Bildungspersonals
8.1 Konkrete Anforderungen an die betrieblichen Bildungsakteure
9 Zusammenfassung
10 Literaturverzeichnis
11 Anhang
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Ausbildungsreife – Berufseignung – Vermittelbarkeit
Abbildung 2: Werte-Achse des SINUS-Lebensweltenmodells
Abbildung 3: SINUS-Lebensweltenmodell
Abbildung 4: Jugendliche Werteorientierung, Shell Jugendstudie
Abbildung 5: Erwartungen an die Berufstätigkeit
Abbildung 6: Pragmatische Generation
Abbildung 7: Themenprofil der vier Typen zur Berufsorientierung
Abbildung 8: Übergang in voll qualifizierende Ausbildung nach einer „ersten“ Über-gangsmaßnahme (kumulierte Einmündungswahrscheinlichkeit in %)
Abbildung 9: Soziodemografische Merkmale der Jugendlichen der 4 biografischen Verlaufstypen (Anteil der Personen in %)
Abbildung 10: Gründe der Auszubildenden für Vertragslösungen
Abbildung 11: Wunschberuf versus Ausbildungsberuf
Abbildung 12: Anteil von Betrieben mit Vertragslösungen an allen Ausbildungsbetrie-ben nach Betriebsgrößenklassen und Wirtschaftsbereichen (in %)
Abbildung 13: Art der Ausbildungsmotivation und Risiko vorzeitiger Vertragslösungen
Abbildung 14: Gründe vorzeitiger Vertragsauflösung
Abbildung 15: Dimensionen der Professionalität
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Kriterien von Ausbildungsreife, Angaben > 90%
Tabelle 2: Maßgebende Determinanten des Bildungserfolgs
Tabelle 3: Differenzierung der benachteiligten Jugendlichen
Abkürzungsverzeichnis
Abb. Abbildung
abH ausbildungsbegleitende Hilfen
AEVO Ausbildereignungsverordnung
Anm. Anmerkung
BA Bundesagentur für Arbeit
BBiG Berufsbildungsgesetz
BerEb Berufseinstiegsbegleitung
BIBB Bundesinstitut für Berufsbildung
BMBF Bundesministerium für Bildung und Forschung
BMWI Bundesministerium für Wirtschaft und Energie
bzw. beziehungsweise
ca. circa
DGB Deutscher Gewerkschaftsbund
d.h. das heißt
DIHK Deutscher Industrie- und Handelskammertag
Ebd. Ebenda
EQ Einstiegsqualifizierung
HwO Handwerksordnung
SGB Sozialgesetzbuch
u.a. und andere
vgl. vergleiche
z.T. zum Teil
1 Einleitung
Die anhaltende bildungspolitische Diskussion zur „Ausbildungsreife“ der nachwachsenden Generation, die mit mangelnden schulischen Kenntnissen und Einstellungen zu Arbeit und Lernen begründet wird, soll in der vorliegenden Arbeit näher untersucht werden. Anhand der einschlägigen Literatur werden die Hintergründe dieser Diskussion und die daraus resultierenden Anforderungen an das Bildungspersonal, insbesondere an die betrieblichen Ausbilderinnen und Ausbilder, herausgearbeitet. Das daraus erkennbare Profil gibt Aufschluss über die notwendigen Kompetenzen, mit denen das betriebliche Bildungspersonal einen erfolgreichen Übergang von der Schule in das Berufsleben berufspädagogisch unterstützen kann.
Kapitel 2 liefert eine Definition des Begriffes „Ausbildungsreife“. Betrachtet werden hierbei auch die Versuche der Operationalisierung seitens verschiedener Institutionen ebenso wie die Programme, die durch den „Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs“ und die „Allianz für Aus- und Weiterbildung“ initiiert wurden. Wichtiger Bestandteil der Diskussion um die „Ausbildungsreife“ ist die Art und Weise, wie die „Bundesagentur für Arbeit“ die „Ausbildungsreife“ feststellt. Das hierzu verwendete diagnostische Instrument wird vorgestellt und eine Einschätzung zu dessen Nutzen getroffen. Daran anschließend wird der Begriff „Ausbildungsreife“ politisch eingeordnet.
Kapitel 3 widmet sich der soziologischen Betrachtung der neuen Generation. Anhand zweier vorhandener Jugendstudien wird versucht, die neue Generation, ihre Lebenswelten und Werteorientierung betreffend, näher zu beschreiben. Besonderes Augenmerk wird hierbei auf die Einstellungen zu Schule und Lernen und auf die berufliche Orientierung gelegt.
Der Übergang von der Schule in das Berufsleben stellt für die Jugendlichen eine besondere biografische Lebenssituation dar. Der besonderen Brisanz dieses Lebensabschnitts für die Jugendlichen wird im folgenden Kapitel Platz eingeräumt. Die zu bestehenden Entwicklungsaufgaben werden beschrieben und auf die besondere Bedeutung der Berufsorientierung hingewiesen. Die Gruppe der benachteiligten Jugendlichen und deren Hintergründe werden ebenso differenziert dargestellt wie der Raum zwischen Schule und Beruf, das sogenannte Übergangssystem. Besondere Betrachtung erfahren Durchlässigkeit und Übergangsquoten des Systems.
Der betrieblichen Einstiegsqualifizierung wird ein eigenes Kapitel gewidmet, da sie als einzige Fördermaßnahme im direkten betrieblichen Kontext steht. Die Durchführung dieser Maßnahme obliegt den betrieblichen Bildungsakteuren und wird meistens durch externe Bildungsträger unterstützt.
Kapitel 6 beschäftigt sich mit der Diskussion über die „Abbrecherquote“. Hier wird der Versuch einer differenzierten Betrachtung unternommen und die Gründe für eine vorzeitige Vertragslösung bzw. eines Ausbildungsabbruches genannt. Hieraus erschließen sich erste Ansätze zur Beantwortung der Forschungsfrage.
Die besondere Rolle des betrieblichen Ausbildungspersonals wird in Kapitel 7 aufgearbeitet. Die unterschiedliche Situation der haupt- und nebenberuflichen Ausbilder, wie auch die der ausbildenden Fachkräfte und die pädagogischen Anforderungen werden einer kritischen Analyse unterzogen. Daran anknüpfend werden Notwendigkeit bzw. Möglichkeiten einer Professionalisierung besprochen.
Im anschließenden Kapitel werden die Erkenntnisse aus den vorangestellten Kapiteln in einen pädagogischen Kontext gestellt und die daraus resultierenden notwendigen Anforderungen an das betriebliche Ausbildungspersonal formuliert. Es lässt sich ein Kompetenzprofil herausarbeiten, sodass die Professionalisierung des, zumindest hauptberuflichen, betrieblichen Ausbildungspersonals den Jugendlichen einen erfolgreichen Übergang von der Schule ins Berufsleben ermöglicht.
Die Zusammenfassung der Erkenntnisse aus der einschlägigen Literatur und den verwendeten Studien, die daraus resultierenden Anforderungen und Lösungsansätze für die notwendigen Verbesserungen am Übergang Schule/Beruf sind in Kapitel 9 beschrieben.
2 Ausbildungsreife
2.1 Vorbemerkung
Bei dem bildungspolitischen Schlagwort „Ausbildungsreife“ handelt es sich um einen diffusen und umstrittenen Begriff, der, zumeist defizitorientiert, den Jugendlichen die Nichteinmündung in die berufliche Ausbildung zuschreibt. Der Begriff „Ausbildungsreife“ entzieht sich einer „wissenschaftlich fundierten Operationalisierung“ (Dobischat u. a., 2012, 75).
Anfang der 1990er-Jahre überstieg das Lehrstellenangebot die Lehrstellennachfrage. Damals sorgte sich die Wirtschaft nicht um mangelnde Ausbildungsreife, sondern darum, wie die duale Ausbildung attraktiver gestaltet werden könnte (vgl. BROSI, 2005).
Seit Mitte der 1990er-Jahre veränderte sich die Angebots-Nachfrage-Relation auf dem Ausbildungsmarkt, beklagte die Wirtschaft die mangelnde „Ausbildungsreife“ der Bewerberinnen und Bewerber und machte diese zum „Ausbildungshemmnis Nr. 1“ und damit für die angespannte Lage auf dem Ausbildungsmarkt verantwortlich. Zwischen den Sozialpartnern entfachte ein heftiger Diskurs. Beide Seiten sehen die Ursachen für die Ausbildungsplatzsituation im Verantwortungsbereich des anderen verortet.
In diesem Kapitel wird versucht, aus verschiedenen Perspektiven das Konstrukt „Ausbildungsreife“ näher zu beleuchten. Im weiteren Verlauf erfolgt die Betrachtung der gesetzlichen bzw. institutionellen Beiträge zur Operationalisierung des Konstrukts. Anschließend wird das diagnostische Instrument, mit dessen Hilfe die Berufsberatung der Bundesagentur für Arbeit die „Ausbildungsreife“ von Jugendlichen feststellt, beschrieben und einer kritischen Betrachtung unterzogen. Danach wird das Konstrukt „Ausbildungsreife“ aus Sicht der Wirtschaft und Gewerkschaften versucht politisch einzuordnen. Die abschließende Bewertung fasst die Ergebnisse zusammen und eröffnet eine pädagogische Perspektive als Lösungsansatz.
2.2 „Ausbildungsreife“ – Versuch einer Definition
Aus verschiedenen Perspektiven soll der Begriff der „Ausbildungsreife“ betrachtet werden. Das Berufsbildungsgesetz wie auch die Handwerksordnung stecken den gesetzlichen Rahmen der Berufsausbildung ab. Im Bundesinstitut für Berufsbildung wird mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Untersuchungen versucht, sich dem Begriff anzunähern. Die Bundesregierung initiierte in Form des „Nationalen Paktes für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs“ sowie dessen Folgemodells „Allianz für Aus- und Weiterbildung unter Einbindung der Sozialpartner einen Prozess, das Konstrukt „Ausbildungsreife“ zu operationalisieren. Im folgenden Kapitel werden die sich daraus ergebenen Perspektiven kurz beleuchtet und der Versuch einer ersten Einschätzung unternommen.
2.3 Berufsbildungsgesetz/Handwerksordnung
Zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Berufsbildungsgesetzes (BBiG), 1969, ging man davon aus, dass Schülerinnen und Schüler, die die allgemeinbildende Schule mit oder ohne formalen Abschluss durchlaufen hatten, berufsfähig seien. Sie hatten dadurch eine Zugangsberechtigung zur beruflichen Ausbildung. Es herrschte hierüber bis in die 1980er-Jahre gesellschaftlicher Konsens. In dieser Phase mündeten „über 80 % eines Altersjahrgangs ohne größere Schwierigkeiten in eine duale Berufsausbildung ein“ (Dobischat u. a., 2012, 12).
Formale Voraussetzungen für einen Zugang zur dualen Ausbildung finden sich weder im BBiG noch in der Handwerksordnung (HWO). Dadurch wird die Operationalisierung des Begriffs „Ausbildungsreife“ erschwert. „Ursprünglich (1969) stand Ausbildungsreife für die zertifizierte Fähigkeit eines ausbildenden Betriebs“ (Eberhard, 2006, 17).
Der Abschnitt 3 im BBiG regelt die Eignung des Ausbildungsbetriebes und des Ausbildungspersonals ausführlich. Der Hauptausschuss des BIBB hat nach 43 Jahren erstmals die Empfehlung Nr. 13 über die Eignung der Ausbildungsstätten Ende 2015 novelliert. Die neue Empfehlung Nr. 162 stellt die Anforderungen an die Ausbildungsstätte nochmals stärker in den Fokus, explizit wird die Qualifikation des Ausbildungspersonals deutlich stärker herausgestellt. Dadurch wurde einer Forderung zur stärkeren Professionalisierung des Ausbildungspersonals, die in der Diskussion über die Qualität der Ausbildung geführt wird, nachgekommen.
2.4 Bundesinstitut für Berufsbildung
Ein Versuch der Operationalisierung des Begriffes „Ausbildungsreife“ wurde im Rahmen des Expertenmonitors des Bundesinstitutes für Berufsbildung (BIBB) durchgeführt.
Es wurden insgesamt 482 Experten aus verschiedenen Bereichen der beruflichen Bildung befragt. Ziel der Befragung war es, eine realitätsnahe Definition zu erarbeiten (vgl. ebd. 2006).
Verdichtet man die Aussagen der Befragten auf die Angaben mit einem Anteil von > 90%, sind keine gravierenden Abweichungen zwischen den einzelnen Gruppen zu erkennen. Zum Ausdruck kommt, dass sich „Ausbildungsreife“ dadurch kennzeichnet, dass personale, soziale und mit Abstand fachliche Kompetenzen gefordert werden. Alle Gruppen halten Zuverlässigkeit, Lernbereitschaft und Leistung zu zeigen für wichtige Kennzeichen der „Ausbildungsreife“ (siehe Tabelle 1). Betrachtet man die Aussagen ohne die Auszubildenden, dann kommen noch Merkmale wie Verantwortungsbewusstsein und Sorgfalt hinzu. Bemerkenswert ist, dass weder Experten, die der Gruppe der Gewerkschaftsvertreter zugeordnet werden, noch die befragten Auszubildenden Kompetenzen im fachlichen Bereich als wichtige Merkmale nennen. Diese rangieren erst im unteren 80%- Anteil. Es zeigt sich, „dass fast alle Befragten die klassischen Arbeitstugenden, wie Zuverlässigkeit, Leistungsbereitschaft, Durchhaltevermögen, Verantwortungsbewusstsein, als zentral für das erfolgreiche Absolvieren einer Berufsausbildung ansehen“ (Dobischat u. a., 2012, 41).
Tabelle 1 : Kriterien von Ausbildungsreife, Angaben > 90%
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: eigene Darstellung nach Eberhard 2006
Die Analyse des Bundesinstituts für Berufsbildung zeigt aber auch auf, dass die Ursachen für die Misere auf dem Ausbildungsmarkt weitaus komplexer sind und nicht auf fehlende „Ausbildungsreife“ reduziert werden können. Klar erkennbar ist, dass es sich bei dem Begriff der „Ausbildungsreife“ um ein politisches Konstrukt handelt. Je nach Herkunft des Beurteilers wird der Begriff interessenpolitisch eingesetzt (vgl. Eberhard, 2006).
2.5 „Nationaler Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs “
Im Sommer 2004 wurde von der Bundesregierung und den Spitzenverbänden der Wirtschaft der „Nationale Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland“ geschlossen. „Ziel dieses Paktes ist (war, Anm. des Verfassers) es, jedem ausbildungswilligen und ausbildungsfähigen Jugendlichen ein Angebot auf eine Berufsausbildung oder anderweitige Qualifizierung zu machen“ (Bundesagentur für Arbeit, 2009, 6).
Die Wirtschaft vertritt die Auffassung, dass mit der Verbesserung der „Ausbildungsreife“ mehr Ausbildungsplätze zu schaffen seien. Deshalb wurde dieses Thema zum zentralen Punkt der Arbeit des Paktes erhoben. Der Lenkungsausschuss beauftragte eine Expertengruppe mit der Erstellung eines Kriterienkatalogs, mit dem „man den Begriff Ausbildungsreife definieren und operationalisieren kann“ (ebd., 4).
Für die Erstellung wurden wissenschaftliche Erkenntnisse aus den Fachbereichen Psychologie, Pädagogik und Kompetenzforschung, aber auch Anforderungen der Wirtschaft sowie Bildungsstandards für Hauptschulen aus der Kultusministerkonferenz herangezogen. Der Kriterienkatalog wurde in Merkmalbereiche untergliedert.
- Schulische Basiskenntnisse
- Psychologische Leistungsmerkmale
- Physische Merkmale
- Psychologische Merkmale des Arbeitsverhaltens und der Persönlichkeit
- Berufswahlreife
Für jeden Bereich wurden grundlegende und unverzichtbare Basismerkmale aufgelistet und nach Kategorien beschrieben. Mit einer weiteren Ausdifferenzierung (siehe Anlage 1) sollte der Berufsberatung in den Agenturen für Arbeit und anderen Akteuren ein diagnostisches Instrument zur Beurteilung der „Ausbildungsreife“ zur Verfügung gestellt werden. Die nachfolgende Abbildung 2 stellt den Prozess der Feststellung der „Ausbildungsreife“, Berufseignung und der Vermittelbarkeit bei der Ausbildungsstellenvermittlung (ebd., 12) dar.
Abbildung 1 : Ausbildungsreife – Berufseignung – Vermittelbarkeit
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: eigene Darstellung nach Nationaler Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland. Nachdruck 2009, Seite 12
Ausbildungsreife wird somit folgendermaßen definiert:
Eine Person kann als ausbildungsreif bezeichnet werden, wenn sie die allgemeinen Merkmale der Bildungs- und Arbeitsfähigkeit erfüllt und die Mindestvoraussetzungen für den Einstieg in die berufliche Ausbildung mitbringt. Dabei wird von den spezifischen Anforderungen einzelner Berufe abgesehen, die zur Beurteilung der Eignung für den jeweiligen Beruf herangezogen werden (Berufseignung). Fehlende Ausbildungsreife zu einem gegebenen Zeitpunkt schließt nicht aus, dass diese zu einem späteren Zeitpunkt erreicht werden kann. (ebd., 13)
Als Berufseignung gilt danach:
Eine Person kann dann für einen Ausbildungsberuf, eine berufliche Tätigkeit oder Position als geeignet bezeichnet werden, wenn sie über die Merkmale verfügt, die Voraussetzungen für die jeweils geforderte berufliche Leistungshöhe sind, und der (Ausbildungs-)Beruf die berufliche Tätigkeit oder die berufliche Position die Merkmale aufweist, die Voraussetzung für berufliche Zufriedenheit der Person sind. (ebd., 15)
Die Beurteilung der Berufseignung und „Ausbildungsreife“ obliegt der alleinigen Einschätzung der Berufsberater bzw. Fallmanager (siehe Anlage 2). Ob eine ärztliche oder psychologische Eignungsuntersuchung zusätzlich angefordert wird, liegt ebenfalls im Entscheidungsrahmen der Berufsberater oder des Fallmanagers. Unklar bleibt, welche pädagogischen oder psychologischen Kompetenzen bei den Beurteilern vorliegen müssen, um diese, für die Betroffenen folgenschwere Zuschreibung zu entscheiden. Skepsis ist deshalb angebracht, ob dieser Versuch der Operationalisierung zu den erhofften Resultaten führt. Denn es zeigt sich, dass die Zuschreibung von „ausbildungsreif“ oder „nicht ausbildungsreif“ durch die Berufsberater oder Fallmanager einen sehr individuellen, vielleicht sogar zufälligen Befund darstellt, denn Jahr für Jahr münden mehr als 100.000 Jugendliche, die als ausbildungsreif und berufsreif eingestuft wurden, in berufsvorbereitende Maßnahmen (vgl. Berufsbildungsbericht 2015, 34/36).
Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, dass es einem nicht unerheblichen Teil von Bewerberinnen und Bewerbern gelingt, in einer vollzeitschulischen Ausbildung einen formal gleichwertigen Abschluss zu erreichen. Alleinentscheidend für einen erfolgreichen Übergang Schule – Ausbildung ist danach nicht die „Ausbildungsreife“ und Berufsreife, sondern es müssen auch konjunkturelle Aspekte beachtet werden.
2.6 Allianz für Aus- und Weiterbildung
Das Bundesbildungsministerium (BMBF), das Bundeswirtschaftsministerium (BMWI), Vertreter der Wirtschaft, der Gewerkschaften und der Länder haben die „Allianz für Aus- und Weiterbildung“ Ende 2014 beschlossen. Sie folgt dem „Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs“, der Ende 2014 ausgelaufen ist. Gemeinsames Anliegen ist es, die duale Ausbildung weiter zu verbessern und ihre Bedeutung hervorzuheben. Die genannten Entscheider sind dazu entschlossen, die Zukunftsfähigkeit der dualen Ausbildung zu erhalten und bei Jugendlichen und Eltern dafür zu werben. Die „Allianz für Aus- und Weitebildung“ läuft bis Ende 2018 (BMWI, 2014).
Die Partner haben folgenden Zielen vereinbart:
- Die Bedeutung und Attraktivität der beruflichen Bildung deutlich aufwerten
- Die Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss weiter reduzieren
- Jedem ausbildungsinteressierten Menschen im Rahmen der im Koalitionsvertrag angesprochenen Ausbildungsgarantie einen „Pfad“ aufzeigen, der ihn frühestmöglich zu einem Berufsabschluss führen kann
- Die Passungsprobleme zwischen Bewerberinnen und Bewerbern und Unternehmen regional und berufsfachlich verringern
- Auf der Grundlage einer weiterentwickelten Datenlage die Zahl der angebotenen Ausbildungsplätze und die Zahl der ausbildungsbereiten Betriebe erhöhen
- Die Zahl der jungen Menschen im Übergangsbereich weiter reduzieren und den Übergangsbereich möglichst an staatlich anerkannten betrieblichen Ausbildungsberufen orientieren
- Die Qualität der Ausbildung weiterentwickeln
- Die Weiterbildung und insbesondere die Aufstiegsfortbildung stärken
Besonders auffällig: Von „Ausbildungsreife“ wird in den offiziellen Mitteilungen nicht mehr gesprochen. Vielmehr findet der Begriff „benachteiligte junge Menschen“ wieder Anwendung, so wie schon einmal zu Beginn der 1990er-Jahre. Es findet sich keine exakte Definition von „benachteiligten jungen Menschen“ bzw. „Jugendlichen mit migrationsbedingten Problemlagen“ wieder. Haben die Verantwortlichen aus der langen Diskussion über den Begriff „Ausbildungsreife“ etwas gelernt?
Für Jugendliche, die nicht sofort in eine betriebliche Ausbildung münden, sollen verstärkt Plätze für die Einstiegsqualifizierung (EQ) als Brücke zur Ausbildung bereitgestellt werden. Die Einstiegsqualifizierungen sollen insbesondere auf die oben beschriebenen Zielgruppen fokussiert werden. Die Partner wollen damit erreichen, dass mehr Jugendlichen mit schlechteren Startchancen, jungen Menschen mit migrationsbedingter Problemlage und Menschen mit Behinderung eine betriebliche Berufsausbildung ermöglicht wird.
Im Statement des DIHK-Präsidenten Eric Schweitzer heißt es:
Mit der Unterzeichnung der „Allianz für Aus- und Weiterbildung“ setzen wir ein starkes Zeichen: Die berufliche Bildung ist für viele junge Menschen ein guter Weg in ein erfolgreiches Berufsleben. Sie ist zentraler Erfolgsfaktor für die Wirtschaft und Grundlage unserer Fachkräftesicherung. (DIHK, 2014)
Es stellt sich nach diesem offensichtlichen Paradigmenwechsel die Frage, ob wir uns in Zukunft noch mit der mangelnden „Ausbildungsreife“ junger Menschen beschäftigen müssen oder nicht eher der Fokus auf die Qualität der betrieblichen Ausbildung und das Zusammenspiel der Partner im dualen System gelegt werden muss.
2.7 Feststellung der „Ausbildungsreife“
Die Berufsberatung und Ausbildungsvermittlung der Bundesagentur für Arbeit hat die gesetzliche Verpflichtung bei der Berufsberatung, die Neigung, Eignung und Leistungsfähigkeit der Ratsuchenden sowie Beschäftigungsmöglichkeiten zu berücksichtigen. Aus dem Sozialgesetzbuch III (§§ 30 und 35) ergibt sich bei der Ausbildungsvermittlung, dass Arbeitgebern „geeignete“ Auszubildende vermittelt werden. Aus dieser Verpflichtung heraus leitet sich ab, dass den Berufsberatern die Aufgabe zufällt, diese Eignung festzustellen. Zu diesem Zweck wurde im Kriterienkatalog zur Ausbildungsreife des Nationalen Paktes für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs ein diagnostisches Instrument entwickelt.
2.8 Diagnostisches Instrument zur Feststellung der „Ausbildungsreife“
Wie schon unter Punkt 2.5 beschrieben, wurden fünf Merkmalsbereiche definiert:
- Schulische Basiskenntnisse
- Psychologische Leistungsmerkmale
- Physische Merkmale
- Psychologische Merkmale des Arbeitsverhaltens und der Persönlichkeit
- Berufswahlreife
Für jeden Merkmalsbereich wurden grundlegende und unverzichtbare Basismerkmale aufgelistet (siehe Anlage 1) und durch Kategorien beschrieben. Zuerst erfolgt eine Kurzbeschreibung des Merkmals. Daran schließen sich Indikatoren bzw. Kriterien an, die das Anforderungsniveau beschreiben und mit deren Hilfe die Erfüllung des Merkmals festgestellt werden kann. Diese sind rangfolgend aufgeführt, d. h., die wichtigsten und unverzichtbaren Indikatoren stehen obenan. Es folgt ein Hinweis auf die zur Verfügung stehenden diagnostischen Möglichkeiten zur Beurteilung des Kriteriums. Abschließend werden Medien oder Hilfsmittel gelistet, die zur Anwendung kommen können. Um dem diagnostischen Instrumentarium eine gewisse Objektivität zu geben, werden Beispielfragen vorgeschlagen.
Als Beispiel ist hier das Merkmal „Rechtschreibung“ (entnommen aus dem Kriterienkatalog, Bundesagentur für Arbeit, 2009, 22/23) aufgezeigt und mit welchen Unterlagen der Berufsberater die Diagnose „Ausbildungsreif“ bzw. „nicht Ausbildungsreif“ feststellt.
Merkmal: (Recht)Schreiben
Beschreibung:
- Die Jugendlichen können einfache Texte fehlerfrei schreiben und verständlich formulieren.
Indikatoren/Kriterien:
- Sie/er schreibt Texte in lesbarer handschriftlicher Form.
- Sie/er kennt die Grundregeln der Rechtschreibung und Zeichensetzung und kann sie anwenden.
- Sie/er kann häufig vorkommende Wörter richtig schreiben.
- Sie/er kann Texte verständlich und zusammenhängend schreiben.
- Sie/er kann formalisierte Texte verfassen: z. B. Brief, Lebenslauf, Bewerbungsanschreiben, Ausfüllen von Formularen.
- Sie/er gestaltet Texte dem Zweck entsprechend und adressatengerecht, sinnvoll aufgebaut und strukturiert.
Verfahren zur Feststellung:
- Dokumentenanalyse (Bewerbungsunterlagen, Beratungsfragebogen/„Arbeitspaket“, Beispielaufgaben, Schulnoten).
- Diagnostisches Gespräch/Selbsteinschätzung.
Beispielfragen:
allgemein:
- Wie zufrieden sind Sie mit Ihren schulischen Leistungen im Fach Deutsch?
- Was fällt Ihnen leicht, was fällt Ihnen eher schwer?
- Wie schätzen Sie Ihre Fähigkeiten im Rechtschreiben ein?
- Wie schätzt Ihr/e Lehrer/in Ihre Fähigkeiten im Rechtschreiben ein?
- Wie leicht bzw. schwer fällt es Ihnen, Texte richtig zu schreiben?
zu kritischen Schulnoten:
- Wie erklären Sie sich Ihre Schulnote im Fach Deutsch?
- Wie erklären Sie sich die Veränderung Ihrer Note über die Schulhalbjahre?
- Was müssen Sie tun, um Ihre Leistungen im Fach Deutsch zu verbessern?
Medien/Hilfsmittel:
- Schulzeugnis, handgeschriebener Lebenslauf.
2.9 Einschätzung des diagnostischen Instrumentes
Da es keine Aussage über die Qualifikationen bzw. Qualifikationsanforderungen des Beratungspersonals in Bezug auf die pädagogischen oder psychologischen Kompetenzen, die eine unabdingbare Voraussetzung für die Durchführung solcher Diagnosen wären, gibt, lassen die Ergebnisse eine nur eingeschränkte Gültigkeit zu. Ebenso finden sich an keiner Stelle Aussagen über Gütekriterien des diagnostischen Instrumentes. Bezeichnend ist die Aussage:
Mit dem Katalog wird ein Orientierungsrahmen zur Beurteilung der Ausbildungsreife Jugendlicher zur Verfügung gestellt, der aber nicht im Sinne eines starren Schemas Verwendung finden kann – er wird in seiner Anwendung sonst nicht der Vielfältigkeit der Realität gerecht. Die Beurteilung der Ausbildungsreife hat immer einzelfallbezogen und situationsangemessen zu erfolgen. (ebd., 9)
Daraus kann geschlussfolgert werden, dass die Zuschreibung „ausbildungsreif“ oder „nicht ausbildungsreif“ durch den Beurteiler eine bedenklich subjektive, wenn auch der Versuch einer Objektivierung zu erkennen ist, bleibt.
„Eignungsdiagnostische Verfahren, die mit einem Objektivierungsanspruch verbunden sind, können persönliche Defizite ohne Mitsprache der Betroffenen ausmachen, sie legen Menschen fest und sie können Entwicklungschancen verbauen“ (Eckert, 2004, 7).
Ein solches Verfahren kann angesichts der Schwere und Tragweite dieser Entscheidung für den betroffenen Jugendlichen nicht als angemessen angesehen werden. Eine wissenschaftliche Überprüfung ist dringend geraten.
2.10 Politische Einordnung
Die Krise auf dem Ausbildungsmarkt wird von einer erregten Diskussion zwischen Wirtschaft und Gewerkschaften begleitet. Beide Seiten sehen die Ursachen für die Ausbildungsplatzsituation im Verantwortungsbereich des anderen verortet. Die Gewerkschaften begründen dies mit der mangelnden Bereitstellung von Ausbildungsplätzen durch die Wirtschaft. Demgegenüber argumentieren die Arbeitgebervertreter mit den geringen Kompetenzen der Jugendlichen, was dazu führe, dass vorhandene Ausbildungsplätze nicht besetzt werden könnten und dadurch die Bereitschaft gesunken wäre, Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Diese Argumente sollen im Folgenden näher betrachtet werden.
2.10.1 Sicht der Wirtschaft
Seit Mitte der 1990er-Jahre macht die Wirtschaft die mangelnde „Ausbildungsreife“ der Jugendlichen dafür verantwortlich, dass auf der einen Seite angebotene Ausbildungsplätze nicht besetzt werden konnten und auf der anderen Seite die Unternehmen aus diesem Grund weniger Ausbildungsplätze anboten. 2005 erreichte diese Argumentation ihren Höhepunkt. Zum gleichen Zeitpunkt zeigte die Angebot-Nachfrage-Relation die größte Diskrepanz auf. Die Wirtschaft beklagte die oft erfolglose Suche nach geeigneten Kandidaten. Das größte Ausbildungshemmnis wäre die mangelnde „Ausbildungsreife“ der Jugendlichen und nicht die schwache Konjunktur. Die Wirtschaft betonte, dass diejenigen Jugendlichen, die noch keinen Ausbildungsplatz gefunden hätten, genau die Bewerber wären, denen eine mangelnde „Ausbildungsreife“ zugeschrieben würde. Sie gehörten deshalb auch nicht zu der Gruppe von Jugendlichen, denen ein Ausbildungsplatz angeboten werden sollte (vgl. Nackmeyer, 2004, 22/23).
Gleichzeitig bestreitet die Wirtschaft, dass sie ihre Anforderungen an zukünftige Auszubildende erhöht hätte. Sie hält an der These fest, dass vor allem die mangelnde „Ausbildungsreife“ der Jugendlichen an der angespannten Ausbildungsplatzsituation verantwortlich wäre – nicht eigenes Versagen.
Im Zuge der Gründung der „Allianz für Aus- und Weiterbildung“ im Jahre 2004, an der sich nun auch die Gewerkschaften beteiligen, hat sich die leidenschaftliche Debatte um die mangelnde „Ausbildungsreife“ gelegt. Die Beteiligten sprechen wieder von benachteiligten Jugendlichen und in der DIHK-Online-Unternehmensumfrage 2015 wird mittlerweile von der Ausweitung der betrieblichen Ausbildungsmöglichkeiten für leistungsschwächere Jugendliche und der Unterstützungsangebote während der Ausbildung gesprochen. Daneben findet eine neu entfachte Diskussion über die Nichtbesetzung von Ausbildungsstellen statt. Hier macht sich der Mangel an Bewerbern bemerkbar. Mittlerweile melden sich mehr als die Hälfte der Jugendlichen eines Jahrgangs zum Studium an und stehen so der dualen Ausbildung nicht mehr direkt zur Verfügung.
2.10.2 Sicht der Gewerkschaften
Die Gewerkschaften machen vor allem das gesunkene Angebot von Ausbildungsstellen durch die Wirtschaft für die Situation am Ausbildungsmarkt verantwortlich. Hier würden kurzfristige Kostengesichtspunkte den Ausschlag geben. Deshalb haben die Gewerkschaften auch nicht nachgelassen, eine Ausbildungsumlage zu fordern, um einen Ausgleich zwischen den ausbildenden Betrieben und denen, die sich nicht an der Qualifizierung des Fachkräftenachwuchses beteiligen, zu schaffen. Daran konnte auch der zwischenzeitlich durch die Bundesregierung geschaffene „Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs“, an dem sich die Gewerkschaften nicht beteiligten, nichts ändern. Die Aussage der Wirtschaft, dass alle nicht vermittelten Bewerber auch nicht „ausbildungsreif“ wären, wurde von den Gewerkschaften nicht akzeptiert. Es sei vielmehr verdächtig, dass die Zahl der nicht Vermittelten mit der Zahl der „nicht Ausbildungsreifen“ exakt übereinstimme (vgl. Nordhaus, 1997, 18–21).
Die Gewerkschaften sehen keine Begründung dafür, dass die heutigen Jugendlichen leistungsschwächer als frühere Jahrgänge sein sollten (vgl. Ballauf, 2005).
Als Begründung für diese Aussagen verweisen die Gewerkschaften auf Anfang der 1990er-Jahre, als es ein Überangebot an Ausbildungsstellen gab und die Wirtschaft sich nicht über mangelnde „Ausbildungsreife“ beklagte, sondern es darum ging, die duale Ausbildung attraktiver zu gestalten, um mehr Schulabgänger für diese zu begeistern (vgl. BROSI, 2005).
In einer so kurzen Zeitspanne könne sich das Leistungsniveau der Jugendlichen nicht dermaßen verschlechtert haben, dass dadurch die Klagen der Wirtschaft berechtigt wären. Sie machen eher die gestiegenen Anforderungen der Wirtschaft für die Misere verantwortlich. Die Wirtschaft könne es sich wegen des Überangebotes an Bewerbern leisten, die Anforderungen zu erhöhen, ohne einen Nachteil befürchten zu müssen. Dieses Verhalten kritisieren die Gewerkschaften als verantwortungslos und zeuge ihrer Meinung nach von sinkender Ausbildungsverantwortung. Die Beteiligung der Gewerkschaften an der „Allianz für Aus- und Weiterbildung“ hat mit zur Versachlichung der Debatte um die „Ausbildungsreife“ geführt. Dazu der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann:
Wir können es nicht hinnehmen, dass rund 260.000 junge Menschen in den Maßnahmen im Übergang von der Schule in Ausbildung stecken – oftmals ohne Aussicht auf einen Berufsabschluss. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel: weg von zahllosen Maßnahmen im Parallelsystem, hin zu betrieblicher Ausbildung, bei Bedarf eben mit professioneller Begleitung und
In der Allianz für Aus- und Weiterbildung können mit einem starken Beitrag der Wirtschaft und einem Impuls für die 'Assistierte Ausbildung' entscheidende Weichen gestellt werden, um die Lage der Jugendlichen auf dem Ausbildungsmarkt zu verbessern. (DGB, 2014)
Die Bundesagentur für Arbeit (BA) hat die Programme, Einstiegsqualifizierung, Einstiegsqualifizierung plus und die ausbildungsbegleitenden Hilfen ausgeweitet und zusätzlich die assistierte Ausbildung entwickelt. Durch die Bündelung der Maßnahmen sind erste Erfolge erkennbar (BA, 2016).
Die Ausbildungsstatistik zeigt beim Übergang Schule – Ausbildung eine verbesserte Einmündung. Gleichzeitig konnte die Zahl der Jugendlichen im Übergangssystem (Bewerber mit Alternativen) leicht reduziert werden. Insgesamt kann aber noch nicht von einer Entspannung am Ausbildungsmarkt gesprochen werden. Es gibt erhebliche Unterschiede in den Regionen und bei verschiedenen Berufen. Nur rein rechnerisch ist die Bilanz ausgeglichen.
2.11 Zwischenfazit
Bei dem bildungspolitischen Schlagwort „Ausbildungsreife“ handelt es sich um einen diffusen und umstrittenen Begriff, der bisher durch keine wissenschaftliche Untersuchung weder genauer beschrieben noch operationalisiert werden konnte.
Bis heute wird der Begriff von den Akteuren im Bildungssystem uneinheitlich verwendet. Vielmehr wird er für das Versagen des jeweils anderen im Bildungssystem benutzt. Es besteht sogar eher die Gefahr, dass die verdeckten, ungeklärten und nicht durchleuchteten Sachverhalte, die zu dem „mismatch“ auf dem Ausbildungsmarkt geführt haben, verschleiert werden. „Defizite auf diesem Markt berauben junge Menschen nicht nur ihrer Arbeitsmarkt-, sondern auch und besonders ihrer Bildungschancen“ (Eckert, 2004, 2).
Das anhaltende Ungleichgewicht zwischen dem Ausbildungsplatzangebot und der Bewerbernachfrage hat zu einer paradoxen Förderlogik geführt und ein unüberschaubares Übergangssystem etabliert. Die negative Etikettierung Jugendlicher mit dem Begriff „nicht ausbildungsreif“ kann zu einer weiteren Chancenverschlechterung führen. Will man sich trotzdem dem Begriff „Ausbildungsreife“ nähern, kommt man an dem Versuch der Definition durch den „Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland“ nicht vorbei. Hier wurde von Experten aus den Fachbereichen Psychologie, Pädagogik, Kompetenzforschung und den Anforderungen der Wirtschaft sowie Bildungsstandards für Hauptschulen aus der Kultusministerkonferenz ein Kriterienkatalog entwickelt, anhand dessen „Ausbildungsreife“ diagnostiziert werden soll. Der Kriterienkatalog wurde in fünf Merkmalsbereiche untergliedert: schulische Basiskenntnisse, psychologische Leistungsmerkmale, physische Merkmale, psychologische Merkmale des Arbeitsverhaltens und der Persönlichkeit sowie Berufswahlreife. Ein entsprechendes Diagnoseinstrument (siehe 2.8.) wurde entwickelt und der Berufsberatung zur Verfügung gestellt. Es werden weder Gütekriterien noch notwendige Qualifikationen der Anwender dokumentiert bzw. vorausgeschickt. Nach eigenen Angaben der BA soll ein Orientierungsrahmen zur Beurteilung der „Ausbildungsreife“ zur Verfügung gestellt werden, der nicht schematisch Verwendung finden, sondern Einzelfall- und situationsangemessen eingesetzt werden soll. Bei kritischer Betrachtung kann festgestellt werden, dass das Instrument keine objektivierbaren Aussagen liefern kann. Deshalb kann ein solches Verfahren angesichts der Schwere und Tragweite dieser Entscheidung für den betroffenen Jugendlichen nicht als angemessen betrachtet werden. Der Kampf um die Deutungshoheit zwischen Wirtschaft und Gewerkschaften erschwert die bildungspolitische Diskussion. Aufseiten der Gewerkschaften wird das Minderangebot an Ausbildungsplätzen für die Misere auf dem Ausbildungsmarkt verantwortlich gemacht und auf der Wirtschaftsseite die mangelnde „Ausbildungsreife“ der Jugendlichen. Dobischat ist der Auffassung, dass „die Marktsteuerung zyklisch das Problem der Exklusion hervorbringt“ (Dobischat u. a., 2012, 75).
Es müsse der Widerspruch zwischen den Klagen über einen befürchteten Fachkräftemangel und der mangelnden „Ausbildungsreife“ der Jugendlichen aufgelöst werden. Durch ausbildungs- und berufsbegleitende Hilfen ließen sich vereinzelte Defizite bei den Jugendlichen kompensieren.
Die Lücke zwischen den steigenden Ansprüchen der Betriebe und den individuellen Lernvoraussetzungen der Lehrstellenbewerber ließen sich auf diese Weise berufspädagogisch schließen, indem man die pädagogischen Kompetenzen des betrieblichen Ausbildungspersonals weiter professionalisiert, um den Ausbildungsprozess der Jugendlichen gezielt zu unterstützen. (ebd., 77)
Mit der Gründung der „Allianz für Aus- und Weiterbildung“ Ende 2014 hat sich die Diskussion um die mangelnde „Ausbildungsreife“ etwas gelegt. Der Dialog zwischen den Sozialpartnern, den Ministerien und der BA hat an Konstruktivität zugenommen. Es wurden gemeinsame Ziele entwickelt und neue Fördermaßnahmen für Jugendliche bereitgestellt. Die Modelle unterstützen den Übergang an der ersten Schwelle und zeigen erste positive Effekte. Die Diskrepanz zwischen Ausbildungsplatzangeboten und Bewerbern wurde bisher nur rechnerisch ausgeglichen, die Zahl der Jugendlichen im Übergangssystem wurde leicht reduziert. Mangelnde „Ausbildungsreife“ steht in der berufsbildungspolitischen Debatte nicht mehr an erster Stelle. Die Betriebe machen sich nun wieder Sorgen um die Nichtbesetzung der Ausbildungsstellen, der durch Bewerbermangel entsteht. Hierbei sind aber regionale und berufsspezifische Unterschiede zu erkennen. Der DGB-Ausbildungsreport postuliert hier vor allem die Ausbildungsqualität als Indikator (vgl. DGB-Ausbildungsreport 2015).
Diese sei stark abhängig vom jeweiligen Ausbildungsberuf und der Betriebsgröße. Eine Lösung der Misere am Ausbildungsmarkt könnte also in der Verbesserung der betrieblichen Ausbildungsqualität und der weiteren pädagogischen Professionalisierung des betrieblichen Bildungspersonals liegen. Klein- und mittelständige Betriebe können sich eher keine hauptberuflichen Ausbilder leisten und benötigten deshalb Unterstützung durch externe Bildungseinrichtungen. Gesellschaftspolitisch ist es dringend geboten, durch ein ausreichendes Angebot an Ausbildungsplätzen die Integration und Partizipation der Jugendlichen am gesellschaftlichen Leben dauerhaft zu gewährleisten. Im folgenden Kapitel soll die heranwachsende Generation soziologisch näher betrachtet werden.
3 Die neue Generation „Z “
Jeder Generation1 werden bestimmte allgemeine Verhaltensweisen, Wertesysteme, Fähigkeiten und Bedürfnisse zugeschrieben. Beispielsweise seien hier das äußere Erscheinungsbild (Kleidungsstil, Schmuck, Frisuren), der Sprachstil (Vokabular, Ausdruck) und die Arbeitstugenden (Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Fleiß) genannt. Dabei ist es problematisch, die Generationen zu eng an Geburtsjahren orientiert zu sehen, da es durchaus zu Überschneidungen in der Nähe der Geburtsjahre kommen kann. Entscheidend ist vielmehr das angenommene Wertemuster (vgl. Scholz, 2014).
Eine zentrale Herausforderung der Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen besteht darin, sich der bestehenden gesellschaftlichen Kultur anzupassen. Gesellschaftsmitglied wird man dann, wenn die „erwarteten sozialen Anforderungen“ (Hurrelmann, 2011, 9) erfüllt werden. Die Gesellschaft stellt durch soziale Institutionen, Umwelten, Muster und Normen hierfür Entwürfe bereit. Es werden also Determinanten (Vorstellungen, Wünsche, Erwartungen, Merkmale) definiert, die als erforderlich angesehen werden, um aktiv an der Gesellschaft teilnehmen zu können. „Werden sie übernommen, kann von ‚sozialer Integration‘ gesprochen werden“ (ebd.).
Als integriertes Mitglied der Gesellschaft bleibt aber jedes Subjekt auch weiterhin, mit seiner unverwechselbaren Persönlichkeit, ein Individuum. Besonders Jugendliche sehen sich diesem Spannungsfeld – der eigenen Persönlichkeitsentwicklung einerseits und den gesellschaftlichen Anforderungen anderseits – ausgesetzt. Zusätzlich müssen sie sich auf unsichere gesellschaftliche Vorgaben, sich schnell wechselnde soziale, kulturelle, ökonomische und ökologische Bedingungen, einstellen. Dazu benötigen sie ein hohes Maß an biografischem Management (vgl., ebd.).
Im Folgenden sollen Jugendkulturen als Sozialisationsräume, Werteorientierung, Bildungsverhalten und Erwartungen an das Berufsleben der neuen Generation aufgezeigt werden.
3.1 Jugendkulturen
Für die Sozialisationsvorgänge von Jugendlichen2 sind, über die Rahmen Familie und Schule hinaus, die Jugendkulturen von besonderer Bedeutung. Sie bieten neue Erfahrungsräume, die sich vielfach der Kontrolle durch Erwachsene entziehen. Jugendliche brauchen diese Räume, da sich in ihnen die Abgrenzungsbestrebungen von den Erwachsenen besonders deutlich erleben lassen (vgl. Niederbacher, u. a., 2011).
Verhaltensmuster und Orientierungen, die Kinder in der Familie erlernt haben, reichen für das Agieren in der Gesellschaft nicht mehr aus. Dadurch können Probleme beim Übergang entstehen. Neue Interaktionsformen müssen von den Jugendlichen erprobt und erlernt werden. Diesen Lernschritt können sie vor allem in der Peergroup3 (Gleichaltrigengruppe) bewältigen. Die Peergroups, als soziale Übungsräume, bieten somit die Möglichkeit, emotionale Bedürfnisse zu befriedigen, aber auch sachliche Beziehungen zu erproben. „Die Funktion der Gleichaltrigengruppe ist hiernach die Vermittlung zwischen Familie und Gesellschaft – sie ist das Verbindungsglied von privatem und öffentlichem Bereich“ (Niederbacher, u. a., 2011, 145).
3.2 Lebenswelten und Werteorientierung
Das Sinus-Institut hat 2016 mit seiner dritten Jugendstudie4 erneut die Lebenswelten der 14- bis 17-Jährigen untersucht. Auch an diesem Beispiel zeigt sich, „dass es DIE Jugend nicht gibt, sondern dass große soziokulturelle Unterschiede zwischen den verschiedenen Lebenswelten existieren“ (Calmbach u. a., 2016, 14).
Jugendliche dieser Alterskohorte haben ihre Sozialisation noch nicht abgeschlossen, sie müssen noch zentrale Entwicklungsaufgaben (Berufswahl, Erwerbstätigkeit, Partnerschaft u. a.) erfüllen und werden deshalb in dieser Jugendstudie nicht in soziale Milieus eingeteilt, sondern in Lebenswelten.
Dabei handelt es sich um real existierende Gruppierungen mit gemeinsamen Sinn- und Kommunikationszusammenhängen in ihrer Alltagswelt, mit vergleichbaren handlungsleitenden Konzepten des im Leben Wertvollen und Wichtigen sowie ähnlichen Vorstellungen von Lebensqualität und Lebensweise (Calmbach u. a., 2016, 30).
Wie auch schon in der Jugendstudie 2012 lässt sich das Wertespektrum der Jugendlichen auch 2016 in drei zentrale Grundorientierungen (traditionell, modern, postmodern) einordnen. Bei der traditionellen Grundorientierung stehen Werte wie „Sicherheit und Ordnung“ im Mittelpunkt, bei der modernen Grundorientierung Werte, die auf „Haben und Zeigen“ als auch „Sein und Verändern“ begründet sind, und bei der postmodernen die Werte „Machen und Erleben“ sowie „Grenzen überwinden und Sampeln“ (vgl. Calmbach u. a., 2012).
Dabei verfolgen die Jugendlichen nicht nur eine Wertehaltung, sondern folgen durchaus auch Werten aus anderen Grundorientierungen. So kommt es vor, dass Jugendliche aus postmodernen Lebenswelten auf der einen Seite ausgiebig feiern wollen, aber auf der anderen Seite ebenso an Leistung und Erfolg interessiert sind. Die folgende Abbildung (Abb. 2) verdeutlicht die Werteorientierung.
Abbildung 2: Werte-Achse des SINUS-Lebensweltenmodells
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: SINUS-Institut, Jugendstudie 2016
Hieraus ergeben sich folgende Lebenswelten der Jugendlichen:
- Konservativ-bürgerliche (Anteil 15%)
- Die familien- und heimatorientierten Bodenständigen mit Traditionsbewusstsein und Verantwortungsethik (ebd., 38)
- Adaptiv-pragmatische (Anteil 21%)
- Der leistungs- und familienorientierte moderne Mainstream mit hoher Anpassungsbereitschaft (ebd.)
- Sozialökologische (Anteil 9%)
- Die nachhaltigkeits- und gemeinwohlorientierten Jugendlichen mit sozialkritischer Grundhaltung und Offenheit für alternative Lebensentwürfe (ebd.)
- Prekäre (Anteil 5%)
- Die um Orientierung und Teilhabe bemühten Jugendlichen mit schwierigen Startvoraussetzungen und Durchbeißermentalität (ebd.)
- Materialistische Hedonisten (Anteil 13%)
- Die freizeit- und familienorientierte Unterschicht mit ausgeprägten markenbewussten Konsumwünschen (ebd.)
- Experimentalistische Hedonisten (Anteil 15%)
- Die spaß- und szeneorientierten Nonkonformisten mit Fokus auf Leben im Hier und Jetzt (ebd.)
- Expeditive (Anteil 22%)
Die erfolgs- und lifestyleorientierten Networker auf der Suche nach neuen Grenzen und unkonventionellen Erfahrungen (ebd.)
Abbildung 3 zeigt die Lage der Lebenswelten, ausgerichtet am Bildungsniveau und der normativen Grundorientierung.
Abbildung 3: SINUS-Lebensweltenmodell
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: SINUS-Institut, Jugendstudie 2016
In der Gesellschaft einen Platz zu finden und diesen auch zu gestalten ist für die allermeisten Jugendlichen erstrebenswert. Die neue Wertekonfiguration folgt nicht mehr der Gesetzmäßigkeit des „Entweder-oder“, sondern dem „Sowohl-als-auch“. In Krisensituationen folgen die Jugendlichen eher traditionellen Werten wie Sicherheit, Pflichtbewusstsein, Familie und Freundschaft. „Die große Frage, die sich Jugendliche über fast alle Lebenswelten hinweg stellen, lautet: Was wird aus mir und wann werde ich es?“ (ebd., 40). Hier zeigt sich eine große Verunsicherung, die verstärkt bei Jugendlichen in den Kategorien Prekäre und materialistisch hedonistische Lebenswelten auftritt. Bei den Jugendlichen in traditionellen Lebenswelten bildet sich „der Wunsch nach Sicherheit, Stabilität, Verbindlichkeit, Orientierung und Sinnstiftung“ (ebd.) besonders stark heraus. Eine optimistische Zukunftseinstellung zeigt die Mehrheit der Jugendlichen, vor allem der Kategorie Adaptiv-pragmatische und Expeditive Lebenswelt. Die Jugendlichen der Kategorie Sozialökologische sehen der persönlichen Zukunft gelassen entgegen, befürchten aber Gefahren für die Gesellschaft und die Welt. Die Jugendlichen der Kategorie Experimentalistische Hedonisten machen sich lieber Gedanken über die Gegenwart als über die Zukunft. Einen eher geringen Zukunftsoptimismus zeigen hingegen die von sozialer Ungleichheit betroffenen Lebenswelten – die Jugendlichen der Kategorien Materialistische Hedonisten und Prekäre. Besonders die jungen Menschen der Lebenswelt Prekäre haben große Angst, zu scheitern, vor allem am Übergang von der Schule in den Beruf. Ein möglicher Lösungsansatz für die oben beschriebene Situation der Jugendlichen könnte eine verbesserte berufspädagogische Betreuung sein. Das betriebliche Bildungspersonal kann ihnen diese Verunsicherung nehmen, Orientierung anbieten und sinnstiftende Aufgaben übertragen. Der betriebliche Alltag bietet eine gute Möglichkeit der Sozialisation und damit die Integration in die Erwachsenenwelt an.
[...]
1 Der Begriff Generationen bezieht sich in der Forschungsliteratur fast ausschließlich auf das durch Karl Mannheim definierte soziologische Verständnis der Generation als einer Kohorte, deren Zusammenhang sich durch jahrgangspezifische Erlebnisse und Milieuwirkungen begründet.
2 Die Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsenensein ist eine „Erfindung“ der Aufklärung. Durch den Erziehungsroman ‚Emil‘ von Jean-Jaques Rousseau wurde der Grundstein für die Beschäftigung der Pädagogen mit der Jugendphase gelegt. Gleichwohl hat sich die Lebensphase Jugend im letzten Jahrhundert neu herausgebildet und weiter ausgedehnt.
3 Darunter werden im Allgemeinen relativ informelle, zumeist lokale Gruppen von befreundeten Jugendlichen mit hoher wechselseitiger Akzeptanz bezeichnet. Der Einzelne sucht nach sozialer Orientierung, hierzu bietet die Peergroup einen Bezugsrahmen. Peergroups haben eigene Hierarchien, Normen und Werte.
4 Die SINUS-Jugendstudie kann mit einer Stichprobe von N=72 nicht als repräsentativ bezeichnet werden, leistet aber durch ihre soziale und kulturelle Tiefenschärfe einen wertvollen Beitrag zum Gesamtbild der Jugend.
- Quote paper
- Volker Freudenberger (Author), 2016, "Ausbildungsreife". Anforderungen an die Berufsausbildung der nachwachsenden Generation, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/899968
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